Georg Simmel: Philosophische
Kultur
Alfred Kröner Verlag,
Leipzig 1919 (2. Auflage)
Die Ruine (S. 125-133)
(->125)
Der grosse Kampf zwischen dem Willen des Geistes und der Notwendigkeit
der Natur ist zu einem wirklichen Frieden, die Abrechnung zwischen der
nach oben strebenden Seele und der nach unten strebenden Schwere zu
einer genauen Gleichung nur in einer einzigen Kunst gekommen: in der
Baukunst.
Die Eigengesetzlichkeit des Materials in der Poesie, Malerei, Musik muss dem künstlerischen Gedanken stumm dienen, er hat in dem vollendeten
Werk den Stoff in sich eingezogen, ihn wie unsichtbar gemacht.
Selbst in der Plastik ist das tastbare Stück Marmor nicht das
Kunstwerk; was zu diesem der Stein oder die Bronze an Eignem dazugeben,
wirkt nur als ein Ausdrucksmittel der seelisch-schöpferischen
Anschauung.
Die Baukunst aber benutzt und verteilt zwar die Schwere und die
Tragkraft der Materie nach einem nur in der Seele möglichen Plane, allein
innerhalb dieses wirkt der Stoff mit seinem unmittelbaren Wesen, er führt
gleichsam jenen Plan mit seinen eigenen Kräften aus.
Es ist der sublimste Sieg des Geistes über die Natur - wie wenn man
einen Menschen so zu leiten versteht, dass unser Wollen von ihm nicht
unter Überwältigung seines eigenen Willens, sondern durch diesen selbst
realisiert wird, dass die Richtung einer Eigengesetzlichkeit unsern Plan
trägt.
Diese einzigartige Balance zwischen der mechanischen, lastenden,
dem Druck passiv widerstrebenden Materie und der formenden, aufwärts
drängenden Geistigkeit zerbricht aber in ein Augenblick, in dem das
Gebäude verfällt.
Denn dies bedeutet nichts anderes, als dass die bloss natürlichen
Kräfte über das Menschenwerk Herr zu werden beginnen: die Gleichung
zwischen Natur und Geist, die das Bauwerk darstellte, verschiebt (->126)
sich zugunsten der Natur.
Diese Verschiebung schlägt in eine kosmische Tragik aus, die für
unser Empfinden jede Ruine in den Schatten der Wehmut rückt; denn jetzt
erscheint der Verfall als die Rache der Natur für die Vergewaltigung, die
der Geist ihr durch die Formung nach seinem Bilde angetan hat.
Der ganze geschichtliche Prozess der Menschheit ist ein allmähliches
Herrwerden des Geistes über die Natur, die er ausser sich - aber in
gewissem Sinne auch in sich - vorfindet.
Hat er in den anderen Künsten die Formen und Ereignisse dieser Natur
seinem Gebote gebeugt, so formt die Architektur deren Massen und
unmittelbar eignen Kräfte, bis sie wie von sich aus die Sichtbarkeit der
Idee hergeben.
Aber nur solange das Werk in seiner Vollendung besteht, fügen sich die
Notwendigkeiten der Materie in die Freiheit des Geistes, drückt die
Lebendigkeit des Geistes sich in den bloss lastenden und tragenden
Kräften jener restlos aus.
In dem Augenblick aber, wo der Verfall des Gebäudes die
Geschlossenheit der Form zerstört, treten die Parteien wieder auseinander
und offenbaren ihre weltdurchziehende ursprüngliche, Feindschaft: als sei
die künstlerische Formung nur eine Gewalttat des Geistes gewesen, der
sich der Stein widerwillig unterworfen hat, als schüttle er dieses Joch
nun allmählich ab und kehre wieder in die selbständige Gesetzlichkeit
seiner Kräfte zurück.
Aber damit wird dennoch die Ruine zu einer sinnvolleren, bedeutsameren
Erscheinung, als es die Fragmente anderer zerstörter Kunstwerke sind.
Ein Gemälde, von dem Farbenteilchen abgefallen sind, eine Statue mit
verstümmelten Gliedern, ein antiker Dichtertext, aus dem Worte und Zeilen
verloren sind - alle diese wirken nur nach dem, was noch an
künstlerischer Formung an ihnen vorhanden ist oder was sich von ihr, auf
diese Reste hin, die Phantasie konstruieren kann: ihr unmittelbarer
Anblick ist keine ästhetische Einheit, er bietet nichts als ein um
bestimmte Teile vermindertes Kunstwerk.
Die Ruine des Bauwerks aber bedeutet, dass in das Verschwundene und
Zerstörte des Kunstwerks andere Kräfte und Formen, die der Natur,
nachgewachsen sind und so aus dem, was noch von Kunst in ihr lebt und dem,
was schon von Natur in ihr lebt, ein neues (-> 127) Ganzes, eine
charakteristische Einheit geworden ist.
Gewiss ist vom Standpunkt des Zweckes aus, den der Geist in dem Palast
und der Kirche, der Burg und der Halle, dem Aquädukt und der Denksäule
verkörpert hat, ihre Verfallsgestalt ein sinnloser Zufall; allein ein
neuer Sinn nimmt diesen Zufall auf, ihn und die geistige Gestaltung in
eins umfassend nicht mehr in menschlicher Zweckmässigkeit, sondern in der
Tiefe gegründet, wo diese und das Weben der unbewussten Naturkräfte
ihrer gemeinsamen Wurzel entwachsen.
Darum fehlt manchen römischen Ruinen, so interessant sie im übrigen
seien, der spezifische Reiz der Ruine: insoweit man nämlich an ihnen die
Zerstörung durch den Menschen wahrnimmt; denn dies widerspricht dem
Gegensatz zwischen Menschenwerk und Naturwirkung, auf dem die Bedeutung
der Ruine als solcher beruht.
Solchen Widerspruch erzeugt nicht nur das positive Tun des Menschen,
sondern auch seine Passivität, wenn und weil der passive Mensch als blosse Natur wirkt.
Dies charakterisiert manche Stadtruinen, die noch bewohnt sind, wie es
in Italien abseits der grossen Strasse oft vorkommt.
Hier ist das Eigentümliche des Eindrucks, dass die Menschen zwar nicht
das Menschenwerk zerstören, dass vielmehr allerdings die Natur dies
vollbringt - aber die Menschen lassen es verfallen.
Dieses Geschehenlassen ist dennoch von der Idee des Menschen her
gesehen sozusagen eine positive Passivität, er macht sich damit zum
Mitschuldigen der Natur und einer Wirkungsrichtung ihrer, die der seines
eigenen Wesens entgegengesetzt gerichtet ist.
Dieser Widerspruch nimmt der bewohnten Ruine das
sinnlich-übersinnliche Gleichgewicht, mit der die Gegentendenzen des
Daseins in der verlassenen wirken, und gibt ihr das Problematische,
Aufregende, oft Unerträgliche, mit dem diese dem Leben entsinkenden
Stätten nun doch noch als Rahmen eines Lebens auf uns wirken. –
Anders ausgedrückt, ist es der Reiz der Ruine, dass hier ein Menschenwerk
schliesslich wie ein Naturprodukt empfunden wird.
Dieselben Kräfte, die durch Verwitterung, Ausspülung, Zusammenstürzen,
Ansetzen von Vegetation dem Berge seine Gestalt verschaffen, haben sich
hier an dem Gemäuer wirksam (->128) erwiesen.
Schon der Reiz der alpinen Formen die doch meistens plump, zufällig,
künstlerisch ungeniessbar sind, beruht auf dem gefühlten Gegenspiel
zweierkosmischer Richtungen: vulkanische Erhebung oder allmähliche
Schichtung haben den Berg nach oben gebaut, Regen und Schnee, Verwitterung
und Abfall, chemische Auflösung und die Wirkung allmählich sich
eindrängender Vegetation haben den oberen Rand zersägt und ausgehöhlt,
haben Teile des nach oben Gehobenen nach unten stürzen lassen und so dem
Umriss seine Form gegeben.
In ihr fühlen wir so die Lebendigkeit jener Richtungen verschiedener
Energien und, über alles Formal-Ästhetische hinaus diese Gegensätze in
uns selbst instinktiv nachempfindend, die Bedeutsamkeit der Gestalt, zu
deren ruhiger Einheit sie sich zusammengefunden haben.
In der Ruine nun sind sie auf noch weiter distante Parteien des Daseins
verteilt.
Was den Bau nach oben geführt hat, ist der menschliche Wille, was ihm
sein jetziges Aussehen gibt, ist ,die mechanische, nach unten ziehende,
zernagende und zertrümmernde Naturgewalt.
Aber sie lässt das Werk dennoch nicht, solange man überhaupt noch von
einer Ruine und nicht von einem Steinhaufen spricht, in die Formlosigkeit
blosser Materie sinken, es entsteht eine neue Form, die vom Standpunkt der
Natur aus durchaus sinnvoll, begreiflich, differenziert ist.
Die Natur hat das Kunstwerk zum Material ihrer Formung gemacht, wie
vorher die Kunst sich der Natur als ihres Stoffes bedient hatte.
In der Schichtung von Natur und Geist pflegt sich doch, ihrer kosmischen
Ordnung folgend, die Natur gleichsam als der Unterbau, der Stoff oder das
Halbprodukt, der Geist als das definitiv Formende, Krönende darzubieten.
Die Ruine kehrt diese Ordnung um, indem das vom Geist Hochgeführte zum
Gegenstand derselben Kräfte wird, die den Umriss des Berges und das Ufer
des Flusses geformt haben.
Wenn auf Wege eine ästhetische Bedeutung entsteht, so verzweigt sie
sich in derselben Weise in eine metaphysische, wie die Patina auf Metall
und Holz, Elfenbein und Marmor eine solche offenbart.
Auch mit ihr hat ein bloss natürlicher Prozess die Oberfläche des
Menschenwerks ergriffen und es voll einer, die ursprüngliche völlig
verdeckenden Haut überwachsen lassen.
Die geheimnisvolle Harmonie: (->129) dass das Gebilde durch
das Chemisch-Mechanische schöner wird, dass das Gewollte hier durch ein
Ungewolltes und Unerzwingliches zu einem anschaulich Neuen, oft Schöneren
und wieder Einheitlichen wird - das ist der phantastische und
überanschauliche Reiz der Patina.
Diesen bewahrend aber gewinnt die Ruine nun noch den zweiten der
gleichen Ordnung: dass die Zerstörung der geistigen Form durch die
Wirkung der natürlichen Kräfte; jene Umkehr der typischen Ordnung, als
eine Rückkehr zu der "guten Mutter" - wie Goethe die Natur
nennt - empfunden wird.
Dass alles Menschliche "von Erde genommen ist und zu Erde werden
soll" erhebt sich hier über seinen tristen Nihilismus.
Zwischen dem Nochnicht und dem Nichtmehr liegt ein Positives des
Geistes, dessen Weg jetzt zwar nicht mehr seine Höhe zeigt, aber von dem
Reichtum seiner Höhe gesättigt, zu seiner Heimat herabsteigt - gleichsam
das Gegenstück des "fruchtbaren Momentes", für den jener
Reichtum ein Vorblick ist, den die Ruine im Rückblick hat.
Dass die Vergewaltigung des menschlichen Willenswerkes durch die
Naturgewalt aber überhaupt ästhetisch wirken kann, hat zur
Voraussetzung, dass an dieses Werk, so sehr es vom Geiste geformt ist, ein
Rechtsanspruch der blossen Natur doch niemals ganz erloschen ist.
Seinem Stoffe, seiner Gegebenheit nach ist es immer Natur geblieben,
und wenn diese nun ganz wieder Herr darüber wird, so vollstreckt sie
damit nur ein Recht, das bis dahin geruht hatte, auf das sie aber
sozusagen niemals verzichtet.
Darum wirkt die Ruine so häufig tragisch - aber nicht traurig - weil
die Zerstörung hier nichts sinnlos von aussen Kommendes ist, sondern die
Realisierung einer in der tiefsten Existenzschicht des Zerstörten
angelegten Richtung.
Deshalb fehlt der an die Tragik oder die heimliche Gerechtigkeit der
Zerstörung geknüpfte, ästhetisch befriedigende Eindruck so oft, wenn
wir einen Menschen als eine "Ruine" bezeichnen.
Denn wenn auch hier der Sinn ist, dass die seelischen Schichten, die
man im engeren Sinne als naturhaft bezeichnet: die dem Leibe verhafteten
Triebe oder Hemmungen, die Trägheiten, das Zufällige, das auf den Tod
Hinweisende, über die spezifisch, menschlichen, vernunftmässig
wertvollen, Herr werden, so vollzieht sich damit für unser Gefühl ( ->130)
eben nicht ein latentes Recht jener Richtungen.
Ein solches ist vielmehr überhaupt nicht vorhanden.
Wir erachten - gleichviel ob richtig oder irrig - dass dem
Menschenwesen solche dem Geiste entgegengerichteten Herabziehungen gerade
seinem tiefsten Sinne nach nicht einwohnen; an alles Äussere haben sie
ein Recht, das mit ihm geboren ist, aber an den Menschen nicht.
Darum ist der Mensch als Ruine, abgesehen von Betrachtungen aus anderen
Reihen und Komplikationen her - so oft mehr traurig als tragisch und
entbehrt jener metaphysischen Beruhigtheit, die an dem Verfall des
materiellen Werkes wie von einem tiefen Apriori her haftet.
Jener Charakter der Heimkehr ist nur wie eine Deutung des Friedens,
dessen Stimmung um die Ruine liegt - die neben der andern steht: dass jene
beiden Weltpotenzen, das Aufwärtsstreben und das Abwärtssinken, in ihr
zu einem ruhenden Bild ein naturhaften Daseins zusammenwirken.
Diesen Frieden ausdrückend ordnet sich die Ruine der umgebenden
Landschaft einheitlich, und wie Baum und Stein mit ihr verwachsen, ein,
während der Palast, die Villa und selbst das Bauernhaus, noch wo sie sich
am besten der Stimmung ihrer Landschaft fügen, immer einer andern Ordnung
der Dinge entstammen und mit der der Natur nur wie nachträglich
zusammengehen.
An dem sehr aten Gebäude im freien Lande, ganz aber erst an der Ruine,
bemerkt man oft eine eigentümliche koloristische Gleichheit mit den
Tönen des Bodens um sie herum.
Die Ursache muss irgendwie der analog sein, die auch den Reiz alter
Stoffe ausmacht, so heterogen ihre Farben im frischen Zustände waren: die
langen gemeinsamen Schicksale, Trockenheit und Feuchtigkeit, Hitze und
Kälte, äussere Reibung und innere Zermürbung, Jahrhunderte hindurch sie
alle treffend, haben eine Einheitlichkeit der Tönung, eine Reduktion auf
den gleichen koloristischen Generalnenner mit, sich gebracht, die kein
neuer Stoff imitieren kann.
Ungefähr so müssen die Einflüsse von Regen und Sonnenschein,
Vegetationsansatz, Hitze und Kälte das ihnen überlassene Gebäude dem
Farbenton des denselben Schicksalen überlassenen Landes angeähnlicht
haben: sie haben sein ehemaliges gegensätzliches Sichherausheben in die
friedliche Einheit des Dazugehörens gesenkt. (-> 131)
Und noch von einer andern Seite her trägt die Ruine den Eindruck des
Friedens.
Auf der einen Seite jenes typischen Konfliktes stand seine rein äusserliche Form oder Symbolik: der durch Aufbau und Einstürzen
bestimmte Umriss des Berges.
Nach dem andern Pole des Daseins aber hin gerichtet, lebt er ganz
innerhalb der menschlichen Seele, diesem Kampfplatz zwischen der Natur,
die sie selbst ist, und dem Geiste, der sie selbst ist.
An unsrer Seele bauen fortwährend die Kräfte, die man nur mit dem
räumlichen Gleichnis des Aufwärtsstrebens benennen kann, fortwährend
durchbrochen, abgelenkt, niedergeworfen, von den andern, die als unser
Dumpfes und Gemeines und im schlechten Sinne "Nur-natürliches"
in uns wirken.
Wie sich diese beiden nach Mass und Art wechselnd mischen, das ergibt
in jedem Augenblick die Form unsrer Seele.
Allein niemals gelangt sie, weder mit dem entschiedensten Sieg der
einen Partei noch mit einem Kompromiss beider, zu einem endgültigen
Zustand.
Denn nicht nur die unruhige Rhythmik der Seele duldet keinen solchen;
sondern vor allem: hinter jedem Einzelereignis, jedem Einzelimpulse aus
der einen oder der andern Richtung steht etwas Weiterlebendes, stehen
Forderungen, die die jetzige Entscheidung nicht zur Ruhe bringt.
Dadurch bekommt der Antagonismus beider Prinzipien etwas Unabschliessbares, Formloses, jeden Rahmen Sprengendes.
In dieser Unbeendbarkeit des sittlichen Prozesses, in diesem tiefen
Mangel abgerundeter, zu plastischer Ruhe gelangter Gestaltung, den die
unendlichen Ansprüche beider Parteien der Seele auferlegen, besteht
vielleicht der letzte formale Grund für die Feindschaft der ästhetischen
Naturen gegen die ethischen.
Wo wir ästhetisch anschauen, verlangen wir, dass die Gegensatzkräfte
des Daseins zu irgend einem Gleichgewicht, der Kampf zwischen Oben und
Unten zum Stehen gekommen sei; aber gegen diese, allein eine Anschauung
gewährende Form wehrt sich der sittlich-seelische Prozess mit seinem
unaufhörlichen Auf und Nieder, seinen steten Grenzverschiebungen, mit der
Unerschöpflichkeit der in ihm gegenspielenden Kräfte.
Den tiefen Frieden aber, der wie ein heiliger Bannkreis die Ruine
umgibt, trägt diese Konstellation: dass der dunkle Antagonismus, der die
Form alles Daseins bedingt, - einmal (->132) innerhalb der blossen Naturkräfte wirksam, ein anderes Mal innerhalb des seelischen
Lebens für sich allein, ein drittes Mal, wie an unserm Gegenstand,
zwischen Natur und Materie sich abspielend - dass dieser Antagonismus hier
gleichfalls nicht zum Gleichgewicht versöhnt ist, sondern die eine Seite
überwiegen; die andere in Vernichtung sinken lässt und dabei dennoch ein
formsicheres, ruhig verharrendes Bild bietet.
Der ästhetische Wert der Ruine vereint die Unausgeglichenheit, das
ewige Werden der gegen sich selbst ringenden Seele mit der formalen
Befriedigtheit der festen Umgrenztheit des Kunstwerks.
Deshalb fällt, wo von der Ruine nicht mehr genug übrig ist, um die
aufwärts führende Tendenz fühlbar zu machen, ihr
metaphysisch-ästhetischer Reiz fort.
Die Säulenstümpfe des Forum Romanum sind einfach hässlich und weiter
nichts, während eine etwa bis zur Hälfte abgebröckelte Säule ein
Maximum von Reiz entwickeln mag.
Man wird freilich jene Friedlichkeit gern einem andern Motiv
zuschreiben: dem , Vergangenheitscharakter der Ruine.
Sie ist die Stätte des Lebens, aus der das Leben geschieden ist - aber
dies ist nicht bloss Negatives und Dazugedachtes, wie bei den unzähligen,
ehemals im Leben schwimmenden Dingen, die zufällig an sein Ufer geworfen
sind, aber ihrem Wesen nach ebenso wieder von seiner Strömung ergriffen
werden können.
Sondern dass das Leben mit seinem Reichtum und seinen Wechseln hier
einmal gewohnt hat, das ist unmittelbar anschauliche Gegenwart.
Die Ruine schafft die gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens, nicht
nach seinen Inhalten oder Resten, sondern nach seiner Vergangenheit als
solcher.
Dies ist auch der Reiz der Altertümer, von denen nur eine bornierte
Logik behaupten kann, dass eine absolut genaue Imitation ihnen an
ästhetischem Wert gleichkäme.
Gleichviel, ob wir im einzelnen Falle betrogen sind - mit diesem
Stück, das wir in der Hand halten, beherrschen wir geistig die ganze
Zeitspanne seit seiner Entstehung, die Vergangenheit mit ihren Schicksalen
und Wandlungen ist in den Punkt ästhetisch anschaulicher Gegenwart
gesammelt.
Hier wie gegenüber der Ruine, dieser äussersten Steigerung und
Erfüllung der Gegenwartsform der Vergangenheit, spielen so tiefe und
zusammen- (-> 133) fassende Energien unserer Seele, dass die
scharfe Scheidung zwischen Anschauung und Gedanke völlig unzureichend
wird.
Hier wirkt eine seelische Ganzheit, und befasst, wie ihr Objekt die
Gegensätze von Vergangenheit und Gegenwart in eine Einheitsform
verschmilzt, die ganze Spannweite des körperlichen und des geistigen
Sehens in die Einheit ästhetischen Geniessens, das ja immer in einer
tieferen als der ästhetischen Einheit wurzelt.
So lösen Zweck und Zufall, Natur und Geist, Vergangenheit und
Gegenwart an diesem Punkte die Spannung ihrer Gegensätze, oder vielmehr,
diese Spannung bewahrend, führen sie dennoch zu einer Einheit des äusseren Bildes, der inneren Wirkung.
Es ist, als müsste ein Stück des Daseins erst verfallen, um
gegen alle, von allen Windrichtungen der Wirklichkeit her kommenden
Strömungen und Mächte so widerstandslos zu werden.
Vielleicht ist dies der Reiz des Verfalles, der Dekadenz überhaupt,
der über ihr blosses Negatives, ihre blosse Herabgesetztheit
hinausreicht.
Die reiche und vielseitige Kultur, die unbegrenzte Beeindruckbarkeit und
das überallhin offene Verstehen, das dekadenten Epochen eigen ist,
bedeutet eben doch jenes Sichzusammenfinden aller Gegenstrebungen.
Eine ausgleichende Gerechtigkeit knüpft das hemmungslose Zusammen
alles auseinander und gegeneinander Wachsenden an den Verfall jener
Menschen und jenes Menschenwerkes, die jetzt nur noch nachgeben, aber sich
nicht mehr aus ihrer eigenen Kraft heraus ihre eigenen Formen schaffen und
erhalten können.
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