Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Band
2:
Fünftes Kapitel: Der kategorische Imperativ (S. 1-130)
Die
Erfüllung der Pflicht um der Pflicht willen
Die
Erfüllungswahrscheinlichkeit als Wertmoment ethischer Forderungen
Die
teleologische Bedeutung der Allgemeingültigkeit der Handlung
Die
logische Bedeutung des kategorischen Imperativs
Der ethische Wert der
Widerspruchslosigkeit
Die ethische Bestimmung des Einzelnen durch
seinen Begriff
Verhältnisse zwischen dem Allgemeinen und dem
Einzelnen in theoretischer und praktischer Hinsicht
Geschichtliche
Parallelen und Entgegensetzungen zwischen den theoretischen und den
praktischen Annahmen
Gemeinsames Fundament beider
Ethischer Realismus
und Nominalismus
(<1) Die
Formel des kategorischen Imperativs: Handle so, dass die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könne - hat für Kant einen doppelten Zweck.
Sie
soll zunächst die Form beschreiben, welche die als sittlich beurteilten
Handlungen ihrer objektiven Erscheinung nach aufweisen.
Sie
soll aber zugleich das psychologische Motiv ihrer eigenen Erfüllung
ausmachen und so das Kriterium der subjektiven Sittlichkeit sein; die
Sittlichkeit besteht ja, wie er anderweitig betont, nicht nur darin zu
handeln wie es Pflicht ist, sondern weil es Pflicht ist.
Da
die späteren Überlegungen nur dem erstgenannten Zwecke der Formel
gewidmet sind, sei hier über den zweiten gleich das Folgende bemerkt.
In
der Forderung, dass jenes Moralgesetz nicht nur überhaupt erfüllt,
sondern um seiner selbst als letzten Motives willen erfüllt werde,
liegt die eigentliche sittliche Autonomie, in einem ganz anderen als dem
gewöhnlichen Wortsinne.(<2)
Denn
es handelt sich hier nicht nur darum, dass der Handelnde die Norm seines
Verhaltens ausschliesslich aus sich selbst schöpfe, ohne durch den
Willen eines Anderen, vermöge der Mittelglieder von Furcht und Hoffnung
oder unmittelbar durch Autorität oder Suggestion motiviert zu werden.
Diese
sittliche Heteronomie könnte ausgeschlossen sein, ohne dass der
unsittlichsten Selbstsucht der Raum genommen wäre, da auch das Handeln
um des Glücksgefühles willen völlig autonom sein kann.
Nicht
nur die Abhängigkeit dieses Gefühles von äusseren und sinnlich
erregenden Gegenständen kann doch nur sehr mittelbar als Heteronomie
gelten, - denn wir empfangen die Regel unseres Verhaltens dabei
keineswegs von aussen, sondern dieselbe bildet sich völlig spontan in
uns und hat nur in demselben Sinne einen äusseren Gegenstand zur
Materie, wie doch auch das sittliche Wollen sich schliesslich auf irgend
ein Objekt richten muss.
Sondern
der Egoismus und Eudämonismus kann überhaupt ohne ein derartiges
Objekt auskommen, er kann sich, insbesondere bei ästhetisch gerichteten
oder auf geistige Selbstbefriedigung angelegten Naturen ganz auf innere
Verhältnisse beziehen und in einer bestimmten Gestaltung derselben sein
volles Genügen finden.
Das
wären also Fälle von Autonomie des Praktischen, die doch keineswegs
als sittlich zu bewerten sind.
Die
Kantische Autonomie dagegen - in derjenigen Konsequenz, deren Reinheit
er selbst freilich nicht aufrecht erhalten hat - ist nicht eine
Autonomie der Persönlichkeit überhaupt, sondern der Sittlichkeit; ihre
Folge oder ihr Inhalt ist nicht, dass jemand überhaupt sich sittlich
richtig verhalte, sondern dass, wenn er es tut, er es auch um der
Sittlichkeit selbst willen tut, und kein ausserhalb ihrer gelegenes
Motiv hinzuzutreten braucht, um die als sittlich erscheinende Handlung
hervorzurufen.(<3)
Weshalb
nun aber Kant, in Übereinstimmung mit dem allgemeinen sittlichen
Befinden, dieser Pflichterfüllung um der blossen Pflicht willen einen
so besonders hohen Wert zugesprochen hat, dass
er den Kern der Sittlichkeit in ihr erblickt - das ist nicht ohne
weiteres klar.
Ich
glaube, dass auch hier die Bildung des Innerlichen von einem relativ
Äusserlichen ausgegangen ist.
Wo
nämlich die Erfüllung der Pflicht einer motivierenden Kraft entstammt,
die an sich auf anderes gerichtet ist, da ist es eben nur zufällig,
dass die Entwicklung derselben ihren Weg über die Pflicht nimmt.
Wenn
wir das Sittliche zwar äusserlich tun und sogar mit durchaus sittlicher
innerlicher Gesinnung, aber mit psychologischer Betonung des materialen
Zwecks, des Inhaltes des Tuns, so ist man nicht von vornherein sicher,
ob die gleiche Assoziation des praktischen Pflichtgefühles auch mit
jedem anderen erforderlichen Inhalte stattfinden werde.
So
oft wir auch dasjenige getan haben mögen, was uns Pflicht ist: so bald
wir es nicht aus dem Grunde, dass es Pflicht ist, getan haben, liegt
darin absolut keine Gewähr für den nächsten Fall des Handelns.
Nur
bei demjenigen, dem die blosse Pflichtmässigkeit des Handelns das Motiv
desselben ist, ist die Gefahr ausgeschlossen, dass er einer Pflicht
einmal auf irgend welche Nebeneigenschaften oder - wirkungen ihres
Gegenstandes hin die Erfüllung verweigere, und die sittliche
Richtigkeit seiner äusseren Taten hat dieselbe relative Gewissheit, wie
die ästhetische Richtigkeit des Handelns jemandes, dein die Schönheit
Motiv des Tuns überhaupt ist.
Wir
erfassen hiermit die tiefere Grundlage des früher bloss tatsächlich
geschilderten Verhältnisse, in dem Kant den Begriff der Sittlichkeit
mit dem des sittlichen Verdienstes vertauscht, und behauptet, dass sich
die Kraft des sittlichen Gebotes nur durch Aufopferungen kenntlich
machte.
Denn
so lange eudämonistische Motive in der gleichen Richtung wirken wie
sittliche, kann niemand, auch der Handelnde selbst nicht mit Sicherheit
wissen, von welchen er in Wirklichkeit bestimmt worden ist.(<4)
Es
ist immerhin nur eine Möglichkeit, dass es durch die sittlichen geschah
und eine Gewissheit darüber haben wir erst in dem Augenblick, wo die
Motive gegen einander wirken.
Erst
wenn die Handlung mir von allen eudämonistisch-egoistischen Motiven
widerraten wurde und ich sie dennoch vollbrachte, ist die Überzeugung,
dass ich sie aus sittlichen Motiven vollbrachte, eine bewiesene.
Die
scheinbare Asketik der Kantischen Lehre: die Fundamentierung des
Sittlichkeitsbegriffes auf dem Gegensatz und der Überwindung der
Glücksinteressen, ist angesichts unserer unvollkommenen Einsicht in die
Motive des Handelns nur die garantierende ratio cognoscendi dafür,
dass wirklich ethisches Handeln vorliegt, wie die Motivierung des
Pflichthandelns aus der Pflicht die garantierende ratio essendi
desselben ist.
Ist
die Pflicht im einzelnen Falle erfüllt, so könnte es insofern der
Allgemeinheit völlig gleichgültig sein, ob sie um der Pflicht willen
oder um ihres Objektes willen erfüllt wurde; wenn es ihr dennoch nicht
gleichgültig ist, sondern sie den ersteren Fall sehr viel höher
bewertet als den letzteren, so kann dies nur auf Grund der grösseren
Garantie geschehen, die eine derartige Gesinnung für alle künftigen
Fälle gewährt.
Wird
um der Pflicht willen sittlich gehandelt, so ist die Handlung wirklich
ein Fall des sittlichen Prinzips und man kann relativ sicher sein, dass
jeder weitere Fall nach eben demselben behandelt wird, gleichviel
welchen Inhalt die unberechenbaren Wandlungen des Geschicks ihm geben
mögen.
So
selbstverständlich also, wie lange Gewohnheit uns diese Schätzung der
Gesinnung gemacht bat, ist sie an sich nicht.
Sehen
wir die einzelne Tat rein in ihrer Einzelheit an, so wird man im
Interesse der Allgemeinheit viel eher wünschen, dass sie dieser zum
grossen Nutzen gereiche und zugleich aus höchst sträflichem Egoismus
hervorgegangen sei, als dass eine weniger nützliche geschähe, der aber
die reinste und verdienstvollste Absicht zum Grunde läge. (<5)
Wenn
wir dennoch auf die letztere einen Wert legen, den wir der ersteren
verweigern, so ist das nur ein Induktionsschluss daraus, dass im
Allgemeinen die letztere Gesinnung nützliche, die erstere schädliche
Taten hervorruft.
Aber
ist dies nicht vielleicht eine rohe Verallgemeinerung? Dürfen wir einen
Fall nach einer Regel beurteilen, von der er doch gerade eine Ausnahme
bildet?
Wären
die Kräfte in der Majorität, die das Gute schaffen, indem sie das
Böse wollen, würde dasjenige, was wir böse Gesinnung nennen, stets
zum Vorteil der Gesamtheit ausschlagen, so würde offenbar sie
geschätzt und der jetzt gut genannten der Wert abgesprochen werden
Wenn
dies nun in einem einzelnen Falle eintritt, - darf er darunter leiden,
dass andere Fälle eben anders beurteilt werden müssen? Was
geht es ihn an, ob tausend Fälle neben ihm gleich oder anders sind? Der
Schein der Paradoxität und der Moralskepsis, der solchen Fragen
anhaftet, entsteht dadurch, dass man einen Begriff des Guten schon
voraussetzt, nach dessen Berechtigung gerade erst gefragt wird; dass ein
Kriterium auf diejenigen Vorgänge angewendet wird, die seiner Erhebung
zum Kriterium erst zum Grunde liegen.
Auch
handelt es sich hier keineswegs um eine Revolutionierung der Begriffe
von Gut und Böse, sondern nur um eine theoretische Klärung ihres
Ursprungs.
Hat
sich erst durch Verdichtung und sozialethische Prophylaxis über dem
real Nützlichen der Wert des Innerlichen, der garantierenden Grundlage
erhoben, so wäre es ein völliges Verkennen der historischen Methode,
die neuen Wertbestimmungen innerhalb der Grenzen festhalten zu wollen,
von denen ihre Fundamente allerdings umschlossen waren.
Dieses
Missverständnis des historisch – psychologischen Prinzips ist
freilich nichts Seltenes und steht auf gleicher Stufe mit der dem
Entwicklungsprinzip aufgebürdeten Konsequenz, dass der Ursprung des
Menschen aus einer niederen Tiergattung sein Wollen und Fühlen an den
Massstab tierischer Affekte knüpfe, aus denen es sich allerdings
herausgebildet hat. (<6)
Es
ist vielmehr der eigentümliche Vorzug der historischen Ethik, dass sie
die sachliche, ideale Bedeutung der Werte, deren Ableitung von anderen
sie erkennt, darum doch nicht von diesen und den durch sie gegebenen
Kriterien braucht abhängen zu lassen, sondern den historisch
entstandenen dennoch den ursprünglichen gegenüber eine ganz
selbständige Würde zusprechen kann.
Denn
wenn auch die historische Ableitung die Absolutheit des Wertes nicht
bestehen lässt, so besitzt doch auch das Fundament, das Primäre, von
dem das Spätere deriviert, eine solche nicht, sondern ist nach
demselben Prinzip als relativ zu betrachten und weist gleichfalls auf
ein früheres hin.
Indem
nach dem heuristischen Prinzip des Evolutionismus auch der
ursprünglichste Wert, an den wir gelangen können, der Möglichkeit
eines noch einfacheren und grundlegenderen Raum gibt, wird ihm der
Charakter des Absoluten genommen, dessen Korrelat es war, dass alle
späteren nur relative waren und von jenem allein ihre Bedeutung
entlehnen mussten.
Sobald
jener Vorzug verschwindet, fällt dieser Nachteil hinweg; die
historische Betrachtung lehrt uns zwar, alles Gegebene als ein
abgeleitetes erkennen, aber sie drückt dieses nicht gegenüber seinem
Fundament, Material, Quell - oder wie man es nennen mag - in die Rolle
eines blossen Lehnsträgers gegenüber dem absolut Wertvollen hinab,
weil auch jenes wieder nur ein abgeleitetes ist, und deshalb den
gleichen Prozess, der ihm den Wert verlieh, an dem sekundären zu
wiederholen gestattet.
Und
zu dieser historischen tritt nun die psychologische Betrachtung, die uns
lehrt, dass Wert überhaupt nichts objektives ist, sondern erst im
subjektiven Prozess der Schätzung entsteht, also weder in der Tatsache
dieser letzteren noch in ihrem Masse an die logische oder psychische
Reihe gebunden ist, in der das wertvolle Objekt sich vielleicht aus
relativ primären entwickelt.
(<7)
Jene oben aufgeworfene Frage, ob der einzelnen sozial-nützlichen, aber
egoistischer Gesinnung entsprungenen Tat ein Wert nicht auch dann
bleiben müsse, wenn das Wertgefühl auf die altruistische Gesinnung
übergegangen sei, da ja diese letztere nur als Umformung und Sicherung
des äusserlich Nützlichen geschätzt werde - diese Frage ist
tatsächlich zu verneinen.
Denn
die logische Deduktion, der sie entspringt, ist machtlos gegenüber der
tatsächlichen psychologischen Entwicklung, die nun einmal auf den Punkt
der Gesinnung den Wert konzentriert hat, und dazu ebenso berechtigt
war., wie zu der Bewertung der einzelnen nützlichen Handlung.
Die
logischen Beweise, mit denen die Sittenlehre klar zu machen sucht - und
zwar nicht nur prinzipiell, sondern auch in den sittlichen
Angelegenheiten des Tages und des Individuums - dass dieses und
jenes wertvoll sei, weil es in logischer Verbindung mit anderem
Wertvollem stünde, kranken unzählige Male daran - und werden
daraufhin auch von dem natürlichen Instinkt zurückgewiesen -
dass sie zwar aus den Faktoren, mit denen sie rechnen, ein richtiges
Fazit ziehen, aber nicht die neuen Faktoren berücksichtigen, die zu dem
fraglichen Vorgang oder Willensinhalt psychologisch hinzutreten und ganz
ausserhalb jener anderen, ganz unberechenbar aus ihnen, liegen.
An
welchen Punkt der äusseren und inneren Entwicklungsreihe das
Wertgefühl geknüpft wird, lässt sich aus dem Werte anderer Punkte
dieser Reihe nicht deduzieren; und wenn diese Wertsetzung auch eine
unlogische Tat, im kontradiktorischen Sinne der Unabhängigkeit von der
Logik, ist, so ist sie doch keine unlogische, im konträren Sinne der
positiven Entgegengesetztheit gegen die Logik.
Denn
der Mangel an Absolutheit, der Charakter relativer Zufälligkeit,
Abgeleitetheit und Subjektivität, den auch die zur Ableitung benutzten
Werte tragen, enthebt uns der Notwendigkeit, sozusagen aus dem Fond
ihres Wertes jede neue Wertsetzung als solche zu bestreiten, und
verleiht der letzteren, wenn sie überhaupt psychologisch erfolgt,
wenigstens das Recht logischer Unabhängigkeit von jenen.(<8)
Alles
dies alteriert natürlich nicht die historisch-psychologische
Erkenntnis, dass die gute Gesinnung ihren Wert nicht aus sich selbst
schöpft, sondern aus der Verdichtung der vielfachen Handlungen, deren
Prinzip sie zeigt und für die sie dadurch Gewähr leistet.
Es
stellt sich auch hier das eigentümliche, unser ganzes Geistesleben
durchziehende Verhältnis heraus, dass das Äusserliche von einem
gewissen Quantum ab den Charakter der Innerlichkeit annimmt, sei es,
weil bei jeder starken Zusammendrängung von Einzelheiten die
Abstraktion, die geistige Form des Zusammenfügens einflussreicher wird,
und sich dem Singulären gegenüber in den Vordergrund stellt, sei es
weil die tiefgelegene psychologische Wurzel, die allen Taten gemeinsam
ist, erst bei einer grösseren Fülle und gleichsam im Schnittpunkt
derselben kenntlich wird.
Erst
eine Gesamtheit praktischer und theoretischer Äusserungen bildet ein
Ich, erst der grosse Reichtum der Einzelerscheinungen weist auf eine
einheitliche Weltseele hin, erst die ganze Fülle der Wirkungen und
Gegenwirkungen in der sozialen Gruppe lässt jene geistige Einheit in
ihr verstehen, die sich nachher als Ursache der einzelnen Beziehungen
und Inhalte darstellt.
Kurz,
dasjenige, was uns ursprünglich als Objektives und Vereinzeltes
entgegentritt, erhält durch die Beziehung und den Hinzutritt von vielem
Gleichen eine Vertiefung, und Verinnerlichung, welche in keinem von
diesen für sich allein liegt; aus dem Vereinigungspunkt des Einzelnen
und Äusserlichen, der entweder wirklich geistiger Natur, oder
wenigstens nur durch höchste geistige Funktionen konstruierbar ist,
reflektiert auf jedes Element eine ihm sonst fremde Geistigkeit und
Beziehung zu dem Subjekt als Träger des Objektiven.
Diese
Betrachtung wird dadurch nicht
alteriert, dass wir auch schon zu der entgegengesetzten Gelegenheit
hatten: was wir das Objektive nennen, kommt nur durch Häufung und
Verdichtung des Subjektiven zustande.
Eine
Summierung des Psychologischen wird uns zum Logischen, die äussere Tat
ist überhaupt nur insofern sittlich, als sie durchgehendes in der
Gattung gewisse innerliche Reaktionen bewirkt u.a.
Ein
Widerspruch gegen die obigen Festsetzungen ist dies insofern nicht, als
die Gegensatzpaare: Subjektives-Objektives, Inneres-Äusseres, deren je
eines Glied von einem gewissen Quantum an in das je andere übergeht,
die entgegengesetzten Richtungen dieses Überganges doch nur an
verschiedenen Materien darbieten.
Dass
es aber überhaupt zu einem solchen Umschlagen der Gegensätze
ineinander kommen kann, ist nichts als ein Beweis für den Charakter der
Relativität, der auch den fundamentalsten und scheinbar ihren Sinn
völlig in sich allein tragenden Elementen unseres Weltbildes eigen ist.
Dass
die Pflicht, das Sittliche an der Handlung auch Endziel des Handelns
sein müsse, wenn ihr irgend ein Wert zukommen solle, wird auch in der
Form ausgesprochen, dass der Wille und nicht der zufällige
tatsächliche Effekt der Handlung ihr die sittliche Bedeutung verleihe.
Denn
der letztere Satz bedeutet doch, dass das Wollen des Guten, das Setzen
seiner als wirkliches - nicht nur zufälliges oder technisch notwendiges
- Endziel, der einzige ethische Wert sei.
Ob
man nun als den Gegensatz dazu das äusserliche Resultat der Handlung
oder das Wollen anderer als ihrer sittlichen Elemente ansetzt, bedeutet
nur einen Unterschied in der Färbung des Untergrundes, aber nicht des
positiven Baues.
Doch
führt gerade die eben angeführte Formulierung, desselben besonders
darauf hin, dass es doch noch einer Ergänzung bedarf, wenn die
sittliche Qualität der Handlung in ihrem ganzen Umfang durch das Wollen
des Endzwecks gedeckt sein soll.(<10)
Es
entstehen nämlich häufige Kollisionen dadurch, dass unsere sittlich
gebotenen Endzwecke nicht unmittelbar, sondern nur durch eine Reihe
anderer Handlungen zu realisieren sind, welche ihrerseits einer
gesonderten sittlichen Beurteilung unterliegen.
Möglich
ist dies dadurch, dass die Mittelhandlungen nicht nur die Folge haben,
die ich herbeiführen will und soll, sondern noch eine Reihe anderer;
hat eine Handlung nur eine einzige Folge, so ist sie in demselben Masse
sittlich oder unsittlich als diese Folge es ist.
Aber
aus jener Mehrheit der Wirkungen ergibt es sich, dass die Beschränkung
der Zurechnung auf das positiv Gewollte mindestens ein unzulänglicher
Ausdruck ist.
Wenn
ich z. B. Geld zu dem sittlichen Endzweck brauche, meine Familie zu
ernähren, und ich es mir auf betrügerische Weise, die andere Menschen
schädigt, verschaffe, so könnte ich mich nach dem Prinzip, dass ich
nur für das, was ich will, verantwortlich bin, entschuldigen: mein
Zweck ist ja nur die Ernährung meiner Familie; dass andere Menschen
dadurch geschädigt werden, ist eine sekundäre Folge meines Handelns,
die ich gar nicht will und beabsichtige, und für die ich doch nur
sittlich verantwortlich wäre, wenn die Schädigung Anderer der gewollte
Zweck meines Handelns wäre.
Jenes
Prinzip des allein verantwortlichen Willens muss deshalb praktisch durch
den allgemeinen Grundsatz ergänzt werden: alle Folgen und Beziehungen
einer Handlung, die ich bei ihrer Vollbringung kenne und voraussehe,
gelten als von mir gewollte, und ich bin deshalb für alle in gleichem
Masse verantwortlich.
Die
Betonung des Endzweckscharakters der Pflicht als alleinigen sittlichen
Kriteriums legt die Versuchung allzu nahe, an denjenigen Rücksichten
vorüberzugehen, welche mehr ein Vermeiden als ein Vollbringen fordern;
logisch und psychologisch verführt sie dazu, hinter der Bedeutung des
subjektiven Endzwecks dasjenige ganz in den Schatten zu rücken, was
nicht sowohl mit positiver Direktive des Willens gewollt, als nur nicht
vernachlässigt werden soll. (<11)
Weiterhin
gewinnen wir mit unserer Deutung der "Pflicht um der Pflicht
willen" scheinbar einen Gegensatz, tatsächlich eine Ergänzung zu
der Hypothese unseres dritten Kapitels: dass die Schätzung desjenigen,
der das Sittliche eben nicht bloss aus Sittlichkeit., sondern aus dem
eudämonistischen Triebe der eigenen Natur heraus vollbringt, sich
gerade auf die Unzuverlässigkeit der bloss pflichtmässigen Motive
gründe; wir schätzten die konfliktfreie, mit dem Eigeninteresse
solidarische Sittlichkeit deshalb so hoch, weil sie die Gewähr für
anstandslose subjektive Erfüllung der sittlichen Forderung gäbe.
Es
wurde also einmal der höchste Wert darauf gelegt, dass die Pflicht
nicht nur um der Pflicht willen, sondern aus dem daneben liegenden, wenn
auch parallel laufenden eudämonistischen Interesse erfüllt werde, ein
andermal aber gerade darauf, dass unter Ausschluss aller anderen
Interessen die Pflicht selbst das einzige Motiv ihrer Erfüllung bilde.
Ich
glaube, dass vom Gesichtspunkt der sozialethischen Prophylaxis aus beide
Schätzungsweisen sich nur als Seiten einer einheitlichen Bestrebung
darstellen.
Es
kommt darauf an, eine möglichst zuverlässige persönliche Disposition
zum sittlichen Handeln zu schaffen, und diesem Zweck dient sowohl die
psychologische Gestaltung, die die Pflicht als Selbstzweck, wie die sie
als Glücksmoment empfindet.
Die
erstere Eventualität leidet unter der Chance, dass sich andere Zwecke,
die zweite, dass sich andere Mittel neben die Pflicht stellen, und darum
ergänzen sie sich von dem genannten sozialen Gesichtspunkt aus,
während sie sich als absolute Moralprinzipien begrifflich zu
widerstreiten scheinen.
In
Hinsicht auf die pädagogische Realisierung beider wird man sagen
können, dass die Sicherung der Pflichterfüllung vermöge
des
Glücksmotives mehr Sache der öffentlichen Einrichtungen ist, die
dafür zu sorgen haben, dass jede Leistung auch ihren Lohn findet,
dagegen die vermöge des Pflichtmotives mehr der
individuell-pädagogischen Einwirkung zukommen wird.(<12)
Dass
aber überhaupt Moralprinzipien aufgestellt und sittliche Verfassungen
bewertet werden, nicht allein und oft gar nicht wegen des unmittelbaren
Gehaltes an Sittlichkeit, den sie repräsentieren, sondern wegen der
Sicherheit, die sie subjektiv-psychologisch für die Ausführung des
sachlich Sittlichen mit sich bringen: das weist auf ein Moment der
sittlichen Prinzipiengebung hin, oder enthält es vielmehr schon, das
bisher nicht hinreichend beachtet worden ist.
Wenn
Moralgebote gewissermassen Anweisungen auf künftiges Handeln sind, so
besteht ihr Wert doch nicht nur aus der Höhe der Sittlichkeit, die sie
zu erreichen vorschreiben, sondern setzt sich aus dieser und, als
zweitem Faktor, der Sicherheit zusammen, mit der jene erreicht werden
wird.
Das
verhält sich nicht anders als mit dem Werte einer Kapitalanweisung,
eines Darlehens, der nach der Höhe der Summe und der Sicherheit, sie
auch wirklich wieder zu erlangen, berechnet wird.
Wo
diese Sicherheit eine relativ geringe ist, sinkt entsprechend der Wert
des Gesamtanspruchs, und die Erhöhung des Zinsfusses in diesem Falle
ist Ausdruck und Ausgleich dieser Tatsache.
Alle
menschlichen Werte, welche nicht unmittelbar genossen werden,
unterliegen dieser Multiplikation mit dem Bruch, der die
Wahrscheinlichkeit ihrer Erlangung ausdrückt.
Dieser
Bruch selbst kann wieder aus mehreren Faktoren bestehen; wo es sich z.
B. um den Wert eines Versprechens handelt, da setzt er sich zusammen aus
dem Zuverlässigkeitsgrade der versprechenden Persönlichkeit und der
Länge der Zeit, nach der die Leistung erfolgen soll; denn auch die
grösste Zuverlässigkeit bietet, auf je längere Zeit hin sie wirken
soll, dem unberechenbaren Schicksal eine um so grössere Chance, ihre
Bemühung irgendwie zu vereiteln.
(<13)
Aus der Wirkung des Sicherheitsfaktors ist es auch verständlich, wenn
aus den Zeiten der Pest berichtet
wird,
dass eine unsinnige Verschwendung von Geld und Gut und eine
besinnungslose Hingabe an sinnliche Genüsse geherrscht habe; denn es
war bei so verstärkter Todeshance eben unwahrscheinlich, dass der
Einzelne diejenigen späteren Werte wirklich noch geniessen würde, auf
die sein Kapitalbesitz die Anweisung enthielt, und dass er in und ausser
sich die sozialen und objektiven Werte verwirklichen könnte, zu denen
man in den unsinnlichen Energien die Spannkräfte sammelt; infolge
dessen musste die Empfindung für das unmittelbar Wertvolle allein den
Platz behalten.
Wenn
wir allenthalben auf jene Eigentümlichkeit des Geistes, sich die Mittel
zu Zwecken selbst zu unmittelbaren Werten auswachsen zu lassen,
hingewiesen haben und aus ihr die überwiegende Zahl sittlicher
Wertsetzungen für erklärbar halten dürfen: so bestimmt sich nun das
Mass eines solchen Wertes nicht nur nach dem Werte des Endzwecks, zu dem
er führt, etwa noch unter Berücksichtigung der Grösse seines Anteils
an der Realisierung dieses Endzwecks; sondern das durch diese Momente
gegebene Wertmass wird noch modifiziert durch die grössere oder
geringere Wahrscheinlichkeit, mit der die fragliche Institution,
Eigenschaft, Tendenz den Endwert realisiert, von dem sie es überhaupt
entlehnt, dass sie ein Wert ist.
Dieser
Faktor, der unsere gesamten individuellen und sozialen Wertungen
affiziert, ist deshalb so sehr schwer herauszuerkennen, weil er nicht
nur objektiv genommen ausserordentlich variabel ist, sondern in seiner
Wirkung auf die Wertschätzung von allen subjektiven Verschiedenheiten
der Vorausberechnung, Wahrscheinlichkeitskalkulierung, Betonung durch
Temperament usw. abhängig ist.
Wenn
eine Gesinnung oder Gemütseigenschaft als wertvoll gilt, weil sie der
Ausgangspunkt sittlicher Handlungen ist, so bestimmt sich ihr Wert nach
dem Wert dieser Handlungen, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit,
mit der sie in Wirklichkeit zu diesen zu führen pflegt. (<14)
Es
würde also z. B. eine religiöse Gemütsstimmung den höchsten Wert
haben können, wenn sie allein nach den Idealen taxiert würde, auf die
sie gerichtet ist; die ethische Schätzung muss es ihr aber anrechnen,
dass sie diese Ideale erfahrungsmässig in vielen Fällen nicht
erreicht, muss diese Fälle gleichsam pro rata auf die überhaupt
vorhandene Anzahl solcher Stimmungen aufteilen und den so erzielten
Bruch von ihrem Werte als Unwahrscheinlichkeitsquantum in Abzug bringen.
So
ist ferner etwa die Liebe der Kinder zu den Eltern ein sittlich sehr
hoch stehender Affekt, dennoch steht er in der sozial-ethischen
Schätzung hinter der Liebe der Eltern für die Kinder zurück, und zwar
wohl nicht nur, weil er für den Bestand der Gattung nicht die gleiche
Wichtigkeit hat, sondern - was eben einer der Gründe dafür ist -
weil er nicht die Wahrscheinlichkeit hat, sich ebenso oft in wirkliche
Taten umsetzen zu können wie jene.
Da
derartige Schätzungen immer nur einem Durchschnitt aus vielerlei
Erfahrungen entstammen und, nur auf dem allgemeinen Begriff der
betreffenden ethischen Qualität haftend, die Wertung dieses auf den
einzelnen Fall übertragen, so bringen sie gegen diesen eine leicht
begreifliche Ungerechtigkeit mit sich, wie sie das
Wahrscheinlichkeitskalkül allenthalben gegen die Einzelheit ausübt.
Denn
selbst da, wo eine derartige Qualität wirklich bei einem Einzelnen
zureicht, um das Sittliche zu verwirklichen, leidet die Schätzung der
Tat unter der geringeren Schätzung ihres Motives, die nur davon
ausging, dass dasselbe in vielen anderen Fällen eben nicht zu der
gleichen Höhe des wirklichen Tuns geführt hat.
Dies
ist etwa in Fällen einer religiös motivierten Sittlichkeit zu
beobachten, überhaupt oft da, wo Parteitendenzen zu der Betonung der
häufigen Unzulänglichkeit einer sittlichen Potenz zu wirklichen
Leistungen geführt haben, und nun die aus jener Potenz dennoch
hervorgegangene, nicht abzuleugnende Leistung eines Einzelnen wenigstens
dadurch deklassiert wird, dass man ihr, durch jenen
Wahrscheinlichkeitsbruch in der Schätzung herabgesetztes Motiv
betont. (<15)
An
dieser Modifizierung des Wertes ethischer Qualitäten haben ganz ebenso
die ethischen Prinzipien teil. Was
wir damit betonen, scheint zwar auf die Selbstverständlichkeit
hinauszukommen, dass es keinen Wert hat, etwas von den Menschen zu
verlangen, was sie erfahrungsmässig doch nicht leisten.
Dazu
brauchte man freilich keine Umwege über prinzipielle Deduktionen;
allein es wird damit auch nur ein ganz krasser Grenzfall bezeichnet, und
das, um was es sich hier handelt, betrifft die feine und keineswegs auf
der Hand liegende Abstufung des Wertes von Prinzipien, die sich aus dem
Masse ihrer Annäherung an diesen Grenzfall ergibt.
Der
Wert praktischer Ideale steigert sich bei gleichem Werte ihrer
Realisierung im Verhältnis der psychologischen Wirkung, die sie selbst
für diese Realisierung einsetzen.
Wie
sich der Wert eines wirtschaftlichen Gutes, nach der verbreitetsten
Theorie, zusammensetzt aus seiner Brauchbarkeit und seiner Seltenheit,
so der eines ethischen Prinzips sozusagen aus seiner Brauchbarkeit und
der Häufigkeit seiner Anwendung; die Differenz gegen jenes erklärt
sich daraus, dass der wirtschaftliche Wert sein Wesen in der
Ausschliesslichkeit des individuellen Besitzes hat, während der
ethische gerade umgekehrt auf einen möglichst grossen Kreis von
Teilhabern geht.
Wenn
also z. B. die vernünftige Selbstliebe als ethisches Prinzip
ausgesprochen wird, so setzt sich der Wert desselben zusammen aus dem
Wert der Handlungen, auf die die vernünftige Selbstliebe logischer
Weise führen kann, und dem Wahrscheinlichkeitsgrade, in dem die
empirische psychologische Verfassung der Menschheit sich durch die
Aufrufung dieser Tendenz, durch das Bewusstwerden ihres objektiven
Wertes zur Realisierung desselben bestimmen lässt.
Hierdurch
wird es verständlich, dass die Aufstellung ethischer Regeln, die an
sich nur auf niedrigere sittliche Verhältnisse gehen, doch unter
Umständen einer sehr grossen Wichtigkeit geniessen kann, weil der
Wahrscheinlichkeitsbruch für ihre psychologische Wirkung ein sehr
günstiger ist. (<16)
Dies
gilt etwa für die Regeln der Courtoisie und Ritterlichkeit: der leichte
Altruismus gegenüber dem Schwächeren, von dem man keinen Missbrauch
des ihm eingeräumten Vorteils zu fürchten braucht, das momentane
Zurücktreten, das doch die Persönlichkeit des Zurücktretenden
hervortreten lässt, das Verzichten auf den gröberen Vorteil, das sich
durch den ästhetischen Reiz solcher Handlungsweise ausgleicht -
alle diese psychologischen Träger der Ritterlichkeit dürfen nicht nur
als disponiert vorausgesetzt werden, sondern sie äussern sieh auch
jedenfalls vielfach ohne jede bewusste Maxime; wird nun die Regel der
Ritterlichkeit dem Bewusstsein vorgeführt, so ist es in hohem Grade
wahrscheinlich, dass jene teils latenten, teils unzweckmässig
geäusserten Dispositionen eine energischere, häufigere und der
Gesamtsittlichkeit dienlichere Verwirklichung erfahren werden.
Diese
Regel setzt also ausser ihrem irgendwie zu taxierenden sachlichen Wert
noch eine Kraft zu ihrer Verwirklichung ein, nach deren Wirkung dieser
ideale Wert nur um ein geringeres verkleinert ist, als es entsprechend
bei sehr viel höheren Idealen oft der Fall ist.
Ich
glaube, dass die instinktive Einbeziehung dieses Faktors mit
vorausgesetzt werden muss, wenn man die Motive analysiert, die der
allgemeinen Wertung einer Regel zum Grunde liegen, und es scheint, als
ob er unter diesen Motiven eine immer steigende Wirkung erhielte.
Dies
würde durchaus in der Richtung der Kulturströmung liegen, in der das
Psychologische ein immer grösseres Übergewicht über das objektiv und
ideell Geltende erhält.
Man
sieht ein, dass dieses ein leeres Wort ist, wenn es nicht durch die
Kräfte jenes realisiert wird, und verschafft so der grossen Einsicht,
die die Welt als Vorstellung erkannte, allmählich auch die ihr
zukommenden Wirkungen auf nicht rein theoretischem Gebiete. (<17)
So
beginnt man in der Pädagogik - langsam genug! - einzusehen, dass nicht
die Vortrefflichkeit des Lehrstoffes seinem Inhalte nach, nicht das Mass,
in dem seine Aneignung erwünscht und nützlich ist, das alleinige
Kriterium seines Gesamtwertes bildet, sondern dass jener sachliche Wert
modifiziert wird durch die psychologischen Bedingungen, unter denen
seine Aneignung erfolgt, und in erheblichem Masse von den Kräften
abhängig ist, mit denen der Lehrinhalt zu seiner Aneignung anregt.
So
wird man ferner in der Politik der Gesetzgebung sich mehr und mehr
überzeugen, dass alle Gerechtigkeit von Gesetzen, alle Zweckmässigkeit
von Institutionen doch in ihrem Werte letzter Instanz von dem guten
Willen derer abhängen, die sie auszuführen haben, und dass sie ohne
diesen ins Leere fallen, nicht anders wie ein Ideal, das überhaupt
nicht aus der Sphäre des Denkens herausgetreten ist.
Ihr
Wert ist infolge dessen nicht nur an den Zuständen zu messen, die sich
bei ihrer Durchgeführtheit einstellen würden, sondern ebenso
an der Kraft, mit der sie selbst auf ihre Durchführung hinwirken, also
an ihren sozialpädagogischen, psychologischen Einflüssen; die
Institution muss ihre Funktionäre zu sich erziehen, sie muss die innere
Wirkung auf sie Üben, die den Gedanken des Missbrauchs, der durch keine
noch so ängstliche Bestimmung ganz auszuschliessen ist, überhaupt
nicht aufkommen lässt.
Mit
dem Wahrscheinlichkeitsbruch für die Erreichung dieses subjektiven
Zieles muss der objektive inhaltliche Wert der Institution multipliziert
werden, wenn man ihren Gesamtwert erkennen will.
Und
endlich, als letztes Beispiel, ist die, gleichviel ob berechtigte oder
unberechtigte, Bedeutung des sozialistischen Ideals durch seine
Verbindung mit sehr sicher wirkenden psychologischen
Triebfedern ausserordentlich erhöht. (<18)
Das
absolute Ideal einer völligen Gleichberechtigung einerseits, einer
Organisierung und harmonischen Rationalisierung des sozialen Lebens
andrerseits - ein Ideal von sozusagen unpersönlichem,
ästhetisch-logischem Reize - appelliert zugleich an die unmittelbaren
persönlichen Affekte des Geniessenwollens bei den Enterbten, des
Mitleids bei den Besitzenden.
Das
abstrakte Prinzip enthält hier unmittelbar in sich selbst die
psychologischen Anregungen, die zu seiner Realisierung führen -
unterscheidbar noch von der Frage, ob, wenn es einmal realisiert wäre,
seine Fortsetzung noch gleich starke psychologische Kräfte zu ihrer
Verfügung fände - für den Augenblick vielleicht noch unmittelbarer
und sicherer wirkend, als selbst das religiöse Prinzip, das die
primitivsten und deshalb am zweifellosesten und allgemeinsten
vorauszusetzenden Triebkräfte der Seele doch erst auf weiteren Umwegen
anregt.
-
In diesem Sinne also sucht der Begriff der Pflicht um der Pflicht
willen, die psychologische Seite des kategorischen Imperativs, das Motiv
der Sittlichkeit in ihren Inhalt einzuschmelzen.
Indem
so die Pflicht subjektiver Endzweck wird, scheint sie zu einer höchst
wichtigen Funktion in der momentanen Lage des Innenlebens berufen.
Der
Pessimismus, der nicht nur die halt- und inhaltlosen Geister ergriffen
hat, das weit verbreitete Gefühl der Leere und Wertlosigkeit des
Lebens, das dann gelegentlich in eine fieberhafte Jagd nach Irrlichtern
umschlägt, darf wohl auf die seit langem vorbereitete Revolutionierung
der Idealbildung geschoben werden.
Inhaltlich
wie formal kommen uns die unerschütterlichen Lebenswerte, die sicheren
Zielpunkt gewährenden Ideale abhanden: jenes, indem der Glaube mehr und
mehr abstirbt und die Kritik die unbefangene Hingabe an die
traditionellen Ideale politischer, religiöser, persönlicher Art
zerstört; dieses, weil das schnelle Tempo und der unruhige Rhythmus
modernen Lebens es gewissermassen nicht zu dem festen Aggregatzustand
solcher Ideale kommen lässt.
Allein
offenbar ist nicht zugleich mit den absoluten Endzwecken auch das
Bedürfnis nach ihnen weggefallen. (<19)
Die
Organisation, die sich an sie gewöhnt hat, ist in dem Augenblick, wo
veränderte Umstände sie zerstören, noch nicht an diese letzteren
angepasst.
Die
psychischen Funktionen vielmehr, die sich unter Voraussetzung jener
Zwecksetzungen gebildet haben, in die sich diese als ein Glied
einfügten, gehen vermöge fest gewordener Gewöhnung noch eine Weile
weiter, erleiden aber, weil jenes notwendige Glied fehlt, Störungen,
Ablenkungen, Rückschläge, die sich im deutlicheren oder dunkleren
Bewusstsein als ungestilltes Bedürfen, leeres Sehnen und Streben
spiegeln.
Wie
dieser zunächst destruktive Prozess sich weiter entwickeln wird: ob die
ausgehöhlte Form des Endzwecks sich mit neuem, substantiellem Inhalt
füllen, oder ob sie als ein Truggebilde erkannt und durch eine
Befriedigung am Relativen, Fliessenden, ersetzt werden wird - das kann
heute Niemand sagen.
Angesichts
dieser inneren Lage nun, in der der Mangel an einem sicheren Endzweck
bei formalem Bedürfnis danach als Pessimismus und Unbefriedigtheit
zurückschlägt, kann es wenigstens als Provisorium gelten, wenn man in
dem Pflichtcharakter der Handlung ihren Endzweck erblickt.
Dein
Weiterfragen über jede gegebene Ursache, Zweck und Wert nach den
darüber hinaus gelegenen, durch das der moderne kritische Geist sich
jenen Mangel an Definitivem geschaffen hat, wird durch die Pflicht um
der Pflicht willen eine Grenze gesetzt.
Freilich,
dem Weiterschreiten der Kritik, das gegen jede einzelne pflichtmässige
Handlung die Frage richtet, woher sie denn Pflicht sei, wo der höhere
Wert sei, von dem sie den ihrigen zu Lehen trage - diesem ist auch der
Kantische Pflichtbegriff nicht gewachsen, weil es auf jene Frage eben
schliesslich keine Antwort mehr gibt.
So
lange aber noch anerkannt wird, dass irgend ein Handeln schlechthin
Pflicht sei, so lange der Inhalt gewisser Handlungen wirklich von dem
Gefühl des Sollens begleitet wird, so lange ist auch die Möglichkeit
gegeben, diese Pflicht, dieses Sollen als für sich ausreichendes Motiv
anzusehen, so dass wir hier mitten im Verfliessen der empirischen
Lebensinhalte, das alles Feste, in sich Befriedigte auszuschliessen
schien, doch einen psychologischen Selbstzweck entdecken, ein Ideal für
das Handeln, das nicht mehr von dem Glauben an irgend eine unbeweisbare
Wirklichkeit abhängig ist. (<20)
In
der Bestimmung, dass die Erfüllung, der Pflicht der Endzweck des
Handelns sei, hat Kant selbst den Ton auf den Pflichtbegriff gelegt; in
dem Begriff des Endzwecks hat er keine psychologischen Schwierigkeiten
gesehen, sondern denselben ohne weiteres eingeführt, und nun die Folgen
hervorgehoben, die seine Anwendung auf den Pflichtbegriff für diesen
mit sich bringt.
Man
kann aber in jener Formel auch umgekehrt auf die Vorstellung oder das
Problem des Endzwecks den Nachdruck legen.
Statt
der Festigung der Pflicht, die wir durch ihren Charakter als Endzweck
gewinnen, können wir den Gewinn eines Endzwecks betonen, der aus der
Proklamierung der Pflicht als eines solchen hervorgeht.
Nachdem
die materiellen definitiven Werte des Lebens vor der modernen Kritik
gefallen sind und uns als ihre Erbschaft nur die haltlose Sehnsucht nach
einem Endzweck zurückgelassen haben, bietet sich uns diese mehr
funktionelle und formale, den verschiedensten Inhalten sich anpassende
Vorstellung der blossen Pflicht als ein solcher dar.
Was
Kant bezüglich der Moral hervorgehoben hat, dass sie an keinem
einzelnen konkreten Willensobjekt die vollständige Erfüllung ihres
Begriffs und Gewähr ihrer Forderung findet, dass dies vielmehr erst
geschieht, wenn die formale Tatsache der Pflicht selbst zum inneren
Gegenstände oder Motive ihrer Erfüllung werde - dies lässt sich auf
die Werte und Ideale überhaupt übertragen, deren lebenumfassende
Allgemeinheit ganz jenseits der engen moralistischen Alternative von
Sittlichkeit und eigenem Glücke steht, in der Kant befangen war.
(<21)
Der Vorstellung und dem Bedürfnis des Endzwecks tut kein einzelner
Inhalt mehr Genüge; so lange aber überhaupt noch eine Pflicht
anerkannt wird - und das Gefühl ihrer ist bei vielen noch nicht in den
Skeptizismus hineingezogen, der ihnen die substantiellen Ideale geraubt
hat - so lange ist auch noch die Möglichkeit gegeben, jenes Bedürfnis
wenigstens dadurch zu befriedigen, dass man die Pflicht nur um der
Pflicht willen erfüllt.
Insofern
dies geschieht, schliesst sich gewissermassen der Kreis des Wollens in
sich zusammen, während da, wo der Wert in einem Inhalt gesucht wird,
leicht nach einem weiteren, diesen begründenden gefragt wird, und wir
so statt zu einer Geschlossenheit der Motivierung nur zu einem Fragen in
infinitum gelangen; die "Pflicht um der Pflicht willen"
gewährt den Ruhepunkt, aus dem wir stets herausgetrieben werden, sobald
wir nach einer Materie fragen, um derentwillen sie oder überhaupt die
Bewegung des Lebens geschehe.
Was
nun, die begriffliche Bestimmung dieses formalen Prinzips betrifft, so
macht es die Kantische Formel zur Grundlage sittlicher Beurteilung, dass
man die zu beurteilende Handlungsweise als eine allgemeine denke.
Welche,
bei der Vollziehung dieses Gedankens sich ergebenden Konsequenzen es
sind, die über den Wert der Handlung entscheiden, ist, wie wir sehen
werden, von Kant nicht völlig unzweideutig bestimmt worden.
Wir
können hiervon vorläufig absehen und jenes formale Kriterium für sich
allein in seiner ethischen Bedeutung prüfen. Zu
derselben führt für Kant die logische Konsequenz der Tatsache, dass
das Sittliche sich als Sollen darstellt. Das
Sollen ist ein Gesetz.
Gesetz
aber bedeutet, dass die gleiche entweder natürliche oder
ethische Notwendigkeit da eintritt, wo die gleichen Vorbedingungen
gegeben sind.
Die
Gültigkeit einer Vorschrift für Jedermann, bei dem ihre Bedingungen
Anwendung finden, macht sie erst zu einem Gesetz, und die Möglichkeit,
diese Gültigkeit zu denken, ist also das Kriterium dafür, ob sie
Gesetz sein kann oder nicht. (<22)
So
sehr dies mit dem allgemein anerkannten Begriffe des Gesetzes
übereinstimmt, so sehr folgt doch schliesslich der ganze Beweis nur aus
der willkürlichen Inhaltsbestimmung eines Begriffs, die ohne inneren
Widerspruch auch eine ganz andere sein könnte.
Dass
nämlich die Form des Imperativs, jener eigentümlich empfundene Modus,
der einen Vorstellungsinhalt in das Sein überzuführen dient, selbst in
sittlichen Beziehungen immer allgemein gültig sei, dass das
imperativische Gesetz wirklich nur in der Form eines kategorischen: wenn
- dann, vorkomme - dies erscheint mir durchaus nicht innerlich
notwendig.
Ich
sehe nicht ein, weshalb nicht jemand einen inneren Antrieb, der alle
subjektiven Kriterien des Sittlichen trägt, ganz individuell empfinden
sollte, derart, dass er bei keinem anderen, als gerade nur bei sich
selbst, diese Handlung als sittlich notwendig vorstellte.
Gerade
wie oft genug jemand sich ein Recht zuschreibt., dass er keinem anderen
einzuräumen gedenkt, so kann er auch eine Pflicht unter dem gleichen
Gesichtspunkte empfinden.
Dies
wäre einer der häufigen, von uns schon betonten Fälle, in denen die
Sittlichkeit eine Gleichheit der Form mit der Unsittlichkeit aufweist,
die sich eben nur mit entgegengesetztem Inhalt füllt; denn es braucht
sich bei diesem Individualismus des Ethischen keineswegs um eine
versteckte Unsittlichkeit, um ein selbstsüchtiges, eudämonistisch
exklusives Wollen zu handeln, das sich als eine Sittlichkeit von ganz
besonderer, nur ihr eigener Art und Inhalt aufspielen möchte.
Es
kann vielmehr eine ganz echte und rechte Sittlichkeit sein, die der
allgemein gültigen ethischen Forderung gegenüber kein Minus, sondern
sogar ein Plus darstellt, sich aber doch bewusst ist, dass kein anderer
entweder so handeln darf oder so zu handeln verpflichtet ist.
Wie
ein persönlicher Herrscher gerade dem einen Untertan eine Pflicht
auferlegen kann, von der alle anderen befreit sind, oder einen davon
ausnehmen, während alle anderen sie leisten müssen - so gut kann
es auch der unpersönliche Herrscher,
als dessen Stimme die sittliche Forderung erscheint.
(<23)
Kant hat die beiden Elemente des Gesetzes: die imperativische Form, den
Anspruch des Sollens einerseits, und die Allgemeinheit, die Gültigkeit
für jedermann andererseits, nicht hinreichend scharf
auseinandergehalten und so gemeint, dass sieh das zweite aus dem ersten
analytisch entwickeln liesse.
Die
innige Verbindung, die nicht nur für Kant, sondern für die allgemeine
sittliche Beurteilung zwischen dem ethischen Befehl und dem Kriterium
möglicher Allgemeinheit der Handlungsweise besteht, wird nur aus dem
sozialen Ursprung des Sittengebotes verständlich.
Wir
waren zu der Überzeugung gelangt, dass das Verhalten der Majorität der
Gruppengenossen, d. h. das sozial Erforderte, ursprünglich für den
Einzelnen die Norm des Verhaltens abgab, woher denn auch leicht
einzusehen ist, weshalb wir aus primitiven Gruppen kaum von dem Begriff
einer individuellen Sittlichkeit, wohl aber von dem einer Unsittlichkeit
hören, und weshalb in niederen Schichten höherer Kulturen dem blossen
Abweichen von dem sozial üblichen Verhalten von vornherein mit
Misstrauen und Missbilligung begegnet wird.
Enthält
so die Forderung des Sollens ursprünglich keine Erhebung über das
soziale Niveau, sondern gerade nur ein genaues Verbleiben in demselben,
soll der Einzelne so handeln, wie alle anderen handeln, so ist es fast
nur ein anderer Ausdruck hierfür, ein ausserordentlich einfaches
Fortschreiten der Überlegung, wenn der Gedanke, dass alle so handeln,
und was dann die Folge wäre, zum Kriterium der individuellen Tat
gemacht wird.
Weil
ehedem die Allgemeinheit der Handlungsweise die ethische Norm des
Einzelnen war, bleibt auch später wenigstens die ideelle
Verallgemeinerung derselben der Massstab, an dem sich ihre sittliche
Dignität misst - und zwar selbst dann, wenn die höhere Differenzierung
der Verhältnisse und die gesteigerten idealen Forderungen an den
Einzelnen jenem Kriterium vielleicht längst seine eigentliche
Rechtfertigung geraubt haben. (<24)
Auf
niedrigeren Gebieten gilt es indes noch unbestritten und auch sonst
manchmal in einer Art, die mit eigentümlicher Dialektik das daraus
geschöpfte Kriterium in sein Gegenteil verkehrt.
Viele
Dinge nämlich dürfen wir nicht tun, weil alle anderen sie nicht tun,
die wir dürften, wenn alle anderen dasselbe täten. Das
Kriterium: was würde daraus werden, wenn alle so handelten, passt hier
nicht, denn gerade wenn alle es täten, würde nichts Schlimmes
herauskommen.
Dies
gilt für äusserliche Sitten, die, ohne sachlichen Wert, nur nicht
verletzt werden dürfen, weil sie einmal Sitte sind, aber sofort
gleichgültig würden, wenn sich keiner mehr an sie hielte. Die
Verallgemeinerung der Tat des Einzelnen beseitigt vielfach gerade seinen
Gegensatz gegen die Allgemeinheit, in dem das sittlich Verwerfliche der
Tat liegt.
Ich
erinnere an die Bd. 1 S. 340 erwähnten Argumente: die Nachteile
gewisser sozialpolitischer Einrichtungen träten nur dann ein, wenn ihr
Prinzip nicht völlig durchgeführt wäre, wenn sie in eine im übrigen
nach anderen Tendenzen eingerichtete Sozialverfassung hineingesetzt
würden, und müssten verschwinden, sobald auch alles übrige im
gleichen Sinne organisiert wäre.
Das
Kriterium der Verallgemeinerung versagt also der einzelnen Tat
gegenüber gerade da, wo die Allgemeinheit derselben am entschiedensten
ihren sittlichen Charakter bestimmt.
Es
ist ein wunderlicher Anspruch an den Einzelnen, durch den Gedanken, dass
alle so handelten wie er, seine Handlungsweise regulieren zu lassen -
wunderlich selbst dann, wenn man ihn gar nicht für rigoristisch oder
unbillig altruistisch hält, sondern ihn nur objektiv, sozusagen logisch
prüft.
Denn
er lässt das Handeln ganz und gar von einer Voraussetzung abhängen,
von der man doch zugleich weiss, dass sie nicht zutrifft: es handeln
eben tatsächlich nicht alle so, wie ich handle, und was geschehen
würde, wenn sie es täten, ist eigentlich gleichgültig, da sie es nun
einmal nicht tun. (<25)
Hier
liegt eine eigentümliche, auf das Nicht-Seiende aufgebaute Beurteilung
des Seienden vor, die sich auch in der Schätzung der Freiheit insoweit
findet, als man von ihr die Würde der geschehenen Handlung abhängen
liess - d. h. also davon, dass vermöge der Freiheit eine ganz andere
Handlung an ihrer Stelle hätte geschehen können, welche tatsächlich
aber nicht geschehen ist.
-
Hier zeichnet sich sehr charakteristisch die Vorstellung von
Sittlichkeit nicht nur von ihrem direkten Gegenteil, sondern auch von
den Regeln der Lebensklugheit ab, die
vielfach gerade zur Voraussetzung haben, dass nicht alle ihnen gemäss
handeln.
Sie
werden gut durch den Ratschlag symbolisiert, den die Reisehandbücher
für gewisse Eisenbahnfahrten geben: "rechts sitzen!"; wenn
alle dies Reisebuch hätten, so wäre es in dieser Hinsicht so gut, als
wenn keiner es hätte, weil doch nicht alle rechts sitzen können.
Die
Lebensklugheit bleibt einfach bei der Tatsache stehen, dass eben nicht
alle gleich handeln, und zieht daraus ihre praktischen Konsequenzen,
welche dem so Handelnden nützlich sind, möglichst ohne den übrigen schädlich
zu sein.
Es
finden sieh indes von hier Übergänge genug in das Gebiet des
Sittlichen, die auch für das letztere die Bedeutung der Ausnahme, des
Nicht-so-handelns aller Anderen nahe legen.
Als
SchultzeDelitzsch mit dem Projekt seiner Konsumvereine hervortrat,
machte Lassalle darauf aufmerksam, dass der Nutzen derselben nur so
lange dem Arbeiter verbleiben würde, als sie nicht allgemein würden.
Im
letzteren Falle würde einfach das Gesetz des geringsten
Unterhaltsmasses in Kraft treten und den Vorteil der Konsumvereine dem
Arbeitgeber zuwenden: es wäre dann für alle Arbeiter eine gemeinsame
Grundlage der billigeren Lebenshaltung geschaffen, von der aus der Kampf
um die Existenz und die Herabdrückung auf ihre niedrigste Möglichkeit
ganz ebenso wie früher ausgehen würde. (<26)
Gleichviel
ob jenes Gesetz des geringsten Unterhaltsmasses eine haltbare Prämisse
bildet, so ist hier jedenfalls der Typus einer sittlichen Bestrebung
gezeichnet, die mit dem im vorigen Absatz erwähnten Gebiet des
Unsittlichen das gemein hat, dass die Verallgemeinerung ihrer Norm ihr
spezifisches Wesen vernichten würde.
Wenn
wir nun die Kantische Meinung, die das Wesen des Sittlichen gerade in
der absoluten Durchgeführtheit seiner Inhalte sich erhalten und
entfalten lässt, auf ihre praktische Bedeutung hin ansehen, so hat sich
nur etwa eine führende, massgebende Persönlichkeit, deren
Handlungsweisen zur Norm und Beispiel für ihren ganzen Kreis werden, zu
fragen, was der Erfolg der Verallgemeinerung ihres Verhaltens ist, und
danach, insofern eine solche Verallgemeinerung in Wirklichkeit
bevorsteht, ihr Tun und Lassen einzurichten.
Allein
diese , praktisch-realistische Wendung liegt gar nicht im Sinne jener
Vorschrift, die vielmehr an und für sich eine bloss theoretisch-ideale
Überlegung darstellt, ein Schema, das sich nur im Kopfe der ihre
Handlung überlegenden Persönlichkeit,. aber nicht ausserhalb desselben
vollzieht.
Eben
dieser Umstand macht die Vermutung rege, dass die ganze Normierung durch
Verallgemeinerung der Handlung nur den Zweck hat, vermöge der gedachten
Vervielfältigung der Handlung ihren eigentlichen Charakter sichtbar zu
machen, der sich sonst dem nicht geschärften Blick gar zu leicht
verbirgt.
Objektiv
genommen, kann durch diese Verallgemeinerung der Handlungsweise keine
Erkenntnis gewonnen werden, die sich nicht auch aus der Betrachtung
derselben als einer einzelnen oder einzigen ergebe.
Denn
wenn die Folgen der Tat in dem gerade vorliegenden Falle unschädliche
sind, so sind sie es entweder auch in der Vertausendfachung derselben,
oder wenn sie es dann nicht sind, so gilt offenbar der Rückschluss aus
der Verallgemeinerung auf den einzelnen Fall nicht mehr. (<27)
Denn
nur mit Rücksicht auf die Folgen der Tat – auf das, "was dabei
herauskommen würde", gilt die Verallgemeinerung als Kriterium;
deshalb vernichtet die voraussetzte Verschiedenheit der Folgen im
einzelnen und im allgemeinen Falle von vornherein seine Bedeutung.
Sind
aber unter Ablehnung solcher Verschiedenheit die Folgen im allgemeinen
Falle schädliche, so können sie dies nur sein, weil jede einzelne
Wiederholung der fraglichen Handlungsweise schädlich ist, und ist dies,
so ist nicht abzusehen, weshalb man diese über den sittlichen Wert
entscheidende Konsequenz nicht auch schon der einzelnen Tat als solcher
sollte ansehen können.
Dafür
gibt es keinen in der Sache, sondern nur einen subjektiven, im
Erkenntnisvermögen liegenden Grund. Die
Folgen eines individuellen Tuns sind oft so geringfügige oder sie
werden von dem anderwärts entsprungenen Strom der Ereignisse sofort so
aufgenommen, umgeformt, überdeckt, dass sie sozusagen mit unbewaffnetem
Auge nicht wahrgenommen werden können.
Da
vergrössern wir denn ein solches Objekt, bis es in Seh- und
Beurteilungsweite rückt, indem wir es statt dies eine Mal unzählige
Male und überall vorkommend denken.
Dadurch
tritt die Folge der Tat für unsern Blick reiner und kräftiger hervor,
das Quantum von Folgen, von dem an sie erst für uns sichtbar werden,
wird pro rata an die einzelne Tat zurück verteilt, und so erhalten wir
oft durch dieses erkenntnistheoretische Hilfsmittel, das ihre sachliche
und ideale Bedeutung gar nicht berührt, erst den richtigen Blick für
die Proportionen ihrer Folgen.
Es
kommt dazu, dass die Zufälligkeit der Schicksale der einzelnen Handlung
oft Folgen zuteilt, die von ihren sonstigen und durchschnittlichen
völlig abweichen und über ihre sittliche Bedeutung ganz irre zu machen
geeignet sind.
Indem
wir die Tat nun verallgemeinert, d. h. auf eine grosse Anzahl
verschiedenartiger Schicksale und Lebensverhältnisse einwirkend denken,
und unsere Erfahrung über ihre Folgen in all diesen Fällen befragen,
paralysieren sich die zufälligen Verschiedenheiten gegenseitig, und es
treten sozusagen die reinen Folgen der Tat, die Folgen, die sie an und
für sich hat, klar hervor; durch abstrakte Verallgemeinerung, durch
Konstruktion aus allgemeinen Erfahrungen und Kenntnissen heraus, suchen
wir hier gemäss dem Prinzip der grossen Zahl das entsprechende zu
gewinnen, wie die Statistik aus der konkreten Vielheit ihrer Daten.
(<28)
Selbstverständlich
ist es nur ein Annäherungsausdruck, wenn wir von den Folgen sprechen,
die eine Tat an und für sich hat.
Ohne
dass ihr äusserliche Verhältnisse vorhanden wären, deren Kräfte sie
aktualisiert, die sie gemäss der in ihnen liegenden Möglichkeiten
modifiziert, mit deren eigenen Tendenzen sie sich zu Resultanten
zusammenschliesst - ohne derartige Bestimmtheiten der Folgen, die in
soweit von der Tat selbst unabhängig sind, würde sie überhaupt keine
Folgen haben.
Was
wir durch die vorgestellte Allgemeinheit der Handlungsweise gewinnen,
ist nur der Durchschnitt der Folgen, nur ihre Wirkung auf die Majorität
der menschlichen Verhältnisse.
Aber
so sehr der einzelne Fall sich von dem so gewonnenen Durchschnitt
entfernen und ihn als hier unzutreffend dementieren mag, so stellt sich
dies doch mit Sicherheit erst nach geschehener Tat und eingetretenen
Folgen heraus; vor ihr sind wir mangels absolut zutreffender
Vorausberechnung oft genug auf die Annahme jenes Durchschnitts
angewiesen.
Auf
diesen beiden Gründen subjektiver Unzulänglichkeit des Erkennens: dass
sich uns die Folgen der individuellen Tat oft verbergen, im Rückblick,
weil sie zu minimale und zu vielfach durchkreuzte sind, im Vorblick,
weil uns die Daten zu vollkommener Berechnung der Weiterentwicklung des
Einzelfalles fehlen - auf diesen Gründen erhebt sich der Wert der
Formel des kategorischen Imperativs als eines erkenntnistheoretischen
Hilfsmittels, das die sittliche Bedeutung der Tat nicht sowohl bestimmt,
als subjektiv sichtbar macht, und zwar keineswegs immer in ihrer
wirklichen Grösse, wie günstige Umstände sie uns manchmal erkennen
lassen, sondern in derjenigen, mit der die Schwäche unserer Erkenntnis
sich unzählige Male begnügen muss. (<29)
Sehen
wir von dieser bloss heuristischen und Erkenntnisbeziehung ab und fragen
wir weiter nach der objektivsittlichen Bedeutung, die die
Übereinstimmung mit einem möglichen allgemeinen Gesetze der Handlung
verleiht, so zeigt sich ausser den früher festgestellten noch die
folgende Voraussetzung darin verborgen.
Die
Folgen der Handlung in ihrer allgemeinen Verbreitung sind es, die ihre
sittliche Qualität bestimmen sollen. Es
muss also einen Massstab geben, an dein diese Folgen als erwünschte
oder unerwünschte beurteilt werden, damit danach die Handlung, als
Mittel für sie, sich als geboten oder verboten herausstelle.
Die
kritische Frage: was würde dabei herauskommen, wenn alle so handelten -
setzt, mit einem Worte, einen Endzweck voraus, und diejenige Handlung
ist ihr gemäss die richtige, deren allgemeine Durchführung diesen
Endzweck fördert.
Hierin
aber steckt die unbewiesene Voraussetzung. Wird
denn ein Zweck nur dann durch eine Handlung gefördert, wenn eine
allgemeine Verbreitung derselben ihm günstig ist?
Ist
nicht vielleicht der sittliche Endzweck so angelegt, dass er am besten
gefördert wird, wenn A zwar auf eine bestimmte Weise, B aber in der
gleichen Situation ganz anders handelt?
Diese
Frage soll nicht etwa ohne weiteres bejaht werden , sie soll nur klar
machen, dass ihr Gegenteil nicht ohne besonderen Nachweis bejaht werden
darf.
In
dem Augenblick, wo die Befolgung des kategorischen Imperativs nicht
Selbstzweck ist, wo das allgemeine, der in Frage stehenden Handlung
entsprechende Gesetz als blosses Mittel zu einem höher hinauf liegenden
Zustande als Endzweck erkannt ist - in diesem Augenblick verliert das
Kriterium der Verallgemeinerung seine unbedingt bindende Kraft und
unterliegt der Relativität aller blossen Mittel; es ist dann a priori
wohl möglich, dass ein ganz anderes Mittel demselben Zwecke ebenso oder
besser dient. (<30)
Dem
oberflächlichen Bewusstsein liegt allerdings das Argument nahe: wenn
eine bestimmte einzelne Handlung den Endzweck fördert, so fördern ihn
doch weitere, die unter den gleichen Umständen ganz gleich vollbracht
werden, in derselben Weise; folglich könnte man mit einfacher logischer
Umkehrung sagen, dass keine Handlung einem Endzweck günstig sein kann,
wenn nicht ihre Prägung zum gesetzlichen Typus dem gleichen Zwecke
dient.
Allein
dies gilt weder für eine individualistische noch für eine
evolutionistische Wertsetzung.
Wenn
die Persönlichkeit als solche, die immer vollständigere und reinere
Ausprägung des Individualprinzips sittlicher Endzweck ist, so ist die
denkbar grösste Verschiedenheit der einzelnen Handlungen darin
einbegriffen.
Denn
sobald man unter Persönlichkeit nicht mehr die metaphysische
substantielle Seele versteht, so kann eben nur die Eigenart des
physischen Inhaltes, die Jeden von Jedem unterscheidet, ihren Sinn
ausmachen, und es kann deshalb Grade der Persönlichkeit geben, von dem
tiefsten Eingesenktsein in die Gattungsinstinkte, die allen gemeinsam
sind, bis zu der höchsten individuellen Charakterisierung, die auch der
trivialsten Handlung des Menschen einen Hauch seiner Persönlichkeit und
Eigentümlichkeit, unverwechselbar mit allen anderen, verleiht.
Da
nun die niederen Verfassungen unserer Gattung allenthalben jene
unpersönliche Uniformität aufweisen, höhere dagegen an das Aufkommen
individueller Gestaltungen geknüpft sind, so kann man die bewusste
Aufnahme dieser Tendenz als sittlichen Zweck aufstellen; dies kann aber,
wie gesagt, empirisch nur die Bedeutung haben, dass selbst in gleichen
Situationen von verschiedenen Menschen verschieden gehandelt werde.
Und
zwar braucht dies keineswegs den allgemein anerkannten sittlichen
Erfordernissen zu widersprechen. (<31)
Denn
die Steigerung des Individualismus hat die eigentümliche Folge, den
Menschen zwar oft genug dem engeren Kreise, in den primäre Beziehungen
ihn stellen, zu entfremden und diesen zu sprengen, dafür aber seine
Beziehungen zu weiteren und weitesten Kreisen zu erleichtern und zu
vermehren; einem Ideale der Menschheitsbildung, das alle Schranken der
ständischen, nationalen, gruppenmässig abgeschlossenen Moral negierte,
würde man sich in dem Verhältnis wachsender Individualisierung und
freier Eigenart der Persönlichkeiten nähern.
Und
dass die Verschiedenheit nicht zum Antagonismus werde, ist der soziale
Fortschritt völlig im Stande zu garantieren: einmal, indem sich in
Wechselwirkung mit der Mannigfaltigkeit der Handlungsweisen auch eine
Mannigfaltigkeit solcher Ziele und Befriedigungen entwickelt, die die
Konkurrenz einschränken; dann aber, indem Interessen und Betätigungen,
die allen gemeinsam bleiben und bleiben sollen, mehr und mehr an die
Gesellschaft als Ganzes übergehen und dadurch der Sphäre und den
Erwägungen der persönlichen Sittlichkeit entrückt werden.
So
könnte selbst bei sehr weitgehend sozialisierten Zuständen die
persönliche Moral eine weit und immer weitergehende Individualisierung,
d. h. Verschiedenheit der Handlungsweisen selbst unter gleichen
Vorbedingungen aufweisen.
Selbstverständlich
ist dies nicht direktes und abschliessendes Prinzip derselben, da das
Entscheidende immer wäre, welchen Inhalt die entstehende
Verschiedenheit hätte, nicht die formale Tatsache der letzteren
überhaupt.
Das
sachlich Erforderte könnte sich aber eben objektiv zu immer steigender
Erfüllung der Verschiedenheitsform gestalten.
Tatsächlich
würde also ein sittlicher Endzweck hier ein Verhalten fordern, dessen
Dignität man nicht an der Frage: was würde dabei herauskommen, wenn
alle so handelten? - prüfen könnte, weil diejenigen Handlungen, welche
neben einer sittlichen Handlung stünden, anders als diese
charakterisiert sein müssten, um ihrerseits jenen Endzweck zu fördern.
Es
ist fast nur eine andere Betonung des gleichen Inhaltes, wenn wir statt
des individualistischen den evolutionistischen Zweck setzen, der zu der
gleichen Negierung der Kantischen Formel führt.
(<32)
Hier handelt es sich nicht um die Bedeutung, die die Persönlichkeit als
solche besitzt, und darum, dass die Herausarbeitung derselben eine
möglichste Verschiedenheit der Handlungsweisen voraussetzt; der Wert
und Ton liegt nicht auf dem menschlichen Subjekte, an dem die
Verschiedenheit haftet, sondern auf der Aufeinanderfolge
verschiedenartiger Zustände überhaupt.
Die
Emanzipation von der Formel des kategorischen Imperativs, die das
Evolutionsprinzip einschliesst, liegt nun freilich nicht darin, dass
unter den veränderten Umständen einer neuen Epoche völlig veränderte
Handlungsweisen sittlich erfordert sind; dies lässt sich mit jener
Formel ohne Weiteres vereinigen, da die unter anderen Umständen, d. h.
mit anderen Folgen geschehende Handlung eben in sittlicher Beziehung
eine andere Handlung ist.
Es
handelt sich vielmehr um folgendes. Die
Perioden, in denen sich die Entwicklung unserer Gattung vollzieht,
setzen sieh nicht mit scharfen Grenzen gegen einander ab, so dass die
Verhältnisse, welche heute die Handlungsweise Jemandes allgemeingültig
und also sittlich erscheinen lassen, morgen in ihrer Totalität
geändert wären, und so ein ganz anderes Verhalten aus der Normierung
durch den kategorischen Imperativ hervorginge.
Die
neuen Verhältnisse, welche die neue Handlung rechtfertigen, springen
nicht wie durch Urzeugung aus den ebenso plötzlich entschwindenden
alten hervor, sondern die Abänderung beginnt an irgend einem einzelnen
Punkt, ergreift von da ein Gebiet nach dem anderen und bildet das Ganze
in jener allmählichen Weise um, die man mit dem populären Ausdruck
einen organischen Prozess nennt.
Irgendwo
also muss die Anbahnung neuer Verhältnisse zuerst geschehen, als eine
Tat sui juris, deren Verallgemeinerung in den alten
Verhältnissen nicht ausdenkbar oder nicht zulässig wäre.
(<33)
Wenn erste Okkupationen, erste Taten des präzivilen Zustandes nicht
legal sind, sondern erst die Anregung und den Grundstock aller späteren
Legalität geben, so wiederholt sich dies an dem Verhältnis des
Beginnes neuer Perioden zu den alten.
Gemessen
an dem Massstab: was würde dabei herauskommen, wenn jeder so handelte?
- wäre in dein Augenblick der ersten Initiative zu neuen Verhältnissen
diese häufig ganz unzulässig.
In
diesem Augenblick dürfen eben noch nicht Alle so handeln, sondern erst
einer oder so wenige, wie es der notwendigen Allmählichkeit der
organischen Entwicklung entspricht.
Als
allgemeines Gesetz ist eine derartige Handlungsweise deshalb nicht
denkbar, weil sie selbst erst die Verhältnisse herbeiführen wird,
unter denen sie allgemeines Gesetz sein darf. Nun
aber ist dieser Prozess ein kontinuierlicher und niemals rastender.
Die
Anschauung, als entwickelte sich unsere Art in grossen stabilen
Perioden, die durch relativ kurze Übergangsepochen ineinander
übergeführt würden - - ist doch eine oberflächliche. Sie
verbindet und trennt willkürlich, was sachlich einem in eine so
einfache Formel nicht zu fassenden Rhythmus der Entwicklung unterliegt.
In
den Fragen der intimen nicht weniger wie der öffentlichen Sittlichkeit
bemerkt man bei genauerem Hinsehen ein kontinuierliches Umändern der
Verhältnisse und Forderungen.
Man
braucht nur auf die Verschiedenheit der Begriffe von Rechten und
Pflichten, von Werten
und Sitten zu achten, die sich jedes Mal zwischen zwei nächsten
Generationen, zwischen Eltern und Kindern erhebt und so oft zu
unversöhnbaren Familienkonflikten zuspitzt, um sieh von dem pauta
ei der ethischen Dinge zu überzeugen, von der ununterbrochenen
Wirksamkeit modifizierender
Kräfte, deren Resultate uns nachher im zusammenfassenden Überblick als
grosse Epochen auseinander zuliegen scheinen.
Die
Entwicklung des sittlichen Lebens bedarf also fortwährend, im Kleinen
wie im Grossen, der oben geschilderten Usurpationen individueller Taten,
welche diese Entwicklung überhaupt tragen, und
in dem Masse gerechtfertigt sind, in dem man die letztere als sittlichen
Endzweck anerkennt.
(<34)
Der Formel des kategorischen Imperativs aber genügen sie nicht, weil
sie diejenige Gesetzmässigkeit, die den augenblicklichen Bestand der
Gesellschaft gewährleistet, gerade durchbrechen und erst ihrerseits das
Recht schaffen, als dessen Beispiel sie dann auch nach jener Formel
legitimiert sind.
-
Hier zeichnet sich wieder einmal aufs Sichtbarste der Gegensatz zwischen
Rationalismus und Stabilismus einerseits und realistischer und
entwicklungsgeschichtlicher Anschauungsweise andererseits.
Der
tiefe Zusammenhang, der zwischen der alten Artlehre und dem
Begriffsrealismus, der Schätzung der Begriffe, besteht, lässt auch die
letztere in den Widerstreit der ersteren gegen den Evolutionismus
eintreten.
Der
Allgemeinbegriff, die Vereinigung vieler Individuen unter ein
feststehendes gemeinsames Symptom, ist zwar durch die Lehre, die jedes
Individuum als besonderen, als Ganzes unvergleichbaren Durchgangspunkt
der Gattungsentwicklung ansieht, keineswegs entbehrlich gemacht; aber
sein Charakter als bloss vorläufige Orientierung, als subjektiv
einseitige Abstraktion, tritt durch sie scharf hervor; sie zeigt,
dass die Wirklichkeit nur durch eine Unendlichkeit von Begriffen zu
erschöpfen wäre und dass jedes wirkliche Ding oder Verhältnis dem
Begriff in einer besonderen, in diesem selbst nicht gegebenen Weise
entspricht; sie kehrt das Schattengleichnis Platos über das Verhältnis
von Idee und Erscheinung direkt um.
Darum
ist auch die Tendenz und Gesinnung der auf sie gebauten Normen denen des
Rationalismus durchaus entgegengerichtet. Denn
diese machen den Begriff zum Mass der Dinge, ihre Denkbarkeit nach den
Begriffen, die die bisherige Erfahrung gebildet hat, zeichnet die
Grenzen des Möglichen oder Gebotenen.
Nur
wenn die Handlung auch als allgemeiner Begriff gelten darf, wird sie
gebilligt, und ihre Geltung als dieser wird zum Kriterium ihrer Geltung
im individuellen Falle.
(<35)
Gäbe es einen Begriff des Menschen, der ohne Schwankung und Lücke auf
jedes Individuum passte und dessen Wesen in immer gleicher
Vollständigkeit umschriebe; folgten aus dem Begriffe der menschlichen
Gesellschaft immer die gleichen Forderungen an die persönliche
Sittlichkeit - dann liesse es sich denken, dass für einen gilt, was
für alle, und umgekehrt, dass die Forderungen, deren durchgängige
Erfüllung den Bestand der augenblicklichen Gesellschaft gewährleistet,
das sittliche Kriterium für jedes Individuum bilden.
Aber
weder die Entwicklungslehre noch der realistische Blick für die
menschliche Differenziertheit dulden solche Einheit und Dauer des
Begriffes vom Menschen; beide lassen ihn als eine dürre Abstraktion
erscheinen gegenüber der lebendigen Kraft des Prozesses, in dem die
Verschiedenheit der Individuen neue Verhältnisse entwickelt und,
wechselwirkend, die neuen Verhältnisse immer mannigfaltigere
Individualitäten fordern und erzeugen.
Macht
man Ernst mit dem Gedanken der Entwicklung, hypostasiert man nicht die
relative Stabilität gewisser Züge zu der Starrheit
begrifflich-logischer, also unbedingter Geltung, so zeigt sich sogleich,
dass dieser ununterbrochene status nascens Handlungsweisen
fordert, die ihre Geltung nicht aus ihrer möglichen Verallgemeinerung
ziehen können.
Dazu
sind die Verhältnisse, welche durch die menschlichen Handlungen in
einander übergehen, zu unvergleichbar.
Unser
Tun, das gleichsam ein Glied eines kontinuierlich sich umgestaltenden
Organismus ist, stets an der Wasserscheide zwischen einem schon
vergangenen und einem noch nicht wirklichen Zustande steht, würde durch
die Beurteilung an der Hypothese, dass Alle so handelten, in ein völlig
falsches Licht gerückt werden.
Für
das Nebeneinander würde die Bedeutung der Individualität, für das
Nacheinander die Notwendigkeit zu kurz kommen, die Zustände allmählich
und nicht durch eine gleichmässige Aktion Aller auf einmal ineinander
überzuführen. (<36)
Nun
lassen zwar die meisten Beispiele, die sowohl für wie gegen die
Richtigkeit des kategorischen Imperativs angeführt werden, ihm gerade
nach der Seite der Individualisierung der Fälle hin nicht Gerechtigkeit
widerfahren.
Was
verallgemeinert wird, um aus dieser Verallgemeinerung die Konsequenzen
und den sittlichen Wert des Tuns erkennen zu lassen, ist fast
durchgehendes nicht dieses Tun in seiner ganzen Konkretheit und
Bestimmtheit; es ist vielmehr nur der allgemeine Begriff, d.h. also nur
eine Seite desselben, die man als allgemeines Gesetz denkt.
Jedes
Tun hat, insbesondere als blosse äussere Erscheinung betrachtet, einen
Grundzug, eine zunächst hervorstechende Charakteristik, die ihm mit
einer Reihe anderer gemeinsam ist.
Aus
ihr bildet man den Allgemeinbegriff dieses Tuns, dessen durchgehende
Realisierung man dann zum Kriterium macht.
Die
besonderen Umstände, die die unter solchen Allgemeinbegriff gehörige
Tat individualisieren und bei keiner einzigen fehlen, pflegen bei jener
Verallgemeinerung ausser Acht gelassen zu werden; nicht die Tat als
Ganzes mit der Gesamtheit ihrer Umstände wird als allgemeines Gesetz
gedacht, sondern nur die Hauptsache an ihr, der höhere Begriff, unter
den sie gehört.
Dies
aber führt zu den grössten Irrungen. Wenn
z. B. eine Lüge gemäss der Frage: was würde dabei herauskommen, wenn
jedermann löge, verurteilt wird, so mag es ja allerdings richtig sein,
dass ich nicht wollen kann, dass allgemein gelogen wird.
Damit
ist aber noch lange die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass ich
selbst die durchgehende Wiederholung der Lüge unter den besonderen,
hier vorliegenden Umständen doch für durchaus möglich und
wünschenswert hielte.
Bezüglich
der Lüge wird dies, angesichts der allgemeinen Billigung der Notlüge,
ohne Weiteres zugegeben werden, und man wird die Verallgemeinerung des
Tuns nicht auf den allgemeinsten Begriff der Lüge beschränken. Schwieriger
liegt die Frage schon in folgendem Fall. (<37)
Ein
Familienvater ist durch Hinterlist und Auswucherung seitens eines
reichen Gläubigers an den Rand des Verderbens gebracht worden; er kann
sich und seine Familie vor dem sicheren Ruin nur durch einen Betrug
retten, den er jenem gegenüber begeht, ohne ihn dadurch in
nennenswerter Weise zu schädigen.
Unterläge
er dieser Versuchung, so würde er gemäss dem kategorischen Imperativ
wohl durchgehendes sittlich verurteilt werden; denn was würde dabei
herauskommen, wie sollte ein Gemeinwesen bestehen können, wenn ein
jeder, um sich aus einer Notlage zu befreien, betrügen dürfte? Allein
das Fundament dieser Frage ist falsch. Es
betrügt doch Niemand schlechthin.
Niemand
realisiert bloss den farblosen Begriff des Betruges; sondern die Tat
geschieht immer unter bestimmten Umständen, mit besonderen Ursachen und
Folgen, und die Frage muss nicht lauten: was geschähe, wenn jeder
betröge, sondern: was geschähe, wenn jeder, der in dieser und dieser
Weise hintergangen und ausgebeutet ist, einen Betrug beginge, der den
Betrogenen kaum oder nur in verdienter Weise schädigt und dafür
eine ganze Familie vor dem Verderben rettet?
Wenn
die Frage in dieser einzig gerechten Weise gestellt wird, so wird die
Antwort wohl anders lauten, und ein Gemeinwesen, in dem diese, aber auch
nur diese bestimmt umschriebene Art des Betruges durchgängig
stattfände, wäre durchaus existenzfähig.
Irgend
eine andere Art des Betruges, die nicht genau die gleichen
Charakteristika zeigte, wäre in ihrer Erlaubtheit oder Unerlaubtheit
hiermit noch absolut nicht präjudiziert.
Wenn
hingegen in diesem Falle nur nach der Erlaubtheit des Betrügens
überhaupt gefragt und diejenige des einzelnen Betruges von jener
abhängig gemacht wird, begeht man jenen Grundirrtum, der allenthalben,
auch im Theoretischen, unser Erkennen fälscht: dass die Trennung
zwischen der Hauptsache, dem wesentlichen Begriffe und den Akzidenzen,
den individualisierenden Unterbestimmungen, in das Objekt selbst
hineinverlegt wird, statt als bloss subjektive Kategorisierung und
Hilfsmittel des Erkennens zu gelten. (<38)
Dem
Objekte, z. B. einem Menschen gegenüber, herrscht die Vorstellung, dass
er zunächst Mensch überhaupt sei, ein Exemplar des Begriffes Mensch;
zu den hiermit gegebenen allgemeinen Qualitäten treten nun
Modifikationen, die jene individualisieren und den Menschen zu dieser
bestimmten Person machen.
Dass
er z. B. überhaupt Kopf, Rumpf, Arme und Beine bat, ist das
Wesentliche, das Primäre an ihm; wie diese Glieder im Einzelnen
beschaffen sind, ob gross oder klein, schön oder hässlich, gerade oder
krumm, das ist sozusagen eine Angelegenheit zweiter Ordnung, das
betrifft nur die zufällige Ausgestaltung, die doch ihr oberstes Gesetz
in jenem allgemeinen Fundamente, in dem, was dem Menschen als solchem
zukommt, findet.
In
dieser Anschauungsweise, in der z. B. alle Vorstellungen von
"Menschenrechten" wurzeln, liegt ein Begriffsrealismus, eine
Anthropomorphisierung höchster Art.
Ein
Mensch hat doch nicht zunächst einen Körper oder ein Glied überhaupt,
zu dem dann irgend eine individualisierende Kraft tritt, um ihn zu
diesem bestimmten zu gestalten - als wäre der Mensch zunächst eine Art
Halbfabrikat, das nur die allgemeinsten Umrisse seiner definitiven, aber
ihm erst später zu verleihenden Form enthielte!
Vielmehr
entsteht und besteht er gleich und nur als dieser bestimmte, als diese
individuelle Gestaltung, und erst die ausschliesslich im Kopfe des
Beobachters vor sich gehende Vergleichung mit anderen ebenso
individuellen Wesen führt zu der Zusammenfassung gleicher Eigenschaften
an ihnen und zu der Bildung des Begriffes Mensch aus diesen.
Die
Zerlegung des Inhaltes eines Objekts in das Wesentliche, Grundlegende,
das ihm seine allgemeine Form gibt, einerseits, in das Zufällige,
Individualisierte, im Verschiedenen Verschiedene andererseits - diese
Zerlegung liegt absolut nicht in der Natur der Dinge, welche vielmehr
alles, was sie schafft, gleich als dieses bestimmte Individuum hinstellt
und innerhalb seiner keinen Unterschied zwischen dem Wesentlichen und
dem Unwesentlichen kennt. (<39)
Nur
eine in unzähligen Fällen allerdings unentbehrliche Subjektivität und
zweckmässige Oberflächlichkeit des Denkens schafft diese Trennung,
deren unheilvolle Folgen sich sogleich bemerklich machen, sobald sie
objektiviert wird und man jenen Unterschied durch die Dinge selbst,
statt durch unsere - vorläufige und korrigierbare - Anschauung ihrer
hindurchgehend glaubt.
So
abstrahiert man denn aus der Handlungsweise jenes Betrügers nur die
allgemeine Tatsache, dass er betrogen hat, und lässt bei der
hypothetischen Verallgemeinerung derselben die individuellen Umstände
fort, die aber, objektiv betrachtet, zweifellos dasselbe Recht haben, in
die Rechnung einbezogen zu werden; denn gerade nur unter Voraussetzung
ihrer ist der Betrug geschehen.
Dürfte
man um
das Kriterium für eine Gesamthandlung zu gewinnen, ein Moment ihrer
herauslösen und es als das allein Entscheidende für die durch andere
Momente individualisierte Handlung ansehen, so könnte man etwa aus dem
beschriebenen Handlungskomplex dies herausgreifen, dass jener Betrüger
seine Familie vor dem Untergange schützt - eine Tat, die doch gewiss
Verallgemeinerung verdient.
Noch
einen Schritt weiter in der Beurteilung des Verallgemeinerungsprinzipes
wird uns ein zweites Beispiel führen, das einer moralwissenschaftlichen
Kontroverse entstammt.
Ein
Kritiker des Utilitarismus hatte diesem gegenüber gesagt: Der Soldat,
der im Felde auf einem verlorenen Posten ausharrt, nützt weder Anderen
noch der Sache, der er dient.
Dennoch
gilt seine Ausdauer als sittlich; folglich wird die Sittlichkeit doch
von einem anderen Kriterium abhängig vorgestellt, als von dem der
Nützlichkeit der Handlung.
Darauf
erwiderte der Verteidiger des Utilitarismus: Wenn in einer Armee jeder
seinen Posten verlässt, sobald ihm dies gut scheint, so wird eine
solche Armee vielleicht schon im ersten Treffen zersprengt werden und
den Staat, den sie verteidigen soll, dem Umtergange weihen. (<40)
Man
brauche also jenes als sittlich empfundene Ausharren auf dem Posten nur
zu verallgemeinern, um einzusehen, dass es mit dem Nützlichkeitsprinzip
übereinstimmt. Allein
hiermit eben wird der oben charakterisierte Fehler begangen.
Der
so Argumentierende verallgemeinert ja gar nicht das Verhalten jenes
Soldaten, wie es wirklich war, unter Berücksichtigung aller Umstände,
die genau so zu ihm gehören, wie die Tatsache, dass er überhaupt
seinen Posten verlässt. Denn
diese vorausgesetzten Umstände waren ja, dass er wirklich auf einem
verlorenen Posten stand, dass sein Ausharren eine absolut nutzlose
Aufopferung war.
Wenn
er einen solchen Posten verlässt, aber auch gerade nur einen solchen,
so sehe ich nicht ein, dass es ein schädliches Resultat haben würde,
wenn jeder Soldat so handelte, aber auch gerade nur so.
Die
Verwerfung dieser Handlung vom utilitarischen Standpunkt aus beruht auf
einer zu rohen Induktion, indem nur ein Teil der Totalhandlung, das
Verlassen des Postens überhaupt, verallgemeinert und dies mit Recht
verurteilt wird, aber nicht das Verlassen unter diesen bestimmten
Umständen, unter denen es durchaus nicht schädlich ist. Mit
gleichem Rechte könnte man die Tat des Henkers höchst unsittlich
finden, denn was sollte dabei herauskommen, wenn das Kopfabschlagen
allgemein würde!
Wird
also die Formel des kategorischen Imperativs mit derjenigen Vertiefung
und in derjenigen Differenziertheit angewandt, die sie, rein logisch
betrachtet, sogar fordert, so lehnt sie alle Unterjochung der
individuellen Tat unter einen Begriff, der sie nur teilweise deckte, ab,
und lässt dieser alle die Gerechtigkeit widerfahren, die die üblichen
Beispiele ihr verweigern, weil sie nur das Allgemeine von ihr, nicht sie
selbst verallgemeinern; und jedenfalls erreicht nur unter solcher
Berücksichtigung der Individualität des Handelns die Frage: was würde
bei seiner Verallgemeinerung herauskommen - das Maximum ihres ethischen
Erkenntniswertes. (<41)
Dies
ist nun allerdings der Standpunkt einer wissenschaftlichen Abwägung,
die völliger Gerechtigkeit zustrebt. Ob
die praktische Moral und Morallehre aber ihn einhalten kann, ist eine
andere Frage. Die
Notwendigkeit des theoretischen Erkennens, mit allgemeinen Begriffen zu
arbeiten, deren Unzulänglichkeit man doch einsieht, wiederholt sich
auch im Praktischen.
In
den zur Regelung des Lebens bestimmten Maximen darf die Kasuistik einen
bestimmten Grad nicht überschreiten, wenn sie nicht diejenige
Unsicherheit und Willkürlichkeit vermehren will, der sie gerade
abhelfen sollte.
Eine
bestimmte, abstrakt allgemeine Handlungsweise, z. B. im Felde auf dem
anvertrauten Posten auszuharren, ist bei so vielen und in den
individuellen Umständen wechselnden Gelegenheiten als das einzig
richtige Tun erprobt worden, dass sich mit der Sicherheit, die ein
Induktionsverfahren überhaupt besitzt, sagen lässt: nur bei
allgemeiner Durchführung dieser Maxime wird ein kriegführendes
Gemeinwesen bestehen, die Verallgemeinerung des Gegenteils würde es
verderben.
Wird
gemäss dieser Maxime nun der Soldat, der unter den oben geschilderten
Umständen seinen Posten verlässt, verurteilt, so geschieht ihm zwar
zweifellos ein Unrecht, gemessen an der höchsten Maxime allgemeiner
Nützlichkeit, von der jene sekundäre, die ihn verurteilen lässt, doch
selbst erst abgeleitet ist.
Allein
liesse man die Ausnahme zu, räumte man ein, dass eine Tat, die in der
Mehrzahl aller Einzelfälle als unsittlich verurteilt werden muss, sich
unter Hinzutritt besonderer Umstände rechtfertigen, d. h. zu einem
allgemeinen Gesetz erheben liesse - so wäre eine Versuchung geschaffen,
solche Umstände nach rein subjektivem Belieben vorauszusetzen, eine
Versuchung, deren praktische Folgen dem Gemeinwesen oft schädlicher
sein würden, als die Ungerechtigkeiten, die es (<42) mangels jener
Differenzierung gegen den Einzelnen begeht.
Die
Induktionsneigung unseres Geistes würde hier, wo praktische Interessen
ihr zu Hülfe kommen, nicht nur den individuellen, gerechtfertigten Fall
zur Regel erheben, sondern darüber hinaus sogleich wieder die
allgemeinere Maxime bilden: es sind überhaupt Ausnahmen von der Pflicht
des Ausharrens auf Posten erlaubt - und würde dieselbe, deren logisches
Geltungsbereich ein unbeschränktes ist, zur Rechtfertigung jeder
möglichen Fahnenflucht benutzen.
Dieselbe
oberflächliche Begriffsbildung, deren ethischen Schädigungen man durch
jene Ausnahme entgehen wollte, würde sich eben dieser wieder
bemächtigen und so, günstigsten Falls, statt der alten eine neue
Fehlerreihe eröffnen.
Hier
haben wir einen Punkt, an dem intellektueller Fortschritt zugleich
sittlichen bedeuten würde. Eine
scharfe theoretische Einsicht in die Individualität des Einzelfalles
wurde es zu solchen Verallgemeinerungen nicht kommen lassen, bei denen
gerade das Wesentliche vor dem bloss Allgemeinen weggefallen ist und die
deshalb auch auf tatsächlich ganz abweichende Einzelfälle eine
scheinbare Anwendung finden; oder wenigstens würde eine solche Einsicht
den Täter sofort überzeugen, dass nicht logische Ableitung, sondern
praktische Tendenzen seine Maximen bestimmt haben.
Diese
Differenzierung des Vorstellens aber steht offenbar augenblicklich noch
weit unter ihrem erreichbaren Höhepunkt, die zugegebene Ausnahme wird
der Quellpunkt, vieler nicht zuzugebender, und deshalb muss die
praktische Moral möglichst nur so weite und allgemeine Imperative
geben, dass sie keine Ausnahmen zu gestatten braucht.
Deshalb
aber auch ist sie über vergleichsweise rohe Gebote und Verbote nicht
hinausgekommen, und im Bereich der vorschreibenden Ethik, mag es nun die
der Kanzeln oder der Lehrbücher sein, vermisst man in der Regel die
Direktiven für die feineren Probleme des Handelns, für jene aus
zahllosen Impulsen, Gefühlen und Forderungen zusammengewebten (<43)
inneren oder auch äusserlichen Situationen, deren bisher unerlebte
Komplikation uns das Gefühl der eigenen Individualität oft schmerzlich
genug aufdrängt, deren Eigenart und Unvergleichbarkeit wir fühlen und
die wir dabei doch gern in einer Weise lenken möchten, welche wir uns
zugleich als allgemeines Gesetz, als Pflicht, denken könnten - sei es
aus wirklicher primärer Sittlichkeit, sei es aus dem sittlich laxeren
Bestreben, die Verantwortlichkeit der Entscheidung gewissermassen auf
die Allgemeinheit oder auf ein objektives Gebiet überzuwälzen.
Die
Schwierigkeit, sich in solchen Fällen an den allgemein gültigen
Geboten aus dem Schätze der anerkannten Moral zu orientieren, mag es
nun wechselwirkend verschulden, dass man bei der Frage: was würde bei
der Verallgemeinerung dieser Handlungsweise herauskommen? - sogleich die
feineren und individuelleren Bestimmungen weglässt.
Hierdurch
aber wird zwar eine allgemeine Maxime gewonnen, aber eine derartige von
der der vorliegende Fall vielleicht gerade eine Ausnahme bildet.
Man
hat also nur die Wahl zwischen einer solchen, die für viele Fälle,
aber dabei nicht absolut gilt, und einer solcher, die zwar absolut, für
jeden durch sie bezeichneten Fall, der aber vielleicht nicht zum zweiten
Male vorkommt, gilt, so dass man direkt sagen kann: nur absolute
Individualisierung gestattet absolute Verallgemeinerung.
Halten
wir also daran fest, dass jede Handlung genau in den Grenzen ihrer
Besonderheit betrachtet werde; dass sie kein Unrecht leide, dadurch,
dass etwa nur ein Teil von ihr, unter Weglassung persönlicher oder
sonstiger Umstände, verallgemeinert und das so gewonnene Resultat ihr
als Kriterium oktroyiert werde - halten wir daran fest, so scheinen die
obigen Einwendungen gegen den kategorischen Imperativ ihre Bedeutung zu
verlieren.
Denn
nun mag die fragliche Handlung mitten in einer kontinuierlichen
Entwicklungsreihe stehen oder sie mag auf einer absolut
einzigartigen (<44)
Kombination von Umständen ruhen: die Voraussetzung ist eben die
Wiederholung genau dieser Umstände, und in dem gerade aktuellen Falle
würde man die Tat offenbar nur dann sittlich rechtfertigen können,
wenn sie auch bei jeder gedachten Wiederholung eben dieser Umstände
sittlich, d. h. also, wirklich als allgemeines Gesetz denkbar wäre.
Es
bleibt unter dieser Voraussetzung nichts mehr übrig, was dem Individuum
ein Recht geben könnte, zu irgend einer Zeit anders zu handeln, als in
dieser allgemein anzuerkennenden Weise; denn jeder, die Handlung mit
Recht modifizierende Umstand wäre ja schon in die Voraussetzung
eingeschlossen.
Nun
kann kein Individuum mehr behaupten, dass es als solches sich nicht an
der Verallgemeinerung seines Falles brauchte beurteilen zu lassen. Denn
alle individuellen Bestimmungen seiner und seiner Situation werden ja
mit verallgemeinert, oder sind vielmehr in ihrer Totalität überhaupt
das, was verallgemeinert wird.
Es
bleibt also kein inhaltlicher, sondern bloss ein numerischer Unterschied
zwischen den wiederholten Fällen, und deshalb kann dann, aber auch nur
dann, eine Tat sittlich richtig und erwünscht sein, wenn ihre absolute
Verallgemeinerung es ist.
Durch
diese Bestimmung indes, die dem kategorischen Imperativ seine unbedingte
Anwendbarkeit sichert, wird die Direktive gerade zerstört, die er der
Beurteilung des Handelns gewähren wollte.
Dass
jeder so handeln soll, wie nur in der genau gleichen Lage jeder andere
auch handeln dürfte, fordert eine unvollziehbare Voraussetzung; denn
wenn ich irgend einen anderen absolut in meine Lage hineindenke, so ist
er ja mit mir identisch, und die Frage, wie er zu handeln hätte, hat
nur einen anderen Subjektnamen, wie die an mich selbst gerichtete, und
ermöglicht keine Entscheidung, die sich nicht aus der letzteren, mit
ihr inhaltlich gleichen schon ergeben hätte.
(<45)
Wir münden hiermit an einen analytischen, ja identischen Satz: Wenn nur
diejenige Handlung richtig ist, die genau dieser Situation und keiner
anderen entspricht, so ist es selbstverständlich, dass jede
Wiederholung der letzteren immer wieder die erstere fordert.
Das
folgt einfach aus dem Satz der Identität und gibt uns nicht die
geringste Anweisung auf das, was nun sittlicher Weise geschehen soll. Wenn
jede minimale Änderung der persönlichen oder sachlichen Umstände uns
von Neuem vor die Frage stellt, was hier zu tun sei; wenn die völlig
genaue Gerechtigkeit nicht gestattet, dass die noch so ähnliche, aber
nicht absolut gleiche Lage ein Präjudiz für die sittliche Forderung an
eine gegebene bilde: so ist eine allgemeine Regel des Verhaltens
überhaupt nicht aufstellbar, weil jeder darunter befasste Fall irgend
eine spezifische Differenz aufweisen wird, die ihre Anwendung
illusorisch macht.
Dem
gegenüber bieten sich zwei Eventualitäten dar. Erstens:
Die Summierung von vielen absolut gleichen Fällen könnte, wie ich
bereits oben ausführte, entweder sachlich oder wenigstens für die
Erkenntnis ein Resultat ergeben, das den Einzelfall erst beleuchtet.
Allein
dieser Gedanke ist in derjenigen absoluten Genauigkeit, die wir hier
voraussetzen sollen, nicht ausführbar.
Denn
eine völlige Gleichheit mehrerer Abschnitte eines sozialen Kreises
setzt offenbar eine absolute innere Homogenität oder Symmetrie
desselben voraus; anderenfalls müssen an den Wurzeln oder den
Verzweigungen zweier noch so gleicher Taten, an den Bedingtheiten zweier
noch so ähnlicher Individuen doch irgend welche Differenzen auftreten,
die unsere Voraussetzung vermeiden wollte.
Und
ist erst einmal eine Differenz innerhalb des Kreises von Taten
vorhanden, dessen Folgen man zum Kriterium der einzelnen machen will, so
ist wieder die Möglichkeit gegeben, dass gerade auf diese Differenz hin
das Kriterium abgelehnt wird. (<46) Ich kann mir nicht denken, was
dabei herauskäme, wenn Personen sich genau so verhielten wie eine
Mehrzahl von ich selbst – diese Genauigkeit im absoluten Sinne
genommen - , denn dies würde
eine Multiplizierung meines Ich nach seinen gesamten inneren und
äusseren Bedingungen bedeuten ; und damit es zu einer solchen käme,
müsste der soziale Kreis so andere als seine wirklichen, sehr
differenzierten Bedingungen bieten, dass die Folgen, welche aus der so
vorausgesetzten Gleichheit flössen, auch völlig andere wären, als sie
in einer empirischen Gesellschaft eintreten; sie würden also für die
Handlungen in dieser kein Kriterium abgeben.
Von
einer isolierten äusseren Tat kann ich die Mehrfachheit wohl denken und
nach den Folgen davon fragen. Wird
sie aber als Teil der unendlichen sozialen und individuellen Entwicklung
gefasst, innerhalb deren sie weder gegen das Vorher noch gegen das
Nachher scharf abgegrenzt ist, - und als solche nur kann die völlige
Gerechtigkeit sie beurteilen, - so kann man sie nicht als mehrfach
denken.
Entweder
bleibt es bei der Vorstellung meines Ich, das keine eigentliche
Verallgemeinerung genauesten Sinnes gestattet, - sowohl aus
individuellen, wie aus sozialen Gründen - oder es findet irgend eine
Modifikation statt, die zwar das Nebeneinanderdenken vieler Fälle
ermöglicht, aber kein unbedingtes Kriterium für den einzelnen
gewährt.
Inwieweit
diese Überlegung doch noch der Verallgemeinerung des individuellen
Falles einen Wert für die sittliche Empfindung und Beurteilung lässt,
werden wir später sehen.
-
Zweitens: Die Verallgemeinerung des Handelns nimmt dann eine besonders
anschauliche Gestalt an, wenn die Aktion sich direkt von Person gegen
Person richtet, und nun vorgestellt wird, dass sie direkt rückläufig
wird, d. h. dass B genau nach der gleichen Norm gegen A verfahre, nach
der A sich gegen B verhalten hat.
Ist
dieses Verhalten von B dann dem A erwünscht, so bedeutet dies also,
dass er sein Verhalten als allgemeine Norm denken kann und möchte. Dies
ist die positive Wendung des Verbotes: was du nicht willst, das dir
geschieht, das tu auch einem andern nicht. (<47)
Hier,
wo nicht eine Vervielfachung des Falles, und damit eine soziale
Unmöglichkeit vorausgesetzt wird, sondern nur eine Vertauschung der
Personen, scheint allerdings ein Kriterium gegeben, das bei absoluter
Individualisierung der Handlung den Handelnden vor die unzweideutige
Frage stellt, ob er die Verallgemeinerung seines Verhaltens wollen kann.
Ohne
den praktischen Wert dieser populären Norm in Frage zu stellen,
erscheinen mir doch die folgenden Ausnahmen von ihrer Anwendbarkeit
ethisch wichtig. Zunächst
die Bd. 1, S. 137 angeführten Fälle, in denen die unmittelbare und
formgleiche Repressalie gegen die unsittliche Handlung überhaupt nicht
ausführbar und also auch nicht ausdenkbar ist.
Hierher
gehören alle die zahlreichen Unsittlichkeiten, die sich nicht
unmittelbar gegen Personen, sondern gegen Kollektivgebilde oder
objektive Ideale richten, so dass der Schaden, den sie anrichten, gar
nicht in der gleichen Art an den Schädigern heimgesucht werden kann;
und ebenso die sittlicher Handlungen gleicher Richtung, deren ethisches
Mass man gleichfalls nicht an dem Wunsche des Handelnden, dass ebenso
gegen ihn verfahren werde, bestimmen kann, weil die auf das
Unpersönliche gehende Handlung häufig überhaupt kein Gegenbild in
einer auf eine Einzelperson bezüglichen findet.
Aber
auch Handlungen persönlichen Charakters, und zwar gleichfalls sowohl
sittliche wie unsittliche, entziehen sich jenem Kriterium. Die
eigentlich aufopfernde Sittlichkeit, die nicht nur für den Moment,
sondern für das Ganze des Lebens zu entsagen gelernt hat, wird sehr
häufig nicht wünschen, Erwiderung ihrer Äusserungen zu finden.
Ihre
Verneinung des do ut des - Prinzips wird nicht nur eine reale
sein, derart, dass solche Naturen keinen Anspruch an den Genuss dessen
stellen, was Andere durch sie geniessen – das würde nur bedeuten,
dass sie jene Verallgemeinerung ihrer Maximen tatsächlich nicht wollen;
sondern sie werden sie auch nicht wollen können, weil sie schon durch
solches Wollen den eigentümlichen Wert dieser entsagenden Sittlichkeit
zerstören würden. (<48)
Dies
ist, wie leicht ersichtlich. ein
Spezialfall unseres Begriffes vom Verdienste: ein altruistisches
Handeln, dessen ethische Charakteristik in der positiven, bewussten
Abweisung des egoistisch-eudämonistischen Motivs besteht.
In
diese Kategorie des Verhaltens gehört z. B. auch das Verzeihen. Sittliche
Menschen werden ihnen Zugefügtes oft verzeihen, ohne für sich selbst
dieselbe Ausnahme von der Gerechtigkeit zu wünschen, die sie Anderen
angedeihen lassen.
Das
werden freilich nicht jene Menschen von schlaffer Toleranz sein, die
leicht verzeihen, weil ihre Empfindungsreaktionen schwach und
indifferent sind, ihre Persönlichkeitssphäre der energischen
Grenzverteidigung entbehrt, die, weil sie kein starkes und betontes Ich
besitzen, jeder Suggestion unterliegen und so in das Entgegengesetzteste
sich hineinfühlend, alles verzeihen, weil sie alles verstehen; solche
Naturen werden ohne Weiteres diese Maximen auch auf sich angewendet
wissen wollen.
Anders
aber steht es mit jener wertvolleren Duldsamkeit, die verzeiht, nicht
weil sie begreift, sondern trotzdem sie nicht begreift, vielleicht sogar
trotzdem sie begreift. Bei
solchen Naturen wird die Maxime der Gerechtigkeit neben der des
Verzeihens stehen, und persönlich der letzteren folgend, werden sie
dennoch nicht wünschen können, dass ihnen selbst mit diesem Masse
gemessen werde; sondern der Wert ihres Verhaltens liegt gerade in der
Verschiedenartigkeit der Maximen, die sie gegen Andere und die sie gegen
sich selbst befolgt wissen wollen.
Es
sind ebenfalls die starken Charaktere, die sich bei unsittlichen
Handlungen durch die Frage: ob sie denn damit einverstanden wären, dass
das Gleiche gegen sie geschähe, nicht irritieren lassen würden.
Energische
und trotzige Naturen, an die Härte sich selbst gegenüber nicht weniger
als Anderen gegenüber gewöhnt, würden es ohne Weiteres anerkennen,
dass das Durchsetzen der eigenen Persönlichkeit, das Unterdrücken des
Entgegenstehenden, bis es die Form des herrschenden Willens angenommen
hat, allgemeine Maxime sein kann, selbst auf die Gefahr hin, dass einst
ein noch Stärkerer dieselbe gegen sie selbst zur Anwendung brächte.
(<49)
Es
ist völlig falsch, wenn das Sichausleben der Kraft selbst auf Kosten
Anderer, der Triumph des Herrschens, die Umprägung der Verhältnisse
bis zur Übereinstimmung mit dem eignen Willen - wenn alles dies
schlechthin als Egoismus gilt, ein Missverständnis freilich, dessen
sieh nicht nur die Schwachen gegenüber den Starken, sondern auch ein
Selbstmissverständnis, dessen sich mancher Prophet des
Übermenschentums schuldig gemacht hat.
Alles
dies vielmehr kann in die Sphäre emporsteigen, in der es als objektiv
wertvoll empfunden wird. Dass
der Starke auch Herr sei, dass der energischste Wille sich auch
verwirkliche, ist ein objektiver Wunsch, der freilich dem Starken selbst
am nächsten liegen, in ihm zuerst auftauchen wird, der dann aber
keineswegs auf die Fälle beschränkt zu bleiben braucht, wo er selbst
davon Nutzen hat.
Dies
eben unterscheidet die vornehme Stärke von der gemeinen, wie sich die
vornehme Freude an der eigenen Schönheit und ihrem unpersönlich
ästhetischen Werte von der Eitelkeit und Selbstbespiegelung
unterscheidet.
Selbst
was dem Inhalt nach Egoismus ist, kann für das Bewusstsein des so
Handelnde in dieser unpersönliche Sphäre aufsteigen, in die einer
objektiven Maxime, der man sieh, wenn ein Anderer die Kraft hätte,
ebenso unterwerfen würde.
Objektivität
ist eben Vornehmheit, und so würde manche prometheische Natur wohl
anerkennen, dass ihr nur Recht geschieht, wenn sie durch dieselbe Kraft
unterdrückt würde, mit der sie bis dahin Andere unterdrückte.
Sie
würde also, im sozialen Sinne Unsittliches tuend, doch zugleich
einverstanden sein, dass dasselbe ihr geschähe und damit beweisen, dass
dieses Anerkenntnis nicht das Kriterium des Sittlichen sein kann.
(<50)
Auf
diesen Wegen also ist die Möglichkeit nicht zu finden, selbst bei
vollkommener Individualisierung des Falles seine Verallgemeinerung zum
Messmittel seines ethischen Wertes zu machen.
Es
bleibt dabei, dass die Verallgemeinerung einerseits entweder leer oder
unausdenkbar ist, wenn sie wirklich jede Bestimmung der Persönlichkeit
und jede Verzweigung des Tuns einschliessen soll, andererseits nicht
bindend, wenn sie nur einen allgemeinen oder wesentlichen Teil ihrer,
unter Beiseitelassung irgend welcher anderer, betrifft.
Allein
derartige Dilemmen gestatten doch der realistischen Betrachtung oft noch
einen Ausweg, den die Logik zu versagen schien. Die
eigentliche Bedeutung des kategorischen Imperativs, zu der unsere
Erörterungen den Weg bahnen sollten, liegt nämlich in der Erkenntnis,
dass jede individuelle Lage Seiten und Bestimmungen hat, welche auf die
aus ihr hervorgehende sittliche Verpflichtung ohne Einfluss sind.
Dieser
sehr einfache und selbstverständlich erscheinende Satz ist tatsächlich
von der grössten ethischen Bedeutung , die uns durch eine theoretische
Parallele deutlich werden wird.
Das
Trägheitsgesetz beherrscht alle sichtbaren Erscheinungen, ohne eine
Ausnahme zuzulassen, zugleich aber auch ohne in der Reinheit seiner
abstrakten Formulierung je unmittelbar und unbedingt konstatierbar zu
sein.
Jede
Naturerscheinung ist in jedem Augenblick durch einwirkende Kräfte so
bestimmt und individualisiert, dass es unmöglich ist, sie von diesen
abzuschneiden, und nun das blosse, weder durch Widerstand noch durch
Beschleunigung modifizierte Weiterwirken der in einem Augenblick ihr
eingedrückten Kraft ins Unendliche zu beobachten.
Wir
wissen indes, dass jede der zweifellos eintretenden Abweichungen von dem
einmal innegehaltenen Ruhe- oder Bewegungszustand eine positive,
in einem Gesetze ausdrückbare Ursache hat, welche die vorgefundene
Bewegungstendenz erst überwinden muss und mit ihr eine Resultante
bildet.
Die
individuelle Bestimmung des Falles also, die die Wirkung jenes Gesetzes
für seine tatsächliche (<51) Erscheinung schliesslich aufhebt,
bedeutet nicht, dass er sich dem Gesetz überhaupt entzöge; und
umgekehrt bedeutet das Gesetz nicht, dass er ihm immer konform sein
müsse, sondern nur, dass wenn er es nicht ist, dies nicht auf Grund
seiner bloss formalen Individualität, sondern ganz bestimmter
Veranlassungen geschähe.
In
der Anwendung auf das ethische Problem heisst dies zunächst Folgendes:
Wenn eine Situation gewissen Merkmalen zufolge unter eine allgemeine
sittliche Forderung gehört, so wird sie derselben nicht schon dadurch
enthoben, dass sie noch andere, sie individualisierende Bestimmungen
aufweist, sondern es müssen positive Gründe zu der Befreiung von jener
Verpflichtung vorhanden und namhaft zu machen sein, widrigenfalls
dieselbe unverkürzt fortwirkt.
Es
ist also ganz richtig, dass jede spezielle Bestimmung, die zu dem
Allgemeinbegriff einer Situation hinzukommt, es fraglich macht, ob der
für diesen Begriff allgemeingültige Imperativ auch für sie gelte;
dies bedeutet aber wirklich nur, dass es fraglich ist, d. h. dass die
individuellen Bestimmungen daraufhin geprüft werden müssen, ob sie
eine sittliche Tendenz aus sich entfalten, die jene aufhebt.
Dadurch
wird ein Riegel jenem unbilligen Anspruch vorgeschoben, der aus der
blossen Tatsache der Individualität, daraus, dass man "anders als
die Anderen" sei, für sich ein Ausnahmerecht allgemeinen
Imperativen gegenüber folgert.
Die
populäre Betrachtungsweise neigt sehr dazu, die Übertragung eines
allgemeinen Satzes auf ein vorliegendes Objekt mit dem Argument
abzulehnen: "Dies ist ja etwas ganz Anderes" - ohne sich
verbunden zu fühlen, die Art dieses Andersseins und die Gründe
anzugeben, weshalb dieser, wenn auch individualisierte Fall sich der
allgemeinen Regel entzöge, unter die er doch in irgend einem Masse
jedenfalls gehört.
Dies
ist das psychologische Seitenstück zu der logisch entgegengesetzten
Tendenz, den Gegenstand durch seine Zugehörigkeit zu einem allgemeinen
Begriff für abgeurteilt und völlig bestimmt zu halten. (<52)
Beides
entspringt der bequemen Oberflächlichkeit, die sich gegenüber den
Dingen mit dem Ja oder Nein abzufinden glaubt; sie geht nicht auf die
Individualität derselben ein, der zufolge weder die Zugehörigkeit zu
einem Allgemeinbegriff ihr Wesen erschöpft, noch jedes Herausragen oder
Abweichen von ihm sie ganz der Jurisdiktion desselben entzieht.
Dein
Schematismus, der die Individualität ohne Weiteres unter den einmal
gegebenen Begriff oder Norm beugt, steht, im Theoretischen wie im
Praktischen, der Schematismus gleichsam mit negativem Vorzeichen
gegenüber, der aus der blossen Tatsache der Individualität schon die
Befreiung von jeder allgemeinen Normierung folgert.
Dem
gegenüber ruht der kategorische Imperativ auf der Voraussetzung, dass
allerdings eine einzelne Seite einer Situation hinreichend bedeutsam
sein kann, um den Handelnden, so individuell er im Übrigen sei, ganz zu
bestimmen, und dies eben ist praktisch von der grössten Wichtigkeit.
Dass
ein allgemeines Gesetz uns bestimmen soll, bedeutet, dass aus der
Unendlichkeit von Qualitäten, Beziehungen, Tendenzen, die in jedem
Augenblick unsere Individualität zusammensetzen, nur ein bestimmbarer,
abgegrenzter Teil sittlich wirksam ist, gegen den die Ansprüche des
Übrigen kein Recht besitzen.
Es
quillt demnach nicht aus jedem Partikelchen unserer Persönlichkeit ein
besonderes Sollen, die logische Gleichberechtigung aller unserer
Beziehungen bedeutet nicht ihre sittliche, ja selbst die absolute
Graduierung ihrer Werte kann praktisch nicht aufrecht erhalten werden,
sondern irgendwo liegt eine Grenzlinie, diesseits deren das schlechthin
Bestimmende, jenseits deren das als sittlicher Bestimmungsgrund
Irrelevante steht.
Das
ist der Sinn der Gesetzmässigkeit, die der kategorische Imperativ
ausspricht: bei jeder Aufforderung zur Tätigkeit müsse sich eine
Totalität von Bedingungen auffinden lassen, die die eine Art der
Tätigkeit (<53) vielmehr als die andere zur Pflicht machen; an wem
diese Bedingungen sich vereinigt finden, für den entsteht die Pflicht
zu jener Tätigkeit, gleichviel wer oder was er sonst sein mag.
Alle
individuellen Umstände, die ausserhalb dieses Kreises liegen,
vermindern oder verschieben diese Verpflichtung nicht. Es
scheint nun freilich ein identischer Satz, dass alle Verhältnisse
ausser denen, die die Pflicht aus sich hervorgehen lassen, ohne Einfluss
auf sie sind.
Allein
das Wesentliche ist, dass dieser begriffliche Unterschied in der
Wirklichkeit existiert - ungefähr wie es begrifflich.
Selbstverständlich sein mag, dass, wenn von zwei Menschen mit gleichen
Begierden nur der Eine das Objekt ihrer Befriedigung besitzt, sich der
Wille des Anderen auf dieses Eigentum des Einen richten wird - während
es doch zugleich keineswegs selbstverständlich ist, dass dieses
Verhältnis in der wirklichen Welt vorkommt.
Es
ist durchaus nicht logisch zu erweisen, vielmehr eine höchst
wesentliche synthetische Tatsache, dass sich für jede Pflicht ein Kreis
von Faktoren feststellen lässt, der seinen Anspruch unabhängig von
einer besonderen Persönlichkeit geltend macht, an der er sich findet.
Indem
der kategorische Imperativ die Allgemeinheit des Gesetzes fordert, dem
man sich unterordne, stellt er die Forderung: sondere die nicht
einflussreichen Bestimmungen deiner Lage von den einflussreichen - und
setzt voraus, dass ein solcher Unterschied sachlich bestehe.
Als
Persönliches kat
exoochen
erscheinen nun immer jene erstgenannten Bestimmungen und deshalb
enthält der kategorische Imperativ den Anspruch auf eine moralische
Gesetzgebung "ohne Ansehen der Person".
Durch
die Voraussetzung jenes Unterschiedes gewinnt er die Möglichkeit, die
gleiche Norm auf eine Mehrheit von Personen anwenden zu dürfen, und
also eine reale Ausführbarkeit der Gleichheit vor dem Gesetz.
Die
Kantische Formel sagt nur diese letztere aus. Während
sonst die Morallehre befiehlt:
handle dem und dem Gesetz gemäss, zeigt jene Formel ein feines
Verständnis dafür, dass man unmöglich mit einem einzelnen Gesetz die
Mannigfaltigkeit der Verhältnisse richtig treffen kann. (<54 )
Man
soll also so handeln, wie es wenigstens Gesetz sein könnte, wenngleich
es aus irgend welchen Gründen noch nicht als Gesetz ausgesprochen ist.
Die
Formel ist also nur ein weiterer, den speziellen Inhalt nicht
präjudizierender Ausdruck dafür, dass sich jede Handlung unter ein
allgemeines Gesetz zu fügen hätte.
Ein
allgemeines Gesetz aber ist nur dadurch möglich und wirkungsvoll, dass
in der als Ganzes unvergleichbaren Lage des Einzelnen ein Teil als
unqualifiziert, die sittlichen Konsequenzen derselben zu bestimmen,
ausgeschaltet wird. Dies
ist nicht nur die Voraussetzung, unter der allein eine Vielheit von
Menschen sich unter einer und derselben moralischen Gesetzgebung
zusammenfinden kann, sondern sie bedingt auch Gleichmässigkeit und
Einheitlichkeit der sittlichen Lebensführung der Einzelnen.
Denn
die fortwährend wechselnden Lagen, die formenreiche Entwicklung der
äusseren und der inneren Zustände und die noch viel mannigfaltigere
der Verhältnisse zwischen diesen beiden - würde die Durchführung
einer sittlichen Maxime, das Einhalten eines von eine in sittlichen
Ziele bestimmten Weges illusorisch machen, wenn die Individualität
jeder momentanen Lage, die noch nicht dagewesene Kombination ihrer
Elemente, uns jedes Mal vor eine völlig neue sittliche Entscheidung
stellte; auch hier müssen wir, wie bei der auf mehrere Individuen
bezüglichen Frage, gewisse Abschnitte der jedesmaligen Lage für
sittlich gleichgültig erklären, damit dasjenige, was verschiedenen
gemeinsam ist, auch eine gleichartige Wirkung, und die Norm einen mehr
als punktuellen Geltungsbereich im Leben des Individuums gewinne.
(<55 )
Besteht
so die Gleichheit vor dem moralischen Gesetz in dem Ausschluss der die
eigentliche Individualität des Falles bildenden Umstände, fordert sie,
wo die Bedingungen des Gesetzes zutreffen, seine Erfüllung,
gleichgültig gegen alle Bestandteile der Situation, die jenseits der
durch dasselbe gezogenen Grenzlinie liegen - so scheint dies Gesetz in
grosse Nähe des juristischen Gesetzes zu rücken, und zwar gerade nach
der Seite hin, auf der dieses in die summa iniuria übergehen kann.
Die
Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet nämlich keineswegs die Gleichheit in
dem Gesetz, ja dieses kann seinem Inhalt nach die grösste Ungleichheit
aussprechen. Wenn
einmal gesetzlich bestimmt ist, dass eine Qualität M dem Individuum,
welches sie besitzt, ein Recht P verleiht, das in einer Verpflichtung p
aller Anderen gegen jenes Individuum besteht, so mag zwischen M und P
ein noch so geringer vernunftmässiger Zusammenhang stattfinden, ohne
dass die Gesetzmässigkeit dieses Zustandes anzuzweifeln wäre, wenn nur
wirklich M allein es ist, auf Grund dessen P beansprucht wird, und die
übrigen im Gesetze nicht vorgesehenen Eigenschaften und Verhältnisse
des Bevorrechteten wie der Verpflichteten keinen Einfluss auf ihre hier
in Frage stehenden Beziehungen ausüben.
Sobald
nur die zum Gesetz gewordene Verbindung zwischen M und p in objektivem
Sinne besteht, d. h. unabhängig von aller sonstigen Individualität der
betreffenden Personen, so ist die Gleichheit vor dem Gesetz hergestellt;
sie hat nichts damit zu tun, dass uns der Inhalt dieses Gesetzes, an
einem anderweitigen Massstab gemessen, als die Sanktion der grössten
Ungleichheit erscheint.
Der
Brahmine kann sehr wohl wollen, dass sein Vorrecht vor dem Paria
allgemeines Gesetz sei; es enthält nicht den geringsten Widerspruch in
sich, sondern nur eine Bedingung, der sehr wohl allgemein nachgekommen
werden kann.
Die
Gleichheit vor dem Gesetze würde dann ihre vollständige Erfüllung
finden, wenn dem Brahminen diese Rechte, nicht mehr und nicht weniger,
gewährt würden, und zwar ganz ohne Alterierung durch alles
Individuelle, das er ausser dem Brahminentum besitzt, und wenn ebenso
der Paria nicht auf Grund von Gunst oder Ungunst, die ihm als
Persönlichkeit zu teil werden, in seinen Pflichten erleichtert oder
beschwert wird. (<56 )
Die
Gerechtigkeit, die darin besteht, dass eine einmal legalisierte
Benachteiligung wenigstens nicht überschritten, sondern geübt wird
ohne Ansehen der Person, soweit sie nicht von den im Gesetze selbst
vorgesehenen Bestimmungen getroffen wird - diese fällt bei näherem
Hinsehen mit jener anderen zusammen, der man es gerade zum Vorwurf
macht, dass sie ohne Ansehen der Person verfährt, d. h. der starr
formalistischen, die keine aus den besonderen Verhältnissen der Person
fliessenden mildernden Umstände kennt, keine Modifikation des
Buchstabens des Gesetzes je nach der Individualität des Falles.
Scheinbar
sind beides entgegengesetzte Fälle; die Ungerechtigkeit des Gesetzes -
nicht seiner Ausführung! - liegt im ersten Falle in einer zu starken
Berücksichtigung der Person, im zweiten in einer zu geringen
Berücksichtigung derselben.
Allein
die Bedeutung, des ersteren ist doch, dass es gewisse allgemeine, von
uns anerkannte Gesetze gibt, mit denen sich die Bevorzugung des
Brahminen vor dem Paria nicht verträgt; diese sanktioniert ein
Verhältnis, das allgemeineren Sanktionen widerspricht.
Und
im zweiten Falle appellieren gleichfalls die Verhältnisse und
Qualifikationen der Person an allgemeine Gesetze, die mit dem an ihnen
vollzogenen im Widerspruch stehen; das Persönliche erscheint insofern
als Allgemeines, die Ungerechtigkeit des Gesetzes besteht darin, dass
nur ein Teil ihrer Gesamtverhältnisse das Fundament des Anspruchs an
sie oder des Urteils über sie bildet.
So
zeigt sich denn hier die Forderung des Individualismus als identisch
mit der des Allgemeinheitsprinzips. (<57 ) Wo
wir dem Einzelnen ein Ausnahmerecht gegenüber dem Gesetze zusprechen,
da geht dies, wenn es eben ein Recht sein soll, doch auch auf Gesetze
zurück, die nur aus anderen Ordnungen stammen; es appelliert gleichsam
über den Kopf des einzelnen Gebotes hinweg an die höchsten
Allgemeinheiten und stellt sich als Verkörperung der Gebote dieser
heraus, gegenüber den mittleren Einzelgeboten, die den ganzen Menschen
nur aus irgend welchem Partiellen heraus bestimmen wollen., das
beschränktere Gesichtspunkte an ihm als allgemein verbindlich erkannt
haben.
Es
hat die engste Beziehung hierzu, wenn die Komplikation insbesondere des
modernen Lebens zu der Maxime geführt hat, man müsse sich im
praktischen, gleichviel ob direkt ethisch oder anderweitig bestimmten
Handeln vor "Prinzipien" hüten, sondern sich ausschliesslich
von Fall zu Fall entschliessen.
Zweifellos
bedeutet auch dies nur, dass die Eigenart, in der die Elemente des
Lebens jede Situation zusammensetzen, die Gesamtnorm für den einen Fall
nicht mechanisch auf den anderen zu übertragen gestattet. Soll
es aber überhaupt zu einer Entscheidung kommen, so muss sie doch nach
irgendwie normativen Gesichtspunkten erfolgen, da sie sonst sinnlos
wäre.
Dies
können also nur die höchsten und letzten Zwecke sein, mit denen der
einzelne Fall unmittelbar in Beziehung gesetzt werden soll, statt sich
an eine schon vorher geprägte Regel zu wenden, die sich mit seiner
Individualität eben nur teilweise deckt.
Jene
letzten Prinzipien sind nur so sehr unbewusst und selbstverständlich,
dass es scheint, wenn man die mittleren Prinzipien überspringt, um sie
wirken zu lassen, als sähe man überhaupt von Prinzipien ab und
entschiede den Fall rein aus sich selbst, was angesichts seines
teleologischen Charakters und seiner Einordnung in die Gesamtheit der
Lebensinteressen ein unbedingter Widerspruch wäre.
Für
das direkt Sittliche aber liegt es nun auf der Hand, dass die Grenze
zwischen denjenigen individuellen Eigenschaften oder Beziehungen, die in
höchsten, über die nächste Pflicht hinausliegenden Normen einen
Rechtsgrund ihrer Behauptung finden, und denen, die abseits des geltend
gemachten Pflichtanspruchs stehend, ihn nicht modifizieren dürfen -
dass diese Grenze nicht prinzipiell, sondern nur von Fall zu Fall
festzusetzen ist. (< 58)
-
Die Erkenntnis also, dass es eine Reihe von individuellen Umständen
gibt, die dem allgemeinen Gesetz gegenüber gleichgültig sind und keine
Ausnahme von ihm begründen, verhindert nicht die Ungerechtigkeit, dass
in ihre Kategorie solche eingereiht werden, die tatsächlich zu höheren
Normen in Beziehung stehen und berechtigt wären, zu den Faktoren der
schliesslichen sittlichen Entscheidung gerechnet zu werden.
Die
sittliche Normierung auch des individuellsten Falles durch ein
allgemeines Gesetz oder, was wir als Fundament und Korrelat dazu erkannt
haben, die Gleichgültigkeit einer Reihe individualisierender
Bestimmungen jedes einzelnen Falles für die aus ihr folgende sittliche
Entscheidung - ist eine allerdings für die Wissenschaft vom ethischen
Leben höchst wichtige Erkenntnis, aber nicht, wie Kant meint, ein
unmittelbar und jeden Fall entscheidendes praktisches Prinzip.
Als
solches hat es nur eine ganz allgemeine und heuristische Bedeutung,
indem es dein sittlichen Menschen aufgibt, auch in den individuellsten
Situationen nach dem Allgemeinen zu suchen, das sein Verhalten normiere.
Der
kategorische Imperativ gibt den sehr bedeutsamen Gedanken, dass von den
Bestimmungen, deren Synthese die Individualität bildet, ein Teil uns
allgemeinen Gesetzen einfügte und der andere praktisch irrelevant
bleiben müsse; so vereinigt er die Individualität als Realprinzip mit
der Allgemeingültigkeit des Gesetzes als Normierungsprinzip.
Aber
er bleibt selbst in diesem Allgemeinen, und wir sind darum im einzelnen
Fall um nichts sicherer, wo denn nun die Linie liegt, die uns der
kategorische Imperativ nur suchen, aber nicht finden lehrt.
Den
kategorischen Imperativ mit den Forderungen der Individualität zu
vereinigen, könnte man noch auf dem folgenden Wege versuchen, zu dem
uns das oben herangezogene Gleichnis der bewegten Körper leitet. Die
Gestaltung oder Bewegung in der Natur ist von völlig individueller
Form, keine fällt, als Ganzes betrachtet, unter eine allgemeine Regel.
(<59 )
Dennoch
zweifeln wir nicht, dass sie von allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, und
ihre Individualität besteht nur in der Kreuzung eben dieser. -
Wäre einerseits unsere Kenntnis der Naturgesetze, andrerseits unsere
Fähigkeit, die Erscheinungen in ihre Bestandteile aufzulösen,
vollkommen, so würden wir auch die individuellste Erscheinung bis in
ihre letzte Spitze hinein als gesetzlich notwendig begreifen.
Alle
Individualität wird also von mannigfaltigen Allgemeinheiten gebildet,
die sich zusammenfinden und jederzeit wieder herauserkannt, werden
können. Die
Dinge sind also nur in demselben Masse unvergleichbar, in dem sie nicht
hinreichend analysiert sind.
Individualität
ist nur Komplikation, und wenn wir die Erscheinungen in ihre einfachen
Teile auflösen, so ergibt sich, dass solche, deren Totaleindrücke die
heterogensten und exzeptionellsten waren, doch aus den für Alle
gleichen Gesetzen bestimmt werden. Wie
es sich in dieser Hinsicht mit den natürlichen Objekten und Gesetzen
verhält, so vielleicht auch mit denen des Sollens.
Wenn
wir jemanden zu einer ganz besonderen Handlungsweise verpflichtet, oder
wenn wir ihn oder seine augenblickliche Lage den Gesetzen enthoben
glauben, die wir sonst als die allgemein gültigen betrachten, wenn also
derjenige Fall eintritt, in dem uns die Formel des kategorischen
Imperativs nicht genügt - so ist es wohl möglich, dass dies scheinbar
ganz individuelle Sollen doch nur aus einer Komplikation ganz
allgemeiner Gesetze besteht.
Für
die komplizierten Erscheinungen der äusseren Natur sind doch
gleichfalls keine Gesetze aufzufinden, welche sie als Totalitäten
beherrschten; wirkliche und wirkende Gesetze regieren nur die letzten
Bestandteile.
Es
gibt kein besonderes Gesetz des Lebens oder der organischen Entwicklung,
sondern was man so bezeichnet ist nur der gewöhnlich eintretende Erfolg
des Zusammenwirkens derjenigen primären, chemischen, physikalischen und
physiologischen Gesetze, die die Bewegungen der den organischen Körper
bildenden kleinsten Teile bestimmen. (<60)
Aus
analogem Grunde gibt es auch keine Gesetze der Geschichte; die
Geschichte ist ein ausserordentlich komplizierter Prozess, und die
Kräfte, die ihn leiten, äussern sich nicht gleichsam über den Kopf
seiner physischen und psychischen Elemente hinweg, sondern sie
beherrschen diese nach bestimmten Regeln, und das ganze Spiel der
Geschichte ist die Folge, die Erscheinung oder die Synthese dieser
primären Gesetzmässigkeiten, geht aber nicht aus einem besonderen,
gerade auf diesen Effekt gerichteten Gesetz hervor.
Die
Annahme eines solchen würde ein ganz überflüssiger Dualismus sein, da
ja das Ganze nur aus seinen Teilen besteht, die Bewegung des Ganzen also
der Bewegung der Teile gleich ist und diese eben schon ihre primären,
das Verhältnis des Einfachen zum Einfachen regulierenden Gesetze
besitzen.
In
ähnlicher Weise nun kann man sich denken, dass es für die
komplizierten Situationen des Lebens keine besonderen sittlichen Gesetze
gäbe ; eine Mannigfaltigkeit von Ansprüchen und Restriktionen, von
Rechten und Pflichten charakterisiert unsere Lage fast in jedem
Augenblick und macht sie, als Ganzes, mit jeder anderen unvergleichbar ;
ein allgemeines Gesetz also, das sich gerade auf sie bezöge, ist nicht
vorhanden, und darum suchen wir so oft umsonst nach der einheitlichen
Maxime, die unser Verhalten regele.
Nach
der Darstellung Kants scheint sich freilich für jeden Fall ein
mögliches Gesetz ohne Weiteres ergeben zu sollen, und hiergegen gelten
alle schon betonten Einwände des Individualismus.
Wohl
aber lässt sich denken, dass sich allgemeine Gesetze, gemäss der
Formel des kategorischen Imperativs, für die einzelnen Bestandteile,
Forderungen und Triebe finden lassen, deren Synthese eben die
Individualität des Falles ausmacht.
Von
diesem Gesichtspunkte aus bedürfte es nicht einmal der Ausscheidung von
sittlich gleichgültigen individualisierenden Momenten der Situation, um
für diese die Allgemeingültigkeit des Gesetzes zu retten. (<61) Man
könnte von ihm aus ruhig zugeben, dass es keine Beziehung, keinen
Bestandteil der Lage gibt, der nicht für die in ihr geschehende
Handlung von irgend einem Belange wäre.
Es
liesse sich hier an die Ausmachungen über das sittlich Gleichgültige
im 1. Kapitel erinnern; wir sahen dort, dass es schlechthin
gleichgültige Handlungen nicht gibt, sondern die vermeintliche
Gleichgültigkeit der einzelnen Handlung nur ihre Gleichwertigkeit mit
einer Anzahl anderer bedeutet, deren Gesamtheit keineswegs gleichgültig
ist, sondern als Gesamtheit das Sollen einschliesst.
Und
entsprechend könnte man nun folgendes sagen: Wenn irgend ein Moment
unserer Lage als sittlicher Bestimmungsgrund unseres Handelns irrelevant
erscheint, so bedeutet dies nur, dass dasselbe einem grösseren Kreise
von Momenten angehört, die durchgängig selbstverständlich gewordene
Bestandteile des Lebens sind.
Den
Anschein der Gleichgültigkeit erhalten sie, weil sie die allgemeine
Atmosphäre bilden, die auf jedes spezielle Ereignis in gleichmässiger
Weise einfliesst, oder weil sie nur auf dem Umweg über die
Gesamtstimmung der Persönlichkeit sittlich bedeutsam werden.
Dadurch
scheinen sie von der momentanen Entscheidung weit abzuliegen. Tatsächlich
können sie in solchen Fällen wohl durch bestimmte andere ersetzt
werden; es ist oft irrelevant, ob diese oder jene Bestimmung, allein
dass überhaupt Bestimmungen aus diesem Kreise vorhanden sind, das ist
keineswegs gleichgültig.
Wie
die Gleichgültigkeit von Handlungsweisen immer nur eine relative ist
und nur sagen will, dass es gleichgültig ist, ob ich a oder b tue,
nicht aber, ob ich überhaupt eines von diesen beiden tue : so bedeutet
auch die ethische Gleichgültigkeit eines Umstandes für das Handeln
nur, dass eine grössere Anzahl von Umständen vorhanden ist, von denen
es für die Entscheidung gleichgültig ist, ob der eine oder der andere
wirkt; dass aber überhaupt einer aus diesem Kreise da ist, hat
jedenfalls Bedeutung für die Handlung. (<62 )
Gewinnen
wir so ethische Folge und Bedeutsamkeit für jedes tatsächliche
Bestandstück des Lebens, so ergibt sich nun weiter aus unseren obigen
Ausmachungen die Möglichkeit, jede sachliche oder persönliche
Individualität im Sittlichen als eine Kombination einfacherer
Bedingungen oder Beziehungen anzusehen, die ihre Bestimmbarkeit durch
allgemeine Gesetze auf die Totalität des höheren, aus ihnen
zusammengesetzten Gebildes übertragen.
Wir
münden hiermit an dem allerdings leicht missverständlichen, richtig
verstanden aber vielleicht wichtigen Begriff eines ethischen Atomismus.
Es
ist im Theoretischen der unvergleichliche Vorteil der atomistischen
Anschauungsweise, dass sie die Eigenart der Erscheinung, der sie
unverletzten, durch keinen komplexen Begriff präjudizierten Bestand
gewährleistet, allein in die Form verlegt, ihren substantiellen Stoff
dagegen aus den verschiedenartigsten Formungen heraus als den gleichen
und denselben wesentlichen Bedingungen unterworfenen erkennt.
Vielleicht
gelingt es entsprechend im Ethischen, in dem Individuellen der
sittlichen Situation als solchem die blosse synthetische Form zu
erkennen, in der sich überall gleiche Grundbedingungen, Grundansprüche
zusammenfinden.
Die
einfachen Forderungen der Hilfeleistung, der Treue, der Pietät u. a.
bilden vielleicht die Elemente, aus deren Potenzierung und Verflechtung
die schwierigsten und vergeistigtsten ethischen Besonderheiten
erwachsen.
Dann
würde, der kategorische Imperativ, d. h. die Forderung, nicht nach
schlechthin individuellen, sondern allgemeingültigen Normen zu
verfahren, sich nicht gegen die individuelle Lage als Ganzes richten,
an der er so oft wirkungslos abprallt, sondern gegen ihre einzelnen
Momente, die in der Totalerscheinung vielleicht verschwinden, wie die
Atome als solche in dem sichtbaren Körper, von denen aber dennoch das
Sein des letzteren so getragen wird und deren Gesetzlichkeiten seine
Bewegungen so bestimmen, wie es in unserem Fall bezüglich des Sollens
stattfindet. (<63 )
Vielleicht
gibt es einige einfache Beziehungen zwischen den Menschen, deren
Verbindungen den ganzen Reichtum ethischen Sollens aus sich entfalten ,
ähnlich der Fülle organischer Verbindungen, deren Zusammengesetztheit
aus wenigen Elementen uns die Chemie lehrt.
Auch
für manche Zweige des Ästhetischen, z. B. für die Lyrik, kann man
wohl nachweisen, dass in ihrer gesamten Geschichte sich nur eine geringe
Anzahl von Motiven entwickelt, deren Kombinationen ihren noch
unerschöpften Reiz doch nur den elementaren, jenen Motiven
entsprechenden Gefühlen verdanken; nur in Mass und Mischung dieser, in
dem Verhältnis der Bewusstheit und der Unbewusstheit ihrer Mitschwebung
liegen die Differenzen ihrer ästhetischen Bedeutung.
Die
Kardinalfrage nun, an der die Rettung des ethischen
Allgemeinheitsprinzips vermöge des ethischen Atomismus hängt, ist die:
entsteht ein spezifisch neues Sollen durch die eigentümliche Formung,
welche die einfachen sittlichen Elemente im Individuum annehmen, oder
ist vielmehr das in jeder Situation geltende Sollen gleich der Summe
resp. dem Ausgleichungsresultat derjenigen Forderungen, welche sich aus
der Zerlegung der Situation in ihre elementaren Beziehungen für jede
dieser letzteren ergeben? Die Beantwortung dieser Frage kann hier nicht
versucht werden, weil sie nur durch die detaillierte psychologische und
historische Untersuchung der einzelnen Pflichten und Pflichtenkonflikte
möglich ist, also an den Schluss der Moralwissenschaft und nicht in
ihre Einleitung gehört.
Ihre
Bejahung würde aber den Individualismus mit dem kategorischen Imperativ
prinzipiell versöhnen, wenn sie auch die praktische Entscheidung, wie
denn nun im einzelnen Fall zu handeln wäre, nicht immer eindeutig geben
könnte.
Denn
wenn die Unsicherheit der Forderungen auch dadurch beigelegt wird, dass
man das Rätsel der Individualität in eine Summe von Elementen
auflöst, deren jedes allgemeinen, unindividuellen Gesetzen unterliegt,
so ist nun um so weniger gewährleistet, dass die Ansprüche dieser
mannigfaltigen letzteren durch irgend eine einzelne Handlung zugleich
befriedigt werden können.
(<64)
Auch unter den einfachsten menschlichen Beziehungen gibt es genug des
Dualismus und der Entgegengesetztheit, um es unwahrscheinlich zu
machen, dass die einfache Handlung, zu der man sich doch schliesslich
entschliessen muss, ihnen allen gleichmässig genugtue.
Der
Individualismus und das Prinzip der Allgemeingültigkeit im Sittlichen
würden sich durch diese ethische Atomistik also wohl nach der Seite der
Forderungen hin, nicht aber nach der der Erfüllbarkeit dieser
Forderungen zur Versöhnung bringen lassen.
___________________________
Es
ist in der bisherigen Erörterung betont worden, dass der kategorische
Imperativ die Gleichheit vor dem moralischen Gesetz ausspricht: die Norm
unseres Verhaltens dürfe keine individualistische sein, sondern eine
solche, die für alle in der gleichen Lage befindlichen Individuen die
gleiche ist.
Als
zweites Wesentliches tritt die Bestimmung hinzu, dass dies nicht nur ein
analytisches Erkenntnis, eine logische Konsequenz wäre, sondern dass es
in der sittlichen Ordnung wirklich für jeden Fall ein derartiges
allgemeines Gesetz gebe.
Da
aber in der schon vorliegenden Gesetzgebung - rechtlichen oder
moralischen - nicht jede Eventualität bereits berücksichtigt ist, so
müssen wir uns das Gesetz derselben selbst konstruieren.
Und
zwar geschieht dies einfach so, dass wir uns unsere projektierte
Handlungsweise als die allgemeine, durchgehende, denken und uns fragen,
ob wir mit dem dann resultierenden Zustand der Dinge einverstanden
wären, ob wir ihn wollen können.
Dieser
Ausdruck nun, ob wir unsere Handlungsweise als allgemeines Gesetz wollen
können, ist an sich nicht eindeutig und wird es auch nicht durch die
Beispiele, die Kant gibt. (<65)
Er
bezieht sich einerseits auf die reale Verfassung, die sich, erwünscht
oder unerwünscht, aus der Verallgemeinerung unseres Handelns ergebe: ob
der soziale Kreis durch dieselbe erhalten oder zerstört, ob das
Allgemeinwohl gehoben oder geschädigt wird.
An
einem Endzweck also, zu dem insoweit unser Tun nur als Mittel erscheint,
an den realen Folgen seiner Verallgemeinerung sobald die natürliche
Verkettung der Dinge sie aufgenommen und zu entschiedener Beziehung zu
unserem eigenen und dem sozialen Wohl fortgebildet bat, ergibt sich die
Zulässigkeit der Handlung; und so haben wir in dem Bisherigen jenes
"Wollen können" verstanden.
Allein
der strikteste und bedeutendste Sinn des Ausdrucks ist doch noch ein
anderer. Ob
ich eine fragliche :Handlungsweise als allgemeine wollen kann, war
bisher abhängig davon, ob ich einen Endzweck, persönlicher oder
sozialer Natur, will; will ich ihn, dann ist freilich unbedingt gegeben,
ob ich eine Handlung, die im Verhältnis des Mittels dazu steht, wollen
kann oder nicht.
Ob
ich ihn aber will, ist nicht in gleichem Masse sicher, und mit der
psychologisch sehr wohl möglichen Verneinung davon fällt dann das
ganze Kriterium dahin. Dasselbe
erscheint also nur dann ganz streng, wenn das Wollen-können nicht mehr
von der Satzung eines bestreitbaren Endzwecks abhängig, sondern wenn
unmittelbar darüber zu entscheiden ist.
Nur
wenn es Handlungen gibt, die man überhaupt nicht im Stande ist als
allgemeingültige zu wollen, spricht jene Norm eine unbedingte Bindung,
wenigstens prohibitiv, aus.
Welchen
Sinn kann nun aber diese unmittelbare Unmöglichkeit des Wollens
haben? Psychologischen Sinn keinesfalls. Denn
es gibt nichts, was ich nicht unter gewissen inneren und äusseren
Bedingungen wollen könnte; in der Skala zwischen dem harmonischen, zu
der letzterfassbaren Vernunft der Dinge abgestimmten Wollen des Genies
bis zu dem Wahnsinnigen, der durchaus will, dass alle Menschen ihn als
Kaiser von China ehren oder ihm zugeben, dass drei mal drei acht sei -
in dieser Skala hat jedes überhaupt ausdenkbare Wollen Platz. (<66)
Irgend
eine Bedingung muss also doch hinzugefügt werden, um die Ausschliessung
eines Wollens zu ermöglichen. Es
handelt sich nur darum, eine aufzufinden, die wenigstens in sich den
Charakter der Unbedingtheit trägt. Für
den menschlichen Geist sind dies nun die logischen Formen des Denkens.
Von
allem materialen Weltinhalt kann ich absehen, ihn in Gedanken in sein
Gegenteil verkehren und dieses Gegenteil wollen, Ich kann mir aber
nicht denken, dass der einmal gesetzte Begriff zugleich sein Gegenteil
sei; das logisch, d. h. absolut Unmögliche kann ich als vernünftiger
Mensch nicht wollen, weil eben der Ausschluss solchen Wollens meine
Vernünftigkeit bedeutet.
Weil
die logische Forderung eine unbedingte ist, darum wird das Wollen durch
sie die bestimmteste Grenze erhalten, die man ihm überhaupt setzen
kann; involviert das "Wollen können" überhaupt eine
Bedingung, weil es, wenn völlig bedingungslos, kein Objekt überhaupt
ausschliesst, so ist die Bedingung logischer Widerspruchslosigkeit
jedenfalls diejenige, unter der es sich der Unbedingtheit am meisten
annähert.
Das
Wollen-können einem Objekte gegenüber würde also bedeuten, dass man
logisch imstande ist, es zu wollen, dass dieses Wollen möglich ist,
ohne den Satz des Widerspruchs zu verletzen.
Und
tatsächlich steht die Deutung der Kantischen Formel nach dieser Seite
hin neben der bisher angeführten; diejenige Handlung sei die richtige,
deren Verallgemeinerung logisch möglich sei; diejenige die unsittliche,
die, als allgemeines Gesetz gedacht, sich in einen begrifflichen
Widerspruch verwickele.
Kants
klassisches Beispiel ist der Fall der Depositenunterschlagung. Es
soll ein Depositum in meinen Händen sein, dessen Eigentümer verstorben
ist, ohne einen Beweis der Deponierung zurückzulassen, und das ich mir
also ohne Besorgnis äusserer Strafe aneignen könnte. (<67)
Ob
eine solche Handlungsweise sittlich wäre, soll sich aus der Frage
ergeben, ob sie wohl die Form eines Gesetzes anzunehmen vermag: dass
Jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm
Niemand beweisen kann.
Ich
werde, fährt Kant fort, gewahr, dass ein solches Prinzip, als Gesetz,
sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, dass es gar kein
Depositum gäbe. Diese Handlungsweise würde, in der Form eines allgemeinen Gesetzes, sich
selbst aufreiben.
Der
Begriff eines Depositums ist der eines Wertobjekts, das Jemandem auf die
Bedingung der Rückgabe hin anvertraut worden ist; die Unterschlagung
desselben widerspricht also seinem Begriffe, und wenn sie allgemein
wäre, würde sie diesen Begriff überhaupt aufheben.
Die
Forderung, dass man sich dies erst als verallgemeinerte Handlungsweise
denken solle, um dann den Widerspruch zu erkennen - während doch
tatsächlich der innere Widerspruch schon in der einzelnen Handlung
liegt - hat wohl nur die Grundlage, dass erst ihre
Vervielfältigung den Begriff hervortreten lässt, und der logische
Widerspruch eben als Widerspruch gegen einen Begriff vorgestellt wird.
Erst
indem die Handlungsweise, als durchgehende gedacht, sich widerspricht,
kann man mit Sicherheit die Unzulässigkeit ihres einzelnen Vorkommens
ableiten. -
Noch deutlicher, als bei der Unterschlagung eines Depositums liegt der
Fall bei der Lüge.
Der
Begriff der Aussage involviert es, dass sie wahr sei, dies ist die
unausgesprochene, selbstverständliche Voraussetzung, unter der allein
es einen Sinn hat, etwas auszusagen.
Der
innere, begriffliche Widerspruch, der demnach in der Lüge liegt,
verkörpert sich äusserlich darin, dass bei der Verallgemeinerung
derselben es überhaupt keine Aussagen in dem bisherigen Sinne mehr
geben würde; sobald wir über den einzelnen Fall der Lüge hinaus sie
uns als allgemeine Norm denken, erweist sich ihre innere Unmöglichkeit
sofort an ihrer äusseren.
Ich
kann unmöglich wollen, dass allgemein gelogen wird, d. h. dass eine
Aussage, die die Form der Wahrheit hat, ihr Gegenteil zum Inhalt habe,
so wenig wie ich, wenn ich will, dass A sei, zugleich wollen kann, dass
A nicht sei. (<68)
Der
Ton liegt auf dem Können: ich kann es ebenso wenig, wie ich das
schlechthin Unlogische als wirklich, wie ich die Kugel als nichtrund
denken kann. Diese
Forderung, das Handeln durch die Widerspruchslosigkeit seiner Inhalte
und die logischen Konsequenzen der Begriffe bestimmen zu lassen, liegt
in der Richtung des spinozistischen Rationalismus.
Für
Spinoza schien es undenkbar, dass man dasjenige missbilligen sollte,
dessen logische Notwendigkeit man einsieht. Dem,
was wir vollkommen begreifen, dürfen wir eben damit auch das Recht der
Existenz nicht bestreiten, so wenig, wie wir der Kugel das Recht
bestreiten können, rund zu sein, oder so wenig wir wollen können, dass
sie es nicht sei.
Dass
so dasjenige, was nach dem Generalbass des Verstandes harmoniert, auch
für Gefühl und Willen annehmbar sei, ist nur ein niederer Grad dieser
Deutung des kategorischen Imperativs, der zufolge die innere logische
Harmonie der Tat sogar über ihr Gesolltwerden entscheidet.
Es
ist dasselbe Denkmotiv, das Spinoza zur Entgegensetzung zwischen dem
endlichen, beschränkten Wesen der Dinge und ihrer absoluten Entfaltung
und unbeschränkten Selbsterhaltung bewegt.
Jenes
zwingt ihnen eine teilweise Nicht-Existenz auf, sie können in dem
fortwährenden Bestimmtwerden durch fremde Kräfte nicht voll das sein,
wozu sie an und für sich, man kann direkt sagen: ihrem Begriffe nach,
bestimmt sind, und was sie eigentlich, sub specie aeterni betrachtet,
auch sind.
So
trägt jeder Begriff der menschlichen Praxis in sich und seinen
logischen Folgen die Norm, nach dem unser Tun mit seinen
Verwirklichungen zu verfahren hat, der begriffliche Inhalt des Tuns
schliesst zugleich sein Sollen ein, der Widerspruch gegen Jenen ist
zugleich ein Verstoss gegen dieses. (<69)
Und
im letzten Grunde ist dies nur eine Ausgestaltung jener platonischen
Lehre, die zum dauernden Bestande der menschlich-geistigen Tendenzen zu
gehören scheint und in immer neuen Formen je eine Seite der Gegensätze
beherrscht, in die sich das intellektuelle Leben jeder Zeit spaltet: der
Lehre, dass jedem Dinge eine Idee entspreche, die einerseits seinen
Inhalt zeichnet, deren völlige Verwirklichung an ihm aber auch zugleich
sein Ideal bildet.
Ich
komme auf den eigentümlich bedeutsamen Sinn, den auch die realistische
Ethik in dieser Metaphysik finden kann, gleich zurück und bemerke über
die Bindung des Wollenkönnens an die begriffliche Widerspruchslosigkeit
das Folgende.
Es
ist ganz richtig, dass ich als Vernunftwesen nicht wollen kann, dass A
zugleich non-A, und dass ein zum Zurückgeben bestimmter Gegenstand
zugleich ein zum Zurückbehalten bestimmter sei.
Allein
dieser Widerspruch des Wollens gegen sich selbst entspringt doch nur,
sobald ich den Begriff oder Gegenstand will und dabei doch dasjenige
negiere, was in ihm logisch enthalten ist.
Wenn
ich das ursprüngliche Objekt selbst nicht will, so fällt jeder
Widerspruch fort. Es
ist genau der gleiche Fall, den Kant auf theoretischem Gebiet
gelegentlich des ontologischen Gottesbeweises so schlagend kritisiert
hatte. Gott
ist allmächtig, ist ein unbedingt wahrer Satz, weil im Begriff Gottes
die Allmacht liegt, die ich also ohne Widerspruch ihm nicht absprechen
kann.
Hebe
ich aber den Begriff Gottes selbst auf, so ist auch die Allmacht mit
aufgehoben, und aus ihrer Negierung entspringt gar kein Widerspruch. Spinoza
hat schon Recht, dass es einem nicht missfallen kann, dass die Kugel
rund sei; allein es könnte einem missfallen, dass überhaupt eine runde
Kugel sei.
Nur
unter der Voraussetzung, dass ich überhaupt Depots will, muss ich auch
wollen, dass sie zurückgegeben werden, hebe ich aber das Wollen des
Depots überhaupt auf, so ist auch die Verpflichtung der Rückgabe damit
ohne logischen Widerspruch aufgehoben. (<70)
Es
kann jemand gegen eine allgemeingültige Regel mit sittlichem
Bewusstsein verstossen, um eben durch den Erfolg davon zu beweisen, dass
das allgemeine Wollen dieser Regel ein falsches ist. Es
lässt sich z. B. denken, dass in einem Kreise das Ausgeben von
Depositen in einer sehr unvollkommenen und leichtsinnigen Weise
geschehe, und dass nun jemand, der aus irgend einem Grunde die äusseren
Folgen nicht fürchtet, in der Tat ein Depositum unterschlägt, um
wirklich dadurch zu bewirken, dass es solche Deposita künftig nicht
mehr gebe.
Ob
ich also so handeln soll, wie es dem Begriffe entspricht, hängt
offenbar nicht von dem Begriffe seinem logischen Inhalte nach, sondern
davon ab, ob ich die Realisierung des Begriffes will, weil sonst seine
Zerstörung nichts gegen sich hätte.
Also
selbst dieses ganz formale logische Kriterium enthüllt sich, wie jede
ethische Norm, als schliesslich abhängig von materialen Wertsetzlingen;
wenn in vielen im Vorigen erwähnten Fällen sich das ethisch
Erforderliche als physisches Mittel zu dem Endzweck enthüllte, so
handelt es sich hier zwar nicht um reale, aber um rationale Beziehung zu
einem solchen; abhängig aber von dessen schliesslicher Wertung bleiben
wir auch hier.
Statt
der Relation von Ursache und Wirkung ist nur die von Grund und Folge
eingetreten, der es ebenso wenig gelingt, die Bestimmung des ethischen
Sollens von der Zufälligkeit letzter Wertgefühle zu erlösen und an
beweisbare, rationale Notwendigkeiten zu heften.
Hätte
aber auch die logische Bestimmung des Sollens eine selbständige, von
aller materialen Bedingtheit unabhängige Bedeutung, so würde dieselbe
doch immer nur einen negativen Charakter tragen. Sie
würde uns lehren, welche Handlungen, gemäss dem Satze des
Widerspruchs, ausgeschlossen sind, während sie unter den übrig
bleibenden keine positive Auswahl träfe.
Es
gibt offenbar unzählige Handlungsweisen, die ich logisch durchaus als
allgemeines Gesetz
"wollen kann", die also nicht verboten sind, aber auch keine
sittliche Notwendigkeit besitzen. (<71)
Es
könnte z. B. sehr wohl allgemeines Gesetz sein, dass alle Menschen sich
wie die Quäker mit Du anredeten; trotzdem ich dies wollen kann, fühle
ich keine Pflicht, so zu handeln.
Die
Logik vermag auch in der Anwendung auf das Ethische nicht mehr, als in
der blossen Theorie. Sie
vermag bestimmte Vorstellungen auszuschliessen, aber sie kann keine
neuen gewinnen, die nicht in dem Material, mit dem sie arbeitet, schon
enthalten wären.
Denn
wenn man selbst ihr gemäss in dem Falle des Depositums das positive
Gebot ableitete, dass Depots wieder erstattet werden sollen, so enthält
doch auch dies offenbar nur das Verbot der Unterschlagung und kann nur
auf die zu Grunde liegende Möglichkeit und Befürchtung derselben hin
aufgestellt werden.
Wie
ich Unzähliges denken kann, das sich nicht widerspricht, aber dennoch
nicht wirklich ist, so kann ich Unzähliges wollen, das sich nicht
widerspricht, das aber darum noch nicht positiv sittlich ist; die Formel
des kategorischen Imperativs, bloss logisch ausgedeutet, führt nur zu
Verboten, nicht zu Geboten.
Dieser
Prohibitivcharakter des Sittengesetzes genügt um so eher, je einfacher
und primitiver die Verhältnisse sind, die es moralisch zu regeln gilt. Denn
in solchen pflegt das positive Verhalten derartig sozial und instinktiv
geregelt zu sein, dass es besonderer Impulse und Gebote nicht bedarf; je
weniger kompliziert und differenziert Menschen und Dinge sind, desto
enger knüpfen sich beide an das soziale Niveau, desto weniger
Veranlassungen treten für das Individuum ein, sich durch eigenartige
Imperative bestimmen zu lassen und sich in seinem praktischen
Bewusstsein über die einfache, selbstverständlich gewordene Norm zu
erheben.
Deshalb
genügt es bei primitiven Situationen und Umständen, die Grenze zu
bezeichnen, über die das Handeln nicht hinausgehen darf, während die
mangelnden Konflikte und die einfachen Bedürfnisse
des sozialen Körpers keine besonderen Vorschriften für das positive
Handeln veranlassen. (<72)
Darum
sind die frühesten Sittengebote, z. B. der Dekalog, wesentlich negativ,
darum enthält das Recht, das nur die primärsten Existenzbedingungen
der Gesellschaft sichern soll und als das ethische Minimum bezeichnet
ist, in individuell-ethischer Beziehung fast nur negative Bestimmungen,
darum endlich ist Kant genötigt, zur Exemplifizierung seines Prinzips
nur die allereinfachsten ethischen Situationen heranzuziehen und allen
eigentlichen Konflikt der Pflichten zu leugnen.
Es
gibt indessen eine Denkmöglichkeit, nach der auch aus jener blossen
Unterordnung des Handelns unter den Satz des Widerspruchs ein positives
Regulativ folgte.
Wäre
nämlich unsere ganze praktische Welt sozusagen begrifflich organisiert,
bestimmte jeder Begriff derselben aus sich heraus seine logischen
Konsequenzen mit völliger Sicherheit, so dass sich von jeder möglichen
Handlung wenigstens nach dem Satz des Widerspruchs ergebe, ob man sie
logischerweise wollen kann oder nicht: so würde sich der Kreis der
Handlungen, die ich wollen kann, so verengern, dass nur eine einzige
übrig bliebe, welche ich dann also sittlich wollen müsste.
Der
Satz: "was nicht verboten ist, ist erlaubt", würde sich dann
zu dem anderen zuspitzen: "was nicht verboten ist, ist
geboten" ; das logisch Mögliche wäre dann zugleich das sittlich
Notwendige, weil jede andere, diesem nicht gemässe Handlungsweise sich
als Widerspruch herausstellen müsste.
Ich
habe diesen Gedanken, vom Begriff des Erlaubten ausgehend, schon Bd. 1,
S. 39 berührt. Dort
sahen wir: Erlaubt ist jede einzelne Tat aus einem Kreise von
Handlungen, der als ganzer nicht bloss erlaubt, sondern geboten ist; das
sittlich Mögliche bezieht sich nur auf die Auswahl aus mehreren
Handlungsweisen, aus denen aber überhaupt eine zu wählen sittlich
notwendig ist.
(<73)
Und wie nun das physisch Mögliche nur ein Ausdruck für unsere
Unwissenheit ist und tatsächlich von allem in einem Falle Möglichen
nur Eines wirklich wird, alles andere aber unmöglich ist, so würde bei
richtiger Einsicht in das sittlich Erforderliche sich vielleicht aus dem
ganzen Kreise des Erlaubten nur Eines als sittlich notwendig, alles
andere aber als unmöglich herausstellen.
Was
hierin ganz allgemein angedeutet wird, das spezifiziert unser
augenblicklich vorliegender Gedanke. Das
Erlaubte oder sittlich Mögliche wird jetzt näher bestimmt als
dasjenige, was ich wollen kann, ohne einen Widerspruch gegen die
Voraussetzung meines Handelns, gegen den Begriff, an dem es sich
vollzieht, zu begehen.
Derartiger
Handlungsweisen gibt es nun aber meistenteils eine grössere Anzahl. Die
einzige Bedingung, sich nur nicht direkt zu widersprechen, lässt vielen
positiven Möglichkeiten Raum, die bei aller Verschiedenheit
untereinander doch gerade ihr alle genügen.
Allein
es wäre nun wohl denkbar, dass hier ebenso wie im Falle des physisch
Möglichen, nur die mangelhafte Einsicht in das begriffliche Gefüge
der Dinge, die Unfähigkeit, ihre logischen Zusammenhänge bis in jene
feinsten Spitzen zu verfolgen, die das Erkenntnisideal Platos bildeten,
diese Mannigfaltigkeit des Möglichen schaffen.
Schliesslich
wirkt jede Handlung in ganz positiver Weise auf das Objekt zurück, das
ihre Voraussetzung bildet, und angesichts der absoluten Individualität
jeder Geschehensreihe würde sich für ein Denken, das mit lückenlosen
Begriffszusammenhängen arbeitet, eine Skala derartiger Rückwirkungen
herstellen, von derjenigen, in der die Handlung den ursprünglichen
Begriff völlig intakt lässt, bis zu derjenigen, die ihn völlig
zerstört.
Das
unvollkommene Denken gibt einen weiten Spielraum, indem es die
Handlungen ganz roh in widerspruchsvolle und logisch in sich
übereinstimmende teilt; mit seiner steigenden Verfeinerung muss es auch
hier eine Kontinuität der Übergänge anerkennen. (<74)
Betracht
zieht, um so reicher und mannigfaltiger werden ,die Rückwirkungen der
Handlung auf ihre begriffliche Voraussetzung, um so verzweigter die
Erhaltungen und die Störungen derselben, um so sicherer also die
Annahme, dass es schliesslich nur eine einzige Handlung sein kann, die
ein Maximum von Erhaltung des Begriffs, ein Fernbleiben jeder
aufhebenden, zerstörenden Folge garantiert.
Wenn
uns also die Begriffswelt nur klar genug gegliedert wäre, wenn wir nur
die Deduktion durch hinreichend viele Glieder durchführen könnten, so
würde uns das Wollenkönnen in jeder Situation nur den Grenzfall
jener einzigen Handlung übriglassen, die ein Minimum von Zerstörung
der Begriffe darbietet, und die also, als allein nicht verboten, allein
erlaubt, d. h. geboten wäre.
Von
den mancherlei Erwägungen, die sich an dieses Prinzip knüpfen lassen,
will ich nur eine über sein Motiv, eine andere über seine
Voraussetzung hervorheben.
Der
Gedanke, dass die moralische Wertung der Handlungen an ihre logische
geknüpft sei, entspringt offenbar dem Bedürfnis, einen möglichst
zweifelsfreien und allgemein mitteilbaren Inhalt und ein überall
anzuwendendes Kriterium der Sittlichkeit zu gewinnen.
Die
Ermahnung, sich doch nicht selbst zu widersprechen, appelliert an eine
letzte Instanz in uns.
Wer
auf unbedingte Sicherheit der sittlichen Bestimmung ausgeht, der muss,
an allen unseren früheren Ausmachungen über den primären und
unbegründbaren Charakter des letzten Sollens und Wollens vorüber,
sie auf diesen letzten, vom Skeptizismus noch nicht angenagten Felsen,
auf den Satz des Widerspruchs bauen. (<75)
Darum
bemerken wir die Neigung, die begrifflichen Operationen gemäss dem
Satz des Widerspruchs zur Bestimmung des Moralischen heranzuziehen, auch
überall da, wo charakterologisch das Bedürfnis einer möglichsten
Festigung der ethischen Normen vorliegt, ohne dass man doch zu einer
transzendenten Begründung greifen möchte, und zwar ins besondere, wenn
es sich destruktiven oder für destruktiv gehaltenen Strömungen
gegenüber um eine Reinhaltung der Moral, um ein unangreifbares Bollwerk
zu ihrer Verteidigung handelte: bei Sokrates, bei Price, bei Kant, in
der Entwicklung der französischen Moral - mehr noch der
öffentlich-geistigen als der philosophischen - mit ihrem Glauben an die
Allmacht des Verstandes in ethischen Dingen, in gewissem Sinne auch bei
Hegel, der, hierfür charakteristisch genug, seine eigentliche Ethik in
der "Rechtsphilosophie" gibt.
Natürlich
stellt sich überall hier die Fundierung des Ethischen auf den Satz des
Widerspruchs nicht rein, sondern nur in der Tendenz dar. Unverkennbar
aber ist allenthalben das Motiv, dem schwankenden Gefühle, dem
unverantwortbaren Willen gegenüber eine höchste Instanz anzurufen, die
wir eben nirgends als in den logischen Gesetzen finden, und nun die
Latitude, welche diese für die Bestimmung der materialen Inhalte
freilassen, durch Verfeinerung der Begriffe so einzuschränken, dass
auch logisch nichts übrig bleibt, als das positiv Moralische.
So
wunderlich, abstrus und traumhaft die Vorstellung erscheinen muss, dass
man mittels logischer Operationen zu jedem beliebigen Punkte der
sittlichen Welt gelangen und ihn unzweideutig bestimmen könne, so ist
sie doch der konziseste Ausdruck und Gestaltung eines sehr
ernsthaften, in die Tiefen sittlicher Weltanschauung hinabreichenden
Grundgedankens.
Es
handelt sich dabei um die Frage: ist das Gebiet des Sittlichen
präformiert, derart, dass das Individuum es nur zu erkennen braucht?
Ist das Sittliche eine objektive Gegebenheit - unabhängig von unserem
Willen, die unser Bewusstsein nur nachzuzeichnen hat, so dass es ihm
gegenüber höchstens Entdecker, aber nicht Erfinder ist? Der
Vergleich mit der theoretischen Erkenntnis wird dies Problem deutlicher
machen. (<76)
Auch
der vollkommenste Idealismus, der keine ausserhalb des Bewusstseins
liegende Existenz anerkennt, leugnet nicht, dass der einzelne
Erkenntnisinhalt, unabhängig vom Willen und als ein in sich Bestimmtes
gegeben sei, das nur so und nicht anders sein kann.
Mag
es also auch keine an sich seiende materielle Ordnung der Dinge geben,
die uns zu dieser bestimmten Art sie aufzunehmen zwingt, so ist doch
jedenfalls unleugbar, dass, wenn wir überhaupt ein Objekt erkennen
wollen, wir es - dem Resultate nach, nur auf eine Art erkennen
können - eine Bestimmung, deren prinzipielle und ideale Geltung von den
Unzulänglichkeiten und Entgegengesetztheiten der auf die Wahrheit hin
gerichteten Entwicklung ganz unabhängig ist.
Wohin
wir auch die Ursache jenes Zwanges verlegen, und wenn wir selbst die
Frage nach einer solchen Ursache als ungehörig abweisen mögen: wir
können dasjenige, was wir Wahrheit nennen, uns nicht anders vorstellen,
denn als einen Parallelismus unseres Denkens mit einer ideellen Ordnung,
die dieselbe bleibt, gleichviel ob wir sie erkennen oder nicht.
Wie
sehr wir auch das Gravitationsgesetz von der anthropologischen Form der
Raumanschauung und Grössenbildung abhängig denken, so müssen wir doch
sagen, dass es schon gegolten hat, bevor Newton es erkannte; der Zwang,
es nur so oder überhaupt nicht zu erkennen, ist uns nur vorstellbar als
Korrelat einer zeitlosen Geltung der Wahrheit, die unser Denken nur
nachzeichnen kann, gleichviel ob durch äussere oder innere Veranlassung
oder durch eine, auf welche die Kategorie des Äusseren oder Inneren
überhaupt nicht passt.
Es
soll damit einfach eine Vorstellungstatsache, nicht die bestreitbare
Ursache derselben ausgedrückt werden; nicht um eine Erklärung der
Erkenntnis handelt es sich, sondern um eine meinetwegen symbolische
Darstellung ihres immanenten Charakters, wenn wir uns das Gebiet
überhaupt möglicher wahrer Erkenntnis als ein irgendwie bereit
liegendes denken , das in seiner unwandelbaren Bestimmtheit nur
nachgebildet werden kann,
und
also an dieser und seiner eigentümlichen Geltungsart nichts verliert,
auch wenn eine solche Nachbildung nicht erfolgt. (<77) Verhält
es sich nun mit den ethischen Forderungen ebenso wie mit den
theoretischen Erkenntnissen? Liegt
das Reich des Sollens ebenso in ideeller aber unverrückbarer Formung
vor uns, wie das des Seins, so dass unser Bewusstsein jeden Punkt
seiner, zu dem es dringt, bereits bestimmt findet?
Hat
beim Sollen ebenso wie beim Sein das Bewusstsein nur zu konstatieren,
was inhaltlich schon fixiert ist, oder besitzt es jenem gegenüber die
Fähigkeit, das Objekt erst durch den Akt seines Bewusstwerdens in
seinem Inhalte, seiner Wahrheit, seinem Geltungsmasse zu erschaffen?
Dass
ihm dem Sein gegenüber diese Freiheit versagt ist, kann kein Idealismus
oder Solipsismus leugnen, wenn er auch jene Bindung aus einer höheren,
ausserhalb des unmittelbaren Bewusstseins gelegenen Freiheit des Ich
ableitet.
Als
immanente Qualität des Erkennens bleibt sie bestehen, und als solche
wird sie auch für das Sollen von der rationalistischen Ethik
vorausgesetzt, deren entschiedensten Ausdruck der kategorische
Imperativ in seiner hier behandelten Bedeutung darstellt.
Soll
es möglich sein, durch bloss logisches Verfahren in jeder Situation das
sittlich Notwendige zu erkennen, so muss dieses seinem Inhalte nach
schon unverrückbar festliegen; der Wille hätte dann nur die Freiheit,
das sittlich Vorbestimmte zu tun oder zu lassen, könnte aber nicht aus
sich heraus einen neuen Inhalt mit der Bestimmung, dass er gesollt
werde, setzen - wie es ihm wohl freisteht, diesen und jenen Teil der
möglichen Erkenntnis zu aktualisieren, aber nicht, einen ausserhalb
dieses ideell präformierten Gebietes liegenden Inhalt mit der
Bestimmung, dass dies nun Wahrheit sei, zu setzen.
In
den Dingen selbst, bez. in den Begriffen ihrer, liegt nach dieser
Anschauung schon die Gesamtheit des Sittlichen in latenter Form, sie
steht dem Subjekt als ein objektiv Gültiges gegenüber, dessen Umrisse
es durch sein Tun erfüllt, aber nicht schafft; aus diesem
Prästabilismus des Sittlichen folgt leicht begreiflicher Weise die
Kantische Bestimmung, dass niemand im Sittlichen mehr tun könne, als
eben seine Pflicht. (<78)
Deutlich
ist hier auch eine Verwandtschaft der rationalistischen mit der
religiösen Ethik zu beobachten. So
verschieden beide über die Sanktionen denken mögen, mit denen man die
ethische Forderung begründe, so verschiedene Inhalte sie ihr auch geben
mögen, so stimmen sie doch über sie selbst nach dieser wichtigen,
formalen Seite hin überein.
dass
der Wille das Sittliche nicht zu setzen, sondern nur zu erfüllen habe,
dass die Inhalte des Sollens sich uns nicht durch einen Willens- ,
sondern einen Erkenntnisakt ergeben.
In
dieser tiefsten Überzeugung über das Wesen des Sittlichen liegt die
sozusagen unterirdische Verbindung, in Folge deren Kant, nachdem er den
reinen Rationalismus, die Herrschaft der Logik im Finden des Sittlichen
gelehrt hatte, dann zu der Definition gelangte, Religion sei die
Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote.
Denn
mag nun Logik oder Offenbarung den Erkenntnisgrund des Sittlichen
bilden, gemeinsam ist beiden Tendenzen, dass das Sittliche
präformiert ist, bevor es in dem Bewusstsein des Individuums
auftaucht, sei es ideell in den Konsequenzen der Begriffe, ob wir sie
nun gezogen haben oder nicht, sei es real im Geist Gottes, möge es nun
offenbart sein oder nicht.
Von
dieser Seite angesehen, ist die Bestimmung unserer Pflichten als
göttlicher Gebote nur eine Hypostasierung oder Substanzialisierung
ihrer Bestimmung als logischer Konsequenzen der Begriffe.
Zu
bemerken ist dabei, dass der Rationalismus, um den es sich hier handelt,
nicht etwa derjenige ist, der die Vernunft zur subjektiven Triebfeder
für die Erfüllung des Sittlichen macht; dies vielmehr wird ganz
unentschieden gelassen und nur der Inhalt und die ideale Geltung der
sittlichen Forderungen aus der Quelle der theoretischen Vernunft
abgeleitet. (<79)
Die
entgegengesetzte Sinnesart empfindet das sittliche Tun keineswegs als
blosse Erfüllung eines in der ewigen Ordnung der Dinge bereits
Geforderten; sie bestreitet, dass man aus schon bestehenden Begriffen
heraus die Grenze setzen könne, die zugleich Maximum und Minimum des
sittlichen Anspruchs bilde.
Niemand
leugne, dass unser Wille überhaupt nicht von der Vorstellung begleitet
werde, die unser Erkennen charakterisiert: dass die Inhalte desselben
ein ideal Feststehendes und Gültiges, von seiner zufälligen
psychologischen Verwirklichung Unabhängiges darstellten; und nun,
behauptet die anti-rationalistische Auffassung, dass die Sittlichkeit
sich hierin gerade nur wie der Wille überhaupt verhielte.
Sie
schaffe ihre eigentümlichen Werte, ohne dieselben durch eine Logik
bestimmen zu lassen, die doch nichts könne, als bereits Festgestelltes
exponieren. Das
Wesen höherer Sittlichkeit bestehe gerade in einer eigensten Initiative
des Subjekts, deren Inhalte ihren Adelsbrief selbst erwerben, ohne ihn
auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer, wenn auch nur ideell
bestehenden, Hierarchie der ethischen Begriffe zu reklamieren.
Wenn
uns die Pflicht dennoch als ein objektives, vom Willen unabhängiges,
durch innere Logik zusammengehaltenes Gebilde entgegentritt, so beruhe
erstens ihre scheinbare Unabhängigkeit vom Willen auf der falschen
Hypostase eines rein psychologischen Unterschiedes zwischen
verschiedenen Willensakten; und zweitens treffe diese ganze Beschreibung
nur die gewöhnlichen, allgemeinen Pflichten.
Diesen
sei die berechenbare Eingestelltheit in logische Begriffsreihen daher
entstanden, dass das Zusammentreffen sehr vieler Subjekte in den
gleichen Sollensvorstellungen diese über jedes einzelne jener zu
erheben schien, und dass ihre Beziehung zu den sozialen Notwendigkeiten
sie einem Gefüge dienstbar machte, das nur zweckmässig war, wenn es
sich möglichst logisch verhielt. (<80)
In
feineren, individuelleren, der Höherbildung des Bestehenden dienenden
Fragen sind wir nicht durch irgend einen logischen Zwang an das
Sittliche gebunden, sondern empfinden uns gewissermassen schöpferisch,
wir ziehen nicht nur die praktischen Folgen aus irgend einem Begriff,
sondern setzen selbst einen solchen ; ja gerade diese Originalität des
sittlichen Individuums sei besonders wertvoll, die dem Sollen neue,
aus allem Bisherigen unberechenbare Inhalte gebe.
Ich
bin mir der Schwierigkeit bewusst, diese Gegensätze der Denkarten in
begrifflicher Beschreibung festzulegen.
Es
handelt sich eben im letzten Grunde uni charakterologische
Unterschiede, deren Fixierung in Worten immer zu viel und zu wenig sagt:
zu viel, weil die psychologische Wirklichkeit die Gegensätze nie in der
absoluten Schärfe ihrer abstrakten Begriffe, sondern in unendlichen
Abstufungen zeigt, und jeder reale, nach einer Seite hin entschiedene
Charakter irgend eine Spur auch der entgegengesetzten Tendenz aufweist;
zu wenig, weil die Sprache da ein ganz besonders unsicheres Werkzeug
ist, wo die Gesamtfärbung von Charakteren bezeichnet werden soll; die
Hauptsache, um die es sich dabei handelt, lässt sich mit unseren
Begriffen eben doch nur sehr unvollkommen sagen; wenn Worte schon
überhaupt auf das gutwillige Verständnis des Hörers angewiesen sind
und nur das bedeuten, was sie in ihm an Vorstellungen und Empfindungen
reproduzieren, so leisten sie diesen Dienst da noch besonders
unvollkommen, wo die Stärke und Entschiedenheit der auszudrückenden
Gegensätze es dem Einzelnen erschwert, sich in die seiner eigenen
entgegengerichtete Tendenz hineinzufühlen.
Der
Gegensatz zwischen derjenigen Sittlichkeit, die sich an die blosse
Widerspruchslosigkeit der Handlung binden, und derjenigen, die sich aus
Kräften entwickeln will, welche unabhängig von jeder logischen
Dignität sind, ist auch eine Seite des weltgeschichtlichen
Unterschiedes zwischen der konservativen und der fortschrittlichen
Tendenz. (<81)
Wer
an ein ideal feststehendes System des Sittlichen glaubt - man pflegt es
als die "sittliche Weltordnung" zu bezeichnen - der wird das
freie, schöpferische Setzen neuer Ziele, selbst wenn es sich allenfalls
begrifflich mit jenem Glauben vereinigen lässt, charakterologisch
weniger anzuerkennen geneigt sein.
Wer
aus den schon feststehenden Begriffen durch blosses Entwickeln ihrer
Konsequenzen zu aller überhaupt möglichen Sittlichkeit zu gelangen
meint, der muss diese wenigstens potentiell in dem bereits Gegebenen
enthalten glauben; und die Forderung, dem bestehenden Begriff nicht zu
widersprechen, wird leicht in die übergehen, den bestehenden Zuständen
nicht zu widersprechen.
So
geht denn auch hier dasjenige, was als blosse Theorie auftritt, im
letzten Ende auf die tiefsten Gründe der Charaktere und ihre polaren
Gegensätze zurück, auf die grossen Gegenströmungen, in deren Reibung
oder Ausgleichung sich die Entwicklung der Menschheit vollzieht.
So
bedenklich es nun auch nach allen obigen Gesichtspunkten mit der
Herleitung der sittlichen Forderung aus der logischen Konsequenz der
Begriffe steht; so sehr man dagegen geltend machen muss, dass die
praktischen Interessen sich nicht an die blosse verstandesmässige
Widerspruchslosigkeit des Handelns binden, und dass man aus den
Begriffen nur das, aber auch alles das herausziehen kann, was man in
sie hat hineinlegen wollen - trotz aller dieser und vieler anderen
Bedenken gegen die rationalistische Statuierung sittlicher Imperative
ist doch der Reiz der Begriffe und der Regulierung des Sollens nach
ihnen nicht so schnell zu den blossen Irrtümern zu rechnen, wie eine
eilige Aufklärung es wünscht.
Gewiss
hat eine realistische Auffassung, die aus treuer Beobachtung der
Einzelheiten die Gesetze ihrer Bewegungen ergründet, das Recht, den
Begriffsrealismus als eine Verirrung der Geister zu betrachten; man wird
sogar behaupten dürfen, dass die Durchführung des Nominalismus, die
Auflösung der komplexen Begriffe, die unser Verständnis der Welt
präjudizieren, in die realen Einzelheiten und ihre Gesetze noch heute
zu den Hauptaufgaben der Geisteskultur gehören.
(<82)
Allein gerade das, was den Begriff zum Mittel einer feineren und
empirischen Erkenntnis ungeeignet macht: die Willkür, der
anthropologisch-subjektive Charakter seiner Bildung, hat die Gelegenheit
gegeben, ihm einen tief gelegenen, im Folgenden auseinanderzusetzenden
Wert zu verleihen.
Im
Begriff sind Anschauungen verdichtet, aber doch nicht der ganze Umfang
der einzelnen Anschauung; sondern ein Teil von ihr ist mit einem Teile
einer anderen zu der Gemeinsamkeit, die der Begriff ausdrückt,
zusammengebracht.
Das
Wesen des Begriffs ist also damit noch nicht erschöpft, dass er eine
Wahrnehmung aus dein Konkreten ins Abstrakte, aus der Vereinzelung in
die Verallgemeinerung überträgt.
Sondern
die Art, wie dies geschieht, die Auswahl der Anschauungsteile aus den
Gesamtanschauungen, die Betonung gerade der einen Eigenschaft als
hinreichend wichtig, um den Begriff des Dinges zu bilden, während alle
anderen als zufällige Bestimmungen derselben erscheinen - dies alles
setzt ganz bestimmte Gesinnungen, Überzeugungen, Erkenntnisse voraus,
die das A priori für die Bildung der Begriffe ausmachen und irgendwie
in diesen enthalten sein müssen.
Der
Begriff ist, auf seinen Inhalt angesehen, freilich nichts anderes, als
eine Zusammenfassung von Einzeltatsachen, so dass man aus ihm auch eben
nur diese, die man vorher in ihn hineingetan hat, herausgewinnen kann,
weshalb denn alle reinbegriffliche analytische Erkenntnis sich im Kreise
dreht.
Allein
was keineswegs bloss analytisch ist, sondern sehr bedeutsame und
synthetische Voraussetzungen einschliesst, ist der Umstand, dass man
gerade diese Einzeltatsachen gewählt hat, um einen Begriff aus ihnen zu
bilden.
Und
wenn ein Wesen, ein Zustand, ein Geschehen unter einen bestimmten
Begriff gehört, so pflegt damit die Überzeugung der Gattung
ausgesprochen zu sein, dass dies das Wichtige und Charakteristische an
dem betreffenden Objekte sei. (<83)
Der
Begriff ist also keineswegs nur eine formale, logische Zusammenfassung, die
das Gleiche an mannigfaltigen Gegenständen mechanisch und ohne tiefere,
unterscheidende Begründung umschlösse; er trifft vielmehr unter der
Unendlichkeit möglicher Zusammenfassungen eine Auswahl nach wenngleich
unbewussten Prinzipien, setzt
zu seiner Bildung eine ganz bestimmte Art des Anschauens und der
Betonung der Anschauungen voraus, enthält implizite eine grosse Anzahl
theoretischer und Werturteile der Gattung, die ihn zu einem
Erkenntnismittel, weit über seinen analytisch zu entwickelnden Inhalt
hinaus, machen können.
Dass
eine Eiche vor allem unter den Begriff Baum gehört, uns als
"Baum" entgegentritt, enthält das Urteil : Was der Eiche mit
der Linde, Esche, Buche etc. gemeinsam ist, das ist das Wesentliche an
ihr, nicht das, was sie auch mit dem Grashalm verbindet, dass sie also
ein Gewächs ist, nicht was ihr mit den näher verwandten Baumarten
gemeinsam ist, sondern gerade dieser bestimmte Grad von Gemeinsamkeit
und Verschiedenheit mit anderen Objekten.
Dass
dieser Begriff gebildet ist, dass man sieh weder auf jenen weiteren,
noch auf diesen engeren beschränkt hat, ist etwas Synthetisches und
inhaltlich Bedeutsames.
Wenn
über die ursprüngliche Abgeschlossenheit der sozialen Gruppe hinaus,
die keine verbindende Gemeinsamkeit irgend welcher Art mit den
Aussenstehenden anerkannte, sieh der Begriff "Mensch" gebildet
hat' unter den nun auch der Fremde und der Feind gehört, so ist dies
ein praktisch-ethischer Fortschritt von grosser Wichtigkeit.
Im
Begriff Mensch liegt nicht nur der logische Prozess, der aus einer
Anzahl verschiedener Personen das Gemeinsame auswählt und zu einer
höheren Allgemeinheit zusammenschliesst.
(<84)
Es liegen vielmehr darin auch die psychologischen Vorgänge
aufgespeichert, die überhaupt dazu führten, jenen formalen Prozess
gerade an diesem Material auszuführen; es liegen darin die Gefühle,
welche über die ursprüngliche absolute Feindseligkeit der
Gruppen triumphierten und die Objektivität bewirkten, infolge deren man
auch am Gegner das uns mit ihm Gemeinsame beachtet; es liegen darin die
Erfahrungen der Gattung darüber, dass dieses Gemeinsame von einer
hinreichenden Wichtigkeit gegenüber den spezifischen und trennenden
Eigenschaften ist, um, wenigstens mehr und mehr, jedes Individuum vor
Allem unter diesem Begriff anzusehen.
Und
ferner, welche Eigenschaften in dem Begriff Mensch vereinigt sind, ob
nur die Gemeinsamkeit oberflächlichster Qualitäten, oder schon die
tiefere Gleichheit unter anscheinender Verschiedenheit, ob dieser
Begriff als Zusammenfassung des formal Gleichen gegenüber
inhaltlicher Verschiedenheit, oder als Bezeichnung gleichen Inhalts
bei nur formaler Verschiedenheit gilt dies alles sind offenbar
Angelegenheiten von höchster praktischer Bedeutung.
Und
nun ein letztes Beispiel. Der Begriff des Lohnarbeiters enthält die
Verdichtung einer Entstehungsgeschichte in sich, die ausserordentlich
viel inhalts- und folgenreicher ist, als die Analyse seiner logischen
Merkmale ergeben kann.
Bis
zum Aufkommen der Grossindustrie war die berufliche, lokale und
nationale Geschiedenheit der Arbeiter so stark und erfüllte das
Bewusstsein dermassen, dass es zur Bildung eines Begriffs, der nur die
dem Lohnarbeiter als solchem zukommenden Merkmale enthielte, überhaupt
nicht kam.
Die
Leichtigkeit, mit der man vom rationalen Standpunkt aus scheinbar jede
beliebige Summe von Objekten zusammenstellen und ihr Gemeinsames zu
einem allgemeinen Begriff ihrer verdichten kann, die Gleichgültigkeit, mit der sich dieser rein logische Prozess gegen
seine Inhalte verhält, steht im schärfsten Kontrast gegen die
Fluktuierungen sozialer und psychologischer Mächte, die die Bildung
eines Begriffs einmal völlig ausschliessen, ein andermal notwendig
aufdrängen. (<85)
Es
bedurfte der Ausdehnung der Industrie, die Hunderte oder Tausende von
Arbeitern unter die genau gleichen sachlich-persönlichen Bedingungen
stellte und gerade mit der fortschreitenden Arbeitsteilung die
verschiedenen Zweige um so enger auf einander anwies; es bedurfte des
vollkommenen Durchdringens der Geldwirtschaft, die die Bedeutung der
persönlichen Leistung ganz und gar auf ihren Geldwert reduziert; es
bedurfte der wachsenden Höhe der Lebensansprüche und ihres
Missverhältnisses zum Arbeitslohn - um dem Moment der Lohnarbeit als
solcher die entscheidende Betonung zu verleihen, um den Allgemeinbegriff
des Lohnarbeiters aus dem des Kohlenhäuers, Webers, Maschinenbauers
etc. sich herausdifferenzieren und oft genug als den wesentlichen
Begriff empfinden zu lassen, dem gegenüber der spezifische Inhalt der
Arbeit eine sekundäre Wichtigkeit für die Lebensinteressen besitzt.
Darum
macht sich der Einfluss des Unternehmertums auf die Sozialgesetzgebung
auch immer dahin geltend, dass die genossenschaftlichen Vereinigungen
der Arbeiter verschiedenartiger Branchen möglichst verhindert werden,
weil die grössere Mannigfaltigkeit der Inhalte der Arbeit das Allen
gemeinschaftliche Merkmal des Lohnarbeiters, mit allen seinen
Konsequenzen, um so schärfer hervortreten lässt, den Begriff mit um so
entschiedeneren Merkmalen ausstattet.
Wie
sehr praktische Interessen und Urteile die Bildung der Begriffe
beeinflussen, wird auch durch das Korrelat zum Lohnarbeiterbegriff,
durch den des Unternehmers nahe gelegt. Obgleich
derselbe selbstverständlich zugleich mit dem des Arbeiters entstanden
ist, so hat er doch durch den geringeren äusserlich sichtbaren
Zusammenschluss der Unternehmer nur eine geringere Betonung erhalten,
als der des Arbeiters.
Nun
aber hat sieh vor Kurzem in Nordamerika angesichts der
überhandnehmenden Strikes der dortigen Arbeiter eine Vereinigung der
Unternehmer als solcher gebildet, ohne Rücksicht auf die
Verschiedenheit der Geschäftsbranchen, um als geschlossene Partei der
Arbeitervereinigung, (<86)
wo sie sich auch zeige, einen solidarischen Widerstand entgegenzusetzen.
Diese
schon weit gediehene Vereinigung hofft (1892) allmählich die gesamten
Vereinigten Staaten zu umfassen, und es ist wohl möglich, dass die
Gleichheit der den Arbeitern entgegengerichteten Interessen die
Unternehmer auch sonst zu derartigen Kartellen bringt. Dadurch würde
aber offenbar der Allgemeinbegriff Unternehmer eine ganz besondere
Verschärfung, eine neue Betonung seines Inhaltes und eine Vermehrung
desselben durch die neu dazugetretene soziale Beziehung erhalten.
Diese
Beispiele werden es hinreichend verdeutlichen, dass der Begriff nicht
nur einen sachlichen ideellen Inhalt hat, dem gegenüber sich seine Form
- eben die Herausdifferenzierung des Gleichen aus verschiedenartigen
Erscheinungen und die Zusammenfassung desselben zu einer einheitlichen
Vorstellung - immer gleich verhielte und überall gleich möglich wäre.
Nennen
wir das begriffsbildende Subjekt der Kürze halber die Volksseele, so
erzählt uns die Geschichte jedes Begriffs, welche Qualitäten an den
Erscheinungen für die Volksseele als die hervorstechendsten
erschienen, welche sie für trennbar, welche für zusammengehörig,
welche für entbehrlich oder für unentbehrlich hielt.
In
dem Begriff wird also dem Individuum keineswegs nur ein rein logisches
Hilfsmittel für die objektiven Erkenntnisoperationen geliefert,
sondern eine Verdichtung bedeutsamer Urteile, gerade wie, auch in
sachlichem Zusammenhänge hiermit, die Worte zweier Sprachen für
dasselbe Objekt keineswegs ebendenselben Inhalt in bloss äusserlicher
Formverschiedenheit enthalten, sondern eine Differenz von
Apperzeptionen, Anschauungen, Tendenzen kundgeben, die jedes Übersetzen
zu einer eigentlich unlösbaren Aufgabe macht.
Die
Entfaltung dessen, was in einem Begriff liegt, der Konsequenzen seines
Inhaltes, ist deshalb keineswegs ein erkenntniswertloses Verfahren; denn
wenn es auch nur dazu dient, einen Inhalt, den man erst in die Hülle
(<87) des Begriffs hineingelegt hat, wieder herauszuschälen, so
liegt das Synthetische, den Fortschritt Bedeutende darin, dass das
Subjekt, welches den Begriff nun expliziert, nicht dasselbe ist, wie
dasjenige, das ihn gebildet hat - jenes ist das Individuum, dieses die
Gattung.
Es
wird bei dieser Auffassung freilich vorausgesetzt, dass das Individuum
die Erfahrungen und Urteile der Gattung irgendwie zugleich mit dem
Begriff überliefert erhält, dass es wenigstens psychische, an den
Begriff angeschlossene Gebilde besitzt, die zunächst noch keine
bewussten verstandesmässigen Erkenntnisse sind, aber zu solchen werden,
sobald das Bewusstsein sich scharf auf den Begriff konzentriert und auf
die Apperzeptionen, Strebungsgefühle, Urteilsansätze achtet, die sich
bei dieser Gelegenheit einfinden und sämtlich von dem Bewusstsein, zu
eben diesem Begriffe zu gehören, wie von einem Obertone begleitet sind.
Dies
ist nun freilich einer der dunkelsten und schwierigsten Punkte aus der
Psychologie des Erkennens. Wieso,
in welcher Form enthält der Begriff der Dinge diejenigen
Realvorstellungen, in Folge deren uns seine begriffliche Deduktion und
Analyse sichere Überzeugungen über die Wirklichkeit, über Wahrheit
und Falschheit von Behauptungen und Forderungen verschaffen kann?
Es
bleibt nichts übrig, als auf die Vererbung von
Vorstellungsdispositionen und auf unbewusste Erfahrungen
zurückzugreifen, womit hier indes nur asyla ignorantiae
geschaffen sind. -
Am wenigsten roh ist vielleicht die Annahme, dass die überlieferten
Begriffe als Bestandteile unseres Bewusstseins zwar nicht von vornherein
einen explizierbaren Inhalt, wohl aber eine gewisse Struktur besitzen,
vermöge deren sie aus der umgebenden Erfahrungswelt gerade bestimmte
Einzelheiten apperziepieren, andere beziehungslos an sich
vorübergleiten lassen.
Die
Gesamtorganisation unserer Psyche lässt ihre latenten, durch die
Gattungsentwicklung bestimmten Kräfte vielleicht gerade auf die
Begriffsvorstellungen sich so vereinigen, dass diese nun ein der
chemischen (<88) Affinität ähnliches Verhältnis zu später
einströmenden Einzelvorstellungen besitzen; umgekehrt mögen diese
Einzelvorstellungen von vornherein in einer Weise gebildet werden, die
ihre Zusammenschliessung zu bestimmten Begriffen besonders erleichtert.
Mit
objektiverer Wendung könnte man annehmen, dass die Verhältnisse, die
uns umgeben, die Kultivierung der Naturprodukte, die gesamten, durch den
Menschen beeinflussbaren Objekte, eine Form erhalten haben, die zu
unseren Allgemeinbegriffen ein harmonisches Verhältnis besitzt.
Von
vornherein treten uns die Dinge, vermöge der äusseren Gattungsarbeit
an ihnen, so entgegen, dass sie ihren Zusammenschluss gerade zu den
Begriffen nahe legen, die die innere Gattungsarbeit geschaffen hat.
Wie
es sich nun aber auch mit diesen Problemen verhalten mag, deren
unendliche Komplikation die Hoffnung ihrer exakten Lösung fast zu einer
Illusion macht: die Tatsache scheint mir unzweifelhaft, dass der
Allgemeinbegriff, sowohl an und für sich, wie in seiner psychologischen
Wirkung sehr viel bedeutungsvoller und inhaltsreicher ist, als sein
Charakter als bloss logisches Gebilde zeigt.
Wird
er nur als solches angesehen, so verhält sich seine Form als Begriff
völlig indifferent gegen seinen Inhalt und dieser scheint nichts zu
enthalten, was ihn mehr als andere Inhalte zu der begriff liehen
Synthese qualifizierte -, tatsächlich aber liegen derartige
Veranlassungen doch vor, reale historische Kräfte bewegen die Gattung
zur Bildung von Begriffen, die unter anderen Verhältnissen unmöglich
gewesen wären, und werden in ihnen latent, derart, dass das Individuum
durch die blosse Explizierung der Begriffe und ihre logischen
Kombinationen einen Reichtum an Hinweisungen, Anregungen, ja Urteilen
gewinnt.
Ist
dies aber der Fall, so ist es verständlich, wieso immer und immer
wieder der Versuch gemacht werden kann, in der logischen Behandlung der
Begriffe einen Massstab für die sittliche Bedeutung des Handelns zu
gewinnen. (<89)
Die
Begriffe enthalten oder markieren in ihrer überlogischen, historischen
Bedeutung eine Ordnung der Dinge, sie enthalten bestimmte Ansichten
über die Zusammengehörigkeit der Einzelheiten, über das Wesentliche
an ihnen; nicht in der Tatsache ihrer Form an und für sieh, sondern in
der Tatsache, dass diese Form in dem einen Fall zur Geltung kommt, im
anderen nicht, liegt eine Weltanschauung angedeutet, die freilich den
individuellen Auffassungen genug Zweideutigkeiten und
Entgegengesetztheiten, deren Durchführung, Erhaltung oder
Weiterbildung aber dem moralischen Sinne wohl Befriedigung bieten mag.
Vielleicht
erklärt sich von hier aus die eigentümliche Zwiespältigkeit der
platonischen Ideenlehre, die in den substanzialisierten Begriffen
einerseits die höchste Realität der Dinge, ihr eigentliches Sein
erblickt, andererseits doch auch ihr Ideal, den höchsten Wertbegriff,
dem sie zustreben.
Sind
Begriffe gebildet, um die Wirklichkeit zu repräsentieren, entstammt
aber die Art ihrer Bildung praktisch-sozialen Wertungen, Tendenzen,
Entwicklungsnotwendigkeiten - so liegt darin die tiefste Wurzel
der Möglichkeit, in ihrem metaphysischen Korrelat, den Ideen, das Sein
und das Sollen der Dinge sieh berühren zu lassen.
Ein
dunkler Instinkt für die Unermesslichkeit der Erfahrungen und
Zweckmässigkeiten, die die Entwicklung der Gattung in den Begriffen
aufgehäuft hat, mag die rationalistisch-deduktive Ethik geleitet haben,
bis sie sich zu jener Spitze aufgipfelte, die in der hier diskutierten
Auffassung des kategorischen Imperativs liegt: die sittliche Aufgabe
bestehe überhaupt darin, die Begriffe, wie sie nun einmal sind, in
ihrer Reinheit und Widerspruchslosigkeit zu erhalten.
Dieser
Imperativ sucht eben aus den theoretisch-logischen Begriffen diejenigen
praktischen Werte wieder herauszugewinnen, aus denen jene einst
hervorgingen.
So
schief und ungenügend dieser Versuch als ethisches Prinzip auch sein
mag: er bleibt immerhin die energischste Ausgestaltung der tiefsinnigen
(<90) Tendenz, die praktischen und die theoretischen Werte ineinander umzusetzen - eine Tendenz, die ihre eigentliche Bedeutung
und Rechtfertigung erst erhält, wenn der Rationalismus, der die
Praxis aus der Theorie ableiten will, durch den Historismus ergänzt
wird, der die Theorie ihrerseits als Ergebnis der Praxis zeigt.
Ich
verfolge die Bedeutung des Begriffs für die Idealsetzung noch nach
einigen anderen Seiten hin und knüpfe an den oben (Bd. I. S. 51)
zitierten Sittenspruch des Confucius an: "Der Fürst sei Fürst,
der Untertan sei Untertan, der Vater sei Vater, der Sohn sei Sohn".
Ausserordentlich
oft hört man die Normierung des Verhaltens in dieser Weise
ausgedrückt, und zwar nicht nur nach seiner persönlichen Seite hin,
sondern auch in Beziehung auf die Objekte, deren Gestaltung wir
bezwecken; auch von diesen verlangen wir, dass sie dasjenige, was sie
nun einmal sein sollen und wollen, auch ganz und vollständig sind.
Jedes
Wesen, persönlicher oder unpersönlicher Art, trägt offenbar
durch
diejenigen Bestimmtheiten, die es in einem gegebenen Augenblick
aufweist, für unsere Anschauungsweise die Anweisung auf eine
Vollständigkeit oder Vollkommenheit in der Richtung eben dieser
Bestimmtheiten in sich.
Und
dieses Ideal, das es zu erfüllen, dem seine individuelle oder
augenblickliche Besonderheit sich unterzuordnen hat, bezeichnen wir eben
mit seinem Begriffe. Dass
ein Fürst auch wirklich dem Begriff des Fürsten entspreche, jeder
einzelne Mensch dem wahren Begriffe des Menschen, dass eine Frau auch
wirklich eine "echte Frau" sei - das drückt aus, was wir von
all diesen verlangen.
In
dem allgemeinen Begriff des Wesens scheinen uns so ganz oder wenigstens
teilweise die Forderungen vereinigt, die wir an dasselbe als Individuum
stellen; damit aber geben wir offenbar weit über die logische Geltung
der Begriffe hinaus.
Denn
dass auch der unmenschlichste Mensch doch schliesslich ein Mensch ist,
auch der Sohn, der alle Bande der Pietät gelöst hat, logisch (<91)
genommen immer ein Sohn, und die unweiblichste Frau immer eine Frau
bleibt, kann doch von Seiten des Verstandes her nicht geleugnet werden.
Es
werden also mit jenen scheinbar analytischen Sätzen durchaus
synthetische Forderungen gedeckt. Was
uns für jetzt daran interessiert, ist nicht die direkt ethische
Tatsache dieser Forderungen selbst, sondern dass es gerade der Begriff
der Dinge ist, also scheinbar der blosse allgemeine Ausdruck ihrer
wirklichen Qualitäten, mit dem man so auch ihr Sollen ausdrückt.
-
Hierin liegt wahrscheinlich ein Derivat des sozialen Triebes vor. Der
Einzelne erhält die Regel seines Verhaltens zunächst durch das
allgemeine normale Verhalten derer, die mit ihm in derselben Gruppe
vereinigt sind.
Dies
überträgt sich leicht auf besondere Abteilungen innerhalb der Gruppe,
auf das Verhältnis zu dem Komplex derjenigen Individuen, die mit jenem
durch gleiche Qualitäten vereinigt sind.
Was
alle Väter tun, wird zur Norm für den einzelnen Vater, was alle
Söhne, zur Norm für den einzelnen Sohn. Der
Begriff des Vaters, bez. des Sohnes, schliesst eben alles dasjenige ein,
was allen Vätern, bez. Söhnen, als solchen gemeinsam ist.
Folglich
wird dieser Begriff zum Regulativ für das Verhalten des Einzelnen, er
repräsentiert diesem gegenüber diejenige Sondergruppe, zu der er
gleichfalls gehört, und die über ihn deshalb die ethische Macht des
Sozialen über das Individuelle besitzt.
Diese
Mittelstellung, die der Begriff zwischen dem Sein und dem Sollen der
Dinge einnimmt, ruht, metaphysisch gewandt, auf der Vorstellung, dass in
der Wirklichkeit jedes individuellen Wesens seine Vollendung in
potentieller Form liegt, dass jede Wirklichkeit sozusagen ein Rudiment
des Ideals ist.
Indem
der einzelne Mensch einen Teil der allgemeinen Eigenschaften der
Menschen überhaupt besitzt, hinreichend, um überhaupt unter den
Begriff Mensch zu gehören, erscheint dadurch zugleich die Forderung
gerechtfertigt dass er nun auch die übrigen zu dem Begriff (<92)
gehörigen Eigenschaften besitze, dass er ein "echter Mensch",
dass er "menschlich" sei.
Die
äussere Zugehörigkeit zu dem Begriffe "Vater" enthält für
unser Empfinden die Ansätze zu der Gesamtheit auch der inneren mit
diesem Begriffe verknüpften Qualitäten - Ansätze, die vielleicht in
dem einzelnen Falle nicht entwickelt sein mögen, aber doch die
sittliche Forderung, dass sie sieh entwickeln, objektiv begründen.
Findet
diese Entwicklung nicht statt, bleibt das Individuum oder der Gegenstand
hinter seinem Begriff zurück, so entsteht ein Gefühl von
Unbefriedigung, das nicht nur ethisch, sondern auch ästhetisch ist. Die
Explikation der letzteren Folge wird die erstere verdeutlichen.
In
der Natur wie in der Kunst erfreut uns der Anblick einer bestimmten
Muskulatur, wenn wir sie an einem Manne, stösst uns ab, wenn wir sie an
einer Frau finden; was uns als Adorante entzückt, würde, unter dem
Begriffe des Athleten dargeboten, nur ästhetischen Widerspruch
hervorrufen; die gleiche Musik, die wir als weltliche schön finden,
erscheint uns als Kirchenmusik unter Umständen direkt unschön.
Von
anatomischer Seite hat man geglaubt nachweisen zu können, dass alles,
was wir als körperliche Hässlichheit beurteilen, eine Ähnlichkeit mit
dem Typus niederer Tiere, ein atavistisches Abweichen von dem spezifisch
Menschlichen aufweise, und unabhängig hiervon ist bemerkt worden, dass
die Übergangsformen der einzelnen Tierklassen den eigentlichen Herd des
Hässlichen bildeten: wir sind eben ästhetisch verletzt, wo ein Wesen
sieh nicht völlig mit dem Begriff deckt, dem es doch noch im
Allgemeinen und Wesentlichen zugehört; darum bietet ein schlafender
Mann so häufig einen unsympathischen Anblick, ein schlafendes Weib oder
Kind dagegen fast immer einen angenehmen, weil mit dem Begriff des
Mannes Energie, Aktion, Produktivität verbunden sind, die im Schlafe
in Passivität verschwinden.
Und
so töricht auch vielfach die Forderungen sein mögen, (<93) die man
aus einem vorgeblichen "Wesen" der Malerei oder Plastik, des
Dramas oder der Lyrik heraus an das einzelne Kunstwerk stellt, um an dem
Verhältnis zu ihnen dessen Wert oder Unwert zu prüfen, so liegt der
Irrtum doch hauptsächlich an der Enge und Unbeweglichkeit der
massgebenden Begriffe ; prinzipiell liegen in der Form oder Materie
eines Kunstwerks zweifellos von vornherein Qualitäten, die die
Zusammengehörigkeit mit anderen psychologisch fordern, so dass die
Abbiegung von diesen Unbefriedigung bewirkt.
Die
liberalen Richtungen des Kunsturteils fassen nur den Begriff, in dem die
so auf einander hinweisenden Eigenschaften sieh zusammenschliessen,
entsprechend weiter, aber irgend einen, wenn auch noch so allgemeinen
Begriff müssen doch auch sie zu Grunde legen, um in ihm zu beurteilen,
ob die, Synthese von Eigenschaften, die das vorliegende, einzelne
Kunstwerk zeigt, eine vernünftige und befriedigende ist.
Selbst
wo etwa nur das Ideal der Wahrheit als Kriterium gilt, bedeutet dies
doch nur, dass, nachdem einmal bestimmte Situationen und Charaktere
eingeführt sind, nun die Weiterentwicklung derselben in einer festen
Konsequenz und gemäss der empirischen Zusammengehörigkeit derselben
mit anderen Ereignissen oder Qualitäten stattzufinden habe.
Und
ganz entsprechend hat man hervorgehoben, dass die Natur an und für sieh
niemals hässlich ist, sondern es erst wird, wenn der Auffassende
einzelnen Naturobjekten bestimmte Prätensionen unterschiebt: der Affe
erschiene als hässlich, sobald man ihm zumutet, den Menschen spielen zu
wollen. usw.
Diese
Beurteilung des ästhetischen Objekts an einem mitgebrachten Anspruch
findet auch da statt, wo der Reiz desselben ein völlig freier,
formaler, festgestellten Forderungen völlig entzogener zu sein scheint,
z. B. bei der Musik.
Schlechte
Musik ist deshalb schlecht, weil sie nicht diejenige Gefühlsfolge im
Zuhörer erregt, die er von ihr, entweder als Musik überhaupt oder in
Konsequenz (<94) gewisser Ansätze in dem einzelnen Stück, erwartet.
Es
fehlt ihr das feste, wenn auch nur symbolische Verhältnis zu den
inneren Bewegungen, deren Reproduktion sie anregt, aber nicht sich
befriedigend ausleben lässt. Deshalb
ist für ein vornehmes Empfinden triviale Musik, für ein ordinäres
tiefes, polyphone Musik hässlich.
Und
wenn die formalistische Musikästhetik ein beweisendes Gleichnis darin
suchte, dass die Schönheit der Musik der der Arabeske gleich sei, so
scheint mir doch auch die letztere von Voraussetzungen, mitgebrachten
Kriterien abhängig, die es allenfalls auch vertrügen, aus der blossen
Gefühlsform in begriffliches Bewusstsein gehoben zu werden.
Denn
auch ob uns eine Arabeske schön oder hässlich erscheint, hängt von
dem Verhältnis ihrer Teile zu einander derart ab, dass die Stimmung
oder Erwartung, die der eine Teil erregt, in den anderen ihre
Weiterführung, ein zu ihr harmonisches Anschwellen oder Abklingen
finden muss.
Wo
dies nicht der Fall ist, wo Tempo, Rhythmus und Richtung der Gefühle
und Vorstellungen nicht diejenigen Ergänzungen finden, die wir, durch
den Beginn des ästhetischen Objekts angeregt, antizipieren und von
seiner Fortsetzung verlangen, da ist dieses Objekt hässlich; darin,
dass das Kunstwerk als Ganzes diejenige Erwartung erfüllt, die ein Teil
seiner hervorruft, könnte man etwa die "Wahrheit" suchen, die
das Kunstwerk zu leisten hat.
Tatsächlich
hätte dann schlechte Musik nach den obigen Bemerkungen keine Wahrheit,
weil sie diejenigen Gefühle nicht produziert, die zu dein einmal
gegebenen Ansatz gehören.
Dies
gilt sogar auch für die Baukunst: Pfeiler, die nichts zu tragen haben,
Gebälke, die nicht hinreichend gestützt werden, bedeutsame Ornamente
an konstruktiv unbedeutenden Stellen und umgekehrt, Formungen des
Materials, die seinem Wesen schon technisch widerstreben - alles dies
ist unwahr, enthält innere reale Widersprüche, die mit den logischen
wenigstens formale Analogie zeigen, und wirkt (<95) deshalb
abstossend und hässlich, dass alles dies als Widerspruch des Objekts
gegen seinen Begriff erscheint, ist nicht nur ein analytischer Satz,
insofern man den Begriff eben aus den wesentlichen und erforderten
Bestandstücken des Objekts zusammengesetzt hat, sondern es ist positiv
bedeutsam, insofern dieser Begriff dasjenige einschliesst, aus
demjenigen besteht, was der Gesamtheit der im Allgemeinen mit jenem
übereinstimmenden Objekte gemeinsam ist.
Der
Begriff ist also aus einer tatsächlichen Erfahrung gezogen, er macht,
wie ich bereits oben hervorhob, die Wirklichkeit der Gesamtheit zum
Regulativ für den Einzelfall. Nun
ist dieses Regulativ zwar im Ganzen nur einschränkend; es lässt das
individuelle Wesen, das ihm nicht genügt, als hässlich oder
unzulänglich erscheinen, enthält aber zunächst noch nicht die Mittel
oder Qualitäten, durch die das Wesen positiven Reiz und Bedeutung
erhält, - ganz ebenso, wie wir es von der begrifflichen Regulierung des
Handelns aussagten, die nur Verbote gibt, aber für das nach Ausschluss
des Verbotenen noch übrigbleibende nicht den Impuls einer direkten Wahl
zu geben weiss.
Man
könnte sagen, dass auch im Praktischen die Allgemeinheit ihre Normen
auf den Satz des Widerspruchs einschränkt; insofern diese, wie
hervorgehoben, meistens prohibitiv sind, nur das Unterlassen gewisser
Handlungen anbefehlen, ist ihnen genügt, wenn ihnen nur nicht
widersprochen ist, gerade wie der Logik genügt ist, wenn nur dem
Begriffe nicht widersprochen wird.
Dennoch
sehen wir in einzelnen Fällen, dass darüber hinaus sowohl im Ethischen
wie im Ästhetischen die Übereinstimmung mit dem Begriff auch als
positiver Wert empfunden werden kann. Die
Erfüllung des Begriffs erwirbt schliesslich einen selbständigen, von
der Qualität des Inhalts unabhängigen Reiz.
So
ist es keineswegs nur eine Karikierung, wenn man sagt, dass Ärzte von
einem .,schönen" Fall, etwa von carcinoma recti, sprächen. Die
absolute Erfüllung der Symptome, das reine, (<96) von keinen
Nebenerscheinungen gestörte Bild der gerade vorliegenden Krankheit, das
völlige Siebdecken des Falles mit dem mitgebrachten, in dem Begriff der
Krankheit zusammengefassten Vorstellungskomplex - dies ist offenbar
eine von allen materiellen Widrigkeiten des Falles und abhängige und
formal mit der ästhetischen zusammenhängende Befriedigung.
Man
verlangt vom Kunstwerk, dass es seinen Gegenstand gereinigt von den
Trübungen und Störungen des Zufalls, unter Abtrennung des
Akzidentellen von seiner Hauptsache darstelle, und dies gilt nicht nur
als Vorbedingung, deren Erfüllung etwa erst für die positiven
ästhetischen Reize den Platz frei machte, sondern schon selbst als
ästhetische Qualifikation als Inhalt des Kunstwerks als solchen.
Näher
zugesehen aber ist auch diese Bestimmung nur eine Umschreibung der
Abhängigkeit des Kunstwerks von einem Begriff. Denn
die Scheidung des Zufällige vom Wesentlichen ist offenbar nur möglich,
wenn man vorher weiss, was denn das Wesentliche ist, und alle
Vollkommenheit und Reinheit der Darstellung ist sinnlos, wenn sie eben
nicht eine solche Darstellung eines vorher feststehenden Begriffes
bedeutet.
Dieser
verselbständigte, zu einer Befriedigung sui generis ausgewachsene Reiz
der Harmonie zwischen der Einzelvorstellung und ihrem Begriffe zeigt
sich nicht weniger an den Figuren etwa der späteren Barockzeit, die nur
das formelle, von jedem individuellen Inhalt ausgehöhlte Schema der
Menschengestalt geben, wie an dem extremen Realismus modernster
Richtungen, die die vorliegende Einzelerscheinung bis in ihre letzten
Einzelheiten zu kopieren streben.
Die
Deckung des Einzelnen und des Allgemeinen sucht der Realismus in der
Kunst von der Seite des Einzelnen, der Idealismus von der Seite des
Allgemeinen her zu erreichen; jener setzt voraus, dass sein
Individuelles das Allgemeine einschliesse - denn ein Einzelnes im
strengsten Sinne, das also keine Assoziationen weckte, würde weder
Verständnis noch Interesse finden - (<97) dieser, dass das
Allgemeine das Individuelle in sich fasse.
Es
ist ein ganz eigenartiger und keineswegs nur auf den bisher erwähnten
Gebieten wirksamer Idealismus, der sieh in der Tendenz auf das
Zusammenstimmende, auf die blosse Harmonie zwischen Einzelfall und Norm
äussert.
Ich
erinnere an jene nicht allzu seltenen Menschen, die genau darauf
halten, dass ihre Uhr auf die Minute richtig gehe, ohne dass irgend ein
praktisches Interesse sich damit für verbände, wahrend
doch die Zeitbestimmung nur insofern von Wert ist, als sie irgend etwas
nach sich bestimmt.
Der
reale Inhalt dessen, was zusammenstimmt, ist für die Freude in der
blossen Tatsache, dass es zusammenstimmt, hier so irrelevant, wie für
den naturalistischen Künstler die an die Materie des Kunstwerks
geknüpfte Empfindung völlig vor dein Interesse an der Übereinstimmung
zwischen jener Materie und ihrem Bilde zurücktritt.
Diese
Freude an der Harmonie des Individuellen mit seinem normalen Typus, die
sieh auf theoretischen wie praktischen, sittlichen wie eudämonistischen
Gebieten äussert, könnte man so deuten, dass das Einzelne in Folge
seiner zunächst perzipierten Eigenschaften sieh unter den Begriff
seines Typus rangiert und so die Erwartung des gesamten Inhaltes
desselben erregt; diese Erwartung aber ist psychologisch ein
Spannungsgefühl, das durch die wirkliche Wahrnehmung, den wirklichen
Eintritt eben dieser erwarteten Qualitäten gelöst wird und
entsprechend Lust weckt.
Für
das Ethische wie für das Ästhetische zeichnen sieh die
Verschiedenheiten der Wertsetzungen an der Lage des Punktes, von dem
an man das Einzelne durch den Allgemeinbegriff gedeckt wünscht.
Dass
ein individuelles Sein überhaupt nichts anderes sei, als die
Darstellung eines Gattungstypus, ist natürlich ebenso unmöglich, wie
die entsprechende Forderung für das Handeln, dass dasselbe bloss
widerspruchslos sei, bloss die Begriffe, die es voraussetzt,
konserviere, ohne darüber hinaus eine besondere individuelle Färbung
(<98) und Qualifikation zu besitzen.
Die
Frage ist nur, ein wie grosser Teil des einzelnen Seins oder Tuns dem
Allgemeinbegriffe parallel zu gehen habe. Neuere
künstlerische Richtungen geben mit diesem Anspruch sehr tief hinab; sie
verlangen nur ein sehr allgemeines Sichdecken der Einzelerscheinung mit
dem Begriff, dem sie angehört, nur ein Übereinstimmen des Einzelnen in
verhältnismässig wenigen Zügen mit dem Typus, und geben der
spezifischen Differenz einen grossen Spielraum zu.
Entsprechend
verlangt die liberale Auffassung von der Lebensgestaltung nur ein ganz
allgemeines Verbleiben innerhalb der Grenzen der geltenden praktischen
Begriffe, sozusagen nur ein skizzenhaftes Nachgestalten ihrer Umrisse,
während sie die Synthese der Elemente zu neuen Begriffen und eine
individuelle, unter keinen vorhandenen Begriff einzureihende Formung der
Lebensprobleme und ihrer Lösungen in weiterem Umfange gestattet.
Diese
und die entgegengesetzte Tendenz finden ihre psychologische Bestimmung
der Frage gegenüber: welche Summe von Qualitäten oder Inhalten muss
ein Sein oder Tun aufweisen, um assoziativ die Erwartung weiterer zu
erregen, welche mit jenen zusammen einen bestimmten Begriff ausmachen?
Man
kann so die ganze Behauptung, dass das und der Einzelne durch seine
Zugehörigkeit zu einem Begriff in seinem Sollen präjudiziert werde,
auf die Enge der Assoziation reduzieren, welche zwischen den
tatsächlichen, perzipierten Eigenschaften dieses Individuellen und den
weiteren besteht, die jene zu dein vollen Begriff ergänzen.
Bei
Kant ist diese Assoziation sehr kräftig und umfassend, tritt also schon
sehr früh, schon bei dem Vorhandensein relativ weniger Merkmale ein. Jede
Aussage ist ihm unmittelbar mit denjenigen Qualitäten assoziiert, die
noch zum Begriff der Wahrheit gehören, und so erwächst ihm auf dem
Umwege über diesen Begriff für jede Aussage die Pflicht, nur
wahrhaftig zu sein.
Die
Vorstellung der deponierten Summe ist mit der des Wiedergebens so
(<99) direkt verbunden, dass die Verpflichtung zu diesem ihm schon
zum Sollen wird, bevor noch die sonstigen individuellen Umstände des
Falles in Betracht gezogen sind, die vielleicht die Zugehörigkeit
desselben zu dem allgemeinen Begriff des Depots fraglich machen.
Die
Tatsache, dass jemand gemäss einer Anzahl von Eigenschaften zum Genus
homo gehört, lässt für die Gläubigen der Menschenrechte,
Menschenwürde usw. sofort eine weitere Anzahl von Vorstellungen an ihn
heranbringen, die seine Rechte und Pflichten ausmachen, ohne dass nach
speziellen Bestimmungen des einzelnen Falles gefragt würde; die
Assoziation und in Folge dessen die Normierung nach einem Begriff wirkt
in allen diesen Fällen schon auf relativ wenige Kennzeichen hin.
Jene
metaphysische, nach der ethischen wie nach der ästhetischen Seite sich
verkörpernde Forderung dass, wenn ein Wesen einmal unter einen
bestimmten Begriff gehöre, es denselben auch ganz und lückenlos
erfüllen müsse - normiert den einzelnen Fall natürlich erst dann,
wenn bestimmte Eigenschaften des Wesens dasselbe generell unter einen
Begriff gereiht haben.
Ob
diese Einreihung schon auf wenige Eigenschaften hin geschieht, oder ob
bis zu ihrem Eintreten für viele individuelle Qualitäten Raum bleibt;
ob man sich angesichts der Entwicklung eines Wesens früh entschliesst,
es gemäss dem abgelaufenen Teil derselben in eine Kategorie
einzureiben, deren sonstigen Habitus man nun von ihm fordert, oder ob
man erst nach langen, der Individualität freigegebenen Entwicklungen zu
einem Urteil über die Tendenzen und Potenzialitäten des Wesens, und
also über sein Sollen vorschreitet - diese Unterschiede markieren
ersichtlich die gewaltigsten Gegensätze der Weltanschauung und der
Charaktere in praktischer, theoretischer und ästhetischer Richtung.
Es
zeigt sich also auch hier, dass die scheinbar einerseits allzu abstruse,
andererseits allzu einfache Formulierung des kategorischen Imperativs,
die die einzelne Tat nach dem Verhältnis (<100)
zu ihrem Begriff beurteilt, doch
die energischste Ausprägung einer tiefen, umfassenden Charaktertendenz
ist ; sie bildet auch in dieser logischen Ausdeutung ebenso wie in der
mehr materialen des vorigen Abschnitts, die äusserste Spitze der Reihe,
die von der absoluten Selbstherrlichkeit des Individuellen zu jener
absoluten Bindung führt, für die das Einzelne nur als Fall eines
schlechthin Allgemeinen berechtigt ist.
Die
Frage, wie sich das Allgemeine und eine Beziehung zum Einzelnen in
theoretischer Beziehung, zu der Allgemeinheit und der Individualität in
praktischer Hinsicht verhalte.
Ist
in den bisherigen Erörterungen oft gestreift worden: der kategorische
Imperativ, ja vielleicht jede rationalistische Ethik setzt irgend
welches Verhältnis zwischen jenen Werten voraus, so dass eine
prinzipielle und in die möglichen Verzweigungen dieses Verhältnisses
eingehende Erörterung für die ethischen Grundfragen von Belang sein
muss.
Die
Entwicklung der griechischen Philosophie von den Sophisten bis zu Plato
lässt deutlich eine Wechselwirkung zwischen den Werten der
"Allgemeinheit" im praktischen und im theoretischen Sinne
hervortreten.
Die
Stellung der Sophisten gegenüber der überlieferten Erkenntnis deckt
sieh in wesentlichen Beziehungen mit der der späteren Nominalisten. Sie
erkannten, dass die Formen und Inhalte, in denen sich das allgemeine
Denken bewegte, willkürliche Gestaltungen wären und so im Wesen der
Dinge selbst kein Gegenbild fänden.
Versucht
man sich diesem Wesen möglichst zu nähern, so mündet man an dem
Unverbundenen, schlechthin Individuellen. Diesen
Schluss zogen die Sophisten sowohl nach der objektiven wie nach der
subjektiven Seite.
Jenes,
indem sie es für sachlich unberechtigt erklären, ein Prädikat mit
einem Subjekt zu verbinden: (<101) denn das Prädikat sei immer ein
Vielfaches, das Subjekt ein Einzelnes, und das Eine könne doch nicht
zugleich Vieles sein; man könne also nicht einen Menschen unter den
Begriff des Guten einreihen und sagen: der Mensch ist gut, sondern nur
sagen, der Mensch sei der Mensch, und das Gute sei das Gute.
Oder:
wenn man jemanden eines Menschen Bruder nenne, so sei er jedermanns
Bruder, denn der Bruder könne doch nicht zugleich Nicht-Bruder sein.
Von
der törichten Scheinlogik der Beweise abgesehen, ist die Grundtendenz
hier jener absolute objektive Individualismus, der die Beziehungen der
Dinge und ihre Synthese zu höheren Begriffsgebilden leugnet, weil diese
Beziehungen nicht in demselben Masse greifbar sind, wie das einfache
Material, das ihnen zum Grunde liegt, und dessen absolute
Individualität demnach das Einzige ist, womit der nach dem Objektiven
ringende Geist scheint rechnen zu können.
Geht
man von der Seite des Subjekts aus, so führt eben dieselbe Tendenz
dazu, nur die augenblickliche Vorstellung von den Dingen für ihre
Wahrheit, oder wenigstens für das, was die Wahrheit vertritt, zu
halten. Wie
dort jedes Wesen nur für sich besteht, jede Vorstellung nur von sich
selbst ausgesagt werden kann, so wird dies hier auf die Zeit
übertragen: wie die Dinge augenblicklich existieren, so und nur so sind
sie.
Und
dies ist eben prinzipiell ausgedrückt der Satz, dass der Mensch das
Mass aller Dinge ist. Die
dauernde substantielle Wahrheit der Dinge fällt fort, und das
atomistische Augenblicksbild im vorstellenden Subjekt tritt an ihre
Stelle. Deshalb
ist auch jeder derartige Schein gleich berechtigt, das Gegenteil jedes
Satzes ist, soweit beide überhaupt vorgestellt werden, so wahr wie er
selbst.
Dem
entspricht nun aufs genaueste die sophistische Ethik wenigstens in
ihren konsequenten Ausgestaltungen. Dem
dauernden überlieferten Gesetz wird das sachlich und zeitlich
punktuelle Belieben des Subjekts als die einzig reale Kraft, im Sein
(<102) und im Sollen, gegenüber gestellt.
Dass
nicht die Gemeinschaft, sondern nur der einzelne Mensch, und innerhalb
dieses wieder das einzelne augenblickliche Bedürfnis das einzig
Berechtigte sei, bezeichnet diesen ethischen Nominalismus, dem alles
Allgemeine ein nomen ist, nur pata ton nomon
, nicht pata
jnsin
besteht, und es charakterisiert diese Tendenz aufs Entschiedenste, wenn
jeder allgemeingültige Begriff der Tugend abgelehnt wird, und nur die
des Mannes und des Weibes, des Freien und des Sklaven geschildert wird -
da es für jeden eine besondere gebe.
Es
ist nur konsequent, wenn dann sogar nicht mehr der Mann überhaupt und
das Weib überhaupt, sondern jedes Individuum eine Norm des Verhaltens
für sich haben soll. Das
gleiche Verhältnis zwischen Theoretischem und Praktischem zeigt
Sokrates, allein bei völlig anderem Inhalt beider.
Gegenüber
der momentanen unvertieften Meinung von den Dingen sucht Sokrates
zweierlei: ihr Wesen und ihren allgemeinen Begriff. Gerade
indem ihm beides zusammenfällt, zeichnet sich aufs Schärfste sein
Gegensatz gegen jeden erkenntnistheoretischen Atomismus. Die
Einzeldinge in der Isoliertheit ihrer Erscheinung haben kein Interesse
und keine Wahrheit für ihn; erst indem wir uns zu dem allgemeinen
Begriff erheben und mit ihm operieren, erkennen wir ihr Wesen und ihren
Wert.
Im
Begriff ist also das Objektive gewonnen, das der wechselnden Ansicht des
Subjekts gegenübersteht; die momentane, von den Sophisten allein
zugegebene Erscheinung ist sowohl nach der Seite ihres eigenen Wesens,
wie nach der des vorstellenden Subjekts hin abgelöst durch den
allgemeinen, sie darstellenden Begriff.
Entsprechend
nun wie die Einzelheit zum Begriff verhält sich bei Sokrates das
Individuum zur Gesamtheit und ihren Normen. Auf
das Belieben des Augenblicks lässt sich so wenig ein vernünftiges, die
Ziele des Subjekts selbst förderndes Handeln gründen, wie ein Erkennen
auf den Eindruck des Augenblicks; vielmehr (<103)
nur durch die Berücksichtigung Anderer und des Ganzen, des Staates,
gewinne der Einzelne die praktische Direktive, wie aus der
Berücksichtigung der Begriffe die theoretische.
Deshalb
ist auch die Tugend ihm nicht, wie den Sophisten, für jeden eine
besondere, sondern es gibt schlechthin nur eine, ohne Unterschied der
Personen und Geschlechter. Und
wenn er, freilich mit geringer Tiefe der Begründung, die Teilnahme an
den öffentlichen Interessen, den Gehorsam gegenüber den Gesetzen der
Allgemeinheit fordert, weil das Wohl des Einzelnen durch das Wohl des
Ganzen bedingt sei, so ist damit doch nur die Lehre, dass über das
Einzelding nur der Allgemeinbegriff entscheide und die Wahrheit über
ihn gebe, ins Praktische übersetzt.
Und
gerade die sokratische Betonung der freien Subjektivität und
Innerlichkeit des sittlichen Tuns gibt dieser Normierung desselben
durch die konkrete Gesamtheit den rechten Hintergrund; indem bei
Sokrates, im Gegensatz zum Altgriechentum, die Spannung zwischen dem
Subjekt und der ihm äusseren Gesamtheit bewusst wird, beides die volle
gegenseitige Selbständigkeit gewinnt, erhält die Synthese beider, die
freiwillige, gewissensmässige Hingabe des Individuums an die
Gesamtheit, erst ihre eigentliche Bedeutung - gerade wie er das
Einzelding und den Begriff keineswegs ineinander verschwimmen lässt,
sondern jedem seine gesonderte Stelle anweist, um dann erst durch
Analyse des Einzelnen und Induktion aus ihm den Begriff zu gewinnen,
durch den nun das Einzelne in seiner Wesenheit erkannt wird.
In
dem theoretischen wie in dem praktischen Falle vollzieht sich die
Normierung des Individuellen durch das Allgemeine deshalb mit besonderer
Betonung und Vertiefung, weil sie von einer klaren Isolierung des einen
gegen das andere ihren Ausgang nimmt. Alle
diese sokratischen Bestimmungen gehen bei Plato sozusagen in einen
festeren Aggregatzustand über, die Allgemeinheit erhält statt der
funktionellen Bedeutung (<104) eine mehr substantielle, die Tendenzen
verlieren ihr subjektives und heuristisches Wesen, um ein metaphysisches
anzunehmen.
Innerhalb
dieses veränderten Gesamtcharakters aber finden wir den gleichen
Parallelismus zwischen den ontologischen und den ethischen Beziehungen
von Einzelnem und Allgemeinheit.
Die
Idee ist das Allgemeine gegenüber dem Individuellen, dadurch zugleich
aber das Wesentliche gegenüber dem Flüchtigen und Nichtigen; nur
dadurch, dass das Individuelle an der dauernden Idee teilhat, empfängt
es sein eigenes Wesen und jede ihm mögliche Vollkommenheit.
So
trägt in Plato's Idealstaat das Individuum seine Qualitäten von der
Organisation des Ganzen zu Lehen (ich darf hiervon abweichende
Bestimmungen bei ihm als für den jetzigen Zweck gleichgültig
übergehen); denn jedes Kind soll schon von der Geburt an der
individualistischen Atmosphäre des Elternhauses entrückt,
öffentlicher Erziehung überwiesen, und demnächst von der Obrigkeit in
die Funktion, an die Stelle gesetzt werden, wo es zu verbleiben hat;
darum verlieren auch die Frauen die häusliche, persönlichen Charakter
tragende Beschäftigung und empfangen, den Männern sogar im Krieg und
in politischer Tätigkeit koordiniert, gleichfalls von dem Gemeinwesen
den Inhalt ihrer Existenz.
Indem
der Begriff ebenso wie die ethische Allgemeinheit den sokratischen
Bestimmungen gegenüber in eine höhere Potenz erhoben wird, ist die
Einzelheit und Subjektivität um ebensoviel heruntergedrückt, der
Verfestigung jener entspricht eine Verflüchtigung dieser. Das
Einzelding ist eigentlich ein Nicht-Seiendes und zugleich auch ein
völlig Wertloses.
Ganz
entsprechend ist auch der einzelne Bürger - mit Ausnahme des gerade in
der unmittelbaren Betrachtung der Ideen lebenden Philosophen - ein
wertloses, dem Ganzen gegenüber nichtiges corpus vile; wie der
sinnliche Gegenstand nur dazu da ist, um die Idee zu repräsentieren, so
soll der Einzelne nur dem abstrakten (<105) Kunstwerk des Staates
dienen; und wie jener sogar das Licht der Idee nur verdunkelt und
entstellt durch sieh hindurchscheinen lässt, ihr die Erscheinung
erschwert und sich ihr gewissermassen mit der Plumpheit und
Verworrenheit seiner Sonderexistenz entgegenstellt: so erwartet Plato
auch von der Masse der Einzelnen nicht, dass sie sich leicht und
vollkommen den Zwecken des Ganzen fügen; er weiss, dass sie der
Organisation desselben widerstehen werden, und dass es deshalb nicht
darauf ankommen darf, auch gegen ihren Willen das Ideal eines Staates an
ihnen zu verwirklichen.
Ebenso
wie das Wesen liegt auch der Zweck alles Individuellen für Plato in der
Darstellung, oder Hervorbringung eines Allgemeinen, und zwar
gleichmässig in theoretischer wie in sittlich-politischer Hinsicht. Ich
habe dies mit einiger Ausführlichkeit dargestellt, weil die relativ
geringere Zahl der Denkmotive im voraristotelischen Denken derartige
Analogien klarer hervortreten lässt.
Es
ist aber auch sonst allenthalben zu bemerken, dass nominalistische
Tendenzen sich mit ethischem Individualismus, begriffsrealistische mit
anti-‑individualistischen zusammenzufinden pflegen.
Der
offizielle Katholizismus mit seiner Beugung des Individuums unter
schlechthin allgemein - paj
olon -
geltende Sätze und Mächte hat den Begriffsrealismus äusserst zähe
festgehalten; als er sich schliesslich in der Periode des Skotismus mit
der nominalistischen Doktrin abfand, war dies nur durch die
unnatürlichste und schliesslich unhaltbare Überspannung des
Glaubensprinzips im Gegensatz zur Vernunft und Erkenntnis möglich.
Es
ist dies der gleiche Beweis aus der scheinbaren Gegeninstanz, wie ihn in
umgekehrter Richtung später Berkeley liefert. Berkeley
ist so weitgehender Nominalist, dass er nicht nur die Existenz irgend
eines realen Allgemeinen, sondern sogar die von psychologischen
Allgemeinbegriffen in Abrede stellt: wenn wir ein Allgemeines
vorzustellen glaubten, so sei es eine Täuschung, tatsächlich stellten
wir nur (<106) Einzelnes vor, und zwar nicht einmal einzelne Dinge,
sondern nur einzelne Qualitäten, Empfindungen, deren konstante Summe
uns als Ding erscheint.
Zu
derjenigen Allgemeinheit, die den mathematischen und Naturgesetzen nicht
abzusprechen ist, gelangt er bekanntlich auf dem Umwege über das
göttliche Prinzip, das in uns alle Vorstellungen errege und dessen
Unveränderlichkeit das unverbrüchliche gesetzmässige Zusammensein der
Einzelvorstellungen garantiere.
Da
Berkeley nun an denjenigen sittlichen Normen festhalten will, die nicht
ohne eine real-soziale Allgemeinheit bestehen können, gelingt ihm dies
nur, indem er an Stelle dieser wiederum höchste Instanzen als
normgebende einführt, die nicht sowohl umfassend allgemein als
überindividuell sind: Gott und die Obrigkeit.
Als
Fundament aller sittlichen Verfassung lehrt er beiden gegenüber eine
unbedingte Unterwerfung unter Verzicht auf das Geltendmachen jedes
persönlichen Willens. Er
kann also nur durch Einführung einer mit freiem Belieben ausgestatteten
Instanz - mit der freilich jedes Resultat zu erlangen ist - neben seinem
theoretischen Nominalismus eine allgemeingültige Norm
praktisch-ethischer Natur rechtfertigen.
-
In positiver Weise dagegen zeigt die Entwicklung des mittelalterlichen
Nominalismus unseren Zusammenhang.
Wenn
etwa Wilhelm von Occam, nach der metaphysischen Seite hin, jede
Sonderexistenz des Allgemeinen leugnet und allein das Individuelle als
wahrhaftes extra animum bestehendes Sein anerkennt, so entspricht dem
zugleich ein psychologischer Individualismus, der sich insbesondere in
der Lehre ausdrückt, dass unser Wille unserem Verstande nicht
unterworfen sei.
Der
Verstand ist das allgemeingültige Verständigungsmittel, der Quell
alles dessen, was von Allen anerkannt werden muss; der Wille dagegen ist
das Unberechenbare - so dass nach Occam's Ansicht Gott auch die jetzt
verabscheutesten Handlungen hätte zu sittlich gebotenen machen können,
wenn er es gewollt hätte; die Unabhängigkeit (<107) des Willens vom
Verstande bedeutet die Enthebung der Einzelseele von dem allgemeinen,
durch gemeinsame Normen beherrschten Niveau.
Wir
finden entsprechend in dieser späteren Periode der Scholastik gerade
den Nominalismus mit der feineren Psychologie verbunden, der genaueren
Beobachtung und Betrachtung des Einzelnen und seiner Rechte, sogar in
direkt sozialen Fragestellungen, wie sie ein Nicolaus Oresmius gibt.
Noch
einmal tritt in der Geschichte der Philosophie der Zusammenbestand von
theoretisch nominalistischer mit praktisch individualistischer Denkweise
auffallend hervor: Locke, der sich aufs Nachdrücklichste zum
Nominalismus bekennt, für den alle allgemeinen Begriffe nur innerliche,
abstrakte Gebilde sind, lässt so nur den einzelnen Gegenstand, der den
einzelnen Eindruck in uns auslöst, als Realität bestehen.
Und
damit verbindet sich nun eine politische Theorie, die jeden Eigenzweck
und Eigenbestand des sozialen Ganzen aufhebt, und nur dem Einzelnen eine
möglichst freie individuelle Existenz verschaffen will.
Daher
seine Opposition gegen die Beschränkungen des Zinsfusses und der
inmitten des Merkantilsystems individualistische Gedanke, dass der
wirtschaftliche Wert fast nur auf der Arbeit beruht; daher seine
Bemühung, die Familie vor aller Einmischung von Staat oder Kirche zu
behüten und dem Einzelnen eine individuelle statt der öffentlichen
Schulerziehung zu sichern; daher seine Rechtfertigung der Bürger, bei
jeder Verletzung ihrer Rechte zur Revolution zu schreiten, seine
grundsätzliche Vertretung des Konstitutionalismus und seine,
wenigstens relative, Forderung der Toleranz in religiösen Dingen.
Es
ist der gleiche Parallelismus zwischen praktischem und theoretischem
Verhältnis des Individuums zum Allgemeinen, wenn sehr
individualistische, selbstherrliche Geister eine Abneigung gegen die
mechanistische Naturwissenschaft empfinden: Goethe, Carlyle, Nietzsche.
Ihr
praktischer Individualismus verhindert sie, auch nur theoretisch jene
(<108) Herrschaft des Allgemeinen anzuerkennen, unter die das
Naturgesetz das Einzelne unterschiedslos und mechanisch beugt.
Mit
alledem soll nicht etwa ein "Gesetz" aufgestellt werden, das
eine sachlich notwendige Beziehung zwischen der theoretischen und der
ethischen Ausgestaltung des Individualismus oder seines Gegenteils
behauptete.
Es
scheint nur, als ob eine psychologische Grundtendenz bestünde, die,
wenn sie nicht durch anderweitige Einflüsse und Interessen abgelenkt
wird, allerdings dazu disponiert, die Frage: wie verhält sich das
Einzelding zu seinem Begriff - in ähnlicher Weise zu beantworten, wie
die: wie verhält sich das Individuum zu der Gesamtheit?
Obgleich
nur diese letztere unmittelbares ethisches Interesse hat, so ist doch
die Heranziehung jener theoretischen Parallele für die
Moralwissenschaft deshalb wichtig, weil sie es wahrscheinlich macht,
dass irgend ein tieferer charakterologischer Grund für die Wahl
zwischen individualisierender und sozialisierender Anschauungsweise
vorliegt.
Beschränkt
sich die Betrachtung auf die letztere Alternative, so findet sie viel
leicht keine Veranlassung nach tiefergelegenen Gründen der Entscheidung
zu suchen, sondern behandelt diese als eine letzte Tatsache; zeigt sich
dagegen, dass dieselbe einer Entscheidung auf anderem Gebiet häufig
parallel geht und eine formale Verwandtschaft mit dieser besitzt, so
liegt es nahe, eine gemeinsame Wurzel zu suchen, welche nun auch für
den ethischen Fall eine Erklärung abgeben würde.
Vielleicht
lehrt uns die physiologische Psychologie einmal feine individuelle
Unterschiede in der Aufnahme der Sinneseindrücke und der Reaktionen
auf sie kennen, die die gemeinsame Wurzel jener theoretischen und
praktischen Parallelerscheinungen abgeben.
Es
liesse sich z. B. eine sensorische Tendenz zur Punktualität denken,
derart, dass gewisse Individuen besonders scharfe Eindrücke von den
sinnlichen Objekten erhalten, allein mit der Folge, dass (<109) das
aufnehmende Vermögen nun gegen den nächsten ähnlichen Reiz
abgestumpft ist; die Empfindlichkeit würde sieh dann auf einen
einzelnen Eindruck zuspitzen, um dafür andere um so gleichgültiger
vorübergleiten zu lassen.
Daraus
ergebe sich erstens für das Denken die Inklination, am Individuellen zu
haften, und die Verschmelzungen relativ selten zu vollziehen, deren es
zur Begriffsbildung bedarf; die starken Unterschiede im Klarheitsgrade
der Sinnesvorstellungen sind für ihre Koordinierung im Begriff
ungünstig.
Zweitens
aber würde ebendieselbe sinnliche Beanlagung für den ethischen
Individualismus disponieren, weil die scharfe Pointierung einzelner
Empfindungen, die entschiedene Konzentrierung auf den augenblicklichen
Eindruck, der dann Erschlaffung folgt, ein starkes, subjektivistisch
gefärbtes Ichgefühl zur Folge zu haben pflegt.
Auch
würden die teils reflektorischen, teils durch das Bewusstsein
hindurchgeleiteten Handlungsimpulse, die sich an derartige
Empfindungen anschliessen, gleichfalls mehr punktuellen und
individualistischen, als jenen ausgeglichenen Charakter tragen, der ihre
Entstehung aus dem sozialen Ganzen und ihr Rückströmen in dasselbe
dein Subjekte nahe legte.
Weiterhin
würde unsere Einsicht tiefer unter den fraglichen Zusammenhang
hinabreichen, sobald wir erst eine genauere Analyse der folgenden
Erscheinung besässen.
Wenn
wir die Entwicklungsgeschichte einzelner uns gut bekannter Personen in
den weitesten Umrissen betrachten, so glauben wir in der Art, wie die
einzelnen Elemente sieh zu der Gesamtpersönlichkeit zusammenfügen,
eine gewisse Gleichmässigkeit zu erkennen, ein Tempo und einen
Rhythmus, die man zusammen als das Temperament der Persönlichkeit
bezeichnen könnte.
Ins
Einzelne gehend, erinnere ich zunächst an das Abwechselungsbedürfnis
betreffs sinnlicher Eindrücke oder Phantasiebilder oder
Verstandesvorgänge; schon bei Kindern sind grosse Unterschiede zu
beobachten, ob sie z. B. rasch von Eindruck zu Eindruck eilen, weil
(<110) der einzelne sie leicht langweilt, oder ob sie relativ lange
bei ihm verweilen; ob die Perioden, in denen sie gern zu den gleichen
Eindrücken zurückkehren, länger oder kürzer sind, ob sie sich mit
dem Charakter des Legato oder des Staccato gegeneinander absetzen.
Ich
erinnere an den Rhythmus, in dem Bewusstsein und Aufmerksamkeit sich
zwischen Anspannung und Lösung, zwischen Konzentriertheit und
Zerstreuung auf- und abbewegen, so dass die Intensitätskurven derselben
unter sonst gleichen Umständen annähernd regelmässige Hebungen und
Senkungen aufzuweisen scheinen.
Ich
erinnere endlich daran, dass nicht nur Inhalt und Intensität der
einzelnen Seelenenergien, sondern auch diese als Ganze eine Tendenz zu
regelmässiger gegenseitiger Ablösung haben, so dass nach einer Periode
starker sinnlicher Eindrücke gern eine solche der Reflexion und der
innerlichen Geistestätigkeit eintritt; nach einer Zeit des Schaffens
eine solche des Aufnehmens; nach einer Epoche der aktiven Anstrengung
eine solche des hingegebenen Genusses; und umgekehrt.
Und
zwar findet eine solche Rhythmik einmal für grössere Abschnitte
unserer Lebensgeschichte statt, die sich nach den führenden physischen
Äusserungen charakterisieren, dann aber spiegelt ein jeder derselben,
ja, man könnte sagen ein jeder Tag im Kleinen und innerhalb seiner
Gesamtfärbung die gleiche Abwechslung zwischen den Seelenenergien in
dem gleichen, für die Persönlichkeit charakteristischen Rhythmus
wieder.
Wie
wichtig gerade diese rhythmische Form der psychischen Ereignisse ist,
wie sie auf die inneren Schicksale Wirkungen ausübt, die sich aus ihrem
blossen Inhalt absolut nicht berechnen lassen, dafür erinnere ich an
die Rhythmik, die in dem periodischen Auftauchen des sexuellen Triebes
liegt.
Je
nachdem er in bestimmten Abständen sehr heftig auftritt und dazwischen
Ruhe gibt, oder, mehr chronisch, sich in geringeren Hebungen und
Senkungen bewegt, wird er mannigfaltigste Seiten des Wesens verschieden
beeinflussen, derart, dass (<111) seine absolute Stärke oder die
Summe der in einer grösseren Zeiteinheit geforderten Befriedigungen
keineswegs einen Schluss auf seine allgemeine psychologische Wirkung
gestattet; vielmehr wird über diese nicht sein Quantum, sondern jene
Rhythmik im Wesentlichen entscheiden.
Wenn
wir nun tatsächlich an inhaltlich sehr verschiedenen psychischen
Vorgängen derselben Person eine Identität des Rhythmus bemerken, so
wird wohl die theoretische und die praktische Seite des Individualismus
bez. seines Gegenteiles wohl mit zu den ersten unter den höheren,
durch ihn beeinflussten Formationen gehören.
Die
soeben angeführten Beispiele für das Hervortreten eines
einheitlichen Rhythmus der Persönlichkeit geben, glaube ich, ohne
Weiteres Anweisung darauf. Wie
lange das Interesse an dem individuellen Dinge haftet, ehe es sich zur
Bildung allgemeiner Begriffe aus solchen wendet, wie lange es sich
innerhalb des Abstrakten bewegen mag, bis sich das Bedürfnis nach der
Anschauung des Einzelnen, Konkreten meldet - das ist eben eine Frage des
Gesamtrhythmus der Seelenenergie.
Und
zwar wird sich derselbe auch in der Zeitlänge kundgeben, während deren
die Erhebung zu dein Allgemeinen im sozialen Sinne gelingt, bis wieder
die Interessen des Einzellebens - des eignen oder eines fremden - das
Bewusstsein fesseln, oder während deren die letzteren uns ausfüllen,
bis eine Ermüdung und Unbefriedigung an ihnen eintritt, die unser
Denken und Fühlen zu dem Überindividuellen forttreibt.
Je
tiefer gegründet indessen solche Zusammenhänge scheinen, desto näher
liegt die Gefahr, über das wirklich konstatierbare Mass der
Einheitlichkeit hinaus zu einem Grunde derselben zu greifen, der
jenseits aller einzelnen psychischen Vorgänge liegt.
Angenommen,
man entdeckte in allen Äusserungen einer Persönlichkeit verwandte
Rhythmen, ein immer gleiches Tempo, so wäre es unserer Denkgewohnheit
fast unvermeidlich, irgendwo die Zentralkraft (<112) zu suchen, von
der alle jene Einzeläusserungen ausgingen, und deren Einheitlichkeit
die formale Verwandtschaft der letzteren erklärte.
So
setzt das gleichmässig bewegte Hauptschwungrad eines grossen
Fabrikationsbetriebes eine grosse Anzahl von Hämmern, Pressen, Sägen
in Tätigkeit, deren jedes zwar je nach der Länge und Art der
Transmission und seiner Anlage eine besondere Bewegungsform hat; allein
die rhythmische Gleichmässigkeit jeder derselben für sich, sowie der
Umstand, dass jede als eine Funktion der anderen ausrechenbar ist,
hängt doch allein von der Einheitlichkeit jener zentralen Bewegung ab.
Diese
Vorstellung über den Rhythmus der Persönlichkeit, von dem auch die
Gleichmässigkeit ihres Verhaltens zu dem begrifflichen und zu dem
sozialen Individualismus abhinge, ist doch nur eine Fortsetzung der
Tautologie, die den Seelenbegriff überhaupt bildet.
Wie
dieser einen Träger des Vorstellens abgeben soll, ohne doch etwas
anderes zu sein, als die substanziierte Forderung eines solchen
Trägers, so wird hier eine bestimmte Qualität des Vorstellens auf
eine solche dieses Trägers zurückgeführt, ohne dass diese letztere
uns anders bekannt wäre, als durch Rückschluss aus jenen, die
betreffende Qualität zeigenden Erscheinungen, die sie doch gerade
erklären soll.
Ganz
allein die realen Beziehungen der Vorstellungen unter einander, mit
ihrem Sichverbinden, Abschleifen und Anpassen, können eine gewisse
Einheitlichkeit erzeugen, die dann jedoch ein Resultat, aber nicht der
Anfang der psychischen Entwicklung ist.
Die
Vorstellungen weisen nicht Ähnlichkeiten auf, weil sie aus einer
einheitlich qualifizierten Seele entspringen, sondern die Seele, d. h.
der Gesamtkomplex unserer Vorstellungen, ist relativ einheitlich, weil
seine einzelnen Bestandteile durch auf einander ausgeübte Kräfte sich
schliesslich einander anähnlichen.
Von
einer einheitlichen Quelle, die der begriffliche und der soziale
Individualismus in der Rhythmik der Seelentätigkeit finden (<113)
könnte, darf also nur insoweit die Rede sein, als die Wechselwirkung
der psychischen Elemente, sei es auf Grund des Prinzips der
Kraftersparnis, sei es auf Grund anderer Gesetze bewirkt hat, dass
höhere, neuformierte Gebilde in denjenigen Bahnen abrollen, die sich
für den bereits vorhandenen Bestand als die zweckmässigsten fixiert
haben.
Die
abstrakten Funktionen, die schliesslich die Entscheidung über
Nominalismus und Realismus in jedem Sinne enthalten, reichen mit tausend
Wurzelfasern in die breiten, primitiven Vorstellungsmassen hinab, diese
bilden das Material für sie, so dass die Bewegungsformen, die sozusagen
das Gros der Persönlichkeit in sieh ausgebildet hat, auch auf jene
höhere Tätigkeit einen anähnelnden Einfluss ausüben wird.
Ausschliesslich
in diesem Sinne kann und muss man vielleicht davon sprechen,. dass der
einheitliche Rhythmus, das Tempo der Gesamtpersönlichkeit auch die
Parallelität der hier fraglichen Erscheinungen bewirke.
Gleichviel
indes, ob man auf diesem oder irgend einem anderen Wege zu dem Grunde
derselben gelangt: es sollte nur bemerkt werden, wie wichtig es für die
Erklärung ethischer Erscheinungen ist, formal verwandte Vorgänge aus
anderen Gebieten heranzuziehen.
Denn
gegenüber den Tatsachen des sittlichen Lebens neigt man, vielfach mit
Recht, zu dem Glauben, an letzten, nicht weiter zurückführbaren
Fundamenten des Seelenlebens angelangt zu sein, und uni so wichtiger ist
es, ähnliche Erscheinungen aus anderen Seelenprovinzen daneben
zustellen, weil erst die Unwahrscheinlichkeit, dass solcher
Parallelismus rein zufällig sei, auf einen gemeinsamen Grund beider und
also auf eine Erklärungsmöglichkeit auch des ethischen Ereignisses
Anweisung gibt.
So
lange freilich jener einheitliche Quellpunkt der parallelen
Erscheinungen noch nicht gefunden ist, wird es immerhin zweifelhaft
bleiben, ob man zwischen ihnen ein reales, direktes oder indirektes,
Abhängigkeitsverhältnis oder eine blosse Analogie, eine nur im
Beobachter sich vollziehende Synthese anzunehmen hat.
(<114)
Rein sachlich und ohne das durchgängige historische Zusammentreffen
der praktischen und der theoretischen Tendenz behaupten zu wollen, kann
man sagen, dass alle Schattierungen der Parteifrage, ob die universalia
ante rem, in re oder post rem sind, sich in dem Wechsel der
Überzeugungen darüber widerspiegeln, ob die Allgemeinheit vor den
Einzelnen sei, in ihnen, oder nach ihnen, d. h. eine Abstraktion.
Und
den Differenzen dieser gleich näher zu betrachtenden Thesen entsprechen
solche der ethischen Gesinnungen.
An
den Meinungen über das tatsächliche Verhalten des Einzelnen zur
Gesamtheit kann man alle diejenigen über sein gesolltes Verhalten zu
ihr abrollen.
Der
Erkenntniswert hiervon erscheint mir selbst dann nicht unbedeutend, wenn
es als blosse verdeutlichende Analogie gilt, ohne dass man auf die im 1.
Kapitel ausgeführte kausale Beziehung zwischen der Wirklichkeit und dem
Sollen zurückgreift.
-
Die
Vorstellung, dass das soziale Ganze vor den Einzelnen sei, aus denen es
doch besteht, ist bei näherem Zusehen nicht so paradox und
widerspruchsvoll, wie der sprachliche Ausdruck sie erscheinen lässt.
Zwar
ihre aristotelische Begründung auf den Satz, dass das Ganze früher
sein müsse als der Teil, werden wir nicht zugeben. Für
das Ganze der Welt können wir seine logisch-metaphysische Geltung
einräumen: denn da wir jede Entstehung eines Etwas aus dem Nichts
leugnen, so muss freilich das Ganze der Welt als Ganzes ewig sein und
geht deshalb jedem Teile als solchem voran; denn der Teil entsteht durch
Teilung, also durch einen zeitlichen Prozess, der sein Material, das
Ganze, schon voraussetzt.
Anders
aber liegt die Frage für die relativen Ganzen, die selbst erst durch
Abgrenzung innerhalb des Weltganzen entstanden sind. Da
man diesen doch eine Entstehung zusprechen kann - nicht der
Substanz, wohl aber der Form nach, in der ja überhaupt ihr Wesen als
diese bestimmten Ganzen besteht - so liegt kein Grund vor, weshalb
sie nicht aus schon vorher abgesonderten Teilen zusammengesetzt sein
sollten.
(<115)
Eine so umfassende und schwierige Behauptung, wie die Präexistenz des
sozialen Ganzen, kann nicht auf derartigen, bloss begrifflichen
Deduktionen balancieren.
Dagegen
gibt die Auflösung des Ich in die Summe der einzelnen Vorstellungen und
ihrer Funktionen einen Hinweis auf den sekundären Charakter des
Individuums. Denn
nimmt man nun weiter an, dass die psychischen Inhalte im Wesentlichen
aus dem sozialen Milieu aufgenommen sind, so ist allerdings der Einzelne
sozusagen völlig aus dem vorangegangenen Gattungserwerb
zusammengesetzt, weil nach aufgehobener Seelensubstanz eben nichts
bleibt, als diese einzelnen, von ihm individuell verarbeiteten, aber
nicht individuell geschaffenen psychischen Bestandteile.
Der
Einzelne wird in einen ungeheuren Zusammenhang hineingeboren, aus dem er
Sprache und Denkformen, Sitte und Erwerbsart, sein theoretisches wie
sein praktisches Weltbild gewinnt.
Der
Gesamtinhalt der Kultur im weitesten Sinne bietet sich den Individuen
dar, als ein schlechthin Gemeinsames und Allgemeines, dem gegenüber sie
sich je nach den Teilen unterscheiden, die sie sich zu eigen machen, und
je nach der Art, in der die Mannigfaltigkeit dieser Teile sich
verschlingt und zu Haupt- und Nebensachen gliedert.
Lassen
wir also von der Einzelseele nichts bestehen, als ihre einzelnen
Inhalte, und leiten wir jeden dieser Inhalte historisch von dem in der
Gattung niedergeschlagenen, objektivierten Geiste ab, so verhält sich
allerdings jedes sogenannte Ich zu diesem letzteren, wie sich die
Einzeldinge zu dem platonischen Ideenreiche verhalten.
Die
eigentümliche Geltungsart , die der begriffliche Inhalt der Dinge
gegenüber der einzelnen Substanz besitzt, jenes Teilhaben des Einzelnen
am Allgemeinen, dessen mannigfaltige Komplikationen das Einzelne bilden:
eben dieses, aus dem Logisch-Metaphysischen in das Historisch-Praktische
übertragen, besteht für eine sozialisierende Auffassung zwischen dem
geistigen Gattungsbesitz und seiner Realisierung an dem einzelnen
Subjekt. (<116)
Die
Unberührtheit des ideellen Inhaltes der Dinge davon, ob viele oder
wenige an ihr teilhaben, jener Zwischenzustand zwischen blosser
Potentialität und bestimmter Wirkung, in dem sich die Idee der Dinge
gegenüber den Dingen befindet - auch dies spiegelt sieh in dem
allgemeinen geistigen Besitz der Gattung, der den Einzelnen das Material
ihrer geistigen Besonderung bietet; so dass man wohl begreift, wie die
Denktendenz, die zur Behauptung der präexistierenden Ideen, der
universalia ante rein führt, aus der formalen Ähnlichkeit mit dem
Verhältnis zwischen Volksgeist und Individualgeist gewissermassen einen
soziologischen Realismus bilden konnte.
Die
ethische Beziehung dieser Anschauungsweise wird näher gelegt, wenn man
statt der Begriffe der Dinge ihre Gesetze in ihrer Geltungsart
betrachtet.
Das
Gesetz ist das absolut Allgemeine, das sieh gegen die besonderen
Umstände des Falles, sobald sie nicht die von ihm selbst kenntlich
gemachten Bedingungen aufheben, völlig gleichgültig verhält und
dessen Geltung ganz unabhängig davon ist, ob sich jene Bedingungen
seines Inkrafttretens einmal oder tausendmal finden; so erscheinen die
Naturgesetze als etwas jenseits der Realität stehendes und doch als
dasjenige, dessen Normen und Komplikationen die Wirklichkeit völlig
bestimmen.
Entsprechend
stellen sich nun Gesetze im politisch-sozialen Sinne dar. Das
bürgerliche, das sittliche Gesetz lässt zwar nicht wie das Naturgesetz
überall und unweigerlich da bestimmte Folgen eintreten, wo bestimmte
Bedingungen gegeben sind, da es nur ein Sollen anstatt einer
Wirklichkeit aussagt; allein gültig ist es doch auch in dem Falle, in
dem es nicht befolgt wird.
Das
Entscheidende, in beiden Fällen Gleichmässige ist dies, dass dem
Einzelnen ein Allgemeines gegenübersteht, von dem es eine Normierung
empfängt und das seine Priorität darin zeigt, dass die Zahl seiner
Verwirklichungen, ja, ob es überhaupt verwirklicht wird oder nicht,
für seine innere Wahrheit und Bedeutsamkeit völlig irrelevant ist.
(<117)
So
erscheint das Gesetz in seinen beiden Bedeutungen als ein Allgemeines ante
rem. Jenes
allgemeine Gesetz der Dinge, das den Stoikern als die lebendige Kraft
einerseits, als die Vernunft des Alls andrerseits galt. gibt in der
Ausstrahlung seiner metaphysischen Bedeutung auf die Physik, Moral und
Politik ein deutliches Beispiel für den Zusammenhang des
Allgemeinbegriffes in seinem logisch - physikalischen mit seinem ethisch‑sozialen
Sinne.
So
wenig stichhaltig und wenig erklärend nun auch dieser ganze
soziologische Realismus, dem Begriffsrealismus entsprechend, sein mag,
so besitzt er doch jene scheinbare Klarheit, jenes feste Verhältnis der
Elemente zu einander, wodurch metaphysische Konstruktionen so oft
darüber hinwegtäuschen, dass sie uns nur die irgendwie umgestaltete
Frage statt der Antwort zurückgeben.
Die
Behauptung der universalia in re, die einer konkreten
Betrachtungsweise offenbar näher liegt, hat dennoch sowohl an sieh, wie
in ihrer soziologischen Parallele grössere Schwierigkeiten der
Verdeutlichung als die sehr viel mehr metaphysische Lehre von der
gesonderten Existenz des Allgemeinen gegenüber und vor dem Einzelnen.
Das
tiefere Gedankenmotiv, ans dem dem Allgemeinen zwar eine konkrete, an
sich seiende Existenz zugesprochen, dieselbe aber nur innerhalb des
Einzelwesens und in unlöslicher Verbindung mit ihm gesucht wird, ist
das folgende.
Bei
jeder Erscheinung trennen wir, unvermeidbaren Kategorien zufolge, das
Was und das Dass - ihren Inhalt, ihre Qualitäten, ihren Charakter - auf
der einen, ihre Existenz, die Realisierung eben jener inhaltlichen
Bestimmungen auf der anderen Seite.
Die
letztere nun ist etwas schlechthin Individuelles. Jedes
Ding, auf seine Existenz hin angesehen, ist eben nur dieses bestimmte,
nur dieser umgrenzte Ausschnitt aus dem Weltganzen; sein Dasein als
blosses Dasein ist ein völlig einzelnes; es ist nicht unvergleichbar in
dem Sinne, dass es zufällig nichts gibt, womit es verglichen werden
könnte, sondern in dem, dass es überhaupt jenseits der Frage nach
irgend welcher Vergleichbarkeit steht; das Sein ist keine Eigenschaft
der Dinge, und nur Eigenschaften, Bestimmungen können verglichen
werden. (<118)
Von
diesem letzteren Gesichtspunkt aus erscheint die Qualifikation, die
Bestimmung der Dinge nach ihrem Was und Wie als ein Allgemeines, als
etwas, was sie mit anderen teilen können , während jedes seine
Existenz absolut nur für sich hat.
Die
Eigenschaften aber sind doch das Wesentliche, sind das, was jedes Ding
zu dem macht, was es ist. Von
hier aus wird es verständlich, wieso Aristoteles der Einzelsubstanz
allein Realität zusprechen und doch das Wesentliche, das Objekt der
Erkenntnis, ausschliesslich im Allgemeinen suchen konnte: es ist der
Unterschied zwischen dem Dass und dem Was der Dinge, den er damit
markiert.
Das
Dass der Dinge ist einzig, und umgekehrt: das einzig sicher Einzige,
was jedes Ding besitzt, ist die Existenz; sein Was dagegen, die
qualitative Bestimmtheit, teilt es möglicherweise mit vielen Andern.
Das
Dass und das Was ist nun aber in dem einzelnen Ding unlöslich
verbunden, und so liegt denn das Allgemeine, das zugleich das
Wesentliche, Inhaltgebende ist, ausschliesslich in dem Einzelding,
welches allein subsistiert.
Konsequenterweise
scheint dies in den reinen Nominalismus einmünden zu müssen: kommt nur
dem Einzelnen Existenz zu, so ist der Allgemeinbegriff, der das
Gemeinsame aus vielen Einzelnen zusammenschliesst, nur ein subjektives
Gebilde, nur eine nachträglich - post rem - erfolgende
Abstraktion.
Allein
tatsächlich wird der Schluss aus jener Voraussetzung keineswegs immer
nach dieser Richtung gezogen; vielmehr kann er auch die objektive
Grundlage und Rechtfertigung für die Bildung des Allgemeinbegriffs
betonen und die blosse Subjektivität des letzteren durch die Bemerkung
abwehren, dass man doch mehr oder weniger gültige Begriffe bilde, dass
nicht jede beliebige Zusammenfassung einen haltbaren Begriff ergebe,
dass auch sie irren könne. (<119)
Dies
sei aber nur durch eine wie auch immer dunkle Beziehung des Gedankens
zum Sein möglich, und deshalb könne der Begriff nicht schlechthin
subjektiv sein, sondern müsse ein Korrelat im objektiven Sein besitzen.
Was
dies für eine Kategorie des Geltens oder Existierens sei, die das
Allgemeine einnimmt: nur an dem Einzelnen subsistierend und dennoch ein
wirkliches, nicht nur psychologisch Allgemeines - das ist nicht wieder
durch Zurückführung auf die üblichen Kategorien, Sein und Denken,
klar zu machen.
Vielmehr
ist diese Seinsform des Allgemeinen in re ein Begriff sui
generis, der gewissermassen zwischen Realität und Idealität in der
Mitte steht, ohne doch etwa aus beiden mechanisch zusammensetzbar zu
sein.
So
wenigstens stellt sich das Prinzip bei den Verteidigern der
universalia in re dar, gleichviel, ob wir es als eine klare und
haltbare Vorstellungsweise ansehen können oder nicht.
Die
soziologische Analogie hierzu wird durch den Umstand nahe gelegt, dass
die Anhänger der obigen Theorie das Was der Dinge, ihre allgemeinen
aber inhärenten Qualitäten auch als ihre Form bezeichnen.
Die
Materie, der Stoff ist das blosse Sein, das schlechthin Einzelne; die
Form, die von der Qualität nur dem Worte nach getrennt ist, ist ein
Allgemeines; sie schliesst das Objekt mit anderen zu einer Gattung
zusammen und ist zugleich das Wesentliche, die Bestimmung seines
Soseins.
Entsprechend
nun ist die Vergesellschaftung die Form der Individuen, und zwar in
doppeltem Sinne: einmal ist die Gesellschaft selbst eine Form, zu der
die Individuen das Material bilden, die aber nur an diesem Material
besteht; und dann erhält das Individuum, an und für sich betrachtet,
durch die sozialen Beziehungen seine eigenen Qualitäten, seine
wesentliche Form.
Das
erstere verwirklicht sich insbesondere in der Tatsache, dass die
Gliederung und Gestaltung einer sozialen Gruppe durch Generationen
hindurch dieselbe bleiben kann; es findet also Formbeständigkeit bei
völligem Wechsel des Personenmaterials statt, vergleichbar der
beharrenden Gestalt des organischen Körpers bei fortwährender
Ausscheidung und Ergänzung seiner Materie. (<120)
Hier
haben wir also ein praktisch Allgemeines, das, dem Einzelnen begrifflich
gegenübergestellt, volle Realität besitzt , das scheinbar in der
Zergliederung des Einzelnen weder gefunden noch erschöpft werden kann,
und dessen greifbare Wirksamkeit sich ganz jenseits des Verdachtes bloss
abstrakter Existenz für den Beobachter stellt.
Andrerseits
aber besteht diese dauernde reale Form und Allgemeinheit doch nur in und
an den Einzelnen. Man
spricht wohl von innerlich nichtigen und unwahren sozialen Gebilden, z.
B. überlebten Institutionen; allein damit wird doch nur ein Werturteil,
nicht aber ein Existenzialurteil ausgesprochen; losgelöst von den
Individuen, die es tragen, kann auch das ausgehöhlteste soziale Gebilde
nicht bestehen.
Hier
haben wir also ein Allgemeines, das weder ante rein noch bloss post rem
ist, sondern tatsächlich dem Einzelnen inhäriert, eine
zusammenfassende Form, die nicht ausserhalb ihres singulären
Materials existiert, nur allein vermöge dieses bestehen kann und
dennoch eine für sich bestehende Bedeutung besitzt, ein Wie und Was
kenntlich macht, das von dein Individuellen begrifflich unabhängig ist,
während es doch sein Dass ausschliesslich von und in ihm empfängt.
Was
die zweitgenannte Bedeutung der Analogie betrifft, so besteht sie in
einer Wirkung der Tatsachen, die die erste bildeten. Das
Enthaltensein in einer Gruppe, die Abhängigkeit von gemeinsamen
herrschenden Kräften, die Einordnung in eine einheitliche soziale
Organisation muss eine gewisse qualitative Gleichheit unter allen
Mitgliedern derselben bewirken.
Indem
man dieselbe Sprache gebraucht, demselben Recht und derselben Sitte,
vielfach überhaupt denselben Lebensbedingungen unterliegt, ergibt
sich ein allgemeines Niveau des (<121) Denkens und Fühlens, in dem
jeder für sich teil hat, das jeden für sich besonders bestimmt, aber
ebenso wie seinen Nachbar und jeden anderen.
Und
auch auf den Gebieten, auf denen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe
Unterschiede der Individuen schafft, besteht doch ein gewisser
Zusammenhang, eine funktionelle Abhängigkeit dieser Unterschiede
untereinander, die, oft vielleicht noch mehr als unmittelbare
Ähnlichkeit der Individuen, diese als einheitlich zusammengehörige
charakterisiert.
Hier
ist also ein Allgemeines, das begrifflich noch enger als die
intersubjektive soziale Form selbst an den Einzelnen haftet,
unmittelbar ihre Qualität bestimmt, oft genug das Wesentliche und
Formgebende für sie ist.
Und
das Wesen dieses Allgemeinen ist als solches keineswegs damit
abgeschlossen, dass gleiche Eigenschaften an den Einzelnen, der Gruppe
Zugehörigen, bestehen, sondern durch die gemeinsame Wurzel, die reale,
eben diese Gleichheit bewirkende soziale Kausalität erhält die
Allgemeinheit der blossen Qualitäten eine feste, greifbare Bedeutung,
die sie als etwas mehr denn als blosse beobachtende Zusammenfassung des
Gleichen erkennen lässt.
Es
ist ein universale im objektiven Sinn, weil die Qualitäten der
Einzelnen, deren Gleichheit eben das universale bildet, sich einander
realiter zu dieser Gleichheit bestimmen bez. von einer dritten Macht aus
zu ihr bestimmt werden - zugleich aber, weil es sich nur um ein Was und
Wie handelt, findet es nur an dem Dass, an dem Sein der Einzelnen, seine
Wirklichkeit, ist ein universale in re.
Einfacher
ist die Analogie auf beiden Seiten, wenn nun endlich drittens jegliche
Allgemeinheit als blosse, subjektive Abstraktion gilt, als eine
Synthese, welche der Beobachter an den Dingen vollzieht, während sie an
und für sich individuell sind.
Wie
es sich mit der Ähnlichkeit zweier Personen verhält, die für den
einen Beobachter vorhanden ist, während sie dem anderen absolut nicht
aufgehen will und dadurch beweist, dass sie nicht innerlich sachlich
bedingt ist: so soll es mit der Gleichheit der Eigenschaften sein,
die nach den früheren Ansichten von dem Allgemeinbegriff als einer
Realität getragen wurden. (<122)
Der
Begriff ist für diese Theorie eine Rechenmarke, ein willkürliches
Symbol, geschaffen, um mit einer Anzahl von Einzeldingen, die man aus
irgend einem Grunde zusammenfassen will, kürzer und handlicher zu
operieren. Der
hierfür grundlegende erkenntnistheoretische Gedanke ist dieser.
Die
Bildung eines Allgemeinbegriffs setzt die Gleichheit von Eigenschaften
der Dinge voraus; dass aber mehrere Dinge gleich sind, liegt nicht in
ihnen selbst, ist nicht selbst eine Qualität ihrer, da jedes von ihnen
genau das gleiche bliebe, wenn es auch gar nichts ihm überhaupt
Vergleichbares in der Welt gäbe.
Die
Gleichheit ist also nichts Objektives, nichts Seiendes, sondern sie
entsteht erst durch die Vergleichung, also durch einen nur im Beobachter
stattfindenden Vorgang.
Also
kann auch der Allgemeinbegriff, dessen ganzer Inhalt eben diese
Gleichheit ist, nichts in oder gar vor den Dingen Bestehendes sein,
sondern erst nachdem die Dinge in der Abgeschlossenheit und Fertigkeit
ihrer Existenz gegeben sind, entsteht das universale sogar erst durch
einen psychologischen Prozess zweiter Potenz: über denjenigen, der
überhaupt erst die Gleichheit der Dinge schafft, von der ihre objektive
Existenz sozusagen nichts weiss, wird dann erst der weitere gesetzt, der
diese Gleichheit wieder zu einer Einheit, dem Begriff, verfestigt.
Die
Subjektivität eben dieser Einheit ist es, auf die sich der
soziologische Nominalismus stützt. Bisher
war behauptet worden, dass die soziale Gruppe ihr Wesen nicht in der
Summe ihrer Mitglieder erschöpfe, sondern über oder wenigstens in
ihnen eine reale Einheit bilde, eine Allgemeinheit, die nicht aus der
isolierten Betrachtung jedes Elementes, sondern nur aus ihrem Zusammen
zu gewinnen ist.
Dennoch
sei sie keine blosse Vorstellung, sondern ihre Existenz und Inhalt sei
ganz unabhängig davon, ob sie vorgestellt werde oder nicht. (<123)
Dem
gegenüber kann nun hier behauptet werden, dass die ganze Anschauung auf
dem alten metaphysischen Fehler beruhe, der die zwischen mehreren
Elementen spielenden Vorgänge zu ausserhalb derselben liegenden
Wesenheiten hypostasiert; es sei eigentlich der Doppelsinn des Zwischen,
an den sich der ganze Irrtum hefte: eine Wechselwirkung zwischen zwei
Elementen werde vorgestellt als ein gewissermassen im räumlichen
Sinne zwischen ihnen liegendes Objekt.
Alle
Gesellschaft, alle soziale Formung beruhe darauf, dass ein Individuum
auf das andere wirke, allein diese Wirkungen bleiben eben in den
Individuen beschlossen als Qualitäten oder Bewegungen derselben, die
sich in keiner Weise von den sonstigen, die Persönlichkeit bildenden
Modifikationen unterscheiden.
So
wenig man diejenigen mannigfaltigen Beschaffenheiten der Personen, die
sie den Einwirkungen ihres geographischen Milieu verdanken, als eine
besondere Einheit über oder in den Individuen gelten lasse, so wenig
können dies die Bestimmungen, die die soziale Wechselwirkung an den
Einzelnen hervorbringt.
Die
soziale Allgemeinheit wird zur Einheit, also zu der Vorstellung eines
Konkreten, erst in der Betrachtung desjenigen, der die Wechselwirkungen
der Individuen unter einem mitgebrachten Begriff zusammenschliesst.
Konkrete
Allgemeinheit ist nichts, als Einheit von Mannigfaltigem, diese Einheit
aber kann nur von einem Subjekt nach bestimmten Kategorien hergestellt
werden, und wenn man ein objektives Korrelat ihrer zu erblicken glaubt,
verwechselt man eben die Wechselwirkung, d.h. wechselseitig ausgelöste,
aber ausschliesslich in den Individuen verbleibende und individuell
charakterisierte Modifikationen mit einer zwischen den Individuen
befindlichen und sie wie ein körperhaftes Band umschliessenden
Wesenheit.
Ja,
das nominalistische Prinzip kann zu seiner tieferen Begründung und
Exemplifizierung anführen, dass auch die physisch-psychische Einheit
des menschlichen Individuums nicht in dem absoluten und realen Sinne
besteht, in dem lange Denkgewohnheit sie erscheinen lässt. (<124)
Die
Einheit des Selbstbewusstseins einerseits, die Vorstellung einer den
Körper als Ganzes zusammenhaltenden Lebenskraft andrerseits stellten
den Einzelmenschen als ein metaphysisch einheitliches Element dar.
Über
den Kräften, die die Atome des Leibes in Wechselwirkungen aneinander
banden, schien noch eine Totalkraft zu walten, die jene nach
einheitlichem Plane lenkte, gerade wie sich über den einzelnen Gesetzen
für den Zusammenhang der Vorstellungen - die uns freilich erst in rohen
Antizipationen bekannt sind - die persönliche Seele erhob, als der
unteilbare Quellpunkt alles psychischen Lebens.
Wir
erkennen heute, dass die Annahme solcher Einheitlichkeit uns nicht
fördert, sondern dass alles darauf ankommt, die einzelnen Prozesse und
ihre Gesetze zu erkennen, in denen sich das Wechselspiel der kleinsten
Teile vollzieht; freilich sind diese Wechselwirkungen innerhalb des
Körpers wie innerhalb der Seele und innerhalb beider unter einander
besonders eng ; allein das darf nicht darüber täuschen, dass auch der
Organismus aus Zellen zusammengesetzt ist, die immer noch eine relative
Selbständigkeit gegen einander besitzen, und dass in der Seele kein
Punkt zu entdecken ist, von dem aus die Mannigfaltigkeit und Divergenz
ihrer Inhalte als harmonische Entwicklung einer ursprünglichen Einheit
erscheinen müsste.
Jene
Einheit ist nichts als ein Kreis, den wir der Summe unserer psychischen
Erscheinungen umschreiben, ein rein formaler Gedanke selbst, der deshalb
nicht über den Vorstellungen stehen und sie mit realer Kraft zur
Einheit zusammenschliessen kann.
Der
Versuch, zu einer möglichst "reinen" Erfahrung zu gelangen
– die allerdings hier nur die konstruktive Fortsetzung bisher
erfolgreicher Denkmodi bedeutet - mündet bei den punktuellen Atomen
oder sonst irgendwie zu denkenden kleinsten Teilen als dem eigentlich
und allein Objektiven, während jede höhere, überhaupt aus Teilen
bestehende Einheit nur subjektiverweise eine solche ist. (<125) Mit
dem Nominalismus ist diese Leugnung der anthropologischen
Einheitlichkeit insofern identisch, als sie behauptet, dass eben diese
Einheit nur vermöge eines Begriffs zustande kommt, den wir an die
atomistische Wirklichkeit heranbringen, und nach dessen Norm wir diese
durch Unterscheiden und Verbinden zu höheren, zusammengesetzten
Einheiten gestalten.
Die
anthropologische Einheit ist also die Folge oder Darstellung des
Begriffes Mensch, und in dem Augenblick, wo eines von beiden seine
objektive Berechtigung verliert, ist auch die des anderen erschüttert.
-
Das Gedankenmotiv also für die Verteidiger sowohl der begrifflichen wie
der soziologischen Behauptung der universalia post res ist dies,
dass jede Allgemeinheit Resultat einer Zusammenschliessung ist, ja, in
dieser Zusammenschliessung, Synthesis, überhaupt besteht, Synthesis
aber, nach Kant's Ausdruck, niemals in den Dingen liegen kann, sondern
ausschliesslich eine Funktion des Subjekts ist.
Ich
habe diese Analogie zwischen dem allgemeinen oder
erkenntnistheoretischen und dem soziologischen Realismus bez.
Nominalismus ausgeführt, weil die soziologische Form desselben einen
Übergang zwischen der allgemeinen und der ethischen bildet.
Es
liegt nahe, anzunehmen, dass der theoretischen Meinung über das
Verhältnis des Einzelnen zur Allgemeinheit eine
praktisch-teleologische parallel gehe.
Wer
die Gesamtheit dem Individuum gegenüber als das Primäre ansieht, werde
auch den Wert des letzteren nur nach dem Masse schätzen, in dem es
für die Allgemeinheit wirkt und die Kräfte und Werte, die es aus ihr
empfangen, wieder an sie zurückströmen lässt.
Ein
theoretischer Individualismus scheint es umgekehrt mit sich zu bringen,
dass die Allgemeinheit auch im ethischen Sinne nur als Durchgangspunkt
für die Gestaltung des Einzelnen gelte; wer die Existenz einer
Allgemeinheit als Realität jenseits der Einzelnen leugnet, kann auch
natürlich in ihr kein Objekt sittlicher Zwecksetzung finden. (<126)
Der
soziologischen Mittelpartei endlich, die dem Allgemeinen zwar eine
konkrete, aber keine gesonderte Existenz zugibt, würde ein Imperativ
entsprechen, der dem Individuum die Steigerung der sozialen
Eigenschaften zur Pflicht machte, jedoch nicht in dem Sinne, dass das
objektive soziale Gebilde oder Gebot Endzweck wäre; auch nicht so, dass
die soziale Rücksicht oder Qualität schliesslich doch in eine rein
individuelle Modifikation einzumünden habe; sondern so, dass unter den
Eigenschaften der Personen die auf die Gesellschaft bezüglichen den
eigentlichen Wert der Person ausmachen und die Ausbildung derselben
einen sittlichen Zweck bildet, ohne dass weiter gefragt werden könnte,
ob derselbe etwa seinerseits ein blosses Mittel für ein Ideal des
Individuums oder für eines der Gesamtheit wäre.
Das
Allgemeine am Einzelnen immer reiner und vollkommener darzustellen, ist
eben ein für sich befriedigender Zweck; wie theoretisch das Was und das
Dass der Dinge und Personen tatsächlich zusammengehört, und dennoch
das Was, das Formgebende, in begrifflicher Trennung und gesonderter
Wertung betrachtet werden kann: so würde sich entsprechend im Ethischen
die Stellung des Einzelnen in der sozialen Gruppe, oder seine aus der
Gesamtheit geflossenen Eigenschaften, oder sein altruistisches Handeln
zwar tatsächlich nicht auf einen ausser ihm gelegenen Zweck projizieren
lassen, vielmehr ganz und gar nur als Modifikationen der realen
Persönlichkeit gelten, welche Modifikationen sich eben als die
sittlichen Endzwecke dieser Persönlichkeit darstellen.
Diese
Zusammenhänge zwischen soziologischer Überzeugung und praktischer
Gesinnung sind psychologisch wohl begründbar und mögen sich oft genug
in mehr oder weniger bewusster Form, mit grösserer oder geringerer
prinzipieller Entschiedenheit in Wirklichkeit vorfinden.
Statt
aller weiteren historischen Beispiele weise ich nur darauf hin, wie sich
in der Gegenwart der soziologisch – historische Charakter aller auf
den Menschen bezüglichen Erkenntnisse mit der sozialen Tendenz der
Sittlichkeit verbindet. (<127)
Wenn
wir den Einzelnen als ein Produkt der Allgemeinheit, als den blossen
Erben ihrer unmittelbar persönlichen wie ihrer objektiv gewordenen
Erwerbungen ansehen, andrerseits in der Eingabe an das soziale Ganze, an
die Gattung, die Gesamtheit seiner Pflichten beschlossen glauben, so
dürfte es schwer sein, zu entscheiden, welches von beiden Momenten die
Ursache und welches die Wirkung ist.
Und
gerade die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit dieser Entscheidung beweist
die Enge des Zusammenhanges zwischen der theoretischen und der
ethischen Tendenz.
Dennoch
zeigt sich auch hier die Unmöglichkeit, zu einer apriorischen
Festsetzung derartiger Verhältnisse zu gelangen; denn die
mannigfaltigsten, aus den Begriffen gar nicht zu konstruierenden
Kombinationen zwischen dem theoretischen und dem ethischen Realismus
oder Nominalismus kommen vor, und zwar sind sie insbesondere da
nahegelegt, wo eine entschiedene erkenntnistheoretische Scheidung
entweder zwischen der Erscheinung der Dinge und ihrem übersinnlichen
Substrat oder zwischen regulativen und konstitutiven Prinzipien zum
Grunde liegt.
Religiöse
Stimmungen z. B. werden die Isolierung des Individuums gegenüber der
allumfassenden göttlichen Einheit oft schwer empfinden; und gerade dies
Gefühl, dass das irdische Leben der Einzelnen auf sich selbst
gestellt ist, dass die Ansätze zur Einschmelzung in die höchste
Allgemeinheit erfolglos abprallen, mag die Vorstellung und den Trieb
einer inneren Arbeit der Seele hervorrufen, die zwar eben nicht im
Irdischen, aber im Jenseits zu jener absoluten Einheitlichkeit mit Gott
führe.
Dieselbe
mag als Anlage, Potenz, dunkler Drang allem Tun zum Grunde liegen, das
demnach sein eigentliches Ziel, die Aufhebung der Eigensucht und
Eigenexistenz, gar nicht hier erreichen kann: die Vorstellung also eines
tatsächlichen Individualismus ist mit einem metaphysischen Realismus
des Wollens verbunden. (<128)
Die
formal gleiche Verbindung bei sehr unterschiedenem Inhalte zeigt die
Wertung der Konkurrenz.
Die
Voraussetzung derselben ist die Isolierung der Einzelnen gegen einander,
die der Erkenntnis gegebene Tatsache, dass jeder auf sich steht und,
indifferent gegen die Allgemeinheit, sich gegen jeden anderen Einzelnen
zu behaupten sucht.
Allein
dieser Individualismus der primären Erscheinung kann nun doch verbunden
werden mit dem Realismus übersubjektiver Werte und Gebilde, welche aus
der Konkurrenz hervorgehen sollen. Gerade
sie sei das Vehikel für das der Gesamtheit Nützliche, die Vereinzelung
und Reibung der Kräfte produziere nach einer geheimnisvollen Weisheit
der Weltordnung die Institutionen und Güter, die dann jenseits aller
Einzelnen stehend ihren Segen auf diese zurückstrahlen.
Gewissermassen
eine intersubjektive Sittlichkeit setze sich diese objektiven Ideale,
die den Individualismus der Subjekte zur Voraussetzung und zum Mittel
haben. -
Für eine andere Richtung mag ein theoretischer Realismus der sozialen
Begriffe zum Grunde liegen.
Die
Gebilde, in denen sich das soziale Geschehen verfestigt und objektiviert
hat: Sprache, Religion, vernünftige Denkform, Recht, Moral, Staat -
haben sich allerdings von dem Einzelnen, der daran teilhat, scheinbar
unabhängig gemacht; er findet sie vor als einheitliche Gegebenheiten,
in denen die Beiträge der Individuen nicht mehr herauszuerkennen sind,
die sich zwar jedem darbieten, aber sich gleichgültig dagegen
verhalten, ob er daran teilnimmt oder nicht; daher denn keines von
diesen der Vorstellung entgangen ist, ein unmittelbares Geschenk der
göttlichen Macht zu sein, eine Vorstellung, die doch offenbar nur der
substantialisierende Ausdruck dafür ist, dass uns die einzelnen
individuellen Wirkungen nicht bekannt sind, die diese Gebilde geschaffen
haben. (<129)
Auch
hier bewahrheitet sich die Vermutung, die ich im 4. Kap. (I, 446)
aussprach: dass das Verhältnis des Individuums zu Gott vielfach nur ein
Symbol seines Verhältnisses zur sozialen Allgemeinheit sei; die
Hypostasierung der sozialen Kräfte in Gott ist der Höhepunkt des
soziologischen Begriffsrealismus.
Man
braucht indes gar nicht so weit aufwärtszuschreiten, um jene Gebilde
als konkrete und von den Individuen unabhängige Einheiten anzusehen und
die völlige Abhängigkeit des Einzelnen von ihnen zuzugestehen,
positiv, indem er seine Lebensinhalte von ihnen empfängt und nach ihnen
gestaltet, negativ, indem er ihnen gegenüber machtlos ist.
Sie
bilden gewissermassen das Apriori, das alle erfahrungsmässigen
Betätigungen des Individuums erst möglich macht. Über
diese theoretische Einsicht aber kann man gerade nun die teleologische
Überzeugung von dem Berufe des Einzelnen setzen: dass er jene
Allgemeingebilde als Material für eine ganz besondere, nur ihm eigene
Formung des Lebens zu benutzen habe.
Der
theoretische Realismus bildet so gerade die Grundlage für einen
ethischen Nominalismus, das sozial Allgemeine erscheint gerade wegen
seiner substantiellen Realität und Bedeutsamkeit zur Auflösung in das
Individuelle bestimmt.
-
Ferner ist eine Kombination denkbar, in der die Existenz des Sozialen am
Individuum als Tatsache anerkannt und die sittlichen Forderungen dahin
zusammengefasst werden, dass diese an den Einzelnen gebundene soziale
Qualität oder Energie sich aus ihm heraus in objektiven Gebilden
verkörpere.
Wer
z. B. meint, dass alle künstlerischen, wissenschaftlichen, praktischen
Begabungen nur besonders günstige Vererbungen seien, nur Anhäufungen
von Erwerbungen der Gattung, der wird, indem er zwar sehr wohl weiss,
dass die Gattung dies eben nur am Individuum in die Erscheinung treten
lässt, doch zugleich die Pflicht daraus herleiten, dass solche Begabung
nicht nur individuell ausgenützt werde, sondern er wird das Herstellen
objektiver Werke und Taten als sittliches Ideal anerkennen können.
(<130))
Das
tatsächliche Universale in re, bez. in persona, wird ihm
die Grundlage der ethischen Forderung, dass dies Universale zu einem
für sich Bestehenden, von dem Individuum Gelösten jenseits des
Persönlichen weitergebildet werde.
-
In umgekehrter Richtung endlich bewegt sich jene ethische
Geschichtsphilosophie, die ihren Angelpunkt in dem Unterschiede der
öffentlichen, esoterischen, von der persönlichen, innerlichen
Sittlichkeit findet, und behauptet, dass jene zu immer reineren und
umfassenderen Gestaltungen vorschreitet, während diese immer von vorn
anfängt.
Das
allgemeine Gewissen der Menschheit, die sozusagen offiziellen Ansprüche
und Voraussetzungen in sittlicher Hinsicht erhöhten und veredelten sieh
im Laufe der Geschichte; diesen Stand des allgemeinen Gewissens aber
erreiche der Einzelne nicht, das Aufsteigen zu ihm, das Hineinbilden
desselben in die eigene Persönlichkeit bleibe der Inhalt subjektiv
sittlicher Idealbildung.
Hier
liegt also ein Realismus des soziologischen Universale als theoretisch
anerkannte Tatsache vor, während die ethische Aufgabe darin besteht,
dies Universale zu einem in dem Individuellen, Lebendigen und Konkreten
zu machen.
Ich
begnüge mich mit diesen Beispielen, die nur zeigen sollen, eine wie
grosse Anzahl von Lebensrichtungen und -gestaltungen sich aus der
Verflechtung jener einfachen Motive ergibt, die theoretisch als
Nominalismus und Realismus geformt sind.
Hierdurch
erhält erst der kategorische Imperativ seine Stellung in der Geschichte
der grundlegenden Gedanken der Menschheit.
Denn
auch er ist nur einer der Versuche, zwischen dem Einzelnen und dem
Allgemeinen zu vermitteln, indem er das logische Verhältnis beider zum
Prototyp ihres praktisch-sozialen macht; und weil er dies letztere bloss
imperativisch, bloss als ethisches Ideal fasst, ermöglicht er es,
zugleich doch auch andrerseits die Tatsächlichkeit des soziologischen
Verhaltens als das Prototyp des logisch-metaphysischen Problems und
seiner Lösungen anzusehen.
Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Vorworte
Band 1:
1.
Kapitel: Das Sollen
2.
Kapitel: Egoismus und Altruismus
3.
Kapitel: Sittliches Verdienst und sittliche Schuld
4.
Kapitel: Die Glückseligkeit
Band 2:
5.
Kapitel: Der kategorische Imperativ
6.
Kapitel: Die Freiheit
7.
Kapitel: Einheit und Widerstreit der Zwecke
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