Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Philosophische Kultur 

Alfred Kröner Verlag, Leipzig 1919 (2. Auflage) 

Der Henkel (S. 116-124)

(->116) Moderne Theorien der Kunst betonen es mit Entschiedenheit als die eigentliche Aufgabe der Malerei und Plastik, die räumliche Gestaltung der Dinge zur Darstellung zu bringen.

Darüber kann leicht verkannt werden, dass der Raum innerhalb des Gemäldes ein völlig anderes Gebilde ist als der reale, den wir erleben.

Denn indem innerhalb dieses der Gegenstand getastet werden kann, im Bildwerk aber nur geschaut; indem jedes wirkliche Raumstück als Teil einer Unendlichkeit empfunden wird, der Bildraum aber als eine in sich abgeschlossene Welt; indem der reale Gegenstand in Wechselwirkungen mit allem steht, was um ihn herum flutet oder beharrt, der Inhalt des Kunstwerkes aber diese Fäden abgeschnitten hat und nur seine eigenen Elemente zu selbstgenugsamer Einheit verschmitzt - lebt das Kunstwerk ein Dasein jenseits der Realität.

Aus den Anschauungen der Wirklichkeit aus denen das Kunstwerk freilich seinen Inhalt bezieht, baut es ein souveränes Reich; und während die Leinwand und der Farbenauftrag auf ihr Stücke der Wirklichkeit sind, führt das Kunstwerk, das durch sie dargestellt wird, seine Existenz in einem ideellen Raum, der sich mit dem realen so wenig berührt, wie sich Töne mit Gerüchen berühren können.

Mit jedem Gerät, mit jeder Vase, insoweit sie als ästhetische Werte betrachtet werden, verhält es sich ebenso.

Als ein Stück Metall, tastbar, wägbar, einbezogen in die Hantierungen und Zusammenhänge der Umwelt, ist die Vase ein Stück Wirklichkeit, während ihre Kunstform eine rein abgelöste, in sich ruhende Existenz führt, für die ihre materielle Wirklichkeit der blosse Träger ist.

Allein indem das Gefäss nicht, wie das Bild oder die Statue, für eine inselhafte Unberührsamkeit gedacht ist, (->117) sondern einen Zweck erfüllen soll - wenn auch nur symbolisch - ,da es in die Hand genommen und in die praktischen Lebensbewegungen hineingezogen wird - so steht es, gleichzeitig in jenen zwei Welten: während das Wirklichkeitsmoment in dem reinen Kunstwerk völlig indifferent, sozusagen verzehrt ist, erhebt es Forderungsrechte an die Vase, mit der hantiert wird, die gefüllt und geleert, hin und her gereicht und gestellt wird.

Diese Doppelstellung der Vase nun ist es, die sich in ihrem Henkel am entschiedensten ausspricht.

Er ist das Glied, an dem sie ergriffen, gehoben, gekippt wird, mit ihm ragt sie anschaulich in die Welt der Wirklichkeit, das heisst der Beziehungen zu allem Ausserhalb hinein, die für das Kunstwerk als solches nicht existieren.

Nun soll doch aber nicht nur der Körper der Vase zugleich den Ansprüchen der Kunst gehorchen, und die Henkel wären blosse, gegen ihren ästhetischen Formwert gleichgültige Griffe, wie die Ösen des Bilderrahmens. Sondern diese Henkel, die die Vase dem Dasein jenseits der Kunst verknüpfen, sind zugleich in die Kunstform einbezogen, sie müssen, ganz gleichgültig gegen ihren praktischen Zwecksinn, rein als Gestaltung und dadurch, dass sie mit dem Vasenkörper eine ästhetische Anschauung bilden, gerechtfertigt sein.

Durch diese zweifache Bedeutung und ihr charakteristisch deutliches Hervortreten wird der Henkel zu einem der nachdenklichsten ästhetischen Probleme.

Wie die Gestalt des Henkels die beiden Welten in sich zur Harmonie bringt: die äussere, deren Anspruch mit ihm an das Gefäss herangreift, und die Kunstform, die ihn, ohne Rücksicht auf jene, für sich fordert - das scheint das unbewusste Kriterium seiner ästhetischen Wirkung zu sein.

Und zwar muss der Henkel die praktische Funktion nicht nur tatsächlich üben können, sondern er muss dies auch durch seine Erscheinung eindringlich machen.

Dies geschieht mit Nachdruck in den Fällen, wo der Henkel angelötet wirkt, im Gegensatz zu denen, wo er mit der Substanz des Vasenkörpers aus einem Fluss gebildet erscheint.

Die erstere Gestaltung markiert, dass der Henkel von äusseren Mächten, aus einer äusseren Ordnung der Dinge herangesetzt ist, sie lässt seine aus der reinen Kunstform herausreichende Bedeutung hervortreten.

Solches Intervall zwischen Vase und Henkel (->118) pointiert sich stärker in der häufigen Form: dass der Henkel als Schlange, Eidechse, Drache gestaltet ist.

Dies deutet jene Sonderbedeutung des Henkels dadurch an, dass das Tier von aussen an die Vase herangekrochen und sozusagen erst nachträglich in die Gesamtform eingeschlossen scheint.

Durch die ästhetisch-anschauliche Einheit von Vase und Henkel hindurch wirkt hier noch die Zugehörigkeit des Henkels zu einer ganz andern Ordnung, aus der er entsprang, und die mit ihm die Vase für sich reklamiert.

In vollkommenem Gegensatz hierzu und in stärkster Betonung der Einheitstendenz scheinen manche Vasen Vollformen gewesen zu sein, deren Materie ununterbrochen bis zu ihrer Peripherie reichte und aus denen erst nachträglich so viel weggenommen wurde, dass die Henkel stehen blieben; so am vollendetsten bei manchen chinesischen Schalen, deren Henkel aus dem kalten Metall herausgeschnitten sind.

In mehr organischer Weise indes akzentuiert sich das Einbezogensein in die ästhetische Einheit, sobald der Henkel aus dem Vasenkörper in ununterbrochenem Übergang und von den Mächten, die diesen Körper selbst bildeten, herausgetrieben scheint - wie die Arme des Menschen, die in demselben einheitlichen Organisierungsprozess wie sein Rumpf erwachsen sind und gleichfalls die Beziehung des ganzen Wesens zu der Welt ausserhalb seiner vermitteln.

Manchmal werden flache Schalen so gebildet, dass sie mit ihrem Henkel wirken wie ein Blatt mit seinem Stiel; sehr schöne dieser Art sind aus der alten mittelamerikanischen Kultur eralten.

Die Einheit des organischen Wachstums verbindet hier fühlbar die beiden Teile.

Man hat das Werkzeug schlechthin als die Verlängerung der Hand oder der menschlichen Organe überhaupt charakterisiert.

In der Tat: wie für die Seele die Hand ein Werkzeug ist, so ist ihr auch das Werkzeug eine Hand.

Dass aber der Werkzeugcharakter Seele und Hand auseinanderschiebt, verhindert nicht die innige Einheit, mit der der Lebensprozess sie durchströmt; dass sie aussereinander und ineinander sind, das eben macht das unzerlegbare Geheimnis des Lebens aus.

Dies er greift über den unmittelbaren Umfang des Leibes hinaus und bezieht das "Werkzeug" in sich ein; oder vielmehr, Werkzeug (->119) wird die fremde Substanz, indem die Seele sie in ihr Leben, in den Umkreis, den ihre lmpulse erfüllen, hineinzieht.

Der Unterschied von Ausserhalb und Innerhalb der Seele, wie er für den Leib zugleich wichtig und nichtig ist, wird noch für die Dinge jenseits des Leibes durch das grosse Motiv des Werkzeugs in der Strömung des übergreifenden, einheitlichen Lebens in einem Akte bewahrt und aufgelöst.

Die flache Schale ist nichts als die Verlängerung oder Steigerung der schöpfenden, tragenden Hand.

Indem sie aber nun nicht einfach in die Hand, genommen, sondern am Henkel gefasst wird, entsteht eine vermittelnde Brücke, eine schmiegsame Verbindung zu ihr, die wie mit anschaulicher Kontinuität den seelischen Impuls in sie, in die Handhabung mit ihr überleitet und sie nun in der Rückströmung dieser Kraft wieder in den Lebensumfang der Seele einbeziehen.

Durch kein vollkommeneres Symbol kann dies getragen werden, als wenn die Schale sich aus ihrem Henkel entwickelt, wie das Blatt aus seinem Stiel - als benutzte der Mensch hier die Kanäle des natürlichen Säfteflusses zwischen Stiel und Blatt, um seinen eignen Impuls in das Aussending einzuströmen und es damit seiner eignen Lebensreihe einzugliedern.

Der Eindruck schliesst aber sogleich ein Missfallen ein, sobald eine der beiden Sinngebungen des Henkel in der Erscheinung völlig zugunsten der andern vernachlässigt ist.

So, z. B. sehr oft, wenn die Henkel nur eine Art Reliefornament bilden, an den Körper der Vase ohne irgendwelchen Zwischenraum anschliessen.

Indem der Zweck des Henkels: das Anfassen und Hantieren der Vase, durch diese Form ausgeschlossen ist, entsteht ein peinliches Gefühl von Sinnwidrigkeit und Gefangenheit, wie wenn einem Menschen die Arme an den Leib gebunden wären; und nur selten kann die dekorative Schönheit der Erscheinung dafür entschädigen, dass hier die innere Einheitstendenz der Vase ihre Beziehung zu der äusseren Welt verschlungen hat. -

Wie also die ästhetische Form nicht so eigenwillig werden darf, um für die Anschauung die Zweckmässigkeit des Henkels zu dementieren (selbst wenn diese, für die Ziervase, praktisch gar nicht in Frage kommt) - so entsteht ein widerwärtiges Bild, sobald die Zweckmässigkeit nach so verschiedenen Seiten hin wirkt, (->120) dass sie die Einheit des Eindrucks zerreisst.

Es gibt griechische Gefässe, die drei Henkel haben: zwei am Körper der Vase, um sie mit beiden Händen zu fassen und nach der einen oder der andern Seite zu beugen, und einen am Hals, mit Hilfe dessen sie nur nach der einen Seite gekippt werden kann.

Den entschieden hässlichen Eindruck dieser Stücke bewirkt weder eine unmittelbare Sünde gegen die Anschaulichkeit noch eine gegen die Praxis; denn warum sollte ein Gefäss nicht nach mehreren Seiten gekippt werden?

Er geht vielmehr, wie mir scheint, darauf zurück, dass die in diesem System angelegten Bewegungen nur nacheinander stattfinden können, während die Henkel sich gleichzeitig darbieten; dadurch entstehen völlig konfuse und widerspruchsvolle Bewegungsgefühle; denn obgleich die Forderungen der Anschaulichkeit und die der Praxis sich hier sozusagen nicht primär widersprechen, so wird doch mittelbar die Einheit der Anschauung zerrissen: diese bietet die Henkel, die gleichsam potentielle Bewegungen sind, in einem Zugleich dar, das deren praktische Aktualisierung dementieren muss.

Und dies leitet zu dem anderen ästhetischen Fehler des Henkels: seiner übertriebenen Abtrennung von der Eindruckseinheit der Vase - der zu seiner Einsicht eines Umwegs bedarf.

Die äusserste Fremdheit des Henkels gegen das Gefäss als Ganzes, seine äusserste Designiertheit zum praktischen Zweck liegt vor, wo er überhaupt nicht mit dem Gefässkörper starr verbunden, sondern umlegbar ist; in der Sprache des Materials wird dies oft dadurch betont, dass der Henkel von anderem Stoff ist als das Gefäss.

Dies ergibt vielfältig kombinierte Erscheinungen.

Bei manchen griechischen Vasen und Schalen hat der Henkel, an dem Gefässkörper starr befestigt und aus gleichem Stoff, das Wesen eines breiten Bandes.

Wenn ihm dabei eine volle Formeinheit mit dem Gefäss erhalten bleibt, so kann das sehr glücklich sein.

Das Material eines Bandes, mit seiner vom Stoffe des Vasenkörpers ganz abweichenden Schwere, Konsistenz, Biegsamkeit, wird hiermit symbolisiert und deutet durch diese anklingenden Verschiedenheiten hinreichend die Zugehörigkeit des Henkels zu einer andern Provinz des Daseins an, während er durch seine reale Stoffgleichheit mit jenem doch den ästhetischen (->121) Zusammenhang des Ganzen erhält.

Allein das feine und labile Gleichgewicht zwischen den beiden Forderungen an den Henkel verschiebt sich auf das Ungünstigste, wenn der feste Henkel zwar tatsächlich aus demselben Stoff ist wie der Vasenkörper, aber einen andern Stoff naturalistisch nachahmt, um durch diese andere Erscheinung seinen besonderen Sinn zu markieren.

Gerade bei den Japanern, die sonst die grössten Meister des Henkels sind, findet sich dieses ganz Widrige: feststehende, über dem Durchmesser der Vase sich wölbende Porzellanhenkel, die genau die strohgeflochtenen, umlegbaren Henkel von Teekannen imitieren.

Wie sehr sich mit dem Henkel eine dem selbständigen Sinn der Vase fremde Welt aufdrängt, wird hier aufs äusserste anschaulich, wo der Sonderzweck des Henkels das Material der Vase eine ihm ganz unnatürliche und maskenhafte Oberfläche hergeben lässt.

Wie der mit dem Vasenkörper abstandslos verwachsene Henkel seine Zugehörigkeit zu jenem einseitig auf Kosten seiner Zweckverwertung übertreibt, so fällt die letztere Gestaltung in das entgegengesetzte Extrem: der Henkel kann die Distanz gegen alles übrige an der Vase nicht rücksichtsloser betonen, als indem er den Stoff dieses übrigen aufnimmt und gerade ihm das Aussehen eines ganz heterogenen, der Vase nur wie von aussen angehängten Reifens aufzwingt.

Das Prinzip des Henkels: der Vermittler des Kunstwerkes zur Welt hin zu sein, der doch selbst in die Kunstform völlig einbezogen ist - bestätigt sich schliesslich daran, dass sein Gegenstück, die Aussgussöffnung oder -ausbiegung des Gefässes, von eben demselben ressortiert.

Mit dem Henkel reicht die Welt an das Gefäss heran, mit dem Ausguss reicht das Gefäss in die Welt hinaus.

Damit erst wird die Einordnung der, Gefässes in die menschliche Teleologie voll kommen, indem es deren Strömung am Henkel aufnimmt und mit seiner Öffnung wieder an sie abgibt.

Eben darum, weil die Öffnung von dem Gefäss selbst ausgeht, ist es leichter, ihre Form organisch mit ihm zu verbinden (der Ausdruck Schnabel oder Schnauze, für den der Henkel gar kein Pendant bietet, deutet schon diese organische Gliedfunktion an), und es kommen an ihr deshalb so unnatürliche und sinnwidrige Ausartungen wie beim Henkel kaum vor. 

Dass Henkel (->122) und Schnabel einander anschaulich als Endpunkte des Gefässdurchmessers korrespondieren und ein gewisses Gleichgewicht halten müssen, entspricht den Rollen, mit denen sie, das Gefäss in sich zwar begrenzend, es doch der praktischen Welt verbinden: der eine zentripetal, der andre zentrifugal.

Es ist wie das Verhältnis des Menschen als Seele zu dem ihm äusseren Sein: durch die sinnliche Empfindlichkeit reicht die Körperlichkeit an die Seele hinan, durch die willensmässigen Innervationen reicht die Seele in die Körperwelt hinaus - beides der Seele und der Geschlossenheit ihres Bewusstseins zugehörig, das das Andre der Körperlichkeit ist und nun dennoch durch jenes beides ihr verflochten ist. –

Es ist von prinzipiellstem Interesse, dass die rein formalen ästhetischen Anforderungen an den Henkel dann erfüllt sind, wenn seine symbolischen Bedeutungen: der geschlossenen Einheit der Vase zuzugehören und zugleich der Angriffspunkt einer, dieser Form ganz äusserlichen Teleologie zu sein - zu Harmonie oder Gleichgewicht gekommen sind.

Dies fällt nicht etwa unter das wunderliche Dogma, dass die Nützlichkeit über die Schönheit entscheide.

Denn es handelt sich gerade darum, dass die Nützlichkeit und die Schönheit als zwei einander fremde Forderungen an den Henkel herantreten - jene von der Welt, diese von dem Formganzen der Vase her - und dass nun gleichsam eine Schönheit höherer Ordnung beide übergreift und ihren Dualismus in letzter Instanz als eine nicht weiter beschreibliche Einheit offenbart.

Durch die Spannweite seiner beiden Zugehörigkeiten wird der Henkel zu einem höchst bezeichnenden Hinweis auf diese, voll der Kunstlehre noch kaum berührte höhere Schönheit, für die alle Schönheit im engeren Sinne nur ein Element ist; diese wird von jener sozusagen überästhetischen Schönheit mit den gesamten Forderungen von Idee und Leben zu einer neuen synthetischen Form zusammengefasst.

Solche Schönheit oberster Instanz ist wohl das Entscheidende für alle wirklich grossen Kunstwerke und ihre Anerkennung scheidet uns am weitesten von allem Ästhetentum.

Neben diesem Ausblick aber lohnte vielleicht ein zweitern, an ein so unscheinbares Phänomen eine so umfängliche Deutung (->123) zu setzen: die Weite der symbolischen Beziehungen, die sich gerade an ihrer Geltung auch für das an und für sich Unbedeutende offenbart.

Denn es handelt sich um nichts Geringeres, als um die grosse, menschliche und ideale Synthese und Antithese: dass ein Wesen ganz und gar der Einheit eines umfassenden Gebietes angehört und zugleich von einer ganz anderen Ordnung der Dinge beansprucht wird - indem diese letztere ihm eine Zweckmässigkeit auferlegt, von der seine Form bestimmt, wird, ohne dass diese Form darum weniger jenem ersten Zusammenhange - als ob der zweite gar nicht bestünde - eingeordnet bleibt.

Ausserordentlich viele Kreise - politische, berufliche, soziale, familiäre - in denen wir stehen, werden von weiteren so umgeben, wie das praktische Milieu das Gefäss umgibt, derart nämlich, dass das Individuum, einem engeren und geschlossenen angehörig, eben damit in den weiteren hineinragt und von diesem jeweils benutzt wird, wenn er mit jenen engeren Kreise gleichsam zu hantieren und ihn in seine umfassendere Teleologie einzubeziehen hat.

Und wie der Henkel über seine Bereitheit zu der praktischen Aufgabe nicht die Formeinheit der Vase durchbrechen darf, so fordert die Lebenskunst vom Individuum, seine Rolle in der organischen Geschlossenheit des einen Kreises zu bewahren, indem es zugleich den Zwecken jener weiteren Einheit dienstbar wird und durch solche Dienstbarkeit den engeren Kreis in den umgebenden einordnen hilft.

Nicht anders ist es mit unseren einzelnen Interessenprovinzen.

Wo wir erkennen oder sittlichen Forderungen unterstehen oder objektiv normierte Gebilde schaffen, ragen wir mit diesen Teilen oder Kräften unser selbst in ideale Ordnungen hinein, die wie von einer inneren Logik, einem überpersönlichen Entwicklungsdrange getrieben werden und jeweils unsre Gesamtenergie an jenen einzelnen Gliedern ergreifen und in sich einstellen.

Und nun kommt alles darauf an, dass wir die Geschlossenheit unseres in uns zentrierenden Seins nicht zerstören lassen, dass jedes einzelne Können und Tun und Sollen in dem Umkreis dieses Seins dem Gesetze von dessen Einheit verhaftet bleibe, während es zugleich jenem ideellen Ausserhalb angehört und uns zu Durchgangspunkten für dessen Teleologie macht.

Vielleicht formuliert dies den Lebensreichtum (->124) der Menschen und der Dinge; denn dieser ruht doch in der Vielfachheit ihres Zueinandergehörens, in der Gleichzeitigkeit des Drinnen und Draussen, in der Bindung und Verschmelzung nach der einen Seite, die doch zugleich Lösung ist, weil ihr die Bindung und Verschmelzung nach einer anderen Seite gegenübersteht.

Das ist ein Wunderbarstes in der Weltauffassung, Weltgestaltung im Menschen, dass ein Element die Selbstgenugsamkeit eines organischen Zusammenhanges mitlebt, als ginge es ganz in ihm auf - und zugleich die Brücke sein kann, über die ein ganz anderes Leben in jenes erste einfliesst, die Handhabe, an der die Ganzheit des einen die Ganzheit des andern erfasst, ohne dass darum eine von ihnen zerrissen wird.

Und dass diese Kategorie, die in dem Henkel der Vase vielleicht ihr äusserlichstes, aber eben deshalb ihre Spannweite am meisten offenbarendes Symbol findet - dass sie unser Leben mit einer solchen solchen Vielheit des Lebens und Mitlebens beschenkt, ist wohl die Spiegelung des Schicksals unserer Seele, die ihre Heimat in zwei Welten hat.

Denn auch sie vollendet sich erst in dem Masse, in dem sie ganz in die Harmonie der einen als notwendiges Glied hineingehört und nicht trotz, sondern gerade mittels der Form, die diese Zugehörigkeit ihr auferlegt, in die Verflechtungen und den Sinn der andern hineinreicht; als wäre sie der Arm, den die eine Welt ausstreckt - mag es die reale, mag es die ideale sein – um die andere zu ergreifen und an sich zu schliessen und sich von ihr ergreifen und an sich schliessen zu lassen. (->125) 

 

 


 

Editorial:

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