Georg Simmel: Philosophische
Kultur
Alfred Kröner Verlag,
Leipzig 1919 (2. Auflage)
Die Koketterie
(S.
95-115)
(> 95) Die Weisheit Platos über die Liebe: dass sie ein
mittlerer Zustand zwischen Haben und Nichthaben sei, scheint nicht an
die Tiefe ihres Wesens, sondern nur an eine Form ihrer Erscheinung zu
rühren.
Nicht nur, dass sie keinen Raum hat für die Liebe, die spricht:
"wenn ich dich liebe, was geht's dich an" - so kann sie
eigentlich nur die meinen, die an der Erfüllung ihres Sehnens stirbt.
Auf den Weg vom Nichthaben zum Haben gestellt, mit der Bewegung auf
ihm ihr Wesen erschöpfend, kann sie, wenn sie nun "hat",
nicht mehr dasselbe sein, was sie vorher war, kann nicht mehr Liebe
sein, sondern setzt ihr Energiequantum in Genuss oder vielleicht in Überdruss
um.
Es hebt diese Konsequenz der Liebe, als der Sehnsucht des
Nichthabenden nach dem Haben, nicht auf, dass sie in jenem Augenblick
ihres Vergehens vielleicht von neuem entsteht: ihrem Sinne nach bleibt
sie in einen rhythmischen Wechsel gebannt, in dessen Zäsuren die
Momente der Erfüllung stehen.
Wo sie aber in den letzten seelischen Tiefen verankert ist,
beschreibt dieser Turnus von Haben und Nichthaben doch nur die Gestalt
ihrer Äußerung und Oberfläche.
Das Sein der Liebe, dessen bloßes Phänomen die Begehrung ist, kann
durch deren Stillung nicht aufgehoben, werden.
Was aber auch der Sinn des Habenwollens sei, und ob es das
Definitivum der Liebe oder nur die Hebung des über ihr Definitivum
hinspielenden Wellenrhythmus bedeute - wo sein Gegenstand eine Frau und
sein Subjekt ein Mann ist, erhebt es sich über der eigentümlichen
seelischen Tatsache des "Gefallens".
Das Gefallen ist der Quell, aus dem jenes Haben und Nichthaben
gespeist wird, wenn es für uns Lust oder Leid, Begehrung (> 96)
oder Befürchtung werden soll.
Aber hier wie sonst läuft die Verbindung zwischen einem Besitz und
seiner Schätzung auch in umgekehrter Richtung.
Nicht nur wächst Wichtigkeit und Wert dem Haben und Nichthaben des
Gegenstandes zu, der uns gefällt; sondern wo ein Haben und Nichthaben
aus irgendwelchen anderen Ursachen heraus für uns Bedeutung und
Betonung gewinnt, pflegt sein Gegenstand unser Gefallen zu erregen.
So bestimmt nicht nur der Reiz eines käuflichen Dinges den Preis,
den wir dafür zahlen mögen: sondern dass ein Preis dafür gefordert
wird, dass sein Erwerb nicht etwas Selbstverständliches, sondern nur
mit Opfern und Mühen Gelingendes ist - das macht uns unzählige Male
erst das Ding reizvoll und begehrenswert.
Die Möglichkeit dieser psychologischen Wendung lässt die Beziehung
zwischen Männern und Frauen in die Form der Koketterie hineinwachsen.
Dass die Kokette "gefallen will", gibt an und für sich
ihrem Verhalten noch nicht das entscheidende Cachet; übersetzt man
Koketterie mit "Gefallsucht", so verwechselt man das Mittel zu
einem Zweck mit dem Triebe zu diesem Zweck.
Eine Frau mag alles aufbieten,
um zu gefallen, von den subtilsten
geistigen Reizen bis zur zudringlichsten Exposition physischer
Anziehungspunkte - so kann sie sich mit alledem noch sehr von der
Kokette unterscheiden.
Denn dieser ist es eigen, durch Abwechslung oder Gleichzeitigkeit von
Entgegenkommen und Versagen, durch symbolisches, angedeutetes, "wie
aus der Ferne" wirksames Ja- und Neinsagen, durch Geben und
Nichtgeben oder, platonisch zu reden, von Haben und Nichthaben, die sie
gegeneinander spannt, indem sie sie doch wie mit einem Schlage fühlen lässt
- es ist ihr eigen, durch diese einzigartige Antithese und
Synthese Gefallen und Begehren zu wecken.
In dem Verhalten der Kokette fühlt der Mann das Nebeneinander und
Ineinander von Gewinnen und Nichtgewinnen-können, das das Wesen des
"Preises" ist, und das ihm mit jener Drehung, die den Wert zum
Epigonen des Preises macht, diesen Gewinn als wertvoll und begehrenswert
erscheinen läßt.
Das Wesen der Koketterie, mit paradoxer Kürze ausgedrückt, ist
dieses: wo Liebe ist, da ist - sei es in ihrem Fundament, sei es an
ihrer Oberfläche - Haben und Nichthaben; (> 97) und darum, wo Haben
und Nichthaben ist - wenn auch nicht in der Form der Wirklichkeit,
sondern des Spieles - da ist Liebe, oder etwas, was ihre Stelle
ausfüllt.
Ich wende diese Deutung der Koketterie zunächst auf einige Tatsachen
der Erfahrung an.
Der Koketterie in ihrer banaleren Erscheinung ist der Blick aus dem
Augenwinkel heraus, mit halbabgewandtem Kopfe, charakteristisch.
In ihm liegt ein Sich-abwenden, mit dem doch zugleich ein flüchtiges
Sich-geben verbunden ist, ein momentanes Richten der Aufmerksamkeit auf
den Anderen, dem man sich in demselben Momente durch die andere Richtung
von Kopf und Körper symbolisch versagt.
Dieser Blick kann physiologisch nie länger als wenige Sekunden
dauern, so dass in seiner Zuwendung schon seine Wegwendung wie etwas
Unvermeidliches präformiert ist.
Er hat den Reiz der Heimlichkeit, des Verstohlenen, das nicht auf die
Dauer bestehen kann, und in dem sich deshalb das Ja und das Nein
untrennbar mischen.
Der volle En-face-Blick, so innig und verlangend er sei, hat nie
eben dies spezifisch Kokette.
In derselben Oberschicht koketter Effekte liegt das Wiegen und Drehen
in den Hüften, der "schwänzelnde" Gang.
Nicht nur, weil er durch die Bewegung der sexuell anregenden
Körperteile sie anschaulich betont, während zugleich doch Distanz und
Reserve tatsächlich besteht - sondern weil dieser Gang das Zuwenden und
Abwenden in der spielenden Rhythmik fortwährender Alternierung
versinnlicht.
Es ist nur eine technische Modifikation dieser Gleichzeitigkeit eines
angedeuteten Ja und Nein, wenn die Koketterie über die Bewegungen und
den Ausdruck ihres Subjekts selbst hinausgreift.
Sie liebt die Beschäftigung mit gleichsam abseits liegenden
Gegenständen: mit Hunden oder Blumen oder Kindern.
Denn dies ist einerseits Abwendung von dem, auf den es abgesehen ist,
andrerseits wird ihm doch durch jene Hinwendung vor Augen geführt, wie
beneidenswert sie ist; es heißt: nicht du interessierst mich, sondern
diese Dinge hier - und zugleich: dies ist ein Spiel, das ich dir
vorspiele, es ist das Interesse für dich, dessentwegen ich nach zu
diesen anderen hinwende.
Will man die Ausschlagspole, der Koketterie begrifflich festlegen, so
zeigen sie eine dreifach mögliche Synthese - die schmeichlerische
Koketterie: du wärst zwar (> 98) imstande zu erobern, aber ich will
mich nicht erobern lassen; die verächtliche Koketterie: ich würde mich
zwar erobern lassen, aber du bist nicht dazu imstande; die provokante
Koketterie: vielleicht kannst du mich erobern, vielleicht nicht -
versuche es!
Solche Bewegung zwischen Haben und Nicht-haben, oder auch: solches
symbolische Ineinanderwachsen von beiden kulminiert ersichtlich in der
Hinwendung der Frau zu einem anderen Manne als dem, den sie eigentlich
meint.
Nicht um die brutale Einfachheit der Eifersucht handelt es sich
dabei.
Diese steht auf einem anderen Blatt und wo sie etwa vorbehaltlos
entfesselt werden soll, um das Gewinnen- oder Behaltenwollen zur
Leidenschaft zu steigern, da fügt sie sich nicht mehr in die Form der
Koketterie.
Diese vielmehr muss den, dem sie gilt, das labile Spiel zwischen Ja
und Nein fühlen lassen, das Sich-versagen, das der Umweg des
Sich-gebens sein könnte, das Sich-geben, hinter dem, als Hintergrund,
als Möglichkeit, als Drohung das Sich-zurücknehmen steht.
An jeder definitiven Entscheidung endet die Koketterie, und die
souveräne Höhe ihrer Kunst offenbart sich an der Nähe zu einem
Definitivum, in die sie sich begibt, um dieses dennoch in jedem
Augenblick von seinem Gegenteil balancieren zu lassen.
Indem die Frau "mit" einem Manne kokettiert, um dadurch mit
einem andern, auf den es in Wirklichkeit abgesehen ist, zu kokettieren,
offenbart sich der eigentümliche Tiefsinn, der in der Doppelbedeutung
des "mit" liegt: einerseits das Werkzeug, andrerseits den
Partner einer Korrelation zu bezeichnen - als könne man einen Menschen
überhaupt nicht zum bloßen Mittel machen, ohne dass dies zugleich
Rückwirkung und Wechselbeziehung wäre.
Endlich zeigt eine Tatsache von zunächst physischem, dann aber auch
seelischem Sinne vielleicht das unmittelbarste Zusammen des Ja und Nein,
aus denen zu gleichen Rechten die Farbe der Koketterie gemischt wird:
die Tatsache der "Halbverhülltheit".
Ich verstehe darunter alle die äußerlichen und innerlichen Fälle,
in denen ein Sich-geben, Sich-darstellen derart von einem teilweisen
Sich-Unsichtbarmachen oder Sich-Versagen unterbrochen wird, dass das
Ganze um so eindringlicher in der Form der Phantasie vorgestellt wird
und durch die Spannung (> 99) zwischen dieser Form und der der
unvollkommen offenbarten Wirklichkeit das Begehren nach deren Ganzheit
um so bewusster und intensiver aufflammt.
Es ist merkwürdig, wie die geschichtliche Entwicklung der
Verhüllung des Körpers dieses Motiv des gleichzeitigen Darbietens und
Versagens hervortreten lässt.
Es gilt der heutigen Völkerkunde als sicher, dass die Bedeckung der
Schamteile - wie die Bekleidung überhaupt - ursprünglich mit dem
Schamgefühl nicht das Geringste zu tun hatte, vielmehr nur dem
Schmuckbedürfnis und der nahe damit verwandten Absicht dient, durch die
Verhüllung einen sexuellen Reiz auszuüben: es kommt vor, dass bei
nackt gehenden Völkern nur die Buhlerinnen sich bekleiden!
Die Gürtel und Schürzchen, die die Funktion des Feigenblattes
erfüllen, sind oft so minimal und oft so angebracht, dass Verhüllung
als solche überhaupt gar nicht ihr Zweck sein kann; sie müssen einen
andern haben.
Und welches dieser ist, zeigt die andre Erscheinung: dass sie in
außerordentlich vielen Fällen aufs grellste gefärbt und aufs
auffallendste verziert sind.
Ihr Zweck ist also ersichtlich, auf diese Teile aufmerksam zu
machen.
Diese Verhüllung ist also ursprünglich nur Schmuck, mit der
Doppelfunktion jedes Schmuckes: zunächst die Augen auf sich zu ziehen,
dem geschmückten Wesen zunächst nur eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu
gewinnen, und dann, dieses Wesen als ein wert- und reizvolles, der
Aufmerksamkeit auch vorzüglich wertes erscheinen zu lassen.
Unvermeidlicherweise aber kann jener Schmuck, wie der des Körpers
überhaupt, diese Funktion nur erfüllen, indem er zugleich verhüllt.
Um dieser Koinzidenz willen ist mit der Primitivform der Bekleidung das
Moment der Koketterie gegeben: das Versagen, das Sich-Entziehen ist hier
mit dem Aufmerksam-Machen, Sich-Darbieten, in einen unteilbaren Akt
verschmolzen, dadurch, dass man sich oder einen Teil seiner schmückt,
verhüllt man das Geschmückte, dadurch, dass man es verhüllt, macht
man darauf und auf seine Reize aufmerksam.
Es ist sozusagen eine optische Unvermeidlichkeit, die die
Gleichzeitigkeit des Ja und des Nein, die Formel jeder Koketterie,
sogleich der ersten Stufe in der Entwicklung der Kleidung angliedert.
Tiefer hinabsteigend darf man behaupten, dass der ganze Dualismus
dieser Attitüde nur die Erscheinung oder empirische (> 100) Technik
ist, mit der ein im Grunde völlig einheitliches Verhalten sich
realisiert. Das Wesen dieser Einheit betrachte ich später und ziehe aus
ihr, indem ich sie hier voraussetze, nur den Schluss, dass jenes
Zusammen von Ja und Nein kein starres Nebeneinander sein darf, sondern
ein lebendiger Wechseltausch, ein sich ineinander schlingendes,
gegenseitiges Hinweisen.
Wo dies nicht gelingt, wird auch die Halbverhülltheit ihren Sinn als
Koketterie nicht erreichen, sondern einen ungefälligen Widerspruch
zeigen. Von hier aus löst sich das komplizierte,
ästhetisch-psychologische Problem, weshalb die Pose der Mediceischen
Venus für viele Empfindungsweisen etwas ganz Unerträgliches hat.
Dass sie sich mit den Händen zu bedecken sucht, ist ein Versuch mit
untauglichen Mitteln, sie ist eben tatsächlich nackt und die
beabsichtigte Verhüllung steht sozusagen unorganisch daneben, ohne mit
der Unverhülltheit eine innerlich einheitliche Attitüde, ein
lebendiges Hin und Her zwischen dem Geben und dem Versagen zu zeigen,
wie die Koketterie es verlangt.
Die Ursache oder auch vielleicht die Wirkung davon ist, dass diese
Gestalt aus der Kunstsphäre heraus und in die Wirklichkeitssphäre
hineintritt: es ist nicht das künstlerische Bild einer Frau, die durch
einen Verhüllungsversuch mit einem ideellen, in dem gleichen
unwirklichen Raum befindlichen Gegenüber kokettiert, sondern man hat
das Gefühl, als ob sie mit dem realen, vor ihr stehenden Beschauer
kokettierte, als ob sich hier eine Wirklichkeitsszene abspielte - nur dass
die Frau zufällig von Marmor, statt von Fleisch und Bein ist.
Da sie nun aber für dieses, das reale Gegenüber,
tatsächlich gar nicht verhüllt ist - was für jenes ideelle
Gegenüber wohl auf Grund der Symbolik möglich wäre, die in der
reinen, hier aber nicht innegehaltenen Kunst Sphäre gilt -, so
erscheint die darauf gerichtete Geste als ein einheitloses Sich-geben
und Sich-zurückziehen-wollen, ein Auseinanderfallen der polaren Momente
der Koketterie an zwei verschiedene Sphären, wodurch ihr Sinn
vereitelt, d. h. statt des Gefallens ein Missfallen eintritt.
In den Bezirk der geistigen Halbverhülltheit gehört eine der
typischsten Praktiken der Koketterie: das Behaupten von irgend etwas,
was man eigentlich gar nicht meint, die Paradoxe, (> 101) deren
Aufrichtigkeit zweifelhaft bleibt, die nicht ernst gemeinte Drohung, die
Selbstherabsetzung des fishing for compliments.
Den Reiz solchen Verhaltens bestimmt allenthalben das Pendeln
zwischen dem Ja und dem Nein der Aufrichtigkeit, der Empfangende sieht
sich vor einer Erscheinung, von der er nicht weiß, ob der Gebende damit
seine Wahrheit gibt oder deren Gegenteil.
Damit tritt das Subjekt dieser Koketterie aus der greifbaren
Realität heraus in eine schwebende, schwankende Kategorie, in der sein
eigentliches Sein zwar enthalten, aber nicht deutlich zu erfassen ist.
Eine Skala graduierter Erscheinungen führt von der eigentlich noch
völlig ernsten Behauptung, unter der nur eine leise Selbstironie
fühlbar wird. zu der Paradoxe oder der outrierten Bescheidenheit, die
uns zweifelhaft lässt, ob der Sprechende uns oder sich selbst zum
Besten hat - jede Stufe aber kann hier der Koketterie, der männlichen
freilich ebenso wie der weiblichen, dienstbar werden, weil das Subjekt
halb verhüllt hinter seiner Äußerung steht und uns in das
dualistische Gefühl versetzt, dass es fast im selben Moment sich uns
darzubieten und uns aus den Händen zu gleiten scheint.
Mit alledem scheint die Koketterie, als das bewusst dualistische
Verhalten, in völligem Widerspruch zu jener "Einheitlichkeit"
des weiblichen Wesens zu stehen, die, wie verschieden verstanden, wie
tief oder oberflächlich gedeutet, doch alle Frauenpsychologien als ihr
Grundmotiv durchzieht.
Wo überhaupt die weibliche und die männliche Seele als solche in
einem Wesensgegensatz empfunden werden, da pflegt es dieser zu sein: dass
die Frau das seiner Natur nach in sich zentralisiertere Wesen ist,
dessen Triebe und Gedanken enger um einen oder wenige Punkte gesammelt
und unmittelbarer von diesen her erregbar sind, als bei dem
differenzierteren Manne, dessen Interessen und Betätigungen mehr in
sachlich bestimmter Selbständigkeit, in arbeitsteiliger Sonderung von
dem Ganzen und Inneren der Persönlichkeit verlaufen.
Es wird sich mehr und mehr zeigen, dass jene Dualistik keine
Gegeninstanz an der weiblichen Wesenheit als solcher findet, ja, dass deren Verhältnis zur männlichen an der Koketterie eine besondere
Synthese seiner entscheidenden Momente besitzt: weil eben das
Verhältnis der Frau zum Manne, (> 102) seinem spezifischen und
unvergleichlichen Sinne nach, sich in Gewähren und Versagen erschöpft.
Gewiss gibt es unzählige andere Relationen zwischen ihnen,
Freundschaft und Feindschaft, Gemeinsamkeit der Interessen und
sittliches Füreinandersein, Verbundenheit unter religiöser oder
sozialer Ägide, Kooperation zu sachlichen oder familiären Zwecken.
Allein entweder sind diese allgemein menschlicher Art und können im
wesentlichen auch unter Personen gleichen Geschlechts stattfinden, oder
sie werden von irgendeinem realen oder idealen Punkt außerhalb der
Subjekte selbst und der unmittelbaren Verbindungslinie zwischen ihnen
bestimmt und bilden deshalb keine so reine und exklusive Wechselwirkung
unter diesen wie allein das Versagen und Gewähren, das natürlich im
weitesten Sinne und alle Inhalte innerlicher und äußerlicher Art in
sich aufnehmend, zu verstehen ist*).
*) In Untersuchungen, die das Verhältnis der Geschlechter in
seiner ganzen Breite berühren, werden die Ausdrücke fast unvermeidlich
aus naheliegenden psychologischen Gründen vor allein ihren rohesten
Sinn anklingen lassen. Wo hier indes von Gewähren und Genuss, von Ja
und Nein die Rede ist, bezeichnet dies die allgemeinen Formen jenes
Verhältnisses, die sich mit den sittlich und ästhetisch höchsten wie
niedrigsten Inhalten erfüllen. Diese äußersten Unterschiede der Werte
können es der nur psychologischen Betrachtung nicht verwehren, jene
formalen Kategorien in ihnen gleich wirksam zu sehen.
Versagen und Gewähren ist das, was die Frauen vollendet können und
was nur sie vollendet können.
Man hat aus diesem Zusammenhange heraus die ganze Tatsache der
Koketterie auf die uralte - in ihrer Verbreitung freilich sehr ungewisse
- Erscheinung der "Raubehe" zurückführen wollen.
Noch heute gilt es allerdings in ganz verschiedenen Teilen der Erde -
bei den Tungusen, den Neuseeländern, einigen Beduinenstämmen u. a. -
als durchaus angemessen, wenn die Braut sich dem Bräutigam bei der
Heimführung mit allen Kräften widersetzt und sich nur nach gewaltsamem
Ringen ihm überlässt.
Freilich finden sich hier die Elemente der Koketterie, wenn auch in
brutalen Maßen, zusammen.
Aber mit der Änderung des Maßstabes scheinen sie auch ihre
Vorzeichen zu ändern: jene sträuben sich, aber sie ergeben sich,
während, damit verglichen, die Kokette sich nicht sträubt, aber sich
auch nicht ergibt.
Die Attitüde der (> 103) Geschlechter im Versagen und Gewähren
ist eben eine charakteristisch verschiedene.
Das Sich-versagen eines Mannes gegenüber einer Frau, die ihm
entgegenkommt, mag aus ethischen, personalen, ästhetischen Gründen
noch so gerechtfertigt, ja notwendig sein - es hat immer etwas
Peinliches, Unritterliches, gewissermaßen Blamables, und zwar für ihn
mehr als für die Frau, für die das Zurückgewiesenwerden leicht einen
tragischen Akzent bekommt.
Es ist nicht die geziemende Attitüde des Mannes, eine Frau
abzuweisen, gleichviel ob es auch für sie nicht geziemend war, sich ihm
anzubieten - während umgekehrt die Rechnung völlig glatt aufgeht: den
werbenden Mann abzuweisen, ist sozusagen eine der Frau durchaus
angemessene Geste.
Ebenso aber ist auch das Sich-Gebenkönnen der Frau, trotz eines am
Schlusse dieser Seiten anzudeutenden Vorbehaltes, so tief und ganz und
ein so erschöpfender Ausdruck ihres Seins, wie ihn vielleicht der Mann
auf diesem Wege niemals erreichen kann.
Im Neinsagen und im Jasagen, im Sich-hingeben und Sich-versagen sind
die Frauen die Meister.
Dies ist die Vollendung der sexuellen Rolle, die dem weiblichen
Elemente schon von dem Tierreiche an zukommt: das wählende zu
sein.
Damit begründet sich wohl die von Darwin beobachtete Erscheinung, dass
bei unseren Haustieren die Weibchen viel mehr individuelle Zu-
und Abneigung den Männchen gegenüber zeigen, als umgekehrt.
Da die Frau die wählende ist, wird sie vielmehr durch die
Individualität des Mannes bestimmt; dass der Mann dieser oder jener
bestimmte ist, führt die Gesamtentscheidung herbei, während der Mann
mehr die Frau als Frau überhaupt sucht - so vieles die kulturellen
Verschiedenheiten auch an diesem Grundverhältnis nach beiden Seiten hin
modifizieren mögen.
Diese individuelle Auswahl, die den Frauen hier zufällt, gibt ihnen
viel mehr Gelegenheit als der Mann sie hat, die Wahl in der Schwebe zu
lassen.
Kein Wunder, dass ihnen aus all diesen Momenten in der Koketterie
eine dem Manne durchaus nicht adäquate Form erwachsen ist, in der ihnen
Versagen und Gewähren sozusagen gleichzeitig möglich ist.
Das Motiv, das die Frau zu diesem Verhalten bewegt, ist, auf seine
allgemeinste Formel gebracht, der Reiz der Freiheit (> 104) und
der Macht.
Die Frau ist normalerweise nur einmal oder wenige Male in der Lage,
über die Grundfrage ihres Lebens zu entscheiden - und gerade in diesem
Ernstfalle ist die individuelle Freiheit ihrer Entschließung oft genug
nur eine scheinbare.
Aber in der Koketterie nimmt sie diese Entscheidung, wenn auch nur in
Annäherung und Symbol, gleichsam chronisch in die Hand. Indem sie das
Ja und Nein, Hinwendung und Abwendung, abwechselnd dominieren oder
zugleich fühlen lässt, zieht sie sich aus jedem von beiden zurück und
handhabt jedes als ein Mittel, hinter dem ihre eigne, unpräjudizierte
Persönlichkeit in voller Freiheit steht.
Es ist eine allenthalben bewährte Beobachtung, dass Freiheit nicht
bei ihrem negativen Sinn stehen zu bleiben, sondern sogleich oder
zugleich zum Gewinn von Macht und Machtübung benutzt zu werden pflegt.
In dem Fall der Koketterie verschlingt sich beides unmittelbar
ineinander.
Die Macht der Frau dem Manne gegenüber offenbart sich an dem Ja oder
Nein und eben diese Antithese, in der das Verhalten der Kokette
schwingt, begründet das Freiheitsgefühl, die Nichtgebundenheit des Ich
durch das eine wie das andere, das Fürsichsein jenseits der
beherrschten Gegensätze.
Die Macht der Frau über Ja und Nein liegt vor der Entscheidung; hat
sie entschieden, so ist, in beiden Fällen, ihre so gefärbte Macht zu
Ende.
Die Koketterie ist das Mittel, diese Macht in einer Dauerform zu
genießen.
Und mindestens in einer Anzahl von Fällen hat sich beobachten
lassen, dass sehr herrschsüchtige Frauen auch sehr kokett sind.
Denn - und dies bedarf zur Klarstellung der Situationstypik
besonderer Hervorhebung - all jenes Schwanken und Pendeln betrifft gar
nicht das Sein der Frau und dessen Richtungsbestimmtheit, sondern nur
dessen Erkennbarkeit für ihr Gegenüber.
Es verrät keineswegs eine objektiv-innerliche Unsicherheit der Frau
- diese ergibt, wo sie etwa vorliegt, ein ganz anderes Bild als die
Koketterie, das mit dieser nur eine oberflächliche Ähnlichkeit hat
oder sich in einer gewissen Verlegenheit in deren Formen flüchtet,
vielleicht, um noch Frist für die Entscheidung zu gewinnen.
Innerlich ist die kokettierende Frau vollkommen nach der einen oder
der andern Seite hin entschieden.
Gerade nur, dass sie eine Unentschiedenheit zu verhüllen hat, dass (> 105) sie ihr Gegenüber in eine nur ihm zukommende
Ungewissheit oder Schwankung über ein an sich Gewisses versetzen kann - das ist der
Sinn der ganzen Situation -, und dies gibt auch der Kokette ihre Macht
und ihr Übergewich t- dass sie fest und in sich bestimmt ist und dabei
ein Benehmen zwischen sich und den Mann stellt, das ihn entwurzelt und
unsicher macht.
Dass der Mann sich nun zu diesem Spiele hergibt, und zwar nicht nur,
weil ihm, dessen Begehren an die Gunst der Frau gefesselt ist, nichts
anderes übrigbleibt, sondern oft, als ob er gerade aus dieser ihn hin
und her schiebenden Behandlung einen besonderen Reiz und Genuss zöge -
das geht zunächst, sehr naheliegend, auf die bekannte Erscheinung
zurück: dass eine auf ein schließliches Glücksgefühl hin orientierte
Erlebnisreihe schon auf die Momente vor jenem Letzten einen Teil seines Genusswertes
ausstrahlt.
Die Koketterie ist einer der zugespitztesten Fälle dieser Erfahrung.
Ursprünglich mag der einzige Genuss der erotischen Reihe der
physiologische gewesen sein.
Von diesem aber ist er allmählich auch auf alle früheren Momente
der Reihe übergangen.
Dass hier, soweit das rein 'Psychologische' in Betracht kommt,
tatsächlich eine historische Evolution vorliegt, ist deshalb
wahrscheinlich, weil die Lustbedeutung sich auf um so entferntere,
andeutendere, symbolischere Momente des erotischen Gebietes erstreckt,
je verfeinerter und kultivierter die Persönlichkeit ist.
Das seelische Zurückrücken kann so weit gehen, dass z. B. ein
junger verliebter Mensch aus dem ersten heimlichen Händedruck mehr
Seligkeit schöpft als später aus irgendeiner rastlosen Bewährung, und
dass für manche zarte und sensible Naturen - die keineswegs frigid oder
unsinnlich zu sein brauchen - der Kuss, ja das bloße Bewusstsein des
Wiedergeliebtwerdens alle gleichsam substantielleren erotischen Freuden
übertrifft.
Der Mann, mit dem eine Frau kokettiert, fühlt schon an ihrem
Interesse für ihn, an ihrem Wunsch, ihn anzuziehen, den irgendwie
anklingenden Reiz ihres Besitzes, wie überhaupt das versprochene Glück
schon einen Teil des erreichten antizipiert.
Daneben tritt, mit selbständiger Wirksamkeit, eine andere Nuance
desselben Verhältnisses.
Wo der Wert eines Endzieles schon fühlbar auf seine Mittel oder
Vorstadien rückt, ist das Quantum des so genossenen (> 106) Wertes
doch von der Tatsache modifiziert, dass in keiner realen Reihe der
Gewinn einer Zwischenstufe mit absoluter Sicherheit den des
entscheidenden Endwertes garantiert. der Wechsel auf diesen, den wir mit
dem Vorgenuss diskontiert haben, wird vielleicht doch nicht eingelöst.
Für die Zwischenstadien bewirkt dies, neben einer unvermeidlichen
Herabsetzung ihres Wertes, doch auch eine Steigerung seiner durch den
Reiz des Hazards, insbesondere, wenn das fatumsmäßige, der
Entscheidung durch eigene Kraft entzogene Element, das allem Erreichen
einwohnt, in seiner dunklen Anziehung aufsteigt.
Wenn wir die Chance des Verfehlens, die sich zwischen Vorstadium und
Zielstadium schiebt, nach ihrem vollen sachlichen Gewicht rechneten, so
würde es wohl zu jener Vordatierung des Glücks kaum kommen; aber wir
empfinden sie zugleich als Reiz, als das lockende Spiel um die Gunst der
unberechenbaren Mächte.
In dem seelischen Verhalten, das die Kokette hervorzurufen versteht,
ist dieser eudämonistische Wert des Hazards, des Wissens um das
Nichtwissen von Gewinn oder Verfehlung, gleichsam zum Stehen gekommen
und festgeworden.
Dieses Verhalten zieht einerseits aus dem Versprechen, das die
Koketterie einschließt, jenes vorweggenommene Glück; der Revers davon
aber, die Chance, dass diese Vorwegnahme durch eine Wendung der Dinge
dementiert werde, erwächst ihm als die gleichzeitige Distanzierung, die
die Kokette ihrem Gegenüber fühlbar macht.
Indem dies beides dauernd gegeneinander spielt, keines ernsthaft
genug ist, um das andere aus dem Bewusstsein zu verdrängen, steht auch
über dem Negativen die Chance des Vielleicht, ja dies Vielleicht, in
dem die Passivität des Hinnehmens und die Aktivität des Erringens eine
Einheit des Reizes bilden, umschreibt die ganze innere Reaktion auf das
Verhalten der Kokette.
Besagt diese Reaktion des Mannes schon hier durch ihre Lust am Hazard
und der eigentümlichen anschaulichen Ineinsbringung seiner polaren
Möglichkeiten weit mehr, als dass die Pendelung des koketten Spieles
ihn einfach mit sich schleift, so erhebt sich endlich seine Rolle weit
über das einfache Objektsein, wenn er auf das Spiel selbst eintritt und
den Reiz an diesem, nicht an einem eventuellen Definitivum findet.
Damit (> 107) erst ist die ganze Aktion wirklich in die Sphäre
des Spieles erhoben, während sie, solange der Mann es noch ernst
meinte, insoweit mit der der Realität gemischt war.
Jetzt will auch der Mann gar nicht weitergehen, als die Linie der
Koketterie angibt, und während dies nach dem logischen und genetischen
Sinn der Koketterie ihren Begriff aufzuheben scheint, ergibt es vielmehr
erst ihren von aller Ablenkung und aller Chance des Umschlagens
gelösten, völlig formreinen Fall.
Es ist weniger die Kunst des Gefallens - das noch irgendwie in
die Realitätssphäre hineinragt - als die Kunst des Gefallens,
die nun den Drehpunkt der Beziehung und ihrer Attraktionen ausmacht.
Hier ist die Koketterie völlig aus der Rolle des Mittels oder der
bloßen Vorläufigkeit heraus in die eines Endwertes gerückt:
Alles, was ihr aus jener ersten an Genusswert gekommen ist, ist jetzt
völlig in diese zweite hineingewachsen, die Vorläufigkeit hat ihr
Bedingtsein durch ein Definitivum oder auch nur durch dessen Idee
abgeworfen, und gerade dass sie das Cachet des Vorläufigen, des
Schwebens und Schwankens hat, dies ist - logisch widersprechend, aber
psychologisch tatsächlich - ihr endgültiger, nicht über den Moment
ihres Daseins hinausfragender Reiz geworden.
Deshalb wandelt sich die Konsequenz des koketten Verhaltens: dass der
inneren Sicherheit der Kokette eine Unsicherheit und Entwurzeltheit des
Mannes, eine oft verzweiflungsvolle Preisgegebenheit an ein Vielleicht
korrespondierte - hier völlig in ihr Gegenteil.
Wo der Mann selbst nichts mehr als dieses Stadium begehrt, gibt ihm
nun gerade die Überzeugung, dass es der Kokette nicht Ernst ist, eine
gewisse Sicherheit ihr gegenüber.
Er kann nun, wo kein Ja ersehnt und kein Nein gefürchtet wird, wo
aber auch die etwaigen Gegeninstanzen gegen jene Sehnsucht keiner
Erwägung bedürfen, sich dem Reize dieses Spieles weitergehend
überlassen, als wo er wünscht, vielleicht aber auch irgendwie
fürchtet, dass der einmal begonnene Weg auch zum Endpunkt führe.
Nur am reinsten markiert sich hier die Beziehung zu Spiel und Kunst,
die allenthalben der Koketterie eigen ist.
Denn sie ist im höchsten Maße das, was Kant für das Wesen der
Kunst erklärte: "Zweckmäßigkeit ohne Zweck".
Das Kunstwerk hat (> 108) durchaus keinen "Zweck" -
aber doch erscheinen seine Teile so sinnvoll ineinandergreifend, jedes
an seiner Stelle notwendig, als ob sie zu einem völlig angebbaren
Zwecke zusammenwirkten.
Die Kokette nun verfährt genau so, als interessierte sie sich nur
für ihr jeweiliges Gegenüber, als sollte ihr Tun an dem vollen Maße
einer, wie auch immer qualifizierten Hingebung münden.
Nun aber ist dieser sozusagen logische Zwecksinn ihres Tuns gar nicht
ihre Meinung, sondern sie lässt dieses Tun konsequenzlos in der Luft
vorschweben, indem sie ihm ein ganz anders gewendetes Ziel gibt: zu
gefallen, zu fesseln, begehrt zu werden - aber ohne sich irgendwie
daraufhin beim Wort nehmen zu lassen.
Sie verfährt durchaus "zweckmäßig", aber den
"Zweck", auf den dies Verfahren in der Reihe der Realität
zugehen müsste, lehnt sie ab, verflüchtigt ihn in die rein subjektive
Beglückung des Spieles.
Wie die Geselligkeit die Spielform der Gesellschaft ist, wie das
Miteinander, Gegeneinander, Füreinander, das diese ausmacht, sich in
der Anmut des Geselligseins symbolisiert und gleichsam gewichtlos
wiederholt, so ist Koketterie die Spielform der Liebe.
Das Spiel hat keine Zukunft, es erschöpft sich im Reize seiner
Gegenwart, ihm fehlt die Kraft der realen Teleologie, die über den
Moment hinwegreicht.
Dieses Abgeschnittensein von der Kontinuität der Lebensreihe ist
eines der Momente, die das Spiel mit dem Kunstwerk verbinden.
Was das innere, man könnte sagen das transzendentale Wesen der
Koketterie freilich von dem der Kunst scheidet, ist dies, dass die Kunst
sich von vornherein jenseits der Wirklichkeit stellt und durch die von
ihr überhaupt abgewandte Blickrichtung von ihr erlöst, während die
Koketterie zwar mit der Wirklichkeit auch nur spielt, aber doch
mit der Wirklichkeit spielt.
Das Pendeln der Impulse, das sie darbietet und hervorruft, bezieht
seinen Reiz niemals ganz aus den rein abgelösten Formen des ja und
Nein, des sozusagen abstrakten Verhältnisses der Geschlechter -
obgleich dies die eigentliche, indes nie völlig erreichbare Vollendung
der Koketterie wäre; die Empfindungen vielmehr, deren Heimat nur in der
Realitätsreihe zu finden ist, klingen immer mit an, die reine Relation
der Formen wird von ihnen durchblutet.
Die Kokette, und in jenem vorhin angedeuteten Falle auch ihr Partner,
spielen zwar und entheben sich damit der Wirklichkeit, aber sie spielen
nicht mit dem Scheine der Wirklichkeit, wie der Künstler, sondern mit
der Wirklichkeit selbst.
Nach einer Richtung hin freilich besteht noch eine eigentümliche
Analogie zwischen dem koketten Verhalten und der Kunst.
Man sagt von der Kunst, dass sie sich "gegen ihr Objekt
gleichgültig verhalte".
Der Sinn dieser Behauptung kann nur sein, dass die Werte, die die
Kunst den Dingen abgewinnt, in keiner Weise dadurch alteriert werden, dass
eben diese Dinge, an den nicht-künstlerischen Maßstäben
gemessen, erfreulich oder unerfreulich, moralisch oder unmoralisch,
religiös oder profan sind.
Diese relativ einfache Art, sich jenseits der sonstigen positiven
oder negativen Werte des Erscheinungskreises überhaupt zu stellen,
nimmt die Koketterie gewissermaßen mit einer pointierteren,
ausgesprocheneren Methode auf.
Denn - was oben schon ein andrer Zusammenhang andeutete, - die
Vornahmen der Kokette mit den Dingen, die die Werkzeuge ihrer Absichten
sind, ist ein mindestens ideelles, mindestens als stete Möglichkeit
gefühltes Pendeln zwischen Interesse für sie und Interesselosigkeit,
Hingebung an ein Objekt, abwechselnd mit der an sein Gegenteil,
An-sich-ziehn und Von-sich-abstoßen jedes einzelnen.
Dieses Gelöstsein von der sachlichen und anderweitigen Wertbedeutung
der Dinge, wie es sich in dem gleichzeitigen positiven und negativen
Verhalten zu ihnen ausspricht, markiert sich noch einmal an der
Vorurteilslosigkeit, mit der die Kokette alle beliebigen
Gegensätzlichkeiten in ihren Dienst nimmt: den Augenaufschlag wie den
Augenniederschlag, die Frömmigkeit wie den Atheismus, die Naivität wie
die Raffiniertheit, das Wissen wie die Unwissenheit - ja mit ihrer
Koketterie selbst vermag eine Frau zu kokettieren, so gut wie mit ihrer
Nicht-Koketterie.
Wie dem Künstler alle Dinge dienen müssen, weil er von ihnen nichts
als ihre Form will, so müssen sie alle der Kokette dienen, weil sie von
ihnen nur will, dass sie sich in das Spiel von Halten und Loslassen, von
Hinwenden und Wegwenden einfügen lassen.
Denn noch einmal: eine Frau mag durch ihre Religiosität einen Mann
zu fesseln suchen oder durch ihre Freigeisterei - dies ist noch nicht
Koketterie, sondern wird es erst durch jene einzigartige Be-(> 110)handlung, die sich keinem Inhalt als einem endgültigen hingibt, die
ihre Souveränität, noch in jedem Augenblick Ja oder Nein zu ihm zu
sagen, keinem gegenüber abdiziert, die ihr spezifisches
Anziehungsmittel für ihr Gegenüber: das Zugleich von Anziehung und
Zurückweisung, - auch ihre Beziehung zu den Dingen färben lässt.
Auch hier steht das Vielleicht, das Wegsehen bei gleichzeitigem
Hinsehen, die Freiheit gegenüber dem für sich bedeutungslosen und also
nicht ernstgenommenen Mittel - als Hintergrund hinter der im Augenblick
noch so sehr markierten Ernsthaftigkeit.
Die Kunst gewinnt ihr Jenseits der realen Bedeutung der Dinge
dadurch, dass sie ihnen mit eindeutiger Sicherheit ausschließlich ihre
Form abfragt; darum ist die Kunst immer entschieden und eine Koketterie
der Kunst immer eine Peinlichkeit und eine Entgleisung.
Für die Koketterie aber erwächst das gleiche Jenseits, indem sie
jene reale Bedeutung zwar jeweils aufnimmt, aber sie in jedem Augenblick
durch ihr jeweiliges Gegenteil aufhebt - wenn auch nur als Möglichkeit,
Andeutung, Nuance, Hintergrund.
Die Kunst kann den andern Kategorien und den Sachgehalten des Lebens
gegenüber deshalb als Spiel erscheinen, weil sie von einer, jene alle
ausschließenden, Kategorie aus unbarmherzig Ernst macht; die Koketterie
dagegen ist Spiel, weil sie überhaupt mit nichts Ernst macht; aber das
so negativ Ausgedrückte ist ein ganz positives Verfahren, das alle
Gegensätze, mindestens potentiell, gegeneinander ausspielt und das
Verhältnis, das ihr Ort ist, gleichsam von jeder Schwere einer
Entscheidung entlastet.
An den platonischen Begriffen gemessen, mit denen dieser Versuch
begann, steht die Kunst gleichmäßig über dem Haben und dem
Nichthaben: sie hat alle Dinge, indem sie von ihnen nur ihre Form und
ihren artistischen Sinn begehrt, und sie hat keines, weil die Realität,
der Gegenstand des eigentlichen "Habens", für sie keinerlei
Interesse besitzt; die Künste sind, wie die Franziskaner es von sich
sagten: omnia habentes, nihil possidentes.
Die Koketterie, auf die Umschriebenheit ihres Objekts beschränkt,
ist nicht weniger weit dem Haben und dem Nichthaben - oder, aktiver
ausgedrückt, dem Geben und dem Nichtgeben - fern.
Aber sie steht nicht über, sondern sozusagen zwischen ihnen, indem
sie die Anteile, die sie an beiden hat oder (> 111) gibt, in labilem
Gleichgewicht hält oder sie so mischt, dass stets das eine von dem
andern wie in einem endlosen Prozesse aufgehoben wird.
Ich habe früher erwähnt, dass die ganze Dualistik der Koketterie
keinen Widerspruch gegen jene Einheit und Entschiedenheit der Frau - als
Typus - enthält, mit der sie in der erotischen Frage viel mehr als der
Mann vor einem: Alles oder Nichts - steht: wobei das "Alles"
wiederum nicht auf seinen äußerlichen Sinn beschränkt ist.
So wenig widerspricht sie ihr, dass nun, zuletzt und zuhöchst, die
Koketterie vielmehr zum Symbole der Art wird, wie jene Einheit sich
gibt.
Es scheint nämlich die durchgehende Erfahrung des männlichen
Empfindens zu sein, dass die Frau - und zwar gerade die tiefste,
hingebendste, in ihrem Reiz nicht erschöpfliche - noch in dem
leidenschaftlichsten Sich-verschenken, Sich-offenbaren irgendein letztes
Unenträtseltes, Ungewinnbares zurückbehalte.
Vielleicht hängt das gerade mit jener Einheit zusammen, in der alle
Keime und Möglichkeiten noch enger, undifferenzierter nebeneinander
oder ineinander ruhen, so dass man den meisten Frauen gegenüber das
Gefühl einer gewissen Unentwickeltheit, nicht recht in die Aktualität
hinein gelöster Potenzen hat - und zwar noch ganz jenseits etwaiger
Entwicklungshemmungen durch soziale Vorurteile und Benachteiligungen.
Gewiss ist es unrichtig, in dieser "Undifferenziertheit"
einfach ein Manko, ein Zurückgebliebensein zu sehen; vielmehr ist dies
die durchaus positive, ein eigenes Ideal bildende Wesensart der Frau,
die gleichberechtigt neben der "Differenziertheit" des Mannes
steht.
Allein von dieser aus gesehen, erscheint jene doch als ein Noch-Nicht,
ein uneingelöstes Versprechen, eine ungeborene Fülle dunkler
Möglichkeiten, die sich von ihrem seelischen Standort noch nicht so
weit auseinander und emporgerankt haben, um sichtbar und darbietbar zu
werden.
Dazu kommt, mit dem gleichen Erfolge, noch dies: dass die Formungs-
und Ausdrucksweisen - keineswegs nur die sprachlichen -, die unsere
Kultur der seelischen Innerlichkeit zur Verfügung stellt, im
Wesentlichen von Männern geschaffen sind und darum unvermeidlich vor
allem der männlichen Wesensart und ihren Bedürfnissen dienen; so dass gerade für das differenziell (> 112) Frauenhafte unzählige Male
gar kein befriedigender und verständlicher Ausdruck vorhanden sein
wird.
Auch dies also wird jenes Gefühl tragen helfen: dass auch die
vollkommenste Hingabe der Frau einen letzten, heimlichen Vorbehalt ihrer
Seele nicht hebt, dass irgend etwas, dessen Offenbarung und Darbietung
eigentlich zu erwarten stünde, sich von seinem Wurzelgrunde nicht
lösen will.
Gewiss ist dies keine gewollte Schranke des Schenkens, ein Etwas,
das dem Geliebten nicht gegönnt würde, sondern ein Letztes der
Persönlichkeit, das sich nur sozusagen nicht explizieren kann, das auch
hingegeben wird, aber nicht als etwas Durchsichtiges und Benennbares,
ein verschlossenes Gefäß, zu dem der Empfangende keinen Schlüssel
hat.
Kein Wunder, wenn in diesem dann die Empfindung entsteht, dass ihm
etwas vorenthalten ist, wenn das Gefühl, etwas nicht zu besitzen, so
gedeutet wird, als wäre es nicht gegeben.
Wie diese Erscheinung einer Reserve auch entstanden sei - sie stellt
sich als ein geheimnisvolles Ineinander von Ja und Nein, von Geben und
Verweigern dar, ,das die Koketterie gewissermaßen präformiert.
Indem die Koketterie dies "Halbverhülltsein" der Frau, das
ihre tiefste Relation zum Manne ausdrückt, mit pointiertem Bewußtsein
aufnimmt, würdigt sie freilich den letzten, metaphysischen Grund der
Beziehung zu einem bloßen Mittel ihrer äußeren Realisierung herab;
allein dies erklärt dennoch,- weshalb Koketterie keineswegs eine
."Dirnenkunst" ist - so wenig, daß die hetärische ebenso wie
die ungeistig-sinnlichste Frau keineswegs die koketteste zu sein pflegt
- und daß Männer, auf die jede bloß äußerliche Verführung ganz
ohne Wirkung bleibt, sich dem Reize der Koketterie bewußt und mit dem
Gefühl ergeben, daß sie weder ihr Subjekt noch ihr Objekt entwürdigt.
An dieser Form, die den Anteil der Frau an dem Verhältnis der
Geschlechter gestaltet, an diesem ja und Nein, das die Basis jedes ja
oder Nein ist, offenbart sich nun doch ein tieferer Sinn jener Deutung
der Liebe als eines Mittleren zwischen Haben und Nichthaben.
Denn nun ist das Nichthaben in das Haben hineingewachsen, beide
bilden die Seiten einer Beziehungseinheit, deren äußerste und
leidenschaftlichste Form schließlich das Haben von etwas ist, das man
zugleich nicht hat. Die tiefe metaphy-(> 113)sische Einsamkeit des
Individuums, zu deren Überwindung alles Hinwollen des einen zum anderen
nur ein ins Unendliche verlaufender Weg ist, hat in dem Verhältnis der
Geschlechter eine besonders gefärbte, aber vielleicht am
prinzipiellsten fühlbare Ausgestaltung gewonnen.
Hier wie sonst gibt dies Verhältnis der Geschlechter das Prototyp
für unzählige Relationen innerhalb des individuellen und des
interindividuellen Lebens ab.
Es tritt als das reinste Beispiel so vieler Vorgänge auf, weil diese
von vornherein durch jene fundamentale Bedingtheit unseres Lebens in
ihrer Gestalt bestimmt sind.
Daß unser Intellekt z. B. alles Werden und Sich-entwickeln, das
reale wie das logische, nie aus einer völligen Einheit heraus begreifen
kann, diese vielmehr für sich steril und ohne verständlichen Grund des
Anders-werdens bleibt - das ist wahrscheinlich daran gebunden, daß die
Entstehung unseres Lebens durch das Zusammenwirken zweier Prinzipien
bedingt ist. ja, daß der Mensch überhaupt ein dualistisches Wesen ist,
sein Leben und Denken sich in der Form der Polarität bewegt, jeder
Seinsinhalt erst an seinem Gegensatz sich selber findet und bestimmt,
geht vielleicht auf jene letztinstanzliche Gespaltenheit der
menschlichen Gattung zurück, deren Elemente sich ewig suchen, sich
einander ergänzen und doch nie ihren Gegensatz überwinden.
Daß der Mensch mit seinen leidenschaftlichsten Bedürfnissen an das
Wesen gewiesen ist, von dem er vielleicht durch die tiefste
metaphysische Kluft getrennt ist - auch dies ist das reinste Bild,
vielleicht aber sogar die entscheidend wirksame Urform für jene
Einsamkeit, mit der der Mensch schließlich ein Fremdling, nicht nur
unter den Dingen der Welt, sondern auch unter denen ist, die für jeden
die Nächsten sind.
Ist deshalb das gleichzeitige Haben und Nichthaben die
undurchbrechliche Erscheinungsform oder auch eine letzte Basis der
Erotik, so wird sie durch die Koketterie aus ihr rein abdestilliert, und
zwar, wie ich schon aussprach, in der Form des Spieles - wie gerade das
Spiel oft aus den Komplikationen der Wirklichkeit heraus die einfachsten
Grundverhältnisse sich zum Inhalte macht: das Jagen und Gewinnen, die
Gefahr und die Glückschance, das Ringen und das Überlisten.
Durch die Bewußtheit (> 114) der Koketterie zeichnet sich
jedes der tief ineinander gesenkten Gegenelemente schärfer an dem
anderen ab: sie gibt dem Nichthaben gleichsam eine positive
Anschaulichkeit, macht es durch die spielende, andeutende Vorspiegelung
des Habens erst recht fühlbar, wie sie umgekehrt durch die drohende
Vorspiegelung des Nichthabens den Reiz des Habens aufs äußerste
steigert.
Und wenn jenes Grundverhältnis zeigte, daß wir auch im definitiven
Haben noch irgendwie nicht haben, so sorgt die Koketterie dafür, daß
wir auch im definitiven Nichthaben schon irgendwie haben können.
In einen ähnlichen Gedanken mündend erklärt ein französischer
Sozialpsychologe die Koketterie so, daß mit steigender Kultur die
gestiegene Reizbarkeit einerseits, die gewachsene Zahl reizvoller
Erscheinungen andrerseits eine erotische Bedrängnis der Männer
geschaffen hätte; es sei eben doch nicht möglich, all die anziehenden
Frauen zu besitzen, während in primitiven Zeiten eine solche Fülle
anziehender Erscheinungen überhaupt nicht bestünde.
Dem hülfe nun die Koketterie ab, indem sich mit ihr die Frau
potentiell, symbolisch oder annähernd einer großen Anzahl von Männern
geben könnte, der einzelne Mann eine große Anzahl von Frauen irgendwie
besitzen könnte. -
Wenn es schien, als wäre die Koketterie ausschließlich in der
Beziehung zwischen Männern und Frauen erwachsen, eine
Oberflächenspiegelung, die den letzten Grund dieser Beziehung, unter
einem bestimmten Winkel gebrochen, darstellte - so belegt dies nun noch
schließlich jene umfassende Erfahrung, daß, vielerlei allgemein
menschliche Verhaltungsformen an der Relation der Geschlechter ihr
normgebendes Beispiel besitzen.
Sieht man nämlich die Arten an, wie der Mensch sich zu Dingen und
anderen Menschen stellt, so steht unter ihnen die Koketterie als ein
ganz allgemeines, keinen Inhalt von sich ablehnendes formales Verhalten.
Das Ja oder Nein, mit dem wir Entscheidungen gewichtiger oder
alltäglicher Art gegenüberstehen: Hingaben und Interessiertheiten, dem
Ergreifen einer Partei und dem Glauben an Menschen oder Lehren - wandelt
sich unzähligemal in ein Ja und Nein, oder auch in einen Wechsel
zwischen beiden, der den Charakter einer Gleichzeitigkeit trägt, weil
hinter jeder jeweiligen Entscheidung die andere als Möglichkeit oder
als (> 115) Versuchung steht.
Der Sprachgebrauch läßt die Menschen mit religiösen oder
politischen Standpunkten, mit Wichtigkeiten wie mit Zeitvertreiben
"kokettieren"; und viel öfter, als unsere Worte es wahrhaben
wollen, findet das so bezeichnete Verhalten in Ansätzen und bloßen
Nuancierungen, in Vermischungen mit andersartigem Benehmen und in
Selbsttäuschungen über seinen Charakter statt.
Alle die Reize des gleichzeitigen Für und Gegen, des Vielleicht, des
verlängerten Vorbehaltes der Entscheidung, der ihre beiden, in der
Realisierung einander ausschließenden Seiten zusammen vorgenießen
läßt - sind nicht nur der Koketterie der Frau mit dem Mann eigen,
sondern sie spielen gegenüber tausend anderen Inhalten.
Es ist die Form, in der die Unentschiedenheit des Lebens zu einem
ganz positiven Verhalten kristallisiert ist, und die aus dieser Not zwar
keine Tugend, aber eine Lust macht.
Mit jenem spielenden, obgleich keineswegs immer von der Stimmung des
"Spieles" begleiteten Sich-nähern und Sich-entfernen,
Ergreifen, um wieder fallen zu lassen, Fallenlassen, um wieder zu
ergreifen, dein gleichsam probeweisen Sichhinwenden, in das schon der
Schatten seines eigenen Dementis fällt - hat die Seele die adäquate
Form für ihr Verhältnis zu unzähligen Dingen gefunden.
Der Moralist mag dies schelten; aber es gehört nun einmal zu der
Problematik des Lebens, daß es vielen Dingen gegenüber, zu denen es
eine Relation doch nicht einfach ablehnen kann, keinen eindeutigen, von
vornherein festen Standort besitzt; in den Platz, den sie unserem Tun
und Empfinden bieten, geht dieses seiner eigenen Form nach nicht recht
hinein.
Da nun entsteht das Vor- und Zurücktreten, das versuchende Halten
und Loslassen, in dessen schwankender Dualistik sich jene so oft
unvermeidliche Grundrelation des Habens und Nichthabens malt.
Indem ein so tragisches Moment des Lebens sich in die spielende,
schwankende, zu nichts engagierende Form, die wir das Kokettieren mit
den Dingen nennen, kleiden kann - begreifen wir, daß diese Form ihre
typischste, reinste Erfüllung gerade an dem Verhältnis der
Geschlechter gewinnt - an dem Verhältnis, das schon in sich die
vielleicht dunkelste und tragischste Beziehung des Lebens in die Form
seines höchsten Rausches und schimmerndsten Reizes hüllt.
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