Georg Simmel: Philosophische
Kultur
Alfred Kröner Verlag,
Leipzig 1919 (2. Auflage)
Michelangelo (S.
142-167)
(->142) Im Fundament unseres seelischen Wesens scheint ein Dualismus zu wohnen,
der uns die Welt, deren Bild in unsere Seele fällt, nicht als Einheit
begreifen läßt, sondern sie unaufhörlich in Gegensatzpaare zerlegt.
In die so gespaltene Welt wiederum unser eigenes Dasein einordnend,
setzen wir gleichsam nach rückwärts in das Bild unser selbst jenen Spalt
fort und schauen uns als Wesen an, die einerseits Natur, andrerseits Geist
sind, deren Seele ihr Sein von ihrem Schicksal unterscheidet; in deren
Sichtbarkeit eine feste und lastende Substanz mit der fließenden,
spielenden oder nach oben strebenden Bewegung streitet, deren
Individualität sich abhebt gegen ein Allgemeines, das bald ihren Kern zu
bilden, bald als ihre Idee über ihnen zu stehen scheint.
Gewisse Epochen der Kunst machen durch die unbefangene
Selbstverständlichkeit, mit der sie sich an der einen Seite dieser
Gegensätze anbauen, die Spaltung zwischen ihnen unfühlbar.
Die klassische griechische Plastik empfindet den Menschen ganz, und gar
naturhaft, und was er an geistigem Leben ausdrückt, geht abstandslos in
die Existenz dieses Stückes Natur ein, sie stellt nur seine Substanz in
der plastisch-anatomischen und zugleich typischen Formung seiner
Oberfläche dar und gewährt der von innen herausbrechenden Bewegtheit als
dem Entstellenden und Individualistisch-Zufälligen nur den begrenztesten
Platz.
Dann kommt in der hellenistischen Epoche das Schicksal in seiner
Spannung gegen das ruhende Sein des Menschen zu künstlerischem Ausdruck;
gewalttätiges Handeln und Leiden ergreift die Gestalten und macht den
Abgrund sichtbar, der zwischen unserem Sein und der Unbegreiflichkeit
unseres Schicksals eingefügt ist.
All diesen Zweiheiten unseres Wesens gibt nun das (-> 143)
Christentum ein innerstes und metaphysisches Bewußtsein und eine
Entscheidung, wie sie nur auf dem Grunde ihrer radikalen Spannung
geschehen kann.
Die leidenschaftliche Aufwärtsbewegung der Seele läßt jetzt unsere
äußere Substanzialität und ihre Form als ein Gleichgültiges unter
sich, dem Geiste wird die Natur feindlich und vernichtenswert, das ewige
Schicksal der Menschen löst gewissermaßen ihr Sein in sich auf: was wir
von uns aus sind, steht in einer weiten, vergessenen Ferne gegenüber
unserem Schicksal der Gnade oder der Verwerfung.
In der gotischen Kunst besiegelt sich diese Entscheidung des Dualismus.
Sei es in ihrer nordischen Form, die in dem Aufrecken, der
Überschlankheit, dem unnatürlichen Biegen und Drehen die Form des Leibes
zum bloßen Symbol der Flucht in eine übersinnliche Höhe macht, die die
natürliche Substanz zugunsten des Geistes auflösen möchte; sei es in
der italienischen Formgebung des Trecento.
Hier hat der Dualismus nicht mehr die Gestalt jenes immer noch
qualvollen Ringens, dessen Sieger seinen Sieg nicht recht anschaulich
realisieren kann; sondern die Erscheinung steht in einer feierlich
innerlichen Geistigkeit, von vornherein. unberührt von aller bloßen
Natur, aller festen Substanz, in einer Vollendung jenseits des Lebens und
seiner, Entgegengesetztheiten.
Die entwickelte Renaissance scheint den Akzent auf die andere Seite zu
rücken, auf die Natur, auf die Körperhaftigkeit, die ihre Ausdrucksform
durch ihre eigenen organischen Kräfte gewinnt, auf die feste
Selbstgenugsamkeit der Existenz.
Ihre letzte Tendenz aber geht auf ein Höheres: den Dualismus
grundsätzlich zu überwinden.
Freilich auf dem Boden eines naturhaften Daseins und deshalb in
völligem Gegensatz zu der religiösen Vollendetheit des Trecento.
Aber ein Naturbegriff schwebt ihr vor - wie er erst in Spinoza seinen
bewußten Ausdruck finden sollte -, der die Körperlichkeit und den Geist,
die substanzielle Form und die Bewegung, das Sein und das Schicksal in
eine unmittelbare Einheit zusammenschaute, zusammenlebte.
Dies gelingt nun zunächst in der Form des Porträts.
Denn die Individualität ist das körperlich-seelische Gebilde, das den
Gegensatz von Körper und Seele als Gegensatz am vollständigsten hinter
sich läßt.
Indem die Seele diesem bestimmten, (-> 144) unvertauschbaren
Körper zugehört, der Körper dieser bestimmten, unverwechselbaren Seele,
sind sie nicht nur aneinander, sondern ineinander gebunden, erhebt sich
über sie die Individualität als die höhere, in dem einen wie in dem
anderen sich auswirkende Einheit, der in sich geschlossene und zwar durch
die Besonderheit seiner Person in sich geschlossene Mensch.
Seine körperlichen und seine seelischen Elemente, seine Existenz und
sein Schicksal mögen, aus dieser Lebens- und Wesenseinheit gelöst, zu
Besonderheiten verselbständigt, fremd und dualistisch nebeneinander
stehen.
Aber als das fundamentale Leben dieses einen konkreten Menschen, dessen
Einheitlich-Einziges sie nur auf verschiedene Weise ausdrücken, gibt es
keine Zweiheit und Zwistigkeit zwischen ihnen.
Die leidenschaftliche Akzentuierung der Individualität im Quattrocento
und seine Entwicklung des Porträts, das gar nicht persönlich und
charakteristisch genug sein konnte, ruhen auf diesem tieferen Grunde: daß
das körperliche und das seelische Element unseres Wesens aus ihrem
christlichen Dualismus und einseitigen Rangordnung wieder zu einem
Gleichgewicht strebten, und dieses zunächst in der Tatsache der
Individualität fanden, als der Einheit, die die Form des einen wie .des
anderen bestimmt und ihre Zusammengehörigkeit gewährleistet.
Allein dieser Porträtkunst gelingt das, mit wenigen Ausnahmen, nicht
an der Darstellung des ganzen Körpers, sondern nur des Kopfes, der
freilich schon in seiner Naturgegebenheit die Beseelung der substanziellen
Form oder, umgekehrt, die materielle Sichtbarkeit des Geistes unverkennbar
darbietet.
Und nicht nur darum löst das individuelle Porträt jenes durch unser
Wesen aufgegebene Problem nicht ganz und gar, sondern auch weil selbst die
gelungene Lösung sozusagen nur für den einzelnen Fall gilt.
Die Versöhnung ist nicht aus der Tiefe der Gegensätze selbst heraus
gewonnen, der Dualismus ist nicht durch seine eigenen Kräfte zu einer
notwendigen Einheit gelangt, sondern nur von Fall zu Fall, die glückliche
Chance einer nicht wiederholbaren Individualität bindet seine Seiten
jedesmal von neuem zusammen.
Zugleich näher oder ferner wiederum steht, Botticelli der Einheit
jener Elemente, denen das Christentum auseinanderliegende Heimaten
angewiesen hatte.
Hier zuerst scheint der (-> 145) unbekleidete Körper ebenso
wie das Gesicht völlig in die Färbung und Rhythmik der seelischen
Stimmung einzugehen, in der eine tiefe Erregtheit und eine lähmende
Zagheit sich wunderlich mischen.
Sieht man indes genau zu, so ist der Riß zwischen dem Leib und dem
Geist, zwischen unserem Sein und unserem Schicksal, der uns aus der Gotik
entgegenstarrte, keineswegs überwunden.
Die Seele ist zwar von ihrem Flug ins Transzendente in den Körper
zurückgekehrt, aber sie hat eine nun gegenstandslose, in einem nirgends
gelegenen Zwischenreich tastende Sehnsucht mitgebracht, eine nach innen
schlagende - als Melancholie, als Erstarrung in dem elegischen Moment,
weil die Seele ihre Heimat auch hier nicht findet.
Mit so schmiegsamer Symbolik die Körper Botticellis das Wesen unddie
Bewegungen der Seelen aussprechen - jenes himmlisch sichere Wegziel ist
zwar verloren, aber keine irdisch feste Leib- und Bodenständigkeit dafür
gewonnen, und im tiefsten Grunde bleibt die Seele in wegloser,
unheilbarer Ferne vom Irdischen und der Substantialität aller
Erscheinung.
Mit einem Schlage aber und den künstlerischen Ausdruck unseres Wesens
ohne Rest in Einheit umfassend, bietet sich die Lösung all dieser
allgemein seelischen und christlich historischen Entzweitheiten, sobald
die sixtinische Decke, die Stücke des Julius-Denkmals, die
Mediceergräber dastehen.
Das Gleichgewicht und die Anschauungseinheit der ungeheuersten
Lebensgegensätze ist gewonnen.
Michelangelo hat eine neue Welt geschaffen, mit Wesen bevölkert, für
die das, was bisher nur in Relation stand, gelegentlich aneinander,
gelegentlich auseinander rückte, von vornherein ein Leben ist; und
als wäre ein bisher unerhörtes Maß von Kraft in ihnen, in deren Strömungseinheit
alle Elemente hineingerissen werden, ohne ihr mit einem Sonderdasein
widerstehen zu können.
Vor allem ist es, als ob das seelische und das körperliche Wesen des
Menschen nach ihrer langen Trennung, die die Transzendenz der Seele ihnen
auferlegt hatte, sich wieder als Einheit erkannten.
Denkt man daneben an die schönsten Gestalten Signorellis, so haben sie
eine der Seele schließlich doch fremde Wesenheit und Schönheit und eine
eigene Provenienz, mit der sie den Körper nur wie ein Werkzeug der Seele (->
146) zur Verfügung stellen.
Jene Körper Michelangelos aber sind von dem seelisch Innerlichen so
absolut durchdrungen, daß schon dieser Ausdruck des Durchdrungenseins
noch zu viel Dualismus enthält.
Daß man hier überhaupt von einer noch zu überwindenden Zweiheit
redet, erscheint als etwas ganz Vorläufiges und Unzutreffendes.
Die Stimmung und Leidenschaft der Seelen ist unmittelbar die Form und
Bewegtheit, ja man möchte sagen: die Masse dieser Körper.
Der geheimnisvolle Punkt ist erreicht, von dem aus Körper und Seele
nur als zwei verschiedene Worte für eine und dieselbe menschliche
Wesenheit gelten können, deren Kern durch diese Spaltung seines
Benanntwerdens gar nicht getroffen wird.
Und diese Einheit liegt doch nicht so weit von den Elementen selbst ab,
wie die Individualität, mit der dem Quattrocento ihre Versöhnung
partiell gelang, sondern viel umwegloser, durch das in ihnen pulsierende
Leben überhaupt, ist das Außereinander von Körper und Seele
überwunden.
An die Stelle jener individualistischen Zuspitzung der Erscheinung
setzte er die klassische, überindividuelle, auf das Typische gehende
Stilisierung.
Während man den Eindruck Rembrandtscher Gestalten vielleicht so
ausdrücken kann, als habe sich in jeder das Schicksal der Menschheit
überhaupt zu einer unvergleichlichen, auf den inneren Einzigkeitspunkt
gestellten Existenz zugespitzt, ja vielleicht verengen - erscheint in
jenen Figuren Michelangelos umgekehrt ein höchst persönliches, aus dem
eigensten Verhängnis heraus lebendes Dasein zu einem allgemeinsten, durch
die Menschheit als ganze hinwebenden Lose verbreitert.
Die vollste, sich tief nach innen einbohrende und grenzenlos nach
außen überströmende Leidenschaft spricht sich in einer
ruhigen-klassisch typisierenden Formgebung aus.
Vielleicht, daß ein so explosiv passioneller, von so maßlosen
Spannungen durchzogener Geist wie Michelangelo dieser objektiven, in
gewissem Sinne äußerlicheren Formgebung bedurfte, um überhaupt zu
gestaltender Produktivität zu gelangen.
Rembrandts Innerlichkeit war offenbar lange nicht so gewaltsam,
titanisch, lange nicht so darauf angewiesen, die äußersten Lebenspole,
die immer wieder auseinanderbrechen wollen, mit so übermenschlicher Kraft
in eins zu bringen.
Darum konnte er subjektivischer in (-> 147) seiner Formgebung
sein, brauchte keiner so stark zusammenzwingenden und überpersönlichen
Stilisierung.
Aber der tiefere, mehr als psychologische Grund jenes
verallgemeinernden, alle individualisierende Pointiertheit übergehenden
Formsehens ist, daß in den GestaltenMichelangelos zuerst eine gefühlte
oder metaphysische Wirklichkeit des Lebens als solchen zum Ausdruck kommt
- des Lebens, das sich zwar zu mancherlei Bedeutungen, Stadien,
Schicksalen entwickelt, aber eine letzte, mit Worten nicht beschreibbare
Einheit besitzt, in der der Gegensatz von Seele und Leib so untergegangen
ist, wie der der individuellen Sonderexistenzen und Sonderattitüden.
Es ist immer das in Körper und Seele gleichmäßig strömende Leben,
mit den Extasen und Müdigkeiten, den Leidenschaften und Geschicken, die
ihm als Leben, als dessen innerer Rhythmus und Verhängnis eigen sind.
Diese Zusammengefaßtheit aller dualistischen Elemente in eine bis
dahin nie anschaulich gewordene Einheit des Lebens - denn die
Einheitlichkeit der Antike war mehr eine naive Undifferenziertheit, sie
hatte keine so tief bewußten und weit auseinander gerissenen Gegensätze
zu versöhnen - drückt sich weiterhin an dem Verhältnis zwischen Form
und Bewegtheit der Gestalten aus.
Damit, wie ein Wesen sich bewegt, offenbart es das jeweilige seelische
Geschehen in ihm, während die Form seiner Substanz ein Naturgegebenes
ist, das der Wechsel der psychischen Impulse schon vorfindet.
Die Fremdheit, die die christliche Auffassung zwischen Körper und
Seele gesetzt hatte, spiegelt sich deshalb in der Zufälligkeit, die in
der Kunst vor Michelangelo zwischen der anatomischen Struktur gerade
dieses Körpers und der von ihm ausgeführten Bewegung bestand.
Selbst gegenüber den Gestalten Ghibertis, Donatellos, Signorellis
empfinden wir nicht, daß diese bestimmte Bewegung gerade den so und so
geformten Körper fordert, oder daß dieser Körper notwendig gerade diese
Bewegung als die sozusagen für ihn entscheidende aus sich hervorbrächte.
Erst an den Menschen Michelangelos besteht diese Einheit, die aus der
gegebenen Formung des Körpers die eben jetzt sich vollziehende Geste als
seine anschaulich logische Konsequenz entwickelt, oder die für diese
Bewegung (-> 148) gar keinen anderen Träger als diesen so
gestalteten Leib denken läßt.
Geformtheit und Bewegtheit des Körpers erscheinen nun als die
sozusagen nachträglich von uns vollzogenen Zerlegungen des einen
ungeteilten, von einem inneren Gesetz bestimmten Lebens.
Aus dieser Aufhebung aller gegenseitigem Fremdheit und Zufälligkeit
der Wesenselemente entsteht das Gefühl einer in sich vollkommenen
Existenz dieser Gestalten.
Was man an ihnen von je als das Titanische, empirischen Bedingtheiten
und Relationen Enthobene empfunden hat, ist nicht nur die Übergewalt
ihrer Kräfte, sondern jene Geschlossenheit des innerlich-äußeren
Wesens, deren Mangel das spezifisch Fragmentarische unserer Existenz
ausmacht.
Denn dieses ist nicht einfach an der Unzulänglichkeit unserer Kraft
gelegen, sondern auch daran, daß die Seiten unseres Wesens keine Einheit
geben, daß die eine gewissermaßen der anderen die Grenze setzt: Körper
und Seele, Festgegebenes und Werdendes in uns, Sein und Geschick stehen
irgendwie gegeneinander, bringen sich gegenseitig aus dem Gleichgewicht.
Sobald wir einmal fühlen, daß durch alle diese Kanäle wirklich ein
Leben flutet, so braucht dieses gar kein besonders, starkes oder objektiv
fehlerloses zu sein .- es gibt uns doch ein Bewußtsein von Vollkommenheit
und entlastet uns von dem peinlichen Halb- und Halbtum der gewöhnlichen
Tagesexistenz.
Diese, ich möchte sagen, formale Vollkommenheit haben alle Menschen
Michelangelos, trotz der doppelten Tragik, mit der sich uns später gerade
das Fragmentarische des Lebens als das Verhängnis von Michelangelos
innerstem Bewußtsein herausstellen wird.
In der jetzt fraglichen Richtung jedenfalls ist der realisierte Sinn
seiner Gestalten immer das Leben in seiner Ganzheit und aus seinem
einheitlichen Zentrum heraus, und dargestellt in einem völligem
Gleichgewicht der Gegensätze, in die die empirischen Zufälle und die
Dogmen es etwa sonst zerreißen.
So hoch erhebt sich diese Einheit des Lebens über seine Polarität,
daß für die Gestalten Michelangelos sogar der Geschlechtsgegensatz
versinkt.
So wenig die männlichen und weiblichen Charaktere in der äußeren
Erscheinung etwa ineinander verschwimmen (was in der Geschichte der Kunst
aus sehr verschiedenartigen (-> 149) Motiven herraus geschehen
ist), so dringt ihr Gegensatz doch nicht in den letzten Kern, in die
letzte Seinstendenz dieser Wesen; hier vielmehr herrscht nur das
Menschliche als solches, die Geschlossenheit der Menschheitsidee und ihres
Lebens, die erst wie in einer oberen Schicht des Gegensatzphänomen von
Mann und Weib trägt.
Die ungeheure physische und charakterologische Mächtigkeit der
Gestalten der Sixtina und der Mediceerkapelle geben doch den Männern
nicht jenes spezifisch Maskuline, mit dem die italienische wie die
nordische Renaissance so oft die männlichen Typen ausstattet; und sie
nimmt den gleichgestalteten Frauen nicht die Weiblichkeit.
So wenig also diese Wesen geschlechtslos sind, so reicht doch das
Differentielle, einseitige, wenn man will: Unvollkommene der
Geschlechterteilung – da sie erst zusammen "den Menschen"
darstellen – nicht in jenes Zentrum hinein, aus dem diesen wie allen
Relationen das absolute Leben strömt.
Solche Vollkommenheit der Existenz, die über alle gegenseitige
Einschränkung ihrer Seiten hinaus ist, ist aber noch keineswegs
Seligkeit; ja sie kann deren äußerstes Gegenteil als den Inhalt ihrer
Form tragen.
Die erste Andeutung davon liegt in der ungeheuren Einsamkeit, die
Michelangelos Gestalten wie eine fühlbare und undurchdringliche Sphäre
umgibt.
Hier besteht ein tiefster Zusammenhang mit der Kunstform der Plastik
als solcher – die den Charakter der Einsamkeit trägt, viel mehr als
etwa die Malerei.
Die Grenzen der Welt, in denen die plastische Gestalt lebt, ihr idealer
Raum, sind nicht weiter und nichts anderes als die Grenzen ihres Körpers
selbst, außerhalb dieser ist keine Welt mehr, mit der sie zu tun hätte.
Indem der gemalte Mensch innerhalb eines umgebenden Raumes steht, ist
er in einer Welt, die auch noch für andere Platz hat, in die der
Beschauer sich hineindenken kann, so daß er gewissermaßen dem Menschen
nahe ist.
Der Mensch der Plastik und sein Beschauer aber könne nie von derselben
Luft umfangen sein, es ist gar kein Raum da, in dem die Phantasie, die mit
dem Beschauer kokettiert, so besonders widerwärtig und aus ihrer
Kunstidee herausfallend, viel schlimmer noch als die analoge Malerei.
Daß die Gestalten (-> 150) der Sixtina trotz ihrer
Zusammengehörigkeit in einer Idee und in der dekorativen Einheit
des Raumes so unendlich einsam wirken, als lebte jede in einer Welt, die
nur von ihr allein ausgefüllt wird, das ist, artistisch angesehen, der
Erfolg ihres plastischen Wesens.
Es sind keineswegs etwa "gemalte Skulpturen", als- wären sie
als - Skulpturen konzipiert und die diese sozusagen nachträglich
abgemalt.
Sondern sie sind durchaus nur als Gemälde gedacht, aber als solche
haben sie von vornherein das eigentümliche Lebensgefühl der Skulptur;
sie sind vielleicht die einzigen Erscheinungen in der Geschichte der
Kunst, die völlig im Stil und den Formgesetzen ihrer Kunst bleiben und
doch völlig aus dem Geiste einer anderen Kunst heraus empfunden sind.
Vielleicht ist die Plastik diejenige Kunst, die ein in sich
vollendetes, im Gleichgewicht aller seiner Momente stehendes Dasein
auszudrücken am meisten geeignet, ist.
Sieht man von der Musik ab, deren eigentümliche Absolutheit und
Abstraktheit ihr überhaupt eine Ausnahmestellung unter den Künsten gibt,
so sind alle anderen mehr als die Plastik in die Bewegtheit der Dinge
verflochten, sie sind sozusagen mitteilsamer, sind weniger porenlos gegen
die Welt außerhalb ihrer abgeschlossen.
Aber indem das plastische Werk die unbedürftige, fertiggewordene; in
sich ausbalancierte Existenz in ihrer reinsten Darstellung bieten kann,
wird es eben darum von der Einsamkeit wie von einem kühlen, durch kein
Schicksal zu lichtenden Schatten umgeben.
Natürlich ist diese Einsamkeit des plastischen Werkes etwas
ganzAnderes als die Einsamkeit der dargestellten Wesen - gerade wie die
Schönheit eines darstellenden Kunstwerkes nicht die Schönheit des
dargestellten Gegenstandes involviert.
Allein für die Kunst Michelangelos besteht dieser Gegensatz nicht.
Seine Gestalten erzählen nicht wie ein Porträt oder ein Historienbild
von einem Sein außerhalb ihrer; sondern wie in der Sphäre des Erkennens
der Inhalt eines Begriffes gültig und bedeutsam ist, gleichviel, ob ihm
jetzt oder hier ein seiender Gegenstand korrespondiere oder nicht, so sind
diese Skulpturen Gestaltungen des Lebens, die ganz jenseits der Frage nach
Sein oder Nichtsein in anderen Sphären der Existenz stehen.
Ganz unmittelbar, nicht erst durch ein ihnen jenseitiges Dasein legimiert,
(->
151) sind sie, was sie darstellen, und ahmen nicht etwas was
außerhalb dieser Nachahmung vielleicht anders charakterisiert sein
könnte; was ihnen als Kunstwerk zukonmmt, kommt ihnen ganz und gar zu.
Nicht von irgendeiner Realität, die der Notte entspräche, kann man
die Sterbensmüdigkeit aussagen, der auch die unwahrscheinlichste,
gequälteste Lage recht ist, wenn sie nur schlafen kann - so wenig wie man
es von dem Stück Stein aussagen kann; sondern - wenn der etwas
verschlissene und allzu handlich gewordene Ausdruck gestattet ist - die
"Idee" eines bestimmten Lebens nach Sinn, Stimmung, Schicksal
ist hier genau so anschaulich geworden, wie sie es in einem anderen Modus
und unter anderen Kategorien auch als Gestalt eines lebenden Menschen
werden kann.
Von jenen anschaulich ideellen Figuren in ihrer vollen Unmittelbarkeit
und Selbständigkeit gilt der Eindruck jener unendlichen Einsamkeit und
sie bringen damit den Zug des tiefen, eigentlich schon tragisch gefärbten
Ernstes auf seinen Höhepunkt, der im Wesen der Plastik überhaupt
begründet ist und den sie mit der Musik teilt.
Denn beiden ist, ich deutete dies an, die allen anderen Künsten
überlegene Geschlossenheit eigen, die Unmöglichkeit, ihren Raum mit
irgend anderen Existenzen zu teilen, ein Mitsichalleinsein; das bei
Michelangelo sich in der absoluten inneren Balance aller Elemente
vollendet und dessen unvermeidlich melancholischen Gefühlsreflex Franz
Schubert einmal in der erstaunten Frage ausdrückte: "Kennen Sie
eigentlich heitere Musik? Ich nicht."
Es ist nur auf den ersten Blick eine Paradoxe, diese Frage auf die
Plastik übertragen zu wollen.
Die Gestalten Michelangelos, wie sie die vollendetsten der Plastik
sind, enthüllen ihren düsteren, schweren Ernst zunächst als die
Vollendung einer rein formal künstlerischen Bedingtheit der Plastik als
solcher.
So ist im allgemeinsten darauf hingezeigt, daß jene Ausgleichung der
Wesenselemente, die vor Michelangelo mehr oder weniger beziehungs- und
gleichgewichtslos bestanden hatten noch keineswegs eine sozusagen
subjektive Perfektion, eine Seligkeit an dem von allem
Menschlich-Fragmentarischen unberührten Vollkommensein ausdrückt.
Am fühlbarsten wird dies an der Synthese eines Antagonismus, die sich
an, den Gestalten (-> 152) Michelangelos gewaltiger und
bedeutsamer vollzieht als irgendwo sonst in der Kunst.
Es handelt sich jetzt um die physikalische, den Körper niederziehende
Schwere und den Bewegungsimpuls, der von der Seele her der Schwere
entgegenwirkt.
Jede Bewegung unserer Glieder zeigt in jedem Augenblicke den jeweiligen
Stand des Kampfes zwischen diesen Parteien.
Die willensmäßigen Energien bestimmen unsere Glieder nach ganz
anderen Normen, in ganz anderer Dynamik als die physikalischen, und
unser Leib ist der Kampfplatz, auf dem beide sich treffen, sich ablenken
oder sich zu Kompromissen nötigen.
Vielleicht ist dies das einfachste Symbol unserer dauernden Lebensform:
diese bestimmt sich durch den Druck, den Dinge und Verhältnisse, Natur
und Gesellschaft auf uns ausüben und die Gegenbewegungen unserer
Freiheit, die diesen Druck entweder aufheben oder sich von ihm
vergewaltigen lassen, ihn bekämpfen oder ihm ausweichen.
An diesem Entgegenstehenden, feindlich Iastenden findet die Seele
freilich die einzige Möglichkeit, sich zu bewähren, zu schaffen, in
Wirksamkeit zu treten.
Sie würde ihrer Freiheit unbeschränkt folgend, sich im Unendlichen
verlieren, ins Leere fallen, wie der Meißelschlag des Bildhauers, wenn
ihm nicht der Marmor eine harte Selbständigkeit entgegenstellte.
Es ist vielleicht die tiefstgelegene Komplikation unseres Lebens, daß
dasjenige, was seine Spontaneität, einschränkt und sein freies
Emporstreben niederdrückt, doch zugleich die Bedingung ist, unter der
allein dieses Tun und Streben zu einer. sichtbaren Außerung, einem
formenden Schaffen gelangen kann.
Wie diese beiden Elemente sich in das Leben teilen, welches
Übergewicht oder Gleichgewicht zwischen ihnen herrscht, wie weit sie sich
spannen oder zu welcher Einheit sie sich verweben - das entscheidet über
den Stil der einzelnen Erscheinungen und der Totalitäten von Leben wie
von Kunst.
In den Gestalten Michelangelos nun setzen sich die herabziehende
Schwerkraft und die nach oben strebenden seelischen Energien mit
feindseliger Härte gegeneinander ab, als die aus unversöhnlicher Distanz
gegeneinander stehenden Parteien des Lebens - und durchdringen sich
zugleich im Kampfe, halten sich die Wage, erzeugen eine Erscheinung von so
unerhörter Einheit, (-> 153) wie die Spannung der von ihr
zusammengeschlossenen Gegensätze unerhört ist.
Seine Figuren sind meistens sitzende oder liegende - in unmittelbarem
Widerspruch zu den Leidenschaftlichkeiten ihrer Seele.
Aber mit der Zusammengehaltenheit, man möchte sagen Komprimiertheit
von Attitüde und Umriß bringen sie das Widerspiel, die innere
Gespanntheit ihrer Lebensprinzipien und die siegend-besiegte Macht eines
jeden zu gewaltigerem Ausdruck, als irgendeine ausflackernde Gebärde es
könnte.
Wir fühlen, wie die Masse der Materie diese Gestalten in ein
namenloses Dunkel hinabziehen will, gerade wie auch den Säulen an
Michelangelos Architekturen manchmal von der lastenden Mauer die
Möglichkeit des Emporstrebens und Aufatmens genommen scheint.
Gegen diese Wucht, die wie das Schicksal selbst und als dessen Symbol
auf seinen Gestalten oder richtiger in ihnen lastet, strebt nun aber eine
ebenso große Kraft an, eine leidenschaftliche, aus dem Innersten der
Seele ausbrechende Sehnsucht nach Freiheit, Glück, ErIösung.
Wie aber allenthalben der negative Faktor dem positiven überlegen zu
sein pflegt und dem Endresultat seinen Charakter mitteilt, so bleibt als
Gesamteindruck jener Gestalten die unheilbare Schwermut zurück, ein
Gefangensein in der Lastung niederziehender Schwere, eines Kampfes ohne
Aussicht auf Sieg.
Dennoch sind die Elemente von Schicksal und Freiheit, wie sie sich
anschaulich als die Schwere und die ihr entgegenstrebende seelische
Innervation verkörpern, hier näher, einheitlicher, zu entschiedener
Äquivalenz zusammengerückt, als in irgendeiner anderen Kunst.
Freilich wirkt in der Antike das Schwere und die Spontaneität zu einer
völlig beruhigenden, nirgends einen einseitigen Ausschlag gestattenden
Erscheinung zusammen.
Aber ihre Einheit ist hier sozusagen von vornherein vorhanden, zu einer
Spannung der Gegensätzlichkeit kommt es überhaupt nicht, das
Zusammenwirken der Gegenrichtungen ist ein Friede ohne vorhergegangenen
Kampf und deshalb ohne besonderes, auf ihn zugespitztes Bewußtsein.
Im Barock andererseits verschieben sich die Elemente in wechselnde
Übergewichte.
Es gibt einerseits eine dumpfe Massigkeit und eine materielle Schwere,
der sich keine formgebende Bewegung von innen her entgegensetzt, eine
Befangenheit im Stoff- quantum, (-> 154) das nur noch erdwärts
hin wirkt.
Und dann wieder eine affektvolle Bewegtheit, die nach den physischen
Bedingtheiten und Hemmungen nicht mehr fragt, als gäbe es nur noch die
Leidenschaft von Wille und Kraft, die sich den gesetzmäßigen
Zusammenhängen des Körpers und der Dinge entrissen hat.
Die tödlich gegeneinander stehenden Richtungen, die bei Michelangelo
von einer unerhört starken Lebenseinheit zusammengezwungen waren, fielen
im Barock auseinander, und nun zwar in der Macht und Unbedingtheit, die
gerade Michelangelo ihnen gegeben hatte und geben mußte, damit die
gigantische Lösung ein gigantisches Problem vorfände.
In den Figuren der Decke und noch mehr denen der Gräber und in den
Sklaven ergreift die Schwere die aufwärts strebende Energie selbst, sie
dringt zu dem tiefsten Sitz der ihr entgegengesetzten, sie aufhebenden
Impulse und läßt diese schon von Anfang an nicht frei; wogegen dann
wieder die lastende Masse, die fühlbare Schwere in ihrem Innersten von
jenem geistigen, um Freiheit und Helle kämpfenden Impulse getroffen und
durchseelt ist.
Das, was sich befreien will, und das, was die Befreiung hindert, fällt
absolut in einen Punkt zusammen, in den Indifferenzpunkt der Kräfte, in
dem dann freilich die Erscheinung manchmal wie paralysiert steht, wie
erstarrt in dem großen Augenblick, in dem die entscheidenden
Lebensmächte sich in ihr gegenseitig aufheben; ein von seiner
innerlichsten Einheit her tragisches Leben hat sich in jenen Dualismus
auseinandergelegt und wächst wieder aus ihm auf.
Vielleicht nur noch in manchen ägyptischen Skulpturen findet diese
Kompaktheit und Erdschwere der Steinmasse eine Analogie.
Aber ihnen fehlt die gleichzeitige Belebtheit des Steines durch die
entgegengesetzt strebenden Impulse.
Er ist nicht in dem Gravitationsakt selbst in die Richtung der Seele
gerissen; sein Inneres bleibt vielmehr bloß Stein, bloß naturhafte, in
den Kampf der Weltprinzipien noch nicht hineingezogene, noch nicht zur
Form gedrängte Schwere.
Indem ihm Form, Leben, Seele von außen angefügt wird, berühren sich
Gegensätze sozusagen räumlich, ohne innerlich zu einer Einheit - sei es
der Balance, sei es des Kampfes, sei es wie bei -Michelangelo von beidem
zugleich -, zu gelangen.
Es ist nicht (-> 155) Drängen zur Einheit, das nicht
befriedigt wird – während wirkliche Einheit der Prinzipien bei
Michelangelo Befriedigung die wirkliche Einheit der Prinzipien bei
Michelangelo Befriedigung in der Unbefriedigtheit und Unbefriedigtheit in
der Befriedigung offenbart -, sondern es ist die dumpfe, noch unlebendige
Spannung, bevor es zu einem Drängen kommt.
Dies gibt den ägyptischen Statuen eine Gelähmtheit im Dualismus,
manchmal etwas unendlich Trauriges, im Gegensatz zu der Tragik in den
Gestalten Michelangelos.
Denn Tragik liegt ja wohl da vor, wo Bedrängnis oder Vernichtung einer
Lebensenergie durch ein Feindseliges sich nicht an ein zufälliges oder
äußerliches Aneinandergeraten der beiden Potenzen knüpft; sondern wo
dieses Schicksal, der einen durch die andere bereitet, dennoch in jener
schon als ein unvermeidliches präformiert ist.
Die Einheitsform dieser Wesen ist der Kampf.
Die unvollendeten Figuren Michelangelos (aber keineswegs nur sie)
steigen wie mühsam und kämpfend aus dem Marmorblock heraus - der
äußerste Gegensatz etwa zu dem Bilde, dem anschaulichen und dem
symbolischen, der aus dem Meere heraussteigenden Aphrodite.
Hier entläßt die Natur freudig die Schönheit, das beseelte Dasein
aus sich, weil sie in ihm ihr eigenes Gesetz erkennt und sich nicht in dem
höheren Gebilde verliert.
Bei Michelangelo aber scheint der Stein seine eigene abwärts
gerichtete Natur, seine schwere Formlosigkeit eifersüchtig zu bewahren
und gibt seinen Konflikt mit dem höheren Gebilde nicht auf, das er doch
hergeben muß.
Das eben Formulierte: daß die besondere Art, auf die die Gegensätze,
hier zur künstlerischen Einheit gelangen, der Kampf ist - bezeichnet eine
Kategorie, in deren metaphysischer Tiefe sich einige der für das
Geistesleben epochalsten Geister zusammeligefunden haben.
Es scheint; als ob Heraklit eben dies gemeint hätte, als er das
Weltsein als die Relation und Einheit von Gegensätzen begriff und
zugleich den Streit für das schöpferische und formende Prinzip
erklärte.
Es muß ihn dabei das Gefühl geleitet haben, Kampf bedeute nicht nur,
daß der eine gegen den anderen und der andere gegen den einen kämpft,
also nicht nur eine Summierung zweier Parteien, von denen jede für sich
in bestimmter Weise bewegt ist, sondern es sei eine in sich ganz
einheitliche Kategorie, von der die Zweiheit Inhalt oder Erscheinung ist,
wie man etwa von einem Pendelschlag (-> 156) spricht, der die
beiden einander entgegengesetzten Bewegungen einschließt.
In dem Außereinander und Gegeneinander der Parteien lebt ein
einheitliches Geschehen, die Tatsache, daß das Leben die Einheit des
Mannigfaltigen ist, kann sich nicht stärker, intensiver, tragischer
ausdrücken, als indem die Einheit nicht friedliche Kooperation von
Elementen, sondern ihr Kampf und ihr gegenseitiges Sichaufhebenwollen ist.
Diese Einheit des Lebens, erst an solcher Gewalttätigkeit seiner
Spannung ganz fühlbar, gestaltet sich metaphysisch, wenn für Heraklit
die Welt als Ganzes das Ineinsfallen der Gegensätze und das Erzeugnis des
Streites ist, sie spricht sich durch Michelangelo formal künstlerisch
aus, wenn er die Gegensätze der aufwärtsstrebenden Seele und der
niederwärts ziehenden Schwere in ein Bild von unvergleichbarer
anschaulicher Geschlossenheit zwingt: so daß die Körperschwere selbst
sich als ein in die Seele dringendes oder vielmehr in ihr selbst
entspringendes Moment, aber zugleich der Konflikt zwischen Seele und Leib
als ein Kampf der entgegengesetzten Intentionen des Körpers offenbart.
Damit haben die Gestalten Michelangelos jene existenziale Vollendung
erreicht, die man von jeher an ihnen empfunden hat, andrerseits ist
sozusagen die Aufgabe der Kunst überhaupt damit gelöst.
Was in der natürlichen wie in der geschichtlichen Wirklichkeit
auseinanderbricht, fremd nebeneinander steht, sich gegenseitig zu
Fragmenten verstümmelt, ist hier in der Form der Kunst in ein
höheres Leben vereinheitlicht.
Aber dennoch - und damit wendet sich die Erscheinung Michelangelos zu
einem, gegen alles bisherige neuen Problem, zu ihrem eigentlichen Problem
- zeigen diese Gestalten eine furchtbare Unerlöstheit: es bleibt der
Eindrück, daß all ihr Sieg über irdisch individuelle Bedürftigkeit,
alle titanische Vollkommenheit, alles Eingesammelthaben jeglicher Kraft
und Bestrebung des Daseins - eine Sehnsucht zurückgelassen hat, deren
Erfüllung in jene geschlossene Daseinseinheit nicht einbezogen ist.
Die Deutung dieser Tatsache geht auf das entscheidende Motiv nicht nur
für den Charakter der Gestalten Michelangelos, sondern auch seines
künstlerischen Gestaltungsprozesses und schließlich seines Lebens
selbst. (-> 157)
Das Schicksal nun, von dem hier die Rede ist, erhebt sich aus
demRenaissancecharakter seines Werkes.
Die Richtung des Lebenswillens und der Sehnsucht seiner
Gestalten verläuft durchaus innerhalb der Ebene des
Irdischen; in ihr werden sie von einem ungeheuren Bedürfnis nach
Erlösung bedrängt, nach einem Nachlassen des Druckes, nach einem
Nichtmehrkämpfen - einem Bedürfnis, dessen Intensität durch die
gigantischen Maße, ihres Seins bestimmt ist.
Die Vollendung ihres Seins ist kein Widerspruch gegen dieses Begehren
nach einem Volleren, Glückseligeren, Freieren: es gehört zu dem nicht
leicht Ermeßlichen ihrer Existenz, daß ihre Sehnsucht als ein Teil ihres
Seins in dieses eingeschlossen ist, wie ihr Sein in ihre Sehnsucht.
Aber wie dieses Sein durchaus ein irdisches ist. genährt von den
Kraftquellen, aus allen weltlichen Dimensionen, so gilt ihr Sehnen
freilich einem Absoluten, Unendlichen, Unerreichbaren - aber unmittelbar
und eigentlich keinem Transzendenten; es ist ein irdisch Mögliches, wenn
auch nie Wirkliches, auf das sie innerlich blicken, eine Vollendung, die
keine religiöse, sondern die ihres eigenen gegebenen Seins ist, eine
Erlösung, die von keinem Gotte kommt und ihrer Gerichtetheit nach nicht
von ihm kommen kann; sondern die ein Schicksal aus den Mächten des Lebens
ist.
In jenem innersten Sinne, in dem die Sehnsucht der Wesen ihr Sein
bildet, sind diese Gestalten zwar überempirisch, aber nicht überirdisch.
Die religiöse Sehnsucht, wie das Christentum sie erweckt und die Gotik
sie gestaltet hatte, ist wie durch eine Achsendrehung in die Richtung des
Irdischen, des seinem Sinne nach Erlebbaren, obgleich nie Erlebten
gefallen; sie hat die ganze Leidenschaft, das ganze Ungenügen an allein
wirklich Gegebenen, die ganze Absolutheit eines "Dahin, Dahin",
mitgebracht - hat in die Welt mitgebracht, was aus und in der Beziehung
auf die Überwelt entstanden war.
Der unendliche Verlauf irdischer Linien trat an die Stelle der
Linienrichtung in das Überirdische, die, wenn man genau hinsieht, gar
nicht in demselben Maße unendlich ist, sondern, wann immer es sei, an ihr
Ziel und Definitivum gelangen kann.
Es ist die tiefste Bezauberung durch das Religiöse, daß sein
Gegenstand ein Unendliches ist, das schließlich doch durch eine endliche
Bemühung und am Abschluß eines (-> 158) endlichen Weges, sei
es am jüngsten Tage, gewonnen wird.
Transponiert sich aber das religiöse Gefühl: der Rhythmus, die
Intensität, das Verhältnis des einzelnen Momentes zum Ganzen des
Daseins, wie die Transzendenz des Christentums es ausgebildet hatte - in
das Irdische hinein, so kehrt jenes Verhältnis sich um: dem Geiste
schwebt jetzt ein Ziel vor, das seinem Wesen nach endlich ist, aber nun
ist es, indem es jene Bestimmungen in sich aufgenommen hat, ein
Unerreichbares, ein ideelles Ziel, das zwar der Sehnsucht ihre Richtung
vorschreibt, sie aber innerhalb jedes Endlich-Ausdenkbaren zu keinem
Abschluß führt.
Es hat sich ein Widerspruch zwischen der Form des begehrenden und
strebenden Lebens und seinem Inhalt aufgetan, der Inhalt, den jene jetzt
aufnehmen soll, ist ihr nicht innerlich adäquat, da sie sich an einem
ganz anderen gebildet hat.
Die christliche, gotische Sehnsucht braucht den Himmel, und, sich in
die irdische, die Renaissancedimension verlegend, muß sie einem
Unfindbaren nachglühen oder nachstarren.
Die Religion zeigt dem Menschen das ersehnte Unendliche in einer
endlichen Weite, während hier ein ersehntes Endliches in unendliche Weite
rückt - der verhängnisvolle logische Ausdruck dafür, daß ein Mensch
mit einer religiösen, dem Unendlichen, Absoluten zugewandten Seele in das
Leben und den Stil einer Zeit hineingeboren wurde, die ihre Ideale vom
Himmel auf die Erde zurückgeführt und ihre letzten Befriedigungen in der
künstlerischen Formung des bloß Natürlichen gefunden hatte.
Seine Gestalten scheinen an Größe, Kraft, Ausgeglichenheit aller
menschlichen Energien den Punkt der Vollendetheit erreicht zu haben.
Es geht auf ihrem Wege nicht weiter, auf dem sie sich dennoch zu einem
Weitesten fortgetrieben fühlen.
Solange der Mensch noch irdisch unvollkommen ist, mag er ins
Unbestimmte hinein streben und offen; was aber bleibt dem, den eine für
ganz andere Dimensionen bestimmte Sehnsucht erfüllt, wenn er in der ihm
allein gegebenen irdischen an ihr Ende gelangt ist, das er nun doch nicht
als wirklichen Abschluß fühlt - was anderes als ein offnungsloses
Hinaussehen ins Leere?
Vollkommen zu sein und zugleich unselig - damit ziehen diese Gestalten
den Schluß aus ihren beiden Prämissen. (-> 159)
Es gibt ein Werk Michelangelos, für das alle bisherigen Bestimmungen
nicht gelten, in dem weder der Dualismus der Lebensrichtungen in seiner
künstlerisch formalen Aufhebung fühlbar ist, noch der hoffnungslosere
zwischen dem im Anschalichen beschlossenen Gebilde und der Forderung und
Begehrung des Unendlichen.
In der Pietà Rondanini ist die Gewaltsamkeit, die Gegenbewegung, das
Ringen ganz verschwunden, es ist sozusagen kein Stoff mehr da, gegen den
die Seele sich zu wehren hätte.
Der Leib hat den Kampf um seinen Eigenwert aufgegeben, die
Erscheinungen sind wie körperlos.
Damit hat Michelangelo das Lebensprinzip seiner Kunst verleugnet; aber
wenn dies Prinzip ihn in jene fürchterliche Unerlöstheit, jene Spannung
zwischen einer transzendenten Leidenschaft und ihrer körperhaften und
notwendig inadäquaten Ausdrucksform verstrickte, so ist hier die
Verneinung des Renaissanceprinzips dennoch nicht zur Schlichtung dieses
Widerstreits geworden.
Die Erlösung nämlich bleibt eine rein negative, nirwanaähnliche; der
Kampf ist aufgegeben, ohne Sieg und ohne Schlichtung.
Die Seele, hier von der Körperschwere befreit, hat den Siegeslauf ins
Transzendente nicht angetreten, sondern ist an dessen Schwelle
zusammengebrochen.
Es ist das verräterischste und tragischste Werk Michelangelos, es ist
das Siegel unter seine Unfähigkeit, auf dem Wege des künstlerischen, in
der sinnlichen Anschauung zentrierten Schaffens zur Erlösung zu gelangen.
Dies ist das letzte, erschütternde Verhängnis seines Lebens, wie
seine späten Gedichte es verkünden, daß er seine ganze Kraft, die ganze
lange Mühe seines Daseins an ein Schaffen gesetzt hat, das sein
endgültiges Bedürfen, seine tiefsten Notwendigkeiten nicht erfüllt hat,
nicht erfüllen konnte, weil es in einer anderen Ebene verläuft, als in
der die Gegenstände dieses Sehnens liegend.
Die Lügen dieser Welt beraubten mich
Der Zeit, gegeben um auf Gott zu schauen. -
Nicht Malen und nicht Meißeln stillt die Seele,
Sie sucht die Liebe Gottes zu schauen. –
Nicht Malen und nicht Meißeln stillt die Seele,
Sie sucht die liebe Gottes, die am Kreuze
Die Arme breitet, uns darein zu schließen. - (->160)
Dem, der da lebt, kann das, was sterben wird,
Die Sehnsucht nicht befriedigen.
Es ist kein Zweifel: das tiefste, furchtbarste Erlebnis war für ihn
dies, daß er schließlich in seinem Werke die ewigen Werte nicht mehr
erblickte; daß er sah, sein Weg war in einer Richtung gelaufen, die ihn
zu dem, was nottat, überhaupt nicht hinführen konnte.
Die Konfessionen seiner Gedichte zeigen von vornherein, daß in der
Kunst, die er schafft, und in der Schönheit, die er anbetet, ein
Übersinnliches ist, aus dem für ihn der Wert beider fließt.
Er spricht einmal von der beglückenden Schönheit des in der Kunst
dargestellten Menschen; hätten aber die Unbilden der Zeit das Werk
zerstört, so
- - taucht zeitlos erste Schönheit wieder auf
Und führt die eitle Lust in höhere Reiche.
Und nun war es offenbar die große Krisis seines Lebens, daß er den
absoluten Wert, die über alle Anschauung hinausliegende Idee
ursprünglich in der Anschauung der Kunst und der Schönheit vollgültig
vertreten fand - und im Alter einsah, daß all jenes in einem Reiche
liegt, zu dem es an der Hand dieser keinen Aufstieg gibt.
Sein tiefstes metaphysisches Leiden war, daß dasjenige, wodurch uns
das Absolute, Vollkommene, Unendliche allein offenbar wird: die
Erscheinung und ihr Reiz - uns dieses zugleich verhüllt, uns zu ihm zu
führen verspricht und uns von ihm wegführt.
Und diese Erkenntnis wurde eben zur Krisis und zum erschütternsten
Leiden, weil sein Herz und seine künstlerisch sinnliche Passion darum
nicht weniger gewaltsam und unablösbar an diesem Erscheinenden und seinem
Reize haften blieben.
Er sagt sich den Trost vor, den er schließlich doch im Tiefsten nicht
glaubt: es könne doch keine Sünde sein, die Schönheit zu lieben, da
Gott ja auch sie gemacht hätte - -.
Es ist begreiflich, daß diese Seele von der Kunst und von der Liebe
beherrscht wurde; denn in dieser nicht weniger als in jener glauben wir
mit dem Irdischen ein Mehr-als-irdisches zu besitzen:
Was ich in deiner Schönheit lese, liebe,
Bleibt einer Erdenseele fern und fremd:
Wer es erschauen will, der muß erst sterben. (-> 161)
Es war die Schicksalsformel seiner Seele, die ganze Fülle des
Unendlichen der ganzen Fülle des Endlichen abzufordern: Kunst und Liebe
sind die beiden Mittel, die die Menschheit der Erfüllung dieser Sehnsucht
bietet und für die das Genie und die Leidenschaft Michelangelos geboren
ist - so daß er ihnen beiden verfallen bleibt, auch als er sie längst
als untauglich für jene Schicksalsforderung erkannt hat.
In diesem Verhältnis gipfelt sich das Gefühl auf, das seine ganze
Existenz begleitet zu haben scheint: daß diese Existenz ein Fragment ist,
daß ihre Stücke nicht zu einer Einheit zusammengehen.
Vielleicht erklärt dies den ungeheuren Eindruck der Vittoria Colonna.
Hier trat ihm vielleicht zum ersten Male der sozusagen formal in sich
vollkommene Mensch gegenüber, der erste, der gar nicht Fragment und
Dissonanz war; offenbar ein äußerster Fall der typischen Empfindung, die
sehr vollkommene Frauen oft gerade in starken und hervorragenden Männern
auslösen.
Es ist gar nicht diese und jene einzelne Vollkommenheit, an die ihre
Verehrung sich knüpft, sondern die Einheit und Ganzheit der Existenz, der
gegenüber der Mann sein Leben als ein bloßes Bruchstück, als einen
Komplex nicht fertig gewordener Elemente fühlt - gleichviel ob jedes von
diesen jenes Ganze an Kraft und Bedeutung übertreffe.
Als Michelangelo sie kennen lernte, war er ein alter Mann, so daß er
wußte, er würde das Unvollendete seiner Existenz, das gegenseitige
Sichhemmen und Abbruchtun seiner Wesensseiten nicht mehr aus eigener Kraft
zur Geschlossenheit und Abrundung führen.
Daher die maßlose Erschütterung beim Anblick einer Existenz, in der
das Fragment keinen Platz hatte und die er deshalb in der Form des Lebens
- die ihm, als dem ganz tiefen und von dem Renaissanceideal erfüllten
Menschen, dessen eigentlichen Wert bedeutete - sich so unbedingt
überlegen fühlte, daß ihm der Gedanke gar nicht kam, er habe doch in
der Einzelheit seiner Leistungen auch etwas dagegen einzusetzen.
Daher seine demütige Bescheidenheit ihr gegenüber.
In die Schicht, in der ihre Vollkommenheit lag, ragte eben die einzelne
Leistung als solche, wie gewaltig sie auch sei, ihrem Begriffe nach gar
nicht hinein.
Hier offenbart sich seine Liebe nicht als ein einzelnes, andern
koordiniertes Erlebnis, sondern als die Konsequenz und die Erfüllung
eines Gesamtschicksals.(-> 162)
Und damit löst sich ein eigentümliches Problem, das sich gerade an
den erotischen Zug seines Bildes knüpft.
Seine Gedichte lassen durch ihre Zahl, ihren Ton und viele unmittelbare
Äußerungen nicht den geringsten Zweifel, daß sein Leben fortwährend
erotisch bewegt war, und zwar in der leidenschaftlichsten Weise.
Oft genug bringen seine Gedichte dieses Liebesleben in, symbolische
Verbindung mit seiner Kunst.
Und nun ist das ganz Merkwürdige: daß diese Kunst weder inhaltlich
noch stimmungsgemäß irgendein Zeichen dieser Erotik trägt.
Bei allen anderen erotisch gestimmten Künstlern vibriert dieser Ton
unverkennbar in ihren Gestaltungen, bei Giorgione wie bei Rubens, bei
Tizian wie bei Rodin.
Nichts davon bei Michelangelo.
Das, was seine Gestalten zu sagen und zu leben scheinen, ebenso wie die
stilistische Atmosphäre, in die die Stimmung des Schöpfers sie taucht,
enthält keinen Laut dieses wie überhaupt irgendeines einzelnen Affektes.
Sie stehen unter dem Druck eines allgemeinen Schicksals, in dem alle
inhaltlich angebbaren Elemente aufgelöst sind.
Es lastet auf ihnen und es erschüttert sie das Leben als ganzes, das
Leben als Schicksal überhaupt, das über uns allen, um uns alle liegt und
nur im Verlauf der Tage sich zu Erlebnissen, Affekten, Suchen und Fliehen
vereinzelt.
Aus all solchen Sondergestaltungen, in denen die Tatsache des
Schicksals überhaupt konkret wird, tritt der Mensch Michelangelos
zurück, er offenbart diese Tatsache in ihren Eigenschwingungen, gelöst
von all den Erscheinungsweisen, zu denen das Dies und Das der Welt sie
veranlaßt.
Aber es ist nicht die Abstraktion des Menschen der klassischen Plastik,
der, von wenigen Andeutungen (besonders an griechischen Jünglingsköpfen)
abgesehen, sich jenseits des Schicksals stellt.
Die griechischen Idealfiguren - vor der Zeit des Hellenismus - mögen
"lebendig" genug sein, aber das Leben als solches ist ihnen
nicht Verhängnis, wiefür die Figuren der Sixtinischen Decke und der
Mediceergräber.
Von hier aus nun fällt auch über seine Liebesgedichte ein Licht, das
ihre Fremdheit gegen den Charakter seiner Kunst mindert.
So subjektiv, zugespitzt, als unmittelbar persönliches Erlebnis die
erotische Leidenschaft ihn bewegt, so ist es doch das Schicksalsmoment der
Liebe, in dessen Herrschergewalt (-> 163) all ihre Fulgurationen
zentrieren.
Der spezifische Inhalt der Erotik ragt nicht in seine Werke hinein;
aber die Tatsache des Schicksals, auf das die Liebe zurückgeführt oder
zu dem sie erweitert wird, ist der Generalnenner seines Erlebens, seiner
Gedichte und seiner Kunst.
Nur in einigen Bildern von Hodler ist diese Empfindung wieder mächtig:
die Liebe ist nicht bloß der Affekt, der auf räumlich-zeitliche Punkte
beschränkt wäre, sondern sie ist eine Luft, die wir atmen und der wir
nicht entfliehen können, ein metaphysisches Schicksal, das dumpf und
brennend, lastend und bohrend über der Menschheit und dem Menschen liegt.
Sie ergreift uns wie die Drehung der Erde, die uns mit sich
herumwirbelt, ein Los, das nicht nur den Menschen, als der Summe von zum
individuellen Schicksal wird, sondern das uns objektive, durch die Welt
hindurch waltende Kraft erfaßt.
Daß das Einzelschicksal ein mit dem Leben überhaupt ein gegebenes
ist, daß der Rhythmus des Lebens das Wesentliche und Entscheidende der
individuellen Lose ist, und daß jener Rhythmus ein Schweres,
unentfliehbar Lastendes, jedem Atemzuge Beigemischtes ist, - das ist das
Gemeinsame seiner Liebesgedichte und seiner Skulpturen.
Es ist nicht das anthropomorphe Aufblasen des eigenen Loses zum
Weltfatum, sondern das geniale metaphysische Fühlen des Weltwesens, aus
dem ihm das eigene fließt und deutbar wird.
Seine Gestalten drucken dasselbe Letzte an menschlicher Größe aus,
wie seine innere Attitüde zum Leben: daß das Schicksal von Welt und
Leben überhaupt den Kern und Sinn des persönlichen Geschickes bildet,
und daß, von der anderen Seite gesehen, dies Persönliche nicht nach
seinem ganz subjektiven Reflex, nach den verfließenden Zuständen von
Lust und Leid gilt, sondern nach seiner überpersönlichen Bedeutung, nach
seinem Wert als ein objektives Sein.
Wenn deshalb seine späteren Gedichte von dem ewigen Verderben
sprechen, das ihn erwartet, so zittert darin nicht etwa Angst vor den
Leiden in der Hölle, sondern die rein innere Qual: ein solcher zu sein,
der die Hölle verdient.
Sie ist nur der Ausdruck für die Unzulänglichkeit seines Seins und
Sichverhaltens, - absolut unterschieden von dein Zukreuzekriechen der
Schwachen.
Die Hölle ist hier nicht ein von außen drohendes Geschick, sondern
die logische, (-> 164) kontinuierliche Entwicklung der irdischen
Beschaffenheit.
Das schlechthin Transzendente, den Richtungen der irdischen Geschicke
schlechthin Entzogene von Himmel und Hölle, wie es etwa Fra Angelico
empfunden hat, lag ihm ganz fern.
Auch hier offenbart sich sein ganzes Renaissancetum: an das
irdisch-persönliche Dasein wird die absolute Forderung gestellt, die
objektiven Werte erfüllen sich mit subjektivem Leben,- aber eben damit
wird dieses der zufälligen Subjektivität der egozentrischen
Zuständlichkeit enthoben.
Es ist der Personalismus, den Nietzsche gelehrt hat und der ihm eine so
tiefe Beziehung zum Renaissance-Ideal gab; gewiß kommt es auf das Ich und
schließlich nur auf das Ich an, aber nicht auf dessen Lust- und
Leidempfindungen, die sozusagen das Weltsein nichts angehen, sondern auf
den objektiven Sinn seiner Existenz.
Daß er in irdischem, von seiner Freiheit geformten und umgrenzten
Leben unvollkommen, fragmentarisch, dem Ideal untreu ist - das ist die
Qual Michelangelos, und die religiös-dogmatische Vorstellung der
Höllenstrafe ist nur deren zeitgeschichtlich bestimmte Projizierung.
In den Qualen, von denen er sich im Jenseits erwartet glaubt,
versinnlicht sich nur, daß er einem transzendenten, absoluten Ideal nach
den Bedingungen seiner Zeit und Persönlichkeit nur mit den Mitteln und in
der Linie eines erdhaften Daseins zustrebte und über die
Brückenlosigkeit des Abgrunds zwischen beiden erschauerte.
Ich erwähnte schon den Charakter der Tragik, den die Gestalten
Michelangelos zeigen, und der nun hier seine ganze Tiefe in seinem
Gesamtleben wiederholt.
Tragik schien uns zu bedeuten, daß dasjenige, was gegen den Willen und
das Leben, als deren Widerspruch und Zerstörung gerichtet ist, dennoch
aus dem Letzten und Tiefsten des Willens und des Lebens selbst wächst -
im Unterschied gegen das bloß Traurige, in dem die gleiche Zerstörung
aus einem gegen den innersten Lebenssinn des zerstörten Subjekts
zufälligen Verhängnis gekommen ist.
Daß die Vernichtung aus demselben Wurzelgrunde stammt, aus dem das
Vernichtete in seinem Sinn und seinem Wert gewachsen ist, macht das
Tragische aus und darum ist Michelangelo die ganz und gar tragische
Persönlichkeit.
Was sein Leben, das auf das (-> 165) künstlerisch
Anschauliche, irdisch-Schöne gerichtet war, zum Scheitern brachte, war
die transzendente Sehnsucht, vor der jene Richtungsnotwendigkeit zerbrach;
aber diese Sehnsucht war nicht weniger notwendig, sie stammte aus dem
tiefsten Fundamente seiner Natur, und darum konnte er jener inneren
Vernichtung so wenig entrinnen, wie er sich von sich selbst abtun konnte.
Ihm und seinen Gestalten tritt die "andere" Welt entgegen,
unbegreiflich fern, Unerfüllbares fordernd, fast mit der drohenden und
schreckhaften Gebärde des Christus auf dem jüngsten Gericht, das
vernichtende Schicksal ihres Lebenswillens.
Aber sie sind von vornherein mit diesem Problem und Bedürfnis eines
Absoluten, eines allen irdischen Maßstäben entzogenen Daseins
geschlagen.
Wie ihrer Sehnsucht nach dem Aufwärts das Verhängnis ihrer lastenden,
herabziehenden Materialität innewohnt, so haftet an ihrem irdisch
erstreckten irdisch selbstbefriedigten Dasein von seiner Wurzel her die
Sehnsucht nach einer unendlichen Erstreckung, einer absoluten Befriedigung
durch dieses ganze Dasein hin unlösbar mit ihm verflochten, die Absicht
seines tiefsten Willens: die Erfüllung ihres Seins ist die Vernichtung
ihres Seins.
Die Kräfte und die Rhythmik, die Dimensionen die Formen und die
Gesetze, in denen, mit denen seine Existenz und sein Schaffen in der
irdischen Ebene allein sich vollenden konnten, waren selbst und zugleich
bestimmt, diese Ebene zu überschreiten, in ihr sich gerade nicht
vollenden zu können, und so, sich zurückwendend, jenes von ihnen selbst
bestimmte Leben zu dementieren.
Niemals ist bei einem Menschen größter Leistungen, soweit wir von
solchen wissen, das Gegnerische, Vernichtende, Entwertende ihres Daseins
so unmittelbar und unabwendbar aus diesem Dasein selbst und seinen
wesenhaftesten, lebensreichsten Richtungen herausgewachsen, a priori, mit
ihnen verbunden gewesen, ja sie selbst gewesen.
Das Titanische seiner Natur zeigt sich vielleicht noch mehr als an
seinen Werken daran, daß ihm diese Werke schließlich nichts waren,
gegenüber der Aufgabe, die er seiner Seele gestellt fühlte.
Die Idee, zu deren Märtyrer Michelangelo wurde, scheint zu den
unendlichen Problemen der Menschheit zu gehören: die erlösende
Vollendung des Lebens im Leben selbst zu finden, (-> 166) das
Absolute in die Form des Endlichen zu gestalten.
In den verschiedensten Abwandlungen und Anklängen begleitet sie das
Goethesche Leben, anhebend von dem hoffnungssicheren Ausruf des
Achtunddreißigjährigen: "Wie unendlich wird die Welt, wenn man sich
nur einmal recht ans Endliche halten mag!" – bis zu der mystischen,
gleichsam am anderen Ende beginnenden Forderung des
Neunundsiebzigjährigen, daß die Unsterblichkeit als
Bewährungsmöglichkeit unserer irdischen, aber im Irdischen nicht
ausgelebten Kräfte notwendig sei.
Faust verlangt mit der größten Leidenschaft vom Leben, daß der
absolute Anpruch, sich in ihm selbst realisiere: Er stehe fest und sehe
hier sich - Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen - Im
Weiterschreiten find' er Qual und Glück.
Und doch - ein paar Seiten später muß er "belehrt" werden,
da der neue Tag ihn blendet, die ewige Liebe muß von oben an ihm
teilnehmen, um ihn zu erlösen!
Bei Nietzsche der gleiche Verlauf der letzten Sehnsucht - die
Leidenschaft nach einem Absoluten und Unendlichen, realisiert innerhalb
eines realistischen Verbleibens im Irdischen; so erwächst ihm das
Vornehmheitsideal als die Erfüllung jeder äußersten Forderung durch
biologische Züchtung, so die ewige Wiederkunft und der Übermensch,
Ideen, die das Unendliche, das Hinausgehen über jeden real erreichbaren
Punkt dem Ablauf irdischer, Geschehnisse abgewinnen wollen - bis
schließlich dennoch mit dem Dionysostraum eine halb transzendente Mystik
die Fäden aufnimmt, die sich innerhalb des Endlichen. nicht wollen bis zu
den Unendlichkeitswerten spannen lassen.
Niemand hatte soviel getan wie Michelangelo, um in der irdisch
anschaulichen Form der Kunst das Leben in sich zu schließen, es mit sich
fertig werden zu lassen, indem er nicht nur aus dem Körper und der Seele,
die bis dahin am Himmel hing, eine noch nie gewonnene Einheit der
Anschaulichkeit schuf, sondern alle Diskrepanzen des Erlebens, alle
Tragödien zwischen seinem Oben und seinem Unten in der einzigartigen
Bewegtheit seiner Gestalten, in dem Kampf ihrer Energien zum geschlossenen
Ausdruck brachte.
Aber indem er so die Möglichkeit, das Leben auf dem Wege der Kunst zu
Einheit und Geschlossenheit zu führen, zu Ende gestaltete, (-> 167)
wurde ihm furchtbar klar, daß an diesen Grenzen nicht das Ende lag.
Es scheint das bisherige Schicksal der Menschen zu sein, daß man in
der Ebene des Lebens gerade am weitesten vorgeschritten sein muß, um zu
sehen, daß man in ihr wohl an ihre, aber nicht an unsere Grenze gelangen
kann.
Vielleicht ist es der Menschheit beschieden, einmal das Reich zu
finden, in dem ihre Endlichkeit und Bedürftigkeit sich zum Absoluten und
Vollkommenen erlöst, ohne sich dazu in das andere Reich der jenseitigen
Realitäten, der schließlich doch dogmatischen Offenbarungen versetzen zu
müssen.
Alle, die wie Michelangelo die Werte und Unendlichkeiten dieses zweiten
Reiches zu gewinnen trachten, ohne das erste zu verlassen, wollen den
Dualismus in eine Synthese zusammendenken, zusammenzwängen; aber sie
bleiben eigentlich bei der bloßen Forderung stehen, daß das eine Reich
die Gewährungen des anderen hergeben soll, ohne zu einer neuen Einheit,
jenseits jener Gegensätze, zu gelangen.
Wie den Gestalten Michelangelos, so ist es seinem Leben zur letzten und
entscheidenden.Tragödie geworden, daß die Menschheit noch das dritte
Reich nicht gefunden hat. (-> 168)
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