Georg Simmel: Philosophische
Kultur
Alfred Kröner Verlag,
Leipzig 1919 (2. Auflage)
Einleitung (S. 1-6)
(->1) Wenn Versuche zusammengefasst dargeboten werden, die wie die folgenden, ihrem Stoffe nach keinerlei Einheit besitzen, so kann das innere Recht dazu nur in einer Gesamtabsicht liegen, welche alle inhaltliche Mannigfaltigkeit übergreift.
Hier nun geht eine solche von dem Begriff der Philosophie aus:
dass ihr Wesentliches nicht oder nicht nur der Inhalt ist, der jeweils gewusst, konstruiert, geglaubt wird, sondern eine bestimmte geistige Attitüde zu Welt und Leben, eine funktionelle Form und Art, die Dinge aufzunehmen und innerlich mit ihnen zu verfahren.
Indem die philosophischen Behauptungen unvereinbar weit auseinander liegen und nicht eine von ihnen unbestrittene Geltung besitzt; indem dennoch etwas Gemeinsames in ihnen gespürt wird, dessen Wert alle Anfechtung der einzelnen überlebt und den philosophischen
Prozess weiter und weiter trägt, kann jenes Gemeinsame nicht in irgendeinem Inhalt, sondern nur in diesem
Prozess selbst liegen.
Das mag freilich als Grund, den Namen der Philosophie allen Entgegengesetztheiten ihrer Dogmen zu belassen, selbstverständlich sein.
Aber nicht ebenso selbstverständlich ist es,
dass auf diesem Funktionellen, auf dieser gleichsam formalen Bewegtheit des philosophierenden Geistes das Wesentliche und Bedeutsame der Philosophie ruhen soll, mindestens neben den dogmatisch ausgedrückten Inhalten und Resultaten, ohne die freilich der philosophische
Prozess als solcher und abgelöster nicht verlaufen kann.
Solche Trennung zwischen der Funktion und dem Inhalt, dem lebendigen Vorgang und seinem begrifflichen Ergebnis bedeutet eine ganz allgemeine Richtung (->2) des modernen Geistes.
Wenn die Erkenntnistheorie, oft zum allein verbleibenden Gegenstand der Philosophie erklärt, den reinen
Prozess des Erkennens von all seinen Objekten löst und analysiert; wenn die kantische Ethik das Wesen aller Moral in die Form des reinen oder guten Willens verlegt, dessen Wert selbstgenugsam und frei von aller Bestimmung durch Zweckinhalte bestünde; wenn für Nietzsche und Bergson das Leben als solches die eigentliche Wirklichkeit und den letzten Wert bedeutet, nicht durch irgendwelche, gleichsam substanziellen Inhalte bestimmt, sondern diese erst seinerseits schaffend und ordnend - so ist mit alledem jene Lösung zwischen
Prozess und Inhalt und die selbständige Akzentuierung des ersteren vollzogen.
So nun kann man den metaphysischen Trieb, den
Prozess oder die Geisteshaltung, die ihm entfließen, als einen Charakter oder einen Wert erfassen, der durch alle Widersprüche und Unhaltbarkeiten seiner Inhalte oder Ergebnisse nicht betroffen wird.
Und, prinzipiell von der starren Verbindung mit diesen gelöst, gewinnt er eine Biegsamkeit und Erstreckungschance, eine Unpräjudiziertheit gegenüber allen möglichen Inhalten, wie sie undenkbar waren, als man noch das Wesen von Philosophie oder Metaphysik aus ihren gegenständlichen Problemen bestimmen wollte. Begreift man das Funktionelle, die Einstellung, Tiefenrichtung und Rhythmik des Denkprozesses als das, was diesen zum philosophischen macht, so sind seine Gegenstände von vornherein unbegrenzt und gewinnen an jener Gemeinsamkeit der Denkart oder Denkform eine Einheit für die inhaltlich heterogensten Untersuchungen, diejenige Einheit, die die hier vorgelegten für sich in Anspruch nehmen.
Die geschichtliche Erfahrung zeigt,
dass jedes Festlegen der metaphysischen Gerichtetheit auf einen systematischen Inhalt ungeheure kosmische und seelische Gebiete jenseits der philosophischen Deutung und Vertiefung belassen hat; und dies nicht nur als Folge der immer nur relativen Leistungsfähigkeit jedes absoluten Prinzips, sondern vor allem seiner Starrheit und Unplastizität, die das Einbeziehen der unscheinbaren Segmente des Daseinskreises in die metaphysische Tiefe ausschließt.
Dieser Bewegung sollte sich doch keine auch der flüchtigsten und
isoliertesten (->3) Oberflächenerscheinungen des Lebens entziehen dürfen; aber zu keinem einzelnen metaphysischen Grundbegriff scheint eine Richtlinie von jedem derartigen Phänomen herabzuführen.
Soll der philosophische
Prozess wirklich von der universellen Breite des Daseins ausgehen, so scheint er vielmehr in unbegrenzt vielen Richtungen laufen zu müssen.
Manche Erscheinungen, manche Stimmungen, manche Verknüpfungen des Denkens weisen die philosophische Reflexion in eine Direktive, die, bis ins Absolute verfolgt, ein
Pantheismus wäre, manche umgekehrt in die Richtung des Individualismus; manchmal scheint diese Reflexion in einem idealistischen, manchmal in einem realistischen, hier in einem rationalen, dort in einem voluntaristischen Definitivum enden zu müssen.
Es besteht also ersichtlich eine innerlichste Beziehung zwischen der ganzen Fülle des gegebenen Daseins, das der philosophischen Tiefenschicht zugeführt zu werden verlangt, und der ganzen Fülle möglicher metaphysischer Absolutheiten.
Das flexible Gelenk zwischen beiden, die mögliche Verbindung, um von jedem Punkte des einen zu jedem des andern zu gelangen, wird von jener, auf keine Absolutheit festgelegten Bewegtheit des Geistes dargeboten, die in sich selbst metaphysisch ist.
Nichts hindert sie, die angedeuteten und viele andern Wege abwechselnd zu begehen, in solcher Hingebung an die metaphysische Funktion nun gerade den Symptomen der Dinge selbst treuer und schmiegsamer, als die Eifersucht einer materialen Ausschließlichkeit gestattete.
Die Forderung des metaphysischen Triebes wird nicht erst am Ende dieser Wege eingelöst, ja der ganze Begriff von Weg und Ziel, der die Illusion eines notwendig einheitlichen
Schlusspunktes mit sich bringt, ist hier unzutreffend und nur ein Missbrauch
räumlicher Analogien; nur damit sozusagen die Qualitäten jener Bewegtheiten einen Namen hätten, mögen ihnen die absoluten Prinzipien als ideelle Zielpunkte vorstehen.
Ein Widerspruch besteht zwischen ihnen nur in der dogmatischen Kristallisierung, nicht aber innerhalb der Bewegtheit des philosophischen Lebens selbst, dessen individueller Weg ein einheitlicher und personal charakterisierter sein kann, durch
wie viele solcher Biegungen und Krümmungen er auch führe.
Von Eklektizismus und
Kompromissweisheit ist dieser Standpunkt im allertiefsten (->4) geschieden.
Denn beide sind nicht weniger an den festgewordenen Resultaten des Denkens verankert, als irgendeine einseitig exklusive Philosophie; nur
dass sie die gleiche Form, statt durch einen prinzipiellen Gedanken, durch ein Mosaik von Stücken solcher ausfüllen oder deren Gegensätze graduell bis zur Verträglichkeit herabsetzen.
Hier aber handelt es sich um die ganz prinzipielle Wendung von der Metaphysik als Dogma sozusagen zu der Metaphysik als Leben oder als Funktion, nicht um die Art des Inhalts der Philosophie, sondern um die Art ihrer Form, nicht um die Verschiedenheiten zwischen den Dogmen, sondern um die Einheit der Denkbewegung, die all diesen Verschiedenheiten so lange gemeinsam ist, bis sie eben an einem Dogma erstarren und sich damit die Rückkehr zu den Schnittpunkten aller philosophischen Wege und also zu dem Reichtum aller Bewegungs- und Umfassungsmöglichkeiten abschneiden.
Nun ist kein Zweifel,
dass von den genialen Schöpfern innerhalb der Geschichte der Philosophie wohl keiner diese Akzentverlegung von dem terminus ad quem der philosophischen Bestrebung auf ihren terminus a quo zugeben würde.
Bei ihnen ist die geistige Individualität so stark,
dass sie sich nur in ein dem Inhalt nach völlig und einseitig bestimmtes Weltbild projizieren kann, und
dass der Radikalismus der formalen philosophischen Lebensattitüde mit diesem Inhalt unlösbar und intolerant in eins schmilzt; so bedeutet zwar die Religiosität aller wirklich religiösen Menschen ein immer gleiches Sein und inneres Verhalten, das aber im Individuum, und zwar insbesondere in dem religiös schöpferischen, mit einem bestimmten, eben diese Individualität ausprägenden Glaubensinhalt zu so organischer Einheit wird,
dass für diesen Menschen eben nur dieses Dogma Religion sein kann.
Wird sich also die individuelle Wesensart des produktiven Philosophen als solchen auch immer in einer absoluten, anderes ausschließenden Weltkonzeption niederschlagen - was übrigens neben dem prinzipiellen Anerkenntnis jener Akzentverlegung der Metaphysik geschehen könnte - so erscheint mir die letztere jedenfalls als die Bedingung einer "philosophischen Kultur" in einem weiteren und modernen Sinne. Denn diese besteht doch nicht in der Kenntnis metaphysischer Systeme oder (>5) dem Bekenntnis zu einzelnen Theorien, sondern in einem durchgehenden geistigen Verhalten zu allem Dasein, in einer intellektuellen Bewegtheit auf die Schicht hin, in der, in mannigfaltigsten Tiefengraden und angeknüpft an die mannigfaltigsten Gegebenheiten, alle überhaupt möglichen Linien der Philosophie laufen - wie eine religiöse Kultur nicht in der Anerkennung eines Dogmas, sondern in der Auffassung und Gestaltung des Lebens mit dem steten Hinblick auf das ewige Schicksal der Seele besteht, künstlerische Kultur nicht in der Summe einzelner Kunstwerke, sondern darin,
dass die Inhalte des Daseins überhaupt nach den Normen künstlerischer Werte empfunden und geformt werden.
Verbleibe die Philosophie in ihrem inneren Gange auch in der Diskontinuität dogmatischer Parteiung, so liegen doch, wie diesseits und jenseits dieser, zwei Einheitlichkeiten: die funktionelle, von der ich zuerst sprach, und diese teleologische, für die die Philosophie ein Träger, ein Element oder eine Form der Kultur überhaupt ist.
Beide Einheitlichkeiten sind gleichsam unterirdisch verbunden; die philosophische Kultur jedenfalls
muss sich labil erhalten, muss von jeder singulären Theorie auf die funktionellen Gemeinsamkeiten aller zurücksehen und zurückgehen können. Die Ergebnisse der Bemühung mögen fragmentarisch sein, die Bemühung ist es nicht.
Von dem Interesse an dieser philosophischen Haltung überhaupt ist die Bearbeitung und Zusammenfassung der Probleme dieses Bandes ausgegangen.
Nachzuweisen, wie gerade ihre Vereinzeltheit und Heterogenität diesen Grundbegriff der philosophischen Kultur trägt oder von ihm getragen wird, ist nicht mehr Sache des Programms, sondern der Arbeit selbst. je nach dem genommenen Blickpunkt ruht sie auf der Voraussetzung oder führt den Beweis: es sei ein Vorurteil,
dass die Vertiefung von der Oberfläche des Lebens her, das Aufgraben der je nächsten Ideenschicht unter jeder seiner Erscheinungen, das, was man deren Sinngebung nennen könnte - notwendig auf einen letzten Punkt führen müsse und haltlos in der Luft schwebe, wenn es nicht von einem solchen her seine Richtung bekäme.
In einer Fabel sagt ein Bauer im Sterben seinen Kindern, in seinem Acker läge ein Schatz vergraben. Sie graben
daraufhin (->6) den Acker überall ganz tief auf und um, ohne den Schatz zu finden.
Im nächsten Jahre aber trägt das so bearbeitete Land dreifache Frucht. Dies symbolisiert die hier gewiesene Linie der Metaphysik.
Den Schatz werden wir nicht finden, aber die Welt, die wir nach ihm durchgraben haben, wird dem Geist dreifache Frucht bringen - selbst wenn es sich in Wirklichkeit etwa überhaupt nicht um den Schatz gehandelt hätte, sondern darum,
dass dieses Graben die Notwendigkeit und innere Bestimmtheit unseres Geistes ist.
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