Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
presents: Georg Simmel Online

  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online G.Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft

 

Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe

Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93

Band 2: Fünftes Kapitel: Der kategorische Imperativ (S. 1-130)

Die Erfüllung der Pflicht um der Pflicht willen

Die Erfüllungswahrscheinlichkeit als Wertmoment ethischer Forderungen

Die teleologische Bedeutung der Allgemeingültigkeit der Handlung

Die logische Bedeutung des kategorischen Imperativs

Der ethische Wert der Widerspruchslosigkeit

Die ethische Bestimmung des Einzelnen durch seinen Begriff

Verhältnisse zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen in theoretischer und praktischer Hinsicht

Geschichtliche Parallelen und Entgegensetzungen zwischen den theoretischen und den praktischen Annahmen

Gemeinsames Fundament beider

Ethischer Realismus und Nominalismus

(<1) Die Formel des kategorischen Imperativs: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne - hat für Kant einen doppelten Zweck.

Sie soll zunächst die Form beschreiben, welche die als sittlich beurteilten Handlungen ihrer objektiven Erscheinung nach aufweisen.

Sie soll aber zugleich das psychologische Motiv ihrer eigenen Erfüllung ausmachen und so das Kriterium der subjektiven Sittlich­keit sein; die Sittlichkeit besteht ja, wie er anderweitig betont, nicht nur darin zu handeln wie es Pflicht ist, sondern weil es Pflicht ist.

Da die späteren Überlegungen nur dem erstgenannten Zwecke der Formel gewidmet sind, sei hier über den zweiten gleich das Folgende bemerkt.

In der Forderung, dass jenes Moralgesetz nicht nur überhaupt erfüllt, sondern um seiner selbst als letzten Motives willen erfüllt werde, liegt die eigentliche sittliche Autonomie, in einem ganz anderen als dem gewöhnlichen Wortsinne.(<2)

Denn es handelt sich hier nicht nur darum, dass der Handelnde die Norm seines Verhaltens ausschliesslich aus sich selbst schöpfe, ohne durch den Willen eines Anderen, vermöge der Mittelglieder von Furcht und Hoffnung oder unmittelbar durch Autorität oder Suggestion motiviert zu werden.

Diese sittliche Heteronomie könnte ausgeschlossen sein, ohne dass der unsittlichsten Selbstsucht der Raum genommen wäre, da auch das Handeln um des Glücksgefühles willen völlig autonom sein kann.

Nicht nur die Abhängigkeit dieses Gefühles von äusseren und sinnlich erregenden Gegenständen kann doch nur sehr mittelbar als Heteronomie gelten, - denn wir empfangen die Regel unseres Verhaltens dabei keineswegs von aussen, sondern dieselbe bildet sich völlig spontan in uns und hat nur in demselben Sinne einen äusseren Gegenstand zur Materie, wie doch auch das sittliche Wollen sich schliesslich auf irgend ein Objekt richten muss.

Sondern der Egoismus und Eudämonismus kann überhaupt ohne ein derartiges Objekt auskommen, er kann sich, insbesondere bei ästhetisch gerichteten oder auf geistige Selbstbefriedigung angelegten Naturen ganz auf innere Verhältnisse beziehen und in einer bestimmten Gestaltung derselben sein volles Genügen finden.

Das wären also Fälle von Autonomie des Praktischen, die doch keineswegs als sittlich zu bewerten sind.

Die Kantische Autonomie dagegen - in derjenigen Konsequenz, deren Reinheit er selbst freilich nicht aufrecht erhalten hat - ist nicht eine Autonomie der Persönlichkeit überhaupt, sondern der Sittlichkeit; ihre Folge oder ihr Inhalt ist nicht, dass jemand überhaupt sich sittlich richtig verhalte, sondern dass, wenn er es tut, er es auch um der Sittlichkeit selbst willen tut, und kein ausserhalb ihrer gelegenes Motiv hinzuzutreten braucht, um die als sittlich erscheinende Handlung hervorzurufen.(<3)

Weshalb nun aber Kant, in Übereinstimmung mit dem allgemeinen sittlichen Befinden, dieser Pflichterfüllung um der blossen Pflicht willen einen so besonders hohen Wert zugesprochen hat, dass er den Kern der Sittlichkeit in ihr erblickt - das ist nicht ohne weiteres klar.

Ich glaube, dass auch hier die Bildung des Innerlichen von einem relativ Äusserlichen ausgegangen ist.

Wo nämlich die Erfüllung der Pflicht einer motivierenden Kraft entstammt, die an sich auf anderes gerichtet ist, da ist es eben nur zufällig, dass die Entwicklung derselben ihren Weg über die Pflicht nimmt.

Wenn wir das Sittliche zwar äusserlich tun und sogar mit durchaus sittlicher innerlicher Gesinnung, aber mit psychologischer Betonung des materialen Zwecks, des Inhaltes des Tuns, so ist man nicht von vornherein sicher, ob die gleiche Assoziation des praktischen Pflichtgefühles auch mit jedem anderen erforderlichen Inhalte stattfinden werde.

So oft wir auch dasjenige getan haben mögen, was uns Pflicht ist: so bald wir es nicht aus dem Grunde, dass es Pflicht ist, getan haben, liegt darin absolut keine Gewähr für den nächsten Fall des Handelns.

Nur bei demjenigen, dem die blosse Pflichtmässigkeit des Handelns das Motiv desselben ist, ist die Gefahr ausgeschlossen, dass er einer Pflicht einmal auf irgend welche Nebeneigenschaften oder - wirkungen ihres Gegenstandes hin die Erfüllung verweigere, und die sittliche Richtigkeit seiner äusseren Taten hat dieselbe relative Gewissheit, wie die ästhetische Richtigkeit des Handelns jemandes, dein die Schönheit Motiv des Tuns überhaupt ist.

Wir erfassen hiermit die tiefere Grundlage des früher bloss tatsächlich geschilderten Verhältnisse, in dem Kant den Begriff der Sittlichkeit mit dem des sittlichen Verdienstes vertauscht, und behauptet, dass sich die Kraft des sittlichen Gebotes nur durch Aufopferungen kenntlich machte.

Denn so lange eudämonistische Motive in der gleichen Richtung wirken wie sittliche, kann niemand, auch der Handelnde selbst nicht mit Sicherheit wissen, von welchen er in Wirklichkeit bestimmt worden ist.(<4)

Es ist immerhin nur eine Möglichkeit, dass es durch die sittlichen geschah und eine Gewissheit darüber haben wir erst in dem Augenblick, wo die Motive gegen einander wirken.

Erst wenn die Handlung mir von allen eudämonistisch-egoistischen Motiven widerraten wurde und ich sie dennoch vollbrachte, ist die Überzeugung, dass ich sie aus sittlichen Motiven vollbrachte, eine bewiesene.

Die scheinbare Asketik der Kantischen Lehre: die Fundamentierung des Sittlichkeitsbegriffes auf dem Gegensatz und der Über­windung der Glücksinteressen, ist angesichts unserer unvollkommenen Einsicht in die Motive des Handelns nur die garantierende ratio cognoscendi dafür, dass wirklich ethisches Handeln vorliegt, wie die Motivierung des Pflichthandelns aus der Pflicht die garantierende ratio essendi desselben ist.

Ist die Pflicht im einzelnen Falle erfüllt, so könnte es insofern der Allgemeinheit völlig gleichgültig sein, ob sie um der Pflicht willen oder um ihres Objektes willen erfüllt wurde; wenn es ihr dennoch nicht gleichgültig ist, sondern sie den ersteren Fall sehr viel höher bewertet als den letzteren, so kann dies nur auf Grund der grösseren Garantie geschehen, die eine derartige Gesinnung für alle künftigen Fälle gewährt.

Wird um der Pflicht willen sittlich gehandelt, so ist die Handlung wirklich ein Fall des sittlichen Prinzips und man kann relativ sicher sein, dass jeder weitere Fall nach eben demselben behandelt wird, gleichviel welchen Inhalt die unberechenbaren Wandlungen des Geschicks ihm geben mögen.

So selbstverständlich also, wie lange Gewohnheit uns diese Schätzung der Gesinnung gemacht bat, ist sie an sich nicht.

Sehen wir die einzelne Tat rein in ihrer Einzelheit an, so wird man im Interesse der Allgemeinheit viel eher wünschen, dass sie dieser zum grossen Nutzen gereiche und zugleich aus höchst sträflichem Egoismus hervorgegangen sei, als dass eine weniger nützliche geschähe, der aber die reinste und verdienstvollste Absicht zum Grunde läge. (<5)

Wenn wir dennoch auf die letztere einen Wert legen, den wir der ersteren verweigern, so ist das nur ein Induktionsschluss daraus, dass im Allgemeinen die letztere Gesinnung nützliche, die erstere schädliche Taten hervorruft.

Aber ist dies nicht vielleicht eine rohe Verallgemeinerung? Dürfen wir einen Fall nach einer Regel beurteilen, von der er doch gerade eine Ausnahme bildet?

Wären die Kräfte in der Majorität, die das Gute schaffen, indem sie das Böse wollen, würde dasjenige, was wir böse Gesinnung nennen, stets zum Vorteil der Gesamtheit ausschlagen, so würde offenbar sie geschätzt und der jetzt gut genannten der Wert abgesprochen werden

Wenn dies nun in einem einzelnen Falle eintritt, - darf er darunter leiden, dass andere Fälle eben anders beurteilt werden müssen? Was geht es ihn an, ob tausend Fälle neben ihm gleich oder anders sind? Der Schein der Paradoxität und der Moralskepsis, der solchen Fragen anhaftet, entsteht dadurch, dass man einen Begriff des Guten schon voraussetzt, nach dessen Berechtigung gerade erst gefragt wird; dass ein Kriterium auf diejenigen Vorgänge angewendet wird, die seiner Erhebung zum Kriterium erst zum Grunde liegen.

Auch handelt es sich hier keineswegs um eine Revolutionierung der Begriffe von Gut und Böse, sondern nur um eine theoretische Klärung ihres Ursprungs.

Hat sich erst durch Verdichtung und sozialethische Prophylaxis über dem real Nützlichen der Wert des Innerlichen, der garantierenden Grundlage erhoben, so wäre es ein völliges Verkennen der historischen Methode, die neuen Wertbestimmungen innerhalb der Grenzen festhalten zu wollen, von denen ihre Fundamente allerdings umschlossen waren.

Dieses Missverständnis des historisch – psychologischen Prinzips ist freilich nichts Seltenes und steht auf gleicher Stufe mit der dem Entwicklungsprinzip aufgebürdeten Konsequenz, dass der Ursprung des Menschen aus einer niederen Tiergattung sein Wollen und Fühlen an den Massstab tierischer Affekte knüpfe, aus denen es sich allerdings herausgebildet hat. (<6)

Es ist vielmehr der eigentümliche Vorzug der historischen Ethik, dass sie die sachliche, ideale Bedeutung der Werte, deren Ableitung von anderen sie erkennt, darum doch nicht von diesen und den durch sie gegebenen Kriterien braucht abhängen zu lassen, sondern den historisch entstandenen dennoch den ursprünglichen gegenüber eine ganz selbständige Würde zusprechen kann.

Denn wenn auch die historische Ableitung die Absolutheit des Wertes nicht bestehen lässt, so besitzt doch auch das Fundament, das Primäre, von dem das Spätere deriviert, eine solche nicht, sondern ist nach demselben Prinzip als relativ zu betrachten und weist gleichfalls auf ein früheres hin.

Indem nach dem heuristischen Prinzip des Evolutionismus auch der ursprünglichste Wert, an den wir gelangen können, der Möglichkeit eines noch einfacheren und grundlegenderen Raum gibt, wird ihm der Charakter des Absoluten genommen, dessen Korrelat es war, dass alle späteren nur relative waren und von jenem allein ihre Bedeutung entlehnen mussten.

Sobald jener Vorzug verschwindet, fällt dieser Nachteil hinweg; die historische Betrachtung lehrt uns zwar, alles Gegebene als ein abgeleitetes erkennen, aber sie drückt dieses nicht gegenüber seinem Fundament, Material, Quell - oder wie man es nennen mag - in die Rolle eines blossen Lehnsträgers gegenüber dem absolut Wertvollen hinab, weil auch jenes wieder nur ein abgeleitetes ist, und deshalb den gleichen Prozess, der ihm den Wert verlieh, an dem sekundären zu wiederholen gestattet.

Und zu dieser historischen tritt nun die psychologische Betrachtung, die uns lehrt, dass Wert überhaupt nichts objektives ist, sondern erst im subjektiven Prozess der Schätzung entsteht, also weder in der Tatsache dieser letzteren noch in ihrem Masse an die logische oder psychische Reihe gebunden ist, in der das wertvolle Objekt sich vielleicht aus relativ primären entwickelt.

(<7) Jene oben aufgeworfene Frage, ob der einzelnen sozial-nützlichen, aber egoistischer Gesinnung entsprungenen Tat ein Wert nicht auch dann bleiben müsse, wenn das Wertgefühl auf die altruistische Gesinnung übergegangen sei, da ja diese letztere nur als Umformung und Sicherung des äusserlich Nützlichen geschätzt werde - diese Frage ist tatsächlich zu verneinen.

Denn die logische Deduktion, der sie entspringt, ist machtlos gegenüber der tatsächlichen psychologischen Entwicklung, die nun einmal auf den Punkt der Gesinnung den Wert konzentriert hat, und dazu ebenso berechtigt war., wie zu der Bewertung der einzelnen nützlichen Handlung.

Die logischen Beweise, mit denen die Sittenlehre klar zu machen sucht - und zwar nicht nur prinzipiell, sondern auch in den sittlichen Angelegenheiten des Tages und des Individuums -  dass dieses und jenes wertvoll sei, weil es in logischer Verbindung mit anderem Wertvollem stünde, kranken unzählige Male daran -  und werden daraufhin auch von dem natürlichen Instinkt zurückgewiesen -  dass sie zwar aus den Faktoren, mit denen sie rechnen, ein richtiges Fazit ziehen, aber nicht die neuen Faktoren berücksichtigen, die zu dem fraglichen Vorgang oder Willensinhalt psychologisch hinzutreten und ganz ausserhalb jener anderen, ganz unberechenbar aus ihnen, liegen.

An welchen Punkt der äusseren und inneren Entwicklungsreihe das Wertgefühl geknüpft wird, lässt sich aus dem Werte anderer Punkte dieser Reihe nicht deduzieren; und wenn diese Wertsetzung auch eine unlogische Tat, im kontradiktorischen Sinne der Unabhängigkeit von der Logik, ist, so ist sie doch keine unlogische, im konträren Sinne der positiven Entgegengesetztheit gegen die Logik.

Denn der Mangel an Absolutheit, der Charakter relativer Zufälligkeit, Abgeleitetheit und Subjektivität, den auch die zur Ableitung benutzten Werte tragen, enthebt uns der Notwendigkeit, sozusagen aus dem Fond ihres Wertes jede neue Wertsetzung als solche zu bestreiten, und verleiht der letzteren, wenn sie überhaupt psychologisch erfolgt, wenigstens das Recht logischer Unabhängigkeit von jenen.(<8)

Alles dies alteriert natürlich nicht die historisch-psychologische Erkenntnis, dass die gute Gesinnung ihren Wert nicht aus sich selbst schöpft, sondern aus der Verdichtung der vielfachen Handlungen, deren Prinzip sie zeigt und für die sie dadurch Gewähr leistet.

Es stellt sich auch hier das eigentümliche, unser ganzes Geistesleben durchziehende Verhältnis heraus, dass das Äusserliche von einem gewissen Quantum ab den Charakter der Innerlichkeit annimmt, sei es, weil bei jeder starken Zusammendrängung von Einzelheiten die Abstraktion, die geistige Form des Zusammenfügens einflussreicher wird, und sich dem Singulären gegenüber in den Vordergrund stellt, sei es weil die tiefgelegene psychologische Wurzel, die allen Taten gemeinsam ist, erst bei einer grösseren Fülle und gleichsam im Schnittpunkt derselben kenntlich wird.

Erst eine Gesamtheit praktischer und theoretischer Äusserungen bildet ein Ich, erst der grosse Reichtum der Einzelerscheinungen weist auf eine einheitliche Weltseele hin, erst die ganze Fülle der Wirkungen und Gegenwirkungen in der sozialen Gruppe lässt jene geistige Einheit in ihr verstehen, die sich nachher als Ursache der einzelnen Beziehungen und Inhalte darstellt.

Kurz, dasjenige, was uns ursprünglich als Objektives und Vereinzeltes entgegentritt, erhält durch die Beziehung und den Hinzutritt von vielem Gleichen eine Vertiefung, und Verinnerlichung, welche in keinem von diesen für sich allein liegt; aus dem Vereinigungspunkt des Einzelnen und Äusserlichen, der entweder wirklich geistiger Natur, oder wenigstens nur durch höchste geistige Funktionen konstruierbar ist, reflektiert auf jedes Element eine ihm sonst fremde Geistigkeit und Beziehung zu dem Subjekt als Träger des Objektiven.

Diese Betrachtung wird dadurch nicht alteriert, dass wir auch schon zu der entgegengesetzten Gelegenheit hatten: was wir das Objektive nennen, kommt nur durch Häufung und Verdichtung des Subjektiven zustande.

Eine Summierung des Psychologischen wird uns zum Logischen, die äussere Tat ist überhaupt nur insofern sittlich, als sie durchgehendes in der Gattung gewisse innerliche Reaktionen bewirkt u.a.

Ein Widerspruch gegen die obigen Festsetzungen ist dies insofern nicht, als die Gegensatzpaare: Subjektives-Objektives, Inneres-Äusseres, deren je eines Glied von einem gewissen Quantum an in das je andere übergeht, die entgegengesetzten Richtungen dieses Überganges doch nur an verschiedenen Materien darbieten.

Dass es aber überhaupt zu einem solchen Umschlagen der Gegensätze ineinander kommen kann, ist nichts als ein Beweis für den Charakter der Relativität, der auch den fundamentalsten und scheinbar ihren Sinn völlig in sich allein tragenden Elementen unseres Weltbildes eigen ist.

Dass die Pflicht, das Sittliche an der Handlung auch Endziel des Handelns sein müsse, wenn ihr irgend ein Wert zukommen solle, wird auch in der Form ausgesprochen, dass der Wille und nicht der zufällige tatsächliche Effekt der Handlung ihr die sittliche Bedeutung verleihe.

Denn der letztere Satz bedeutet doch, dass das Wollen des Guten, das Setzen seiner als wirkliches - nicht nur zufälliges oder technisch notwendiges - Endziel, der einzige ethische Wert sei.

Ob man nun als den Gegensatz dazu das äusserliche Resultat der Handlung oder das Wollen anderer als ihrer sittlichen Elemente ansetzt, bedeutet nur einen Unterschied in der Färbung des Untergrundes, aber nicht des positiven Baues.

Doch führt gerade die eben angeführte Formulierung, desselben besonders darauf hin, dass es doch noch einer Ergänzung bedarf, wenn die sittliche Qualität der Handlung in ihrem ganzen Umfang durch das Wollen des Endzwecks gedeckt sein soll.(<10)

Es entstehen nämlich häufige Kollisionen dadurch, dass unsere sittlich gebotenen Endzwecke nicht unmittelbar, sondern nur durch eine Reihe anderer Handlungen zu realisieren sind, welche ihrerseits einer gesonderten sittlichen Beurteilung unterliegen.

Möglich ist dies dadurch, dass die Mittelhandlungen nicht nur die Folge haben, die ich herbeiführen will und soll, sondern noch eine Reihe anderer; hat eine Handlung nur eine einzige Folge, so ist sie in demselben Masse sittlich oder unsittlich als diese Folge es ist.

Aber aus jener Mehrheit der Wirkungen ergibt es sich, dass die Beschränkung der Zurechnung auf das positiv Gewollte mindestens ein unzulänglicher Ausdruck ist.

Wenn ich z. B. Geld zu dem sittlichen Endzweck brauche, meine Familie zu ernähren, und ich es mir auf betrügerische Weise, die andere Menschen schädigt, verschaffe, so könnte ich mich nach dem Prinzip, dass ich nur für das, was ich will, verantwortlich bin, entschuldigen: mein Zweck ist ja nur die Ernährung meiner Familie; dass andere Menschen dadurch geschädigt werden, ist eine sekundäre Folge meines Handelns, die ich gar nicht will und beabsichtige, und für die ich doch nur sittlich verantwortlich wäre, wenn die Schädigung Anderer der gewollte Zweck meines Handelns wäre.

Jenes Prinzip des allein verantwortlichen Willens muss deshalb praktisch durch den allgemeinen Grundsatz ergänzt werden: alle Folgen und Beziehungen einer Handlung, die ich bei ihrer Vollbringung kenne und voraussehe, gelten als von mir gewollte, und ich bin deshalb für alle in gleichem Masse verantwortlich.

Die Betonung des Endzweckscharakters der Pflicht als alleinigen sittlichen Kriteriums legt die Versuchung allzu nahe, an denjenigen Rücksichten vorüberzugehen, welche mehr ein Vermeiden als ein Vollbringen fordern; logisch und psychologisch verführt sie dazu, hinter der Bedeutung des subjektiven Endzwecks dasjenige ganz in den Schatten zu rücken, was nicht sowohl mit positiver Direktive des Willens gewollt, als nur nicht vernachlässigt werden soll. (<11)

Weiterhin gewinnen wir mit unserer Deutung der "Pflicht um der Pflicht willen" scheinbar einen Gegensatz, tatsächlich eine Ergänzung zu der Hypothese unseres dritten Kapitels: dass die Schätzung desjenigen, der das Sittliche eben nicht bloss aus Sittlichkeit., sondern aus dem eudämonistischen Triebe der eigenen Natur heraus vollbringt, sich gerade auf die Unzuverlässigkeit der bloss pflichtmässigen Motive gründe; wir schätzten die konfliktfreie, mit dem Eigeninteresse solidarische Sittlichkeit deshalb so hoch, weil sie die Gewähr für anstandslose subjektive Erfüllung der sittlichen Forderung gäbe.

Es wurde also einmal der höchste Wert darauf gelegt, dass die Pflicht nicht nur um der Pflicht willen, sondern aus dem daneben liegenden, wenn auch parallel laufenden eudämonistischen Interesse erfüllt werde, ein andermal aber gerade darauf, dass unter Ausschluss aller anderen Interessen die Pflicht selbst das einzige Motiv ihrer Erfüllung bilde.

Ich glaube, dass vom Gesichtspunkt der sozialethischen Prophylaxis aus beide Schätzungsweisen sich nur als Seiten einer einheitlichen Bestrebung darstellen.

Es kommt darauf an, eine möglichst zuverlässige persönliche Disposition zum sittlichen Handeln zu schaffen, und diesem Zweck dient sowohl die psychologische Gestaltung, die die Pflicht als Selbstzweck, wie die sie als Glücksmoment empfindet.

Die erstere Eventualität leidet unter der Chance, dass sich andere Zwecke, die zweite, dass sich andere Mittel neben die Pflicht stellen, und darum ergänzen sie sich von dem genannten sozialen Gesichtspunkt aus, während sie sich als absolute Moralprinzipien begrifflich zu widerstreiten scheinen.

In Hinsicht auf die pädagogische Realisierung beider wird man sagen können, dass die Sicherung der Pflichterfüllung vermöge des Glücksmotives mehr Sache der öffentlichen Einrichtungen ist, die dafür zu sorgen haben, dass jede Leistung auch ihren Lohn findet, dagegen die vermöge des Pflichtmotives mehr der individuell-pädagogischen Einwirkung zukommen wird.(<12)

Dass aber überhaupt Moralprinzipien aufgestellt und sittliche Verfassungen bewertet werden, nicht allein und oft gar nicht wegen des unmittelbaren Gehaltes an Sittlichkeit, den sie repräsentieren, sondern wegen der Sicherheit, die sie subjektiv-psychologisch für die Ausführung des sachlich Sittlichen mit sich bringen: das weist auf ein Moment der sittlichen Prinzipiengebung hin, oder enthält es vielmehr schon, das bisher nicht hinreichend beachtet worden ist.

Wenn Moralgebote gewissermassen Anweisungen auf künftiges Handeln sind, so besteht ihr Wert doch nicht nur aus der Höhe der Sittlichkeit, die sie zu erreichen vor­schreiben, sondern setzt sich aus dieser und, als zweitem Faktor, der Sicherheit zusammen, mit der jene erreicht werden wird.

Das verhält sich nicht anders als mit dem Werte einer Kapitalanweisung, eines Darlehens, der nach der Höhe der Summe und der Sicherheit, sie auch wirklich wieder zu erlangen, berechnet wird.

Wo diese Sicherheit eine relativ geringe ist, sinkt entsprechend der Wert des Gesamtanspruchs, und die Erhöhung des Zinsfusses in diesem Falle ist Ausdruck und Ausgleich dieser Tatsache.

Alle menschlichen Werte, welche nicht unmittelbar genossen werden, unterliegen dieser Multiplikation mit dem Bruch, der die Wahrscheinlichkeit ihrer Erlangung ausdrückt.

Dieser Bruch selbst kann wieder aus mehreren Faktoren bestehen; wo es sich z. B. um den Wert eines Versprechens handelt, da setzt er sich zusammen aus dem Zuverlässigkeitsgrade der versprechenden Persönlichkeit und der Länge der Zeit, nach der die Leistung erfolgen soll; denn auch die grösste Zuverlässigkeit bietet, auf je längere Zeit hin sie wirken soll, dem unberechenbaren Schicksal eine um so grössere Chance, ihre Bemühung irgendwie zu vereiteln.

(<13) Aus der Wirkung des Sicherheitsfaktors ist es auch verständlich, wenn aus den Zeiten der Pest berichtet wird, dass eine unsinnige Verschwendung von Geld und Gut und eine besinnungslose Hingabe an sinnliche Genüsse geherrscht habe; denn es war bei so verstärkter Todes­hance eben unwahrscheinlich, dass der Einzelne diejenigen späteren Werte wirklich noch geniessen würde, auf die sein Kapitalbesitz die Anweisung enthielt, und dass er in und ausser sich die sozialen und objektiven Werte verwirklichen könnte, zu denen man in den unsinnlichen Energien die Spannkräfte sammelt; infolge dessen musste die Empfindung für das unmittelbar Wertvolle allein den Platz behalten.

Wenn wir allenthalben auf jene Eigentümlichkeit des Geistes, sich die Mittel zu Zwecken selbst zu unmittelbaren Werten auswachsen zu lassen, hingewiesen haben und aus ihr die überwiegende Zahl sittlicher Wert­setzungen für erklärbar halten dürfen: so bestimmt sich nun das Mass eines solchen Wertes nicht nur nach dem Werte des Endzwecks, zu dem er führt, etwa noch unter Berücksichtigung der Grösse seines Anteils an der Realisierung dieses Endzwecks; sondern das durch diese Momente gegebene Wertmass wird noch modifiziert durch die grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit, mit der die fragliche Institution, Eigenschaft, Tendenz den Endwert realisiert, von dem sie es überhaupt entlehnt, dass sie ein Wert ist.

Dieser Faktor, der unsere gesamten individuellen und sozialen Wertungen affiziert, ist deshalb so sehr schwer herauszuerkennen, weil er nicht nur objektiv genommen ausserordentlich variabel ist, sondern in seiner Wirkung auf die Wertschätzung von allen subjektiven Verschiedenheiten der Vorausberechnung, Wahrscheinlichkeitskalkulierung, Betonung durch Temperament usw. abhängig ist.

Wenn eine Gesinnung oder Gemütseigenschaft als wertvoll gilt, weil sie der Ausgangspunkt sittlicher Handlungen ist, so bestimmt sich ihr Wert nach dem Wert dieser Handlungen, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, mit der sie in Wirklichkeit zu diesen zu führen pflegt. (<14)

Es würde also z. B. eine religiöse Gemütsstimmung den höchsten Wert haben können, wenn sie allein nach den Idealen taxiert würde, auf die sie gerichtet ist; die ethische Schätzung muss es ihr aber anrechnen, dass sie diese Ideale erfahrungsmässig in vielen Fällen nicht erreicht, muss diese Fälle gleichsam pro rata auf die überhaupt vorhandene Anzahl solcher Stimmungen aufteilen und den so erzielten Bruch von ihrem Werte als Unwahrscheinlichkeitsquantum in Abzug bringen.

So ist ferner etwa die Liebe der Kinder zu den Eltern ein sittlich sehr hoch stehender Affekt, dennoch steht er in der sozial-ethischen Schätzung hinter der Liebe der Eltern für die Kinder zurück, und zwar wohl nicht nur, weil er für den Bestand der Gattung nicht die gleiche Wichtigkeit hat, sondern - was eben einer der Gründe dafür ist -  weil er nicht die Wahrscheinlichkeit hat, sich ebenso oft in wirkliche Taten umsetzen zu können wie jene.

Da derartige Schätzungen immer nur einem Durchschnitt aus vielerlei Erfahrungen entstammen und, nur auf dem allgemeinen Begriff der betreffenden ethischen Qualität haftend, die Wertung dieses auf den einzelnen Fall übertragen, so bringen sie gegen diesen eine leicht begreifliche Ungerechtigkeit mit sich, wie sie das Wahrscheinlichkeitskalkül allenthalben gegen die Einzelheit ausübt.

Denn selbst da, wo eine derartige Qualität wirklich bei einem Einzelnen zureicht, um das Sittliche zu verwirklichen, leidet die Schätzung der Tat unter der geringeren Schätzung ihres Motives, die nur davon ausging, dass dasselbe in vielen anderen Fällen eben nicht zu der gleichen Höhe des wirklichen Tuns geführt hat.

Dies ist etwa in Fällen einer religiös motivierten Sittlichkeit zu beobachten, überhaupt oft da, wo Parteitendenzen zu der Betonung der häufigen Unzulänglichkeit einer sittlichen Potenz zu wirklichen Leistungen geführt haben, und nun die aus jener Potenz dennoch hervorgegangene, nicht abzuleugnende Leistung eines Einzelnen wenigstens dadurch deklassiert wird, dass man ihr, durch jenen Wahr­scheinlichkeitsbruch in der Schätzung herabgesetztes Motiv betont. (<15)

An dieser Modifizierung des Wertes ethischer Qualitäten haben ganz ebenso die ethischen Prinzipien teil. Was wir damit betonen, scheint zwar auf die Selbstverständlichkeit hinauszukommen, dass es keinen Wert hat, etwas von den Menschen zu verlangen, was sie erfahrungsmässig doch nicht leisten.

Dazu brauchte man freilich keine Umwege über prinzipielle Deduktionen; allein es wird damit auch nur ein ganz krasser Grenzfall bezeichnet, und das, um was es sich hier handelt, betrifft die feine und keineswegs auf der Hand liegende Abstufung des Wertes von Prinzipien, die sich aus dem Masse ihrer Annäherung an diesen Grenzfall ergibt.

Der Wert praktischer Ideale steigert sich bei gleichem Werte ihrer Realisierung im Verhältnis der psychologischen Wirkung, die sie selbst für diese Realisierung einsetzen.

Wie sich der Wert eines wirtschaftlichen Gutes, nach der verbreitetsten Theorie, zusammensetzt aus seiner Brauchbarkeit und seiner Seltenheit, so der eines ethischen Prinzips sozusagen aus seiner Brauchbarkeit und der Häufigkeit seiner Anwendung; die Differenz gegen jenes erklärt sich daraus, dass der wirtschaftliche Wert sein Wesen in der Ausschliesslichkeit des individuellen Besitzes hat, während der ethische gerade umgekehrt auf einen möglichst grossen Kreis von Teilhabern geht.

Wenn also z. B. die vernünftige Selbstliebe als ethisches Prinzip ausgesprochen wird, so setzt sich der Wert desselben zusammen aus dem Wert der Handlungen, auf die die vernünftige Selbstliebe logischer Weise führen kann, und dem Wahrscheinlichkeitsgrade, in dem die empirische psychologische Verfassung der Menschheit sich durch die Aufrufung dieser Tendenz, durch das Bewusstwerden ihres objektiven Wertes zur Realisierung desselben bestimmen lässt.

Hierdurch wird es verständlich, dass die Aufstellung ethischer Regeln, die an sich nur auf niedrigere sittliche Verhältnisse gehen, doch unter Umständen einer sehr grossen Wichtigkeit geniessen kann, weil der Wahrscheinlichkeitsbruch für ihre psychologische Wirkung ein sehr günstiger ist. (<16)

Dies gilt etwa für die Regeln der Courtoisie und Ritterlichkeit: der leichte Altruismus gegenüber dem Schwächeren, von dem man keinen Missbrauch des ihm eingeräumten Vorteils zu fürchten braucht, das momentane Zurücktreten, das doch die Persönlichkeit des Zurücktretenden hervortreten lässt, das Verzichten auf den gröberen Vorteil, das sich durch den ästhetischen Reiz solcher Handlungsweise ausgleicht -  alle diese psychologischen Träger der Ritterlichkeit dürfen nicht nur als disponiert vorausgesetzt werden, sondern sie äussern sieh auch jedenfalls vielfach ohne jede bewusste Maxime; wird nun die Regel der Ritterlichkeit dem Bewusstsein vorgeführt, so ist es in hohem Grade wahrscheinlich, dass jene teils latenten, teils unzweckmässig geäusserten Dispositionen eine energischere, häufigere und der Gesamtsittlichkeit dienlichere Verwirklichung erfahren werden.

Diese Regel setzt also ausser ihrem irgendwie zu taxierenden sachlichen Wert noch eine Kraft zu ihrer Verwirklichung ein, nach deren Wirkung dieser ideale Wert nur um ein geringeres verkleinert ist, als es entsprechend bei sehr viel höheren Idealen oft der Fall ist.

Ich glaube, dass die instinktive Einbeziehung dieses Faktors mit vorausgesetzt werden muss, wenn man die Motive analysiert, die der allgemeinen Wertung einer Regel zum Grunde liegen, und es scheint, als ob er unter diesen Motiven eine immer steigende Wirkung erhielte.

Dies würde durchaus in der Richtung der Kulturströmung liegen, in der das Psychologische ein immer grösseres Übergewicht über das objektiv und ideell Geltende erhält.

Man sieht ein, dass dieses ein leeres Wort ist, wenn es nicht durch die Kräfte jenes realisiert wird, und verschafft so der grossen Einsicht, die die Welt als Vorstellung erkannte, allmählich auch die ihr zukommenden Wirkungen auf nicht rein theoretischem Gebiete. (<17)

So beginnt man in der Pädagogik - langsam genug! - einzusehen, dass nicht die Vortrefflichkeit des Lehrstoffes seinem Inhalte nach, nicht das Mass, in dem seine Aneignung erwünscht und nützlich ist, das alleinige Kriterium seines Gesamtwertes bildet, sondern dass jener sachliche Wert modifiziert wird durch die psychologischen Bedingungen, unter denen seine Aneignung erfolgt, und in erheblichem Masse von den Kräften abhängig ist, mit denen der Lehrinhalt zu seiner Aneignung anregt.

So wird man ferner in der Politik der Gesetzgebung sich mehr und mehr überzeugen, dass alle Gerechtigkeit von Gesetzen, alle Zweckmässigkeit von Institutionen doch in ihrem Werte letzter Instanz von dem guten Willen derer abhängen, die sie auszuführen haben, und dass sie ohne diesen ins Leere fallen, nicht anders wie ein Ideal, das überhaupt nicht aus der Sphäre des Denkens herausgetreten ist.

Ihr Wert ist infolge dessen nicht nur an den Zuständen zu messen, die sich bei ihrer Durchgeführtheit einstellen würden, sondern ebenso an der Kraft, mit der sie selbst auf ihre Durchführung hinwirken, also an ihren sozialpädagogischen, psychologischen Einflüssen; die Institution muss ihre Funktionäre zu sich erziehen, sie muss die innere Wirkung auf sie Üben, die den Gedanken des Missbrauchs, der durch keine noch so ängstliche Bestimmung ganz auszuschliessen ist, überhaupt nicht aufkommen lässt.

Mit dem Wahrscheinlichkeitsbruch für die Erreichung dieses subjektiven Zieles muss der objektive inhaltliche Wert der Institution multipliziert werden, wenn man ihren Gesamtwert erkennen will.

Und endlich, als letztes Beispiel, ist die, gleichviel ob berechtigte oder unberechtigte, Bedeutung des sozialistischen Ideals durch seine Verbindung mit sehr sicher wirkenden psychologischen Triebfedern ausserordentlich erhöht. (<18)

Das absolute Ideal einer völligen Gleichberechtigung einerseits, einer Organisierung und harmonischen Rationalisierung des sozialen Lebens andrerseits -  ein Ideal von sozusagen unpersönlichem, ästhetisch-logischem Reize - appelliert zugleich an die unmittelbaren persönlichen Affekte des Geniessenwollens bei den Enterbten, des Mitleids bei den Besitzenden.

Das abstrakte Prinzip enthält hier unmittelbar in sich selbst die psychologischen Anregungen, die zu seiner Realisierung führen -  unterscheidbar noch von der Frage, ob, wenn es einmal realisiert wäre, seine Fortsetzung noch gleich starke psychologische Kräfte zu ihrer Verfügung fände - für den Augenblick vielleicht noch unmittelbarer und sicherer wirkend, als selbst das religiöse Prinzip, das die primitivsten und deshalb am zweifellosesten und allgemeinsten vorauszusetzenden Triebkräfte der Seele doch erst auf weiteren Umwegen anregt.

-  In diesem Sinne also sucht der Begriff der Pflicht um der Pflicht willen, die psychologische Seite des kategorischen Imperativs, das Motiv der Sittlichkeit in ihren Inhalt einzuschmelzen.

Indem so die Pflicht subjektiver Endzweck wird, scheint sie zu einer höchst wichtigen Funktion in der momentanen Lage des Innenlebens berufen.

Der Pessimismus, der nicht nur die halt- und inhaltlosen Geister ergriffen hat, das weit verbreitete Gefühl der Leere und Wertlosigkeit des Lebens, das dann gelegentlich in eine fieberhafte Jagd nach Irrlichtern umschlägt, darf wohl auf die seit langem vorbereitete Revolutionierung der Idealbildung geschoben werden.

Inhaltlich wie formal kommen uns die unerschütterlichen Lebenswerte, die sicheren Zielpunkt gewährenden Ideale abhanden: jenes, indem der Glaube mehr und mehr abstirbt und die Kritik die unbefangene Hingabe an die traditionellen Ideale politischer, religiöser, persönlicher Art zerstört; dieses, weil das schnelle Tempo und der unruhige Rhythmus modernen Lebens es gewissermassen nicht zu dem festen Aggregatzustand solcher Ideale kommen lässt.

Allein offenbar ist nicht zugleich mit den absoluten Endzwecken auch das Bedürfnis nach ihnen weggefallen.  (<19)

Die Organisation, die sich an sie gewöhnt hat, ist in dem Augenblick, wo veränderte Umstände sie zerstören, noch nicht an diese letzteren angepasst.

Die psychischen Funktionen vielmehr, die sich unter Voraussetzung jener Zwecksetzungen gebildet haben, in die sich diese als ein Glied einfügten, gehen vermöge fest gewordener Gewöhnung noch eine Weile weiter, erleiden aber, weil jenes notwendige Glied fehlt, Störungen, Ablenkungen, Rückschläge, die sich im deutlicheren oder dunkleren Bewusstsein als ungestilltes Bedürfen, leeres Sehnen und Streben spiegeln.

Wie dieser zunächst destruktive Prozess sich weiter entwickeln wird: ob die ausgehöhlte Form des Endzwecks sich mit neuem, substantiellem Inhalt füllen, oder ob sie als ein Truggebilde erkannt und durch eine Befriedigung am Relativen, Fliessenden, ersetzt werden wird - das kann heute Niemand sagen.

Angesichts dieser inneren Lage nun, in der der Mangel an einem sicheren Endzweck bei formalem Bedürfnis danach als Pessimismus und Unbefriedigtheit zurückschlägt, kann es wenigstens als Provisorium gelten, wenn man in dem Pflichtcharakter der Handlung ihren Endzweck erblickt.

Dein Weiterfragen über jede gegebene Ursache, Zweck und Wert nach den darüber hinaus gelegenen, durch das der moderne kritische Geist sich jenen Mangel an Definitivem geschaffen hat, wird durch die Pflicht um der Pflicht willen eine Grenze gesetzt.

Freilich, dem Weiterschreiten der Kritik, das gegen jede einzelne pflichtmässige Handlung die Frage richtet, woher sie denn Pflicht sei, wo der höhere Wert sei, von dem sie den ihrigen zu Lehen trage - diesem ist auch der Kantische Pflichtbegriff nicht gewachsen, weil es auf jene Frage eben schliesslich keine Antwort mehr gibt.

So lange aber noch anerkannt wird, dass irgend ein Handeln schlechthin Pflicht sei, so lange der Inhalt gewisser Handlungen wirklich von dem Gefühl des Sollens begleitet wird, so lange ist auch die Möglichkeit gegeben, diese Pflicht, dieses Sollen als für sich ausreichendes Motiv anzusehen, so dass wir hier mitten im Verfliessen der empirischen Lebensinhalte, das alles Feste, in sich Befriedigte auszuschliessen schien, doch einen psychologischen Selbstzweck entdecken, ein Ideal für das Handeln, das nicht mehr von dem Glauben an irgend eine unbeweisbare Wirklichkeit abhängig ist. (<20)

In der Bestimmung, dass die Erfüllung, der Pflicht der Endzweck des Handelns sei, hat Kant selbst den Ton auf den Pflichtbegriff gelegt; in dem Begriff des Endzwecks hat er keine psychologischen Schwierigkeiten gesehen, sondern denselben ohne weiteres eingeführt, und nun die Folgen hervorgehoben, die seine Anwendung auf den Pflichtbegriff für diesen mit sich bringt.

Man kann aber in jener Formel auch umgekehrt auf die Vorstellung oder das Problem des Endzwecks den Nachdruck legen.

Statt der Festigung der Pflicht, die wir durch ihren Charakter als Endzweck gewinnen, können wir den Gewinn eines Endzwecks betonen, der aus der Proklamierung der Pflicht als eines solchen hervorgeht.

Nachdem die materiellen definitiven Werte des Lebens vor der modernen Kritik gefallen sind und uns als ihre Erbschaft nur die haltlose Sehnsucht nach einem Endzweck zurückgelassen haben, bietet sich uns diese mehr funktionelle und formale, den verschiedensten Inhalten sich anpassende Vorstellung der blossen Pflicht als ein solcher dar.

Was Kant bezüglich der Moral hervorgehoben hat, dass sie an keinem einzelnen konkreten Willensobjekt die vollständige Erfüllung ihres Begriffs und Gewähr ihrer Forderung findet, dass dies vielmehr erst geschieht, wenn die formale Tat­sache der Pflicht selbst zum inneren Gegenstände oder Motive ihrer Erfüllung werde - dies lässt sich auf die Werte und Ideale überhaupt übertragen, deren lebenumfassende Allgemeinheit ganz jenseits der engen moralistischen Alternative von Sittlichkeit und eigenem Glücke steht, in der Kant befangen war.

(<21) Der Vorstellung und dem Bedürfnis des Endzwecks tut kein einzelner Inhalt mehr Genüge; so lange aber überhaupt noch eine Pflicht anerkannt wird - und das Gefühl ihrer ist bei vielen noch nicht in den Skeptizismus hineingezogen, der ihnen die substantiellen Ideale geraubt hat - so lange ist auch noch die Möglichkeit gegeben, jenes Bedürfnis wenigstens dadurch zu befriedigen, dass man die Pflicht nur um der Pflicht willen erfüllt.

Insofern dies geschieht, schliesst sich gewissermassen der Kreis des Wollens in sich zusammen, während da, wo der Wert in einem Inhalt gesucht wird, leicht nach einem weiteren, diesen begründenden gefragt wird, und wir so statt zu einer Geschlossenheit der Motivierung nur zu einem Fragen in infinitum gelangen; die "Pflicht um der Pflicht willen" gewährt den Ruhepunkt, aus dem wir stets herausgetrieben werden, sobald wir nach einer Materie fragen, um derentwillen sie oder überhaupt die Bewegung des Lebens geschehe.

Was nun, die begriffliche Bestimmung dieses formalen Prinzips betrifft, so macht es die Kantische Formel zur Grundlage sittlicher Beurteilung, dass man die zu beurteilende Handlungsweise als eine allgemeine denke.

Welche, bei der Vollziehung dieses Gedankens sich ergebenden Konsequenzen es sind, die über den Wert der Handlung entscheiden, ist, wie wir sehen werden, von Kant nicht völlig unzweideutig bestimmt worden.

Wir können hiervon vorläufig absehen und jenes formale Kriterium für sich allein in seiner ethischen Bedeutung prüfen. Zu derselben führt für Kant die logische Konsequenz der Tatsache, dass das Sittliche sich als Sollen darstellt. Das Sollen ist ein Gesetz.

Gesetz aber bedeutet, dass die gleiche entweder natürliche oder ethische Notwendigkeit da eintritt, wo die gleichen Vorbedingungen gegeben sind.

Die Gültigkeit einer Vorschrift für Jedermann, bei dem ihre Bedingungen Anwendung finden, macht sie erst zu einem Gesetz, und die Möglichkeit, diese Gültigkeit zu denken, ist also das Kriterium dafür, ob sie Gesetz sein kann oder nicht. (<22)

So sehr dies mit dem allgemein anerkannten Begriffe des Gesetzes übereinstimmt, so sehr folgt doch schliesslich der ganze Beweis nur aus der willkürlichen Inhaltsbestimmung eines Begriffs, die ohne inneren Widerspruch auch eine ganz andere sein könnte.

Dass nämlich die Form des Imperativs, jener eigentümlich empfundene Modus, der einen Vorstellungsinhalt in das Sein überzuführen dient, selbst in sittlichen Beziehungen immer allgemein gültig sei, dass das imperativische Gesetz wirklich nur in der Form eines kategorischen: wenn - dann, vorkomme - dies erscheint mir durchaus nicht innerlich notwendig.

Ich sehe nicht ein, weshalb nicht jemand einen inneren Antrieb, der alle subjektiven Kriterien des Sittlichen trägt, ganz individuell empfinden sollte, derart, dass er bei keinem anderen, als gerade nur bei sich selbst, diese Handlung als sittlich notwendig vorstellte.

Gerade wie oft genug jemand sich ein Recht zuschreibt., dass er keinem anderen einzuräumen gedenkt, so kann er auch eine Pflicht unter dem gleichen Gesichtspunkte empfinden.

Dies wäre einer der häufigen, von uns schon betonten Fälle, in denen die Sittlichkeit eine Gleichheit der Form mit der Unsittlichkeit aufweist, die sich eben nur mit entgegengesetztem Inhalt füllt; denn es braucht sich bei diesem Individualismus des Ethischen keineswegs um eine versteckte Unsittlichkeit, um ein selbstsüchtiges, eudämonistisch exklusives Wollen zu handeln, das sich als eine Sittlichkeit von ganz besonderer, nur ihr eigener Art und Inhalt aufspielen möchte.

Es kann vielmehr eine ganz echte und rechte Sittlichkeit sein, die der allgemein gültigen ethischen Forderung gegenüber kein Minus, sondern sogar ein Plus darstellt, sich aber doch bewusst ist, dass kein anderer entweder so handeln darf oder so zu handeln verpflichtet ist.

Wie ein persönlicher Herrscher gerade dem einen Untertan eine Pflicht auferlegen kann, von der alle anderen befreit sind, oder einen davon ausnehmen, während alle anderen sie leisten müssen -  so gut kann es auch der unpersönliche Herrscher, als dessen Stimme die sittliche Forderung erscheint.

(<23) Kant hat die beiden Elemente des Gesetzes: die imperativische Form, den Anspruch des Sollens einerseits, und die Allgemeinheit, die Gültigkeit für jedermann andererseits, nicht hinreichend scharf auseinandergehalten und so gemeint, dass sieh das zweite aus dem ersten analytisch entwickeln liesse.

Die innige Verbindung, die nicht nur für Kant, sondern für die allgemeine sittliche Beurteilung zwischen dem ethischen Befehl und dem Kriterium möglicher Allgemeinheit der Handlungsweise besteht, wird nur aus dem sozialen Ursprung des Sittengebotes verständlich.

Wir waren zu der Überzeugung gelangt, dass das Verhalten der Majorität der Gruppengenossen, d. h. das sozial Erforderte, ursprünglich für den Einzelnen die Norm des Verhaltens abgab, woher denn auch leicht einzusehen ist, weshalb wir aus primitiven Gruppen kaum von dem Begriff einer individuellen Sittlichkeit, wohl aber von dem einer Unsittlichkeit hören, und weshalb in niederen Schichten höherer Kulturen dem blossen Abweichen von dem sozial üblichen Verhalten von vornherein mit Misstrauen und Missbilligung begegnet wird.

Enthält so die Forderung des Sollens ursprünglich keine Erhebung über das soziale Niveau, sondern gerade nur ein genaues Verbleiben in demselben, soll der Einzelne so handeln, wie alle anderen handeln, so ist es fast nur ein anderer Ausdruck hierfür, ein ausserordentlich einfaches Fortschreiten der Überlegung, wenn der Gedanke, dass alle so handeln, und was dann die Folge wäre,  zum Kriterium der individuellen Tat gemacht wird.

Weil ehedem die Allgemeinheit der Handlungsweise die ethische Norm des Einzelnen war, bleibt auch später wenigstens die ideelle Verallgemeinerung derselben der Massstab, an dem sich ihre sittliche Dignität misst - und zwar selbst dann, wenn die höhere Differenzierung der Verhältnisse und die gesteigerten idealen Forderungen an den Einzelnen jenem Kriterium vielleicht längst seine eigentliche Rechtfertigung geraubt haben. (<24)

Auf niedrigeren Gebieten gilt es indes noch unbestritten und auch sonst manchmal in einer Art, die mit eigentümlicher Dialektik das daraus geschöpfte Kriterium in sein Gegenteil verkehrt.

Viele Dinge nämlich dürfen wir nicht tun, weil alle anderen sie nicht tun, die wir dürften, wenn alle anderen dasselbe täten. Das Kriterium: was würde daraus werden, wenn alle so handelten, passt hier nicht, denn gerade wenn alle es täten, würde nichts Schlimmes herauskommen.

Dies gilt für äusserliche Sitten, die, ohne sachlichen Wert, nur nicht verletzt werden dürfen, weil sie einmal Sitte sind, aber sofort gleichgültig würden, wenn sich keiner mehr an sie hielte. Die Verallgemeinerung der Tat des Einzelnen beseitigt vielfach gerade seinen Gegensatz gegen die Allgemeinheit, in dem das sittlich Verwerfliche der Tat liegt. 

Ich erinnere an die Bd. 1 S. 340 erwähnten Argumente: die Nachteile gewisser sozialpolitischer Einrichtungen träten nur dann ein, wenn ihr Prinzip nicht völlig durchgeführt wäre, wenn sie in eine im übrigen nach anderen Tendenzen eingerichtete Sozialverfassung hineingesetzt würden, und müssten verschwinden, sobald auch alles übrige im gleichen Sinne organisiert wäre.

Das Kriterium der Verallgemeinerung versagt also der einzelnen Tat gegenüber gerade da, wo die Allgemeinheit derselben am entschiedensten ihren sittlichen Charakter bestimmt.

Es ist ein wunderlicher Anspruch an den Einzelnen, durch den Gedanken, dass alle so handelten wie er, seine Handlungsweise regulieren zu lassen - wunderlich selbst dann, wenn man ihn gar nicht für rigoristisch oder unbillig altruistisch hält, sondern ihn nur objektiv, sozusagen logisch prüft.

Denn er lässt das Handeln ganz und gar von einer Voraussetzung abhängen, von der man doch zugleich weiss, dass sie nicht zutrifft: es handeln eben tatsächlich nicht alle so, wie ich handle, und was geschehen würde, wenn sie es täten, ist eigentlich gleichgültig, da sie es nun einmal nicht tun. (<25)

Hier liegt eine eigentümliche, auf das Nicht-Seiende aufgebaute Beurteilung des Seienden vor, die sich auch in der Schätzung der Freiheit insoweit findet, als man von ihr die Würde der geschehenen Handlung abhängen liess - d. h. also davon, dass vermöge der Frei­heit eine ganz andere Handlung an ihrer Stelle hätte geschehen können, welche tatsächlich aber nicht geschehen ist.

- Hier zeichnet sich sehr charakteristisch die Vorstellung von Sittlichkeit nicht nur von ihrem direkten Gegenteil, sondern auch von den Regeln der Lebensklugheit ab, die vielfach gerade zur Voraussetzung haben, dass nicht alle ihnen gemäss handeln.

Sie werden gut durch den Ratschlag symbolisiert, den die Reisehandbücher für gewisse Eisenbahnfahrten geben: "rechts sitzen!"; wenn alle dies Reisebuch hätten, so wäre es in dieser Hinsicht so gut, als wenn keiner es hätte, weil doch nicht alle rechts sitzen können.

Die Lebensklugheit bleibt einfach bei der Tatsache stehen, dass eben nicht alle gleich handeln, und zieht daraus ihre praktischen Konsequenzen, welche dem so Handelnden nützlich sind, möglichst ohne den übrigen schädlich zu sein.

Es finden sieh indes von hier Übergänge genug in das Gebiet des Sittlichen, die auch für das letztere die Bedeutung der Ausnahme, des Nicht-so-handelns aller Anderen nahe legen.

Als SchultzeDelitzsch mit dem Projekt seiner Konsumvereine hervortrat, machte Lassalle darauf aufmerksam, dass der Nutzen derselben nur so lange dem Arbeiter verbleiben würde, als sie nicht allgemein würden.

Im letzteren Falle würde einfach das Gesetz des geringsten Unterhaltsmasses in Kraft treten und den Vorteil der Konsumvereine dem Arbeitgeber zuwenden: es wäre dann für alle Arbeiter eine gemeinsame Grundlage der billigeren Lebenshaltung geschaffen, von der aus der Kampf um die Existenz und die Herabdrückung auf ihre niedrigste Möglichkeit ganz ebenso wie früher ausgehen würde. (<26)

Gleichviel ob jenes Gesetz des geringsten Unterhaltsmasses eine haltbare Prämisse bildet, so ist hier jedenfalls der Typus einer sittlichen Bestrebung gezeichnet, die mit dem im vorigen Absatz erwähnten Gebiet des Unsittlichen das gemein hat, dass die Verallgemeinerung ihrer Norm ihr spezifisches Wesen vernichten würde.

Wenn wir nun die Kantische Meinung, die das Wesen des Sittlichen gerade in der absoluten Durchgeführtheit seiner Inhalte sich erhalten und entfalten lässt, auf ihre praktische Bedeutung hin ansehen, so hat sich nur etwa eine führende, massgebende Persönlichkeit, deren Handlungsweisen zur Norm und Beispiel für ihren ganzen Kreis werden, zu fragen, was der Erfolg der Verallgemeinerung ihres Verhaltens ist, und danach, insofern eine solche Verallgemeinerung in Wirklichkeit bevorsteht, ihr Tun und Lassen einzurichten.

Allein diese , praktisch-realistische Wendung liegt gar nicht im Sinne jener Vorschrift, die vielmehr an und für sich eine bloss theoretisch-ideale Überlegung darstellt, ein Schema, das sich nur im Kopfe der ihre Handlung überlegenden Persönlichkeit,. aber nicht ausserhalb desselben vollzieht.

Eben dieser Umstand macht die Vermutung rege, dass die ganze Normierung durch Verallgemeinerung der Handlung nur den Zweck hat, vermöge der gedachten Vervielfältigung der Handlung ihren eigentlichen Charakter sichtbar zu machen, der sich sonst dem nicht geschärften Blick gar zu leicht verbirgt.

Objektiv genommen, kann durch diese Verallgemeinerung der Handlungsweise keine Erkenntnis gewonnen werden, die sich nicht auch aus der Betrachtung derselben als einer einzelnen oder einzigen ergebe.

Denn wenn die Folgen der Tat in dem gerade vorliegenden Falle unschädliche sind, so sind sie es entweder auch in der Vertausendfachung derselben, oder wenn sie es dann nicht sind, so gilt offenbar der Rückschluss aus der Verallgemeinerung auf den einzelnen Fall nicht mehr. (<27)

Denn nur mit Rücksicht auf die Folgen der Tat – auf das, "was dabei herauskommen würde", gilt die Verallgemeinerung als Kriterium; deshalb vernichtet die voraussetzte Verschiedenheit der Folgen im einzelnen und im allgemeinen Falle von vornherein seine Bedeutung.

Sind aber unter Ablehnung solcher Verschiedenheit die Folgen im allgemeinen Falle schädliche, so können sie dies nur sein, weil jede einzelne Wiederholung der fraglichen Handlungsweise schädlich ist, und ist dies, so ist nicht abzusehen, weshalb man diese über den sittlichen Wert entscheidende Konsequenz nicht auch schon der einzelnen Tat als solcher sollte ansehen können.

Dafür gibt es keinen in der Sache, sondern nur einen subjektiven, im Erkenntnisvermögen liegenden Grund. Die Folgen eines individuellen Tuns sind oft so geringfügige oder sie werden von dem anderwärts entsprungenen Strom der Ereignisse sofort so aufgenommen, umgeformt, überdeckt, dass sie sozusagen mit unbewaffnetem Auge nicht wahrgenommen werden können.

Da vergrössern wir denn ein solches Objekt, bis es in Seh- und Beurteilungsweite rückt, indem wir es statt dies eine Mal unzählige Male und überall vorkommend denken.

Dadurch tritt die Folge der Tat für unsern Blick reiner und kräftiger hervor, das Quantum von Folgen, von dem an sie erst für uns sichtbar werden, wird pro rata an die einzelne Tat zurück verteilt, und so erhalten wir oft durch dieses erkenntnistheoretische Hilfsmittel, das ihre sachliche und ideale Bedeutung gar nicht berührt, erst den richtigen Blick für die Proportionen ihrer Folgen.

Es kommt dazu, dass die Zufälligkeit der Schicksale der einzelnen Handlung oft Folgen zuteilt, die von ihren sonstigen und durchschnitt­lichen völlig abweichen und über ihre sittliche Bedeutung ganz irre zu machen geeignet sind.

Indem wir die Tat nun verallgemeinert, d. h. auf eine grosse Anzahl verschiedenartiger Schicksale und Lebensverhältnisse einwirkend denken, und unsere Erfahrung über ihre Folgen in all diesen Fällen befragen, paralysieren sich die zufälligen Verschiedenheiten gegenseitig, und es treten sozusagen die reinen Folgen der Tat, die Folgen, die sie an und für sich hat, klar hervor; durch abstrakte Verallgemeinerung, durch Konstruktion aus allgemeinen Erfahrungen und Kenntnissen heraus, suchen wir hier gemäss dem Prinzip der grossen Zahl das entsprechende zu gewinnen, wie die Statistik aus der konkreten Vielheit ihrer Daten. (<28)

Selbstverständlich ist es nur ein Annäherungsausdruck, wenn wir von den Folgen sprechen, die eine Tat an und für sich hat.

Ohne dass ihr äusserliche Verhältnisse vorhanden wären, deren Kräfte sie aktualisiert, die sie gemäss der in ihnen liegenden Möglichkeiten modifiziert, mit deren eigenen Tendenzen sie sich zu Resultanten zusammenschliesst - ohne derartige Bestimmtheiten der Folgen, die in soweit von der Tat selbst unabhängig sind, würde sie überhaupt keine Folgen haben.

Was wir durch die vorgestellte Allgemeinheit der Handlungsweise gewinnen, ist nur der Durchschnitt der Folgen, nur ihre Wirkung auf die Majorität der menschlichen Verhältnisse.

Aber so sehr der einzelne Fall sich von dem so gewonnenen Durchschnitt entfernen und ihn als hier unzutreffend dementieren mag, so stellt sich dies doch mit Sicherheit erst nach geschehener Tat und eingetretenen Folgen heraus; vor ihr sind wir mangels absolut zutreffender Vorausberechnung oft genug auf die Annahme jenes Durchschnitts angewiesen.

Auf diesen beiden Gründen subjektiver Unzulänglichkeit des Erkennens: dass sich uns die Folgen der individuellen Tat oft verbergen, im Rückblick, weil sie zu minimale und zu vielfach durchkreuzte sind, im Vorblick, weil uns die Daten zu vollkommener Berechnung der Weiterentwicklung des Einzelfalles fehlen - auf diesen Gründen erhebt sich der Wert der Formel des kategorischen Imperativs als eines erkenntnistheoretischen Hilfsmittels, das die sittliche Bedeutung der Tat nicht sowohl bestimmt, als subjektiv sichtbar macht, und zwar keineswegs immer in ihrer wirklichen Grösse, wie günstige Umstände sie uns manchmal erkennen lassen, sondern in derjenigen, mit der die Schwäche unserer Erkenntnis sich unzählige Male begnügen muss. (<29)

Sehen wir von dieser bloss heuristischen und Erkenntnisbeziehung ab und fragen wir weiter nach der objektiv­sittlichen Bedeutung, die die Übereinstimmung mit einem möglichen allgemeinen Gesetze der Handlung verleiht, so zeigt sich ausser den früher festgestellten noch die folgende Voraussetzung darin verborgen.

Die Folgen der Handlung in ihrer allgemeinen Verbreitung sind es, die ihre sittliche Qualität bestimmen sollen. Es muss also einen Massstab geben, an dein diese Folgen als erwünschte oder unerwünschte beurteilt werden, damit danach die Handlung, als Mittel für sie, sich als geboten oder verboten herausstelle.

Die kritische Frage: was würde dabei herauskommen, wenn alle so handelten - setzt, mit einem Worte, einen Endzweck voraus, und diejenige Handlung ist ihr gemäss die richtige, deren allgemeine Durchführung diesen Endzweck fördert.

Hierin aber steckt die unbewiesene Voraussetzung. Wird denn ein Zweck nur dann durch eine Handlung ge­fördert, wenn eine allgemeine Verbreitung derselben ihm günstig ist?

Ist nicht vielleicht der sittliche Endzweck so angelegt, dass er am besten gefördert wird, wenn A zwar auf eine bestimmte Weise, B aber in der gleichen Situation ganz anders handelt?

Diese Frage soll nicht etwa ohne weiteres bejaht werden , sie soll nur klar machen, dass ihr Gegenteil nicht ohne besonderen Nachweis bejaht werden darf.

In dem Augenblick, wo die Befolgung des kategorischen Imperativs nicht Selbstzweck ist, wo das allgemeine, der in Frage stehenden Handlung entsprechende Gesetz als blosses Mittel zu einem höher hinauf liegenden Zustande als Endzweck erkannt ist - in diesem Augenblick verliert das Kriterium der Verallgemeinerung seine unbedingt bindende Kraft und unterliegt der Relativität aller blossen Mittel; es ist dann a priori wohl möglich, dass ein ganz anderes Mittel demselben Zwecke ebenso oder besser dient. (<30)

Dem oberflächlichen Bewusstsein liegt allerdings das Argument nahe: wenn eine bestimmte einzelne Handlung den Endzweck fördert, so fördern ihn doch weitere, die unter den gleichen Umständen ganz gleich vollbracht werden, in derselben Weise; folglich könnte man mit einfacher logischer Umkehrung sagen, dass keine Handlung einem Endzweck günstig sein kann, wenn nicht ihre Prägung zum gesetzlichen Typus dem gleichen Zwecke dient.

Allein dies gilt weder für eine individualistische noch für eine evolutionistische Wertsetzung.

Wenn die Persönlichkeit als solche, die immer vollständigere und reinere Ausprägung des Individualprinzips sittlicher Endzweck ist, so ist die denkbar grösste Verschiedenheit der einzelnen Handlungen darin einbegriffen.

Denn sobald man unter Persönlichkeit nicht mehr die metaphysische substantielle Seele versteht, so kann eben nur die Eigenart des physischen Inhaltes, die Jeden von Jedem unterscheidet, ihren Sinn ausmachen, und es kann deshalb Grade der Persönlichkeit geben, von dem tiefsten Eingesenktsein in die Gattungsinstinkte, die allen gemeinsam sind, bis zu der höchsten individuellen Charakterisierung, die auch der trivialsten Handlung des Menschen einen Hauch seiner Persönlichkeit und Eigentümlichkeit, unverwechselbar mit allen anderen, verleiht.

Da nun die niederen Verfassungen unserer Gattung allenthalben jene unpersönliche Uniformität aufweisen, höhere dagegen an das Aufkommen individueller Gestaltungen geknüpft sind, so kann man die bewusste Aufnahme dieser Tendenz als sittlichen Zweck aufstellen; dies kann aber, wie gesagt, empirisch nur die Bedeutung haben, dass selbst in gleichen Situationen von verschiedenen Menschen verschieden gehandelt werde.

Und zwar braucht dies keineswegs den allgemein anerkannten sittlichen Erfordernissen zu widersprechen. (<31)

Denn die Steigerung des Individualismus hat die eigentümliche Folge, den Menschen zwar oft genug dem engeren Kreise, in den primäre Beziehungen ihn stellen, zu entfremden und diesen zu sprengen, dafür aber seine Beziehungen zu weiteren und weitesten Kreisen zu erleichtern und zu vermehren; einem Ideale der Menschheitsbildung, das alle Schranken der ständischen, nationalen, gruppenmässig abgeschlossenen Moral negierte, würde man sich in dem Verhältnis wachsender Individualisierung und freier Eigenart der Persönlichkeiten nähern.

Und dass die Verschiedenheit nicht zum Antagonismus werde, ist der soziale Fortschritt völlig im Stande zu garantieren: einmal, indem sich in Wechselwirkung mit der Mannigfaltigkeit der Handlungsweisen auch eine Mannigfaltigkeit solcher Ziele und Befriedigungen entwickelt, die die Konkurrenz einschränken; dann aber, indem Interessen und Betätigungen, die allen gemeinsam bleiben und bleiben sollen, mehr und mehr an die Gesellschaft als Ganzes übergehen und dadurch der Sphäre und den Erwägungen der persönlichen Sittlichkeit entrückt werden.

So könnte selbst bei sehr weitgehend sozialisierten Zuständen die persönliche Moral eine weit und immer weitergehende Individualisierung, d. h. Verschiedenheit der Handlungsweisen selbst unter gleichen Vorbedingungen aufweisen.

Selbstverständlich ist dies nicht direktes und abschliessendes Prinzip derselben, da das Entscheidende immer wäre, welchen Inhalt die entstehende Verschiedenheit hätte, nicht die formale Tatsache der letzteren überhaupt.

Das sachlich Erforderte könnte sich aber eben objektiv zu immer steigender Erfüllung der Verschiedenheitsform gestalten.

Tatsächlich würde also ein sittlicher Endzweck hier ein Verhalten fordern, dessen Dignität man nicht an der Frage: was würde dabei herauskommen, wenn alle so handelten? - prüfen könnte, weil diejenigen Handlungen, welche neben einer sittlichen Handlung stünden, anders als diese charakterisiert sein müssten, um ihrerseits jenen Endzweck zu fördern.

Es ist fast nur eine andere Betonung des gleichen Inhaltes, wenn wir statt des individualistischen den evolutionistischen Zweck setzen, der zu der gleichen Negierung der Kantischen Formel führt.

(<32) Hier handelt es sich nicht um die Bedeutung, die die Persönlichkeit als solche besitzt, und darum, dass die Herausarbeitung derselben eine möglichste Verschiedenheit der Handlungsweisen voraussetzt; der Wert und Ton liegt nicht auf dem menschlichen Subjekte, an dem die Verschiedenheit haftet, sondern auf der Aufeinanderfolge verschiedenartiger Zustände überhaupt.

Die Emanzipation von der Formel des kategorischen Im­perativs, die das Evolutionsprinzip einschliesst, liegt nun freilich nicht darin, dass unter den veränderten Umständen einer neuen Epoche völlig veränderte Handlungsweisen sittlich erfordert sind; dies lässt sich mit jener Formel ohne Weiteres vereinigen, da die unter anderen Umständen, d. h. mit anderen Folgen geschehende Handlung eben in sittlicher Beziehung eine andere Handlung ist.

Es handelt sich vielmehr um folgendes. Die Perioden, in denen sich die Entwicklung unserer Gattung vollzieht, setzen sieh nicht mit scharfen Grenzen gegen einander ab, so dass die Verhältnisse, welche heute die Handlungsweise Jemandes allgemeingültig und also sittlich erscheinen lassen, morgen in ihrer Totalität geändert wären, und so ein ganz anderes Verhalten aus der Normierung durch den kategorischen Imperativ hervorginge.

Die neuen Verhältnisse, welche die neue Handlung rechtfertigen, springen nicht wie durch Urzeugung aus den ebenso plötzlich entschwindenden alten hervor, sondern die Abänderung beginnt an irgend einem einzelnen Punkt, ergreift von da ein Gebiet nach dem anderen und bildet das Ganze in jener allmählichen Weise um, die man mit dem populären Ausdruck einen organischen Prozess nennt.

Irgendwo also muss die Anbahnung neuer Verhältnisse zuerst geschehen, als eine Tat sui juris, deren Verallgemeinerung in den alten Verhältnissen nicht ausdenkbar oder nicht zulässig wäre.

(<33)  Wenn erste Okkupationen, erste Taten des präzivilen Zustandes nicht legal sind, sondern erst die Anregung und den Grundstock aller späteren Legalität geben, so wiederholt sich dies an dem Verhält­nis des Beginnes neuer Perioden zu den alten.

Gemessen an dem Massstab: was würde dabei herauskommen, wenn jeder so handelte? - wäre in dein Augenblick der ersten Initiative zu neuen Verhältnissen diese häufig ganz unzulässig.

In diesem Augenblick dürfen eben noch nicht Alle so handeln, sondern erst einer oder so wenige, wie es der notwendigen Allmählichkeit der organischen Entwicklung entspricht.

Als allgemeines Gesetz ist eine derartige Handlungsweise deshalb nicht denkbar, weil sie selbst erst die Verhältnisse herbeiführen wird, unter denen sie allgemeines Gesetz sein darf. Nun aber ist dieser Prozess ein kontinuierlicher und niemals rastender.

Die Anschauung, als entwickelte sich unsere Art in grossen stabilen Perioden, die durch relativ kurze Übergangsepochen ineinander übergeführt würden - - ist doch eine oberflächliche. Sie verbindet und trennt willkürlich, was sachlich einem in eine so einfache Formel nicht zu fassenden Rhythmus der Entwicklung unterliegt.

In den Fragen der intimen nicht weniger wie der öffentlichen Sittlichkeit bemerkt man bei genauerem Hinsehen ein kontinuierliches Umändern der Verhältnisse und Forderungen.

Man braucht nur auf die Verschiedenheit der Begriffe von Rechten und Pflichten, von Werten und Sitten zu achten, die sich jedes Mal zwischen zwei nächsten Generationen, zwischen Eltern und Kindern erhebt und so oft zu unversöhnbaren Familienkonflikten zuspitzt, um sieh von dem pauta ei der ethischen Dinge zu überzeugen, von der ununterbrochenen Wirksamkeit modifizierender Kräfte, deren Resultate uns nachher im zusammenfassenden Überblick als grosse Epochen auseinander zuliegen scheinen.

Die Entwicklung des sittlichen Lebens bedarf also fortwährend, im Kleinen wie im Grossen, der oben geschilderten Usurpationen individueller Taten, welche diese Entwicklung überhaupt tragen, und in dem Masse gerechtfertigt sind, in dem man die letztere als sittlichen Endzweck anerkennt.

(<34) Der Formel des kategorischen Imperativs aber genügen sie nicht, weil sie diejenige Gesetzmässigkeit, die den augenblicklichen Bestand der Gesellschaft gewährleistet, gerade durchbrechen und erst ihrerseits das Recht schaffen, als dessen Beispiel sie dann auch nach jener Formel legitimiert sind.

- Hier zeichnet sich wieder einmal aufs Sichtbarste der Gegensatz zwischen Rationalis­mus und Stabilismus einerseits und realistischer und entwicklungsgeschichtlicher Anschauungsweise andererseits.

Der tiefe Zusammenhang, der zwischen der alten Artlehre und dem Begriffsrealismus, der Schätzung der Begriffe, besteht, lässt auch die letztere in den Widerstreit der ersteren gegen den Evolutionismus eintreten.

Der Allgemeinbegriff, die Vereinigung vieler Individuen unter ein feststehendes gemeinsames Symptom, ist zwar durch die Lehre, die jedes Individuum als besonderen, als Ganzes unvergleichbaren Durchgangspunkt der Gattungsentwicklung ansieht, keineswegs entbehrlich gemacht; aber sein Charakter als bloss vorläufige Orientierung, als subjektiv einseitige Abstraktion, tritt durch sie scharf  hervor; sie zeigt, dass die Wirklichkeit nur durch eine Unendlichkeit von Begriffen zu erschöpfen wäre und dass jedes wirkliche Ding oder Verhältnis dem Begriff in einer besonderen, in diesem selbst nicht gegebenen Weise entspricht; sie kehrt das Schattengleichnis Platos über das Verhältnis von Idee und Erscheinung direkt um.

Darum ist auch die Tendenz und Gesinnung der auf sie gebauten Normen denen des Rationalismus durchaus entgegengerichtet. Denn diese machen den Begriff zum Mass der Dinge, ihre Denkbarkeit nach den Begriffen, die die bisherige Erfahrung gebildet hat, zeichnet die Grenzen des Möglichen oder Gebotenen.

Nur wenn die Handlung auch als allgemeiner Begriff gelten darf, wird sie gebilligt, und ihre Geltung als dieser wird zum Kriterium ihrer Geltung im individuellen Falle.

(<35) Gäbe es einen Begriff des Menschen, der ohne Schwankung und Lücke auf jedes Individuum passte und dessen Wesen in immer gleicher Vollständigkeit umschriebe; folgten aus dem Begriffe der menschlichen Gesellschaft immer die gleichen Forderungen an die persönliche Sittlichkeit - dann liesse es sich denken, dass für einen gilt, was für alle, und umgekehrt, dass die Forderungen, deren durchgängige Erfüllung den Bestand der augenblicklichen Gesellschaft gewährleistet, das sittliche Kriterium für jedes Individuum bilden.

Aber weder die Entwicklungslehre noch der realistische Blick für die menschliche Differenziertheit dulden solche Einheit und Dauer des Begriffes vom Menschen; beide lassen ihn als eine dürre Abstraktion erscheinen gegenüber der lebendigen Kraft des Prozesses, in dem die Verschiedenheit der Individuen neue Verhältnisse entwickelt und, wechselwirkend, die neuen Verhältnisse immer mannigfaltigere Individualitäten fordern und erzeugen.

Macht man Ernst mit dem Gedanken der Entwicklung, hypostasiert man nicht die relative Stabilität gewisser Züge zu der Starrheit begrifflich-logischer, also unbedingter Geltung, so zeigt sich sogleich, dass dieser ununterbrochene status nascens Handlungsweisen fordert, die ihre Geltung nicht aus ihrer möglichen Verallgemeinerung ziehen können.

Dazu sind die Verhältnisse, welche durch die menschlichen Handlungen in einander übergehen, zu unvergleichbar.

Unser Tun, das gleichsam ein Glied eines kontinuierlich sich umgestaltenden Organismus ist, stets an der Wasserscheide zwischen einem schon vergangenen und einem noch nicht wirklichen Zustande steht, würde durch die Beurteilung an der Hypothese, dass Alle so handelten, in ein völlig falsches Licht gerückt werden.

Für das Nebeneinander würde die Bedeutung der Individualität, für das Nacheinander die Notwendigkeit zu kurz kommen, die Zustände allmählich und nicht durch eine gleichmässige Aktion Aller auf einmal ineinander überzuführen. (<36)

Nun lassen zwar die meisten Beispiele, die sowohl für wie gegen die Richtigkeit des kategorischen Imperativs angeführt werden, ihm gerade nach der Seite der Individualisierung der Fälle hin nicht Gerechtigkeit widerfahren.

Was verallgemeinert wird, um aus dieser Verallgemeinerung die Konsequenzen und den sittlichen Wert des Tuns erkennen zu lassen, ist fast durchgehendes nicht dieses Tun in seiner ganzen Konkretheit und Bestimmtheit; es ist vielmehr nur der allgemeine Begriff, d.h. also nur eine Seite desselben, die man als allgemeines Gesetz denkt.

Jedes Tun hat, insbesondere als blosse äussere Erscheinung betrachtet, einen Grundzug, eine zunächst hervorstechende Charakteristik, die ihm mit einer Reihe anderer gemeinsam ist.

Aus ihr bildet man den Allgemeinbegriff dieses Tuns, dessen durchgehende Realisierung man dann zum Kriterium macht.

Die besonderen Umstände, die die unter solchen Allgemeinbegriff gehörige Tat individualisieren und bei keiner einzigen fehlen, pflegen bei jener Verallgemeinerung ausser Acht gelassen zu werden; nicht die Tat als Ganzes mit der Gesamtheit ihrer Umstände wird als allgemeines Gesetz gedacht, sondern nur die Hauptsache an ihr, der höhere Begriff, unter den sie gehört.

Dies aber führt zu den grössten Irrungen. Wenn z. B. eine Lüge gemäss der Frage: was würde dabei herauskommen, wenn jedermann löge, verurteilt wird, so mag es ja allerdings richtig sein, dass ich nicht wollen kann, dass allgemein gelogen wird.

Damit ist aber noch lange die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass ich selbst die durchgehende Wiederholung der Lüge unter den besonderen, hier vorliegenden Umständen doch für durchaus möglich und wünschenswert hielte.

Bezüglich der Lüge wird dies, angesichts der allgemeinen Billigung der Notlüge, ohne Weiteres zugegeben werden, und man wird die Verallgemeinerung des Tuns nicht auf den allgemeinsten Begriff der Lüge beschränken. Schwieriger liegt die Frage schon in folgendem Fall. (<37)

Ein Familienvater ist durch Hinterlist und Auswucherung seitens eines reichen Gläubigers an den Rand des Verderbens gebracht worden; er kann sich und seine Familie vor dem sicheren Ruin nur durch einen Betrug retten, den er jenem gegenüber begeht, ohne ihn dadurch in nennenswerter Weise zu schädigen.

Unterläge er dieser Versuchung, so würde er gemäss dem kategorischen Imperativ wohl durchgehendes sittlich verurteilt werden; denn was würde dabei herauskommen, wie sollte ein Gemeinwesen bestehen können, wenn ein jeder, um sich aus einer Notlage zu befreien, betrügen dürfte? Allein das Fundament dieser Frage ist falsch. Es betrügt doch Niemand schlechthin.

Niemand realisiert bloss den farblosen Begriff des Betruges; sondern die Tat geschieht immer unter bestimmten Umständen, mit besonderen Ursachen und Folgen, und die Frage muss nicht lauten: was geschähe, wenn jeder betröge, sondern: was geschähe, wenn jeder, der in dieser und dieser Weise hintergangen und ausgebeutet ist, einen Betrug beginge, der den Betrogenen kaum oder nur  in verdienter Weise schädigt und dafür eine ganze Familie vor dem Verderben rettet?

Wenn die Frage in dieser einzig gerechten Weise gestellt wird, so wird die Antwort wohl anders lauten, und ein Gemeinwesen, in dem diese, aber auch nur diese bestimmt umschriebene Art des Betruges durchgängig stattfände, wäre durchaus existenzfähig.

Irgend eine andere Art des Betruges, die nicht genau die gleichen Charakteristika zeigte, wäre in ihrer Erlaubtheit oder Unerlaubtheit hiermit noch absolut nicht präjudiziert.

Wenn hingegen in diesem Falle nur nach der Er­laubtheit des Betrügens überhaupt gefragt und diejenige des einzelnen Betruges von jener abhängig gemacht wird, begeht man jenen Grundirrtum, der allenthalben, auch im Theoretischen, unser Erkennen fälscht: dass die Trennung zwischen der Hauptsache, dem wesentlichen Begriffe und den Akzidenzen, den individualisierenden Unterbestimmungen, in das Objekt selbst hineinverlegt wird, statt als bloss subjektive Kategorisierung und Hilfsmittel des Erkennens zu gelten. (<38)

Dem Objekte, z. B. einem Menschen gegenüber, herrscht die Vorstellung, dass er zunächst Mensch überhaupt sei, ein Exemplar des Begriffes Mensch; zu den hiermit gegebenen allgemeinen Qualitäten treten nun Modifikationen, die jene individualisieren und den Menschen zu dieser bestimmten Person machen.

Dass er z. B. überhaupt Kopf, Rumpf, Arme und Beine bat, ist das Wesentliche, das Primäre an ihm; wie diese Glieder im Einzelnen beschaffen sind, ob gross oder klein, schön oder hässlich, gerade oder krumm, das ist sozusagen eine Angelegenheit zweiter Ordnung, das betrifft nur die zufällige Ausgestaltung, die doch ihr oberstes Gesetz in jenem allgemeinen Fundamente, in dem, was dem Menschen als solchem zukommt, findet.

In dieser Anschauungsweise, in der z. B. alle Vorstellungen von "Menschenrechten" wurzeln, liegt ein Begriffsrealismus, eine Anthropomorphisierung höchster Art.

Ein Mensch hat doch nicht zunächst einen Körper oder ein Glied überhaupt, zu dem dann irgend eine individualisierende Kraft tritt, um ihn zu diesem bestimmten zu gestalten - als wäre der Mensch zunächst eine Art Halbfabrikat, das nur die allgemeinsten Umrisse seiner definitiven, aber ihm erst später zu verleihenden Form enthielte!

Vielmehr entsteht und besteht er gleich und nur als dieser bestimmte, als diese individuelle Gestaltung, und erst die ausschliesslich im Kopfe des Beobachters vor sich gehende Vergleichung mit anderen ebenso individuellen Wesen führt zu der Zusammenfassung gleicher Eigenschaften an ihnen und zu der Bildung des Begriffes Mensch aus diesen.

Die Zerlegung des Inhaltes eines Objekts in das Wesentliche, Grundlegende, das ihm seine allgemeine Form gibt, einerseits, in das Zufällige, Individualisierte, im Verschiedenen Verschiedene andererseits - diese Zerlegung liegt absolut nicht in der Natur der Dinge, welche vielmehr alles, was sie schafft, gleich als dieses bestimmte Individuum hinstellt und innerhalb seiner keinen Unterschied zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen kennt. (<39)

Nur eine in unzähligen Fällen allerdings unentbehrliche Subjektivität und zweckmässige Oberflächlichkeit des Denkens schafft diese Trennung, deren unheilvolle Folgen sich sogleich bemerklich machen, sobald sie objektiviert wird und man jenen Unterschied durch die Dinge selbst, statt durch unsere - vorläufige und korrigierbare - Anschauung ihrer hindurchgehend glaubt.

So abstrahiert man denn aus der Handlungsweise jenes Betrügers nur die allgemeine Tatsache, dass er betrogen hat, und lässt bei der hypothetischen Verallgemeinerung derselben die individuellen Umstände fort, die aber, objektiv betrachtet, zweifellos dasselbe Recht haben, in die Rechnung einbezogen zu werden; denn gerade nur unter Voraussetzung ihrer ist der Betrug geschehen.

Dürfte man um das Kriterium für eine Gesamthandlung zu gewinnen, ein Moment ihrer herauslösen und es als das allein Entscheidende für die durch andere Momente individualisierte Handlung ansehen, so könnte man etwa aus dem beschriebenen Handlungskomplex dies herausgreifen, dass jener Betrüger seine Familie vor dem Untergange schützt - eine Tat, die doch gewiss Verallgemeinerung verdient.

Noch einen Schritt weiter in der Beurteilung des Verallgemeinerungsprinzipes wird uns ein zweites Beispiel führen, das einer moralwissenschaftlichen Kontroverse entstammt.

Ein Kritiker des Utilitarismus hatte diesem gegenüber gesagt: Der Soldat, der im Felde auf einem verlorenen Posten ausharrt, nützt weder Anderen noch der Sache, der er dient.

Dennoch gilt seine Ausdauer als sittlich; folglich wird die Sittlichkeit doch von einem anderen Kriterium abhängig vorgestellt, als von dem der Nützlichkeit der Handlung.

Darauf erwiderte der Verteidiger des Utilitarismus: Wenn in einer Armee jeder seinen Posten verlässt, sobald ihm dies gut scheint, so wird eine solche Armee vielleicht schon im ersten Treffen zersprengt werden und den Staat, den sie verteidigen soll, dem Umtergange weihen. (<40)

Man brauche also jenes als sittlich empfundene Ausharren auf dem Posten nur zu verallgemeinern, um einzusehen, dass es mit dem Nützlichkeitsprinzip übereinstimmt. Allein hiermit eben wird der oben charakterisierte Fehler begangen.

Der so Argumentierende verallgemeinert ja gar nicht das Verhalten jenes Soldaten, wie es wirklich war, unter Berücksichtigung aller Umstände, die genau so zu ihm gehören, wie die Tatsache, dass er überhaupt seinen Posten verlässt. Denn diese vorausgesetzten Umstände waren ja, dass er wirklich auf einem verlorenen Posten stand, dass sein Ausharren eine absolut nutzlose Aufopferung war.

Wenn er einen solchen Posten verlässt, aber auch gerade nur einen solchen, so sehe ich nicht ein, dass es ein schädliches Resultat haben würde, wenn jeder Soldat so handelte, aber auch gerade nur so.

Die Verwerfung dieser Handlung vom utilitarischen Standpunkt aus beruht auf einer zu rohen Induktion, indem nur ein Teil der Totalhandlung, das Verlassen des Postens überhaupt, verallgemeinert und dies mit Recht verurteilt wird, aber nicht das Verlassen unter diesen bestimmten Umständen, unter denen es durchaus nicht schädlich ist. Mit gleichem Rechte könnte man die Tat des Henkers höchst unsittlich finden, denn was sollte dabei herauskommen, wenn das Kopfabschlagen allgemein würde!

Wird also die Formel des kategorischen Imperativs mit derjenigen Vertiefung und in derjenigen Differenziertheit angewandt, die sie, rein logisch betrachtet, sogar fordert, so lehnt sie alle Unterjochung der individuellen Tat unter einen Begriff, der sie nur teilweise deckte, ab, und lässt dieser alle die Gerechtigkeit widerfahren, die die üblichen Beispiele ihr verweigern, weil sie nur das Allgemeine von ihr, nicht sie selbst verallgemeinern; und jedenfalls erreicht nur unter solcher Berücksichtigung der Individualität des Handelns die Frage: was würde bei seiner Verallgemeinerung herauskommen - das Maximum ihres ethischen Erkenntniswertes. (<41)

Dies ist nun allerdings der Standpunkt einer wissenschaftlichen Abwägung, die völliger Gerechtigkeit zustrebt. Ob die praktische Moral und Morallehre aber ihn einhalten kann, ist eine andere Frage. Die Notwendigkeit des theoretischen Erkennens, mit allgemeinen Begriffen zu arbeiten, deren Unzulänglichkeit man doch einsieht, wieder­holt sich auch im Praktischen.

In den zur Regelung des Lebens bestimmten Maximen darf die Kasuistik einen bestimmten Grad nicht überschreiten, wenn sie nicht diejenige Unsicherheit und Willkürlichkeit vermehren will, der sie gerade abhelfen sollte.

Eine bestimmte, abstrakt allgemeine Handlungsweise, z. B. im Felde auf dem anvertrauten Posten auszuharren, ist bei so vielen und in den individuellen Umständen wechselnden Gelegenheiten als das einzig richtige Tun erprobt worden, dass sich mit der Sicherheit, die ein Induktionsverfahren überhaupt besitzt, sagen lässt: nur bei allgemeiner Durchführung dieser Maxime wird ein kriegführendes Gemeinwesen bestehen, die Verallgemeinerung des Gegenteils würde es verderben.

Wird gemäss dieser Maxime nun der Soldat, der unter den oben geschilderten Umständen seinen Posten verlässt, verurteilt, so geschieht ihm zwar zweifellos ein Unrecht, gemessen an der höchsten Maxime allgemeiner Nützlichkeit, von der jene sekundäre, die ihn verurteilen lässt, doch selbst erst abgeleitet ist.

Allein liesse man die Ausnahme zu, räumte man ein, dass eine Tat, die in der Mehrzahl aller Einzelfälle als unsittlich verurteilt werden muss, sich unter Hinzutritt besonderer Umstände rechtfertigen, d. h. zu einem allgemeinen Gesetz erheben liesse - so wäre eine Versuchung geschaffen, solche Umstände nach rein subjektivem Belieben vorauszusetzen, eine Versuchung, deren praktische Folgen dem Gemeinwesen oft schädlicher sein würden, als die Ungerechtigkeiten, die es (<42) mangels jener Differenzierung gegen den Einzelnen begeht.

Die Induktionsneigung unseres Geistes würde hier, wo praktische Interessen ihr zu Hülfe kommen, nicht nur den individuellen, gerechtfertigten Fall zur Regel erheben, sondern darüber hinaus sogleich wieder die allgemeinere Maxime bilden: es sind überhaupt Ausnahmen von der Pflicht des Ausharrens auf Posten erlaubt - und würde dieselbe, deren logisches Geltungsbereich ein unbeschränktes ist, zur Rechtfertigung jeder möglichen Fahnenflucht benutzen.

Dieselbe oberflächliche Begriffsbildung, deren ethischen Schädigungen man durch jene Ausnahme entgehen wollte, würde sich eben dieser wieder bemächtigen und so, günstigsten Falls, statt der alten eine neue Fehlerreihe eröffnen.

Hier haben wir einen Punkt, an dem intellektueller Fortschritt zugleich sittlichen bedeuten würde. Eine scharfe theoretische Einsicht in die Individualität des Einzelfalles wurde es zu solchen Verallgemeinerungen nicht kommen lassen, bei denen gerade das Wesentliche vor dem bloss Allgemeinen weggefallen ist und die deshalb auch auf tatsächlich ganz abweichende Einzelfälle eine scheinbare Anwendung finden; oder wenigstens würde eine solche Einsicht den Täter sofort überzeugen, dass nicht logische Ableitung, sondern praktische Tendenzen seine Maximen bestimmt haben.

Diese Differenzierung des Vorstellens aber steht offenbar augenblicklich noch weit unter ihrem erreichbaren Höhepunkt, die zugegebene Ausnahme wird der Quellpunkt, vieler nicht zuzugebender, und deshalb muss die praktische Moral möglichst nur so weite und allgemeine Imperative geben, dass sie keine Ausnahmen zu gestatten braucht.

Deshalb aber auch ist sie über vergleichsweise rohe Gebote und Verbote nicht hinausgekommen, und im Bereich der vorschreibenden Ethik, mag es nun die der Kanzeln oder der Lehrbücher sein, vermisst man in der Regel die Direktiven für die feineren Probleme des Handelns, für jene aus zahllosen Impulsen, Gefühlen und Forderungen zusammengewebten (<43) inneren oder auch äusserlichen Situationen, deren bisher unerlebte Komplikation uns das Gefühl der eigenen Individualität oft schmerzlich genug aufdrängt, deren Eigenart und Unvergleichbarkeit wir fühlen und die wir dabei doch gern in einer Weise lenken möchten, welche wir uns zugleich als allgemeines Gesetz, als Pflicht, denken könnten - sei es aus wirklicher primärer Sittlichkeit, sei es aus dem sittlich laxeren Bestreben, die Verantwortlichkeit der Entscheidung gewissermassen auf die Allgemeinheit oder auf ein objektives Gebiet überzuwälzen.

Die Schwierigkeit, sich in solchen Fällen an den allgemein gültigen Geboten aus dem Schätze der anerkannten Moral zu orientieren, mag es nun wechselwirkend verschulden, dass man bei der Frage: was würde bei der Verallgemeinerung dieser Handlungsweise herauskommen? - sogleich die feineren und individuelleren Bestimmungen weglässt.

Hierdurch aber wird zwar eine allgemeine Maxime gewonnen, aber eine derartige von der der vorliegende Fall vielleicht gerade eine Aus­nahme bildet.

Man hat also nur die Wahl zwischen einer solchen, die für viele Fälle, aber dabei nicht absolut gilt, und einer solcher, die zwar absolut, für jeden durch sie bezeichneten Fall, der aber vielleicht nicht zum zweiten Male vorkommt, gilt, so dass man direkt sagen kann: nur absolute Individualisierung gestattet absolute Verallgemeinerung.

Halten wir also daran fest, dass jede Handlung genau in den Grenzen ihrer Besonderheit betrachtet werde; dass sie kein Unrecht leide, dadurch, dass etwa nur ein Teil von ihr, unter Weglassung persönlicher oder sonstiger Umstände, verallgemeinert und das so gewonnene Resultat ihr als Kriterium oktroyiert werde - halten wir daran fest, so scheinen die obigen Einwendungen gegen den kategorischen Imperativ ihre Bedeutung zu verlieren.

Denn nun mag die fragliche Handlung mitten in einer kontinuierlichen Ent­wicklungsreihe stehen oder sie mag auf einer absolut einzigartigen  (<44) Kombination von Umständen ruhen: die Voraussetzung ist eben die Wiederholung genau dieser Umstände, und in dem gerade aktuellen Falle würde man die Tat offenbar nur dann sittlich rechtfertigen können, wenn sie auch bei jeder gedachten Wiederholung eben dieser Umstände sittlich, d. h. also, wirklich als allgemeines Gesetz denkbar wäre.

Es bleibt unter dieser Voraussetzung nichts mehr übrig, was dem Individuum ein Recht geben könnte, zu irgend einer Zeit anders zu handeln, als in dieser allgemein anzuerkennenden Weise; denn jeder, die Handlung mit Recht modifizierende Umstand wäre ja schon in die Voraussetzung eingeschlossen.

Nun kann kein Individuum mehr behaupten, dass es als solches sich nicht an der Verallgemeinerung seines Falles brauchte beurteilen zu lassen. Denn alle individuellen Bestimmungen seiner und seiner Situation werden ja mit verallgemeinert, oder sind vielmehr in ihrer Totalität überhaupt das, was verallgemeinert wird.

Es bleibt also kein inhaltlicher, sondern bloss ein numerischer Unterschied zwischen den wiederholten Fällen, und deshalb kann dann, aber auch nur dann, eine Tat sittlich richtig und erwünscht sein, wenn ihre absolute Verallgemeinerung es ist.

Durch diese Bestimmung indes, die dem kategorischen Imperativ seine unbedingte Anwendbarkeit sichert, wird die Direktive gerade zerstört, die er der Beurteilung des Handelns gewähren wollte.

Dass jeder so handeln soll, wie nur in der genau gleichen Lage jeder andere auch handeln dürfte, fordert eine unvollziehbare Voraussetzung; denn wenn ich irgend einen anderen absolut in meine Lage hineindenke, so ist er ja mit mir identisch, und die Frage, wie er zu handeln hätte, hat nur einen anderen Subjektnamen, wie die an mich selbst gerichtete, und ermöglicht keine Entscheidung, die sich nicht aus der letzteren, mit ihr inhalt­lich gleichen schon ergeben hätte.

(<45) Wir münden hiermit an einen analytischen, ja identischen Satz: Wenn nur diejenige Handlung richtig ist, die genau dieser Situation und keiner anderen entspricht, so ist es selbstverständlich, dass jede Wiederholung der letzteren immer wieder die erstere fordert.

Das folgt einfach aus dem Satz der Identität und gibt uns nicht die geringste Anweisung auf das, was nun sittlicher Weise geschehen soll. Wenn jede minimale Änderung der persönlichen oder sachlichen Umstände uns von Neuem vor die Frage stellt, was hier zu tun sei; wenn die völlig genaue Gerechtigkeit nicht gestattet, dass die noch so ähnliche, aber nicht absolut gleiche Lage ein Präjudiz für die sittliche Forderung an eine gegebene bilde: so ist eine allgemeine Regel des Verhaltens überhaupt nicht aufstellbar, weil jeder darunter befasste Fall irgend eine spezifische Differenz aufweisen wird, die ihre Anwendung illusorisch macht.

Dem gegenüber bieten sich zwei Eventualitäten dar. Erstens: Die Summierung von vielen absolut gleichen Fällen könnte, wie ich bereits oben ausführte, entweder sachlich oder wenigstens für die Erkenntnis ein Resultat ergeben, das den Einzelfall erst beleuchtet.

Allein dieser Gedanke ist in derjenigen absoluten Genauigkeit, die wir hier voraussetzen sollen, nicht ausführbar.

Denn eine völlige Gleichheit mehrerer Abschnitte eines sozialen Kreises setzt offenbar eine absolute innere Homogenität oder Symmetrie desselben voraus; anderenfalls müssen an den Wurzeln oder den Verzweigungen zweier noch so gleicher Taten, an den Bedingtheiten zweier noch so ähnlicher Individuen doch irgend welche Differenzen auftreten, die unsere Voraus­setzung vermeiden wollte.

Und ist erst einmal eine Differenz innerhalb des Kreises von Taten vorhanden, dessen Folgen man zum Kriterium der einzelnen machen will, so ist wieder die Möglichkeit gegeben, dass gerade auf diese Differenz hin das Kriterium abgelehnt wird. (<46) Ich kann mir nicht denken, was dabei herauskäme, wenn Personen sich genau so verhielten wie eine Mehrzahl von ich selbst – diese Genauigkeit im absoluten Sinne genommen - , denn dies würde eine Multiplizierung meines Ich nach seinen gesamten inneren und äusseren Bedingungen bedeuten ; und damit es zu einer solchen käme, müsste der soziale Kreis so andere als seine wirklichen, sehr differenzierten Bedingungen bieten, dass die Folgen, welche aus der so vorausgesetzten Gleichheit flössen, auch völlig andere wären, als sie in einer empi­rischen Gesellschaft eintreten; sie würden also für die Handlungen in dieser kein Kriterium abgeben.

Von einer isolierten äusseren Tat kann ich die Mehrfachheit wohl denken und nach den Folgen davon fragen. Wird sie aber als Teil der unendlichen sozialen und individuellen Entwicklung gefasst, innerhalb deren sie weder gegen das Vorher noch gegen das Nachher scharf abgegrenzt ist, - und als solche nur kann die völlige Gerechtigkeit sie beurteilen, - so kann man sie nicht als mehrfach denken.

Entweder bleibt es bei der Vorstellung meines Ich, das keine eigentliche Verallgemeinerung genauesten Sinnes gestattet, - sowohl aus individuellen, wie aus sozialen Gründen - oder es findet irgend eine Modifikation statt, die zwar das Nebeneinanderdenken vieler Fälle ermöglicht, aber kein unbedingtes Kriterium für den einzelnen gewährt.

Inwieweit diese Überlegung doch noch der Verallgemeinerung des individuellen Falles einen Wert für die sittliche Empfindung und Beurteilung lässt, werden wir später sehen.

- Zweitens: Die Verallgemeinerung des Handelns nimmt dann eine besonders anschauliche Gestalt an, wenn die Aktion sich direkt von Person gegen Person richtet, und nun vorgestellt wird, dass sie direkt rückläufig wird, d. h. dass B genau nach der gleichen Norm gegen A verfahre, nach der A sich gegen B verhalten hat.

Ist dieses Verhalten von B dann dem A erwünscht, so bedeutet dies also, dass er sein Verhalten als allgemeine Norm denken kann und möchte. Dies ist die positive Wendung des Verbotes: was du nicht willst, das dir geschieht, das tu auch einem andern nicht. (<47)

Hier, wo nicht eine Vervielfachung des Falles, und damit eine soziale Unmöglichkeit vorausgesetzt wird, sondern nur eine Vertauschung der Personen, scheint allerdings ein Kriterium gegeben, das bei absoluter Individualisierung der Handlung den Handelnden vor die unzweideutige Frage stellt, ob er die Verallgemeinerung seines Verhaltens wollen kann.

Ohne den praktischen Wert dieser populären Norm in Frage zu stellen, erscheinen mir doch die folgenden Ausnahmen von ihrer Anwendbarkeit ethisch wichtig. Zunächst die Bd. 1, S. 137 angeführten Fälle, in denen die unmittelbare und formgleiche Repressalie gegen die unsittliche Handlung überhaupt nicht ausführbar und also auch nicht ausdenkbar ist.

Hierher gehören alle die zahlreichen Unsittlichkeiten, die sich nicht unmittelbar gegen Personen, sondern gegen Kollektivgebilde oder objektive Ideale richten, so dass der Schaden, den sie anrichten, gar nicht in der gleichen Art an den Schädigern heimgesucht werden kann; und ebenso die sittlicher Handlungen gleicher Richtung, deren ethisches Mass man gleichfalls nicht an dem Wunsche des Handelnden, dass ebenso gegen ihn verfahren werde, bestimmen kann, weil die auf das Unpersönliche gehende Handlung häufig überhaupt kein Gegenbild in einer auf eine Einzelperson bezüglichen findet.

Aber auch Handlungen persönlichen Charakters, und zwar gleichfalls sowohl sittliche wie unsittliche, entziehen sich jenem Kriterium. Die eigentlich aufopfernde Sittlichkeit, die nicht nur für den Moment, sondern für das Ganze des Lebens zu entsagen gelernt hat, wird sehr häufig nicht wünschen, Erwiderung ihrer Äusserungen zu finden.

Ihre Verneinung des do ut des - Prinzips wird nicht nur eine reale sein, derart, dass solche Naturen keinen Anspruch an den Genuss dessen stellen, was Andere durch sie geniessen – das würde nur bedeuten, dass sie jene Verallgemeinerung ihrer Maximen tatsächlich nicht wollen; sondern sie werden sie auch nicht wollen können, weil sie schon durch solches Wollen den eigentümlichen Wert dieser entsagenden Sittlichkeit zerstören würden. (<48)

Dies ist, wie leicht ersichtlich. ein Spezialfall unseres Begriffes vom Verdienste: ein altruistisches Handeln, dessen ethische Charakteristik in der positiven, bewussten Abweisung des egoistisch-eudämonistischen Motivs besteht.

In diese Kategorie des Verhaltens gehört z. B. auch das Verzeihen. Sittliche Menschen werden ihnen Zugefügtes oft verzeihen, ohne für sich selbst dieselbe Ausnahme von der Gerechtigkeit zu wünschen, die sie Anderen angedeihen lassen.

Das werden freilich nicht jene Menschen von schlaffer Toleranz sein, die leicht verzeihen, weil ihre Empfindungsreaktionen schwach und indifferent sind, ihre Persönlichkeitssphäre der energischen Grenzverteidigung entbehrt, die, weil sie kein starkes und betontes Ich besitzen, jeder Suggestion unterliegen und so in das Entgegengesetzteste sich hineinfühlend, alles verzeihen, weil sie alles verstehen; solche Naturen werden ohne Weiteres diese Maximen auch auf sich angewendet wissen wollen.

Anders aber steht es mit jener wertvolleren Duldsamkeit, die verzeiht, nicht weil sie begreift, sondern trotzdem sie nicht begreift, vielleicht sogar trotzdem sie begreift. Bei solchen Naturen wird die Maxime der Gerechtigkeit neben der des Verzeihens stehen, und persönlich der letzteren folgend, werden sie dennoch nicht wünschen können, dass ihnen selbst mit diesem Masse gemessen werde; sondern der Wert ihres Verhaltens liegt gerade in der Verschiedenartigkeit der Maximen, die sie gegen Andere und die sie gegen sich selbst befolgt wissen wollen.

Es sind ebenfalls die starken Charaktere, die sich bei unsittlichen Handlungen durch die Frage: ob sie denn damit einverstanden wären, dass das Gleiche gegen sie geschähe, nicht irritieren lassen würden.

Energische und trotzige Naturen, an die Härte sich selbst gegenüber nicht weniger als Anderen gegenüber gewöhnt, würden es ohne Weiteres anerkennen, dass das Durchsetzen der eigenen Persönlichkeit, das Unterdrücken des Entgegenstehenden, bis es die Form des herrschenden Willens angenommen hat, allgemeine Maxime sein kann, selbst auf die Gefahr hin, dass einst ein noch Stärkerer dieselbe gegen sie selbst zur Anwendung brächte. (<49)

Es ist völlig falsch, wenn das Sichausleben der Kraft selbst auf Kosten Anderer, der Triumph des Herrschens, die Umprägung der Verhältnisse bis zur Übereinstimmung mit dem eignen Willen - wenn alles dies schlechthin als Egoismus gilt, ein Missverständnis freilich, dessen sieh nicht nur die Schwachen gegenüber den Starken, sondern auch ein Selbstmissverständnis, dessen sich mancher Prophet des Übermenschentums schuldig gemacht hat.

Alles dies vielmehr kann in die Sphäre emporsteigen, in der es als objektiv wertvoll empfunden wird. Dass der Starke auch Herr sei, dass der energischste Wille sich auch verwirkliche, ist ein objektiver Wunsch, der freilich dem Starken selbst am nächsten liegen, in ihm zuerst auftauchen wird, der dann aber keineswegs auf die Fälle beschränkt zu bleiben braucht, wo er selbst davon Nutzen hat.

Dies eben unterscheidet die vornehme Stärke von der gemeinen, wie sich die vornehme Freude an der eigenen Schönheit und ihrem unpersönlich ästhetischen Werte von der Eitelkeit und Selbstbespiegelung unterscheidet.

Selbst was dem Inhalt nach Egoismus ist, kann für das Bewusstsein des so Handelnde in dieser unpersönliche Sphäre aufsteigen, in die einer objektiven Maxime, der man sieh, wenn ein Anderer die Kraft hätte, ebenso unterwerfen würde.

Objektivität ist eben Vornehmheit, und so würde manche prometheische Natur wohl anerkennen, dass ihr nur Recht geschieht, wenn sie durch dieselbe Kraft unterdrückt würde, mit der sie bis dahin Andere unterdrückte.

Sie würde also, im sozialen Sinne Unsittliches tuend, doch zugleich einverstanden sein, dass dasselbe ihr geschähe und damit beweisen, dass dieses Anerkenntnis nicht das Kriterium des Sittlichen sein kann. (<50)

Auf diesen Wegen also ist die Möglichkeit nicht zu finden, selbst bei vollkommener Individualisierung des Falles seine Verallgemeinerung zum Messmittel seines ethischen Wertes zu machen.

Es bleibt dabei, dass die Verallgemeinerung einerseits entweder leer oder unausdenkbar ist, wenn sie wirklich jede Bestimmung der Persönlichkeit und jede Verzweigung des Tuns einschliessen soll, andererseits nicht bindend, wenn sie nur einen allgemeinen oder wesentlichen Teil ihrer, unter Beiseitelassung irgend welcher anderer, betrifft.

Allein derartige Dilemmen gestatten doch der realistischen Betrachtung oft noch einen Ausweg, den die Logik zu versagen schien. Die eigentliche Bedeutung des kategorischen Imperativs, zu der unsere Erörterungen den Weg bahnen sollten, liegt nämlich in der Erkenntnis, dass jede individuelle Lage Seiten und Bestimmungen hat, welche auf die aus ihr hervorgehende sittliche Verpflichtung ohne Einfluss sind.

Dieser sehr einfache und selbstverständlich erscheinende Satz ist tatsächlich von der grössten ethischen Bedeutung , die uns durch eine theoretische Parallele deutlich werden wird.

Das Trägheitsgesetz beherrscht alle sichtbaren Erscheinungen, ohne eine Ausnahme zuzulassen, zugleich aber auch ohne in der Reinheit seiner abstrakten Formulierung je unmittelbar und unbedingt konstatierbar zu sein.

Jede Naturerscheinung ist in jedem Augenblick durch einwirkende Kräfte so bestimmt und individualisiert, dass es unmöglich ist, sie von diesen abzu­schneiden, und nun das blosse, weder durch Widerstand noch durch Beschleunigung modifizierte Weiterwirken der in einem Augenblick ihr eingedrückten Kraft ins Unendliche zu beobachten.

Wir wissen indes, dass jede der zweifellos eintretenden Abweichungen von dem einmal innegehaltenen Ruhe-  oder Bewegungszustand eine positive, in einem Gesetze ausdrückbare Ursache hat, welche die vorgefundene Bewegungstendenz erst überwinden muss und mit ihr eine Resultante bildet.

Die individuelle Bestimmung des Falles also, die die Wirkung jenes Gesetzes für seine tatsächliche (<51) Erscheinung schliesslich aufhebt, bedeutet nicht, dass er sich dem Gesetz überhaupt entzöge; und umgekehrt bedeutet das Gesetz nicht, dass er ihm immer konform sein müsse, sondern nur, dass wenn er es nicht ist, dies nicht auf Grund seiner bloss formalen Individualität, sondern ganz bestimmter Veranlassungen geschähe.

In der Anwendung auf das ethische Problem heisst dies zunächst Folgendes: Wenn eine Situation gewissen Merkmalen zufolge unter eine allgemeine sittliche Forderung gehört, so wird sie derselben nicht schon dadurch enthoben, dass sie noch andere, sie individualisierende Bestimmungen aufweist, sondern es müssen positive Gründe zu der Befreiung von jener Verpflichtung vorhanden und namhaft zu machen sein, widrigen­falls dieselbe unverkürzt fortwirkt.

Es ist also ganz richtig, dass jede spezielle Bestimmung, die zu dem Allgemeinbegriff einer Situation hinzukommt, es fraglich macht, ob der für diesen Begriff allgemeingültige Imperativ auch für sie gelte; dies bedeutet aber wirklich nur, dass es fraglich ist, d. h. dass die individuellen Bestimmungen daraufhin geprüft werden müssen, ob sie eine sittliche Tendenz aus sich entfalten, die jene aufhebt.

Dadurch wird ein Riegel jenem unbilligen Anspruch vorgeschoben, der aus der blossen Tatsache der Individualität, daraus, dass man "anders als die Anderen" sei, für sich ein Ausnahmerecht allgemeinen Imperativen gegenüber folgert.

Die populäre Betrachtungsweise neigt sehr dazu, die Übertragung eines allgemeinen Satzes auf ein vorliegendes Objekt mit dem Argument abzulehnen: "Dies ist ja etwas ganz Anderes" - ohne sich verbunden zu fühlen, die Art dieses Andersseins und die Gründe anzugeben, weshalb dieser, wenn auch individualisierte Fall sich der allgemeinen Regel entzöge, unter die er doch in irgend einem Masse jedenfalls gehört.

Dies ist das psychologische Seitenstück zu der logisch entgegengesetzten Tendenz, den Gegenstand durch seine Zugehörigkeit zu einem allgemeinen Begriff für abgeurteilt und völlig bestimmt zu halten. (<52)

Beides entspringt der bequemen Oberflächlichkeit, die sich gegenüber den Dingen mit dem Ja oder Nein abzufinden glaubt; sie geht nicht auf die Individualität derselben ein, der zufolge weder die Zugehörigkeit zu einem Allgemeinbegriff ihr Wesen erschöpft, noch jedes Herausragen oder Abweichen von ihm sie ganz der Jurisdiktion desselben entzieht.

Dein Schematismus, der die Individualität ohne Weiteres unter den einmal gegebenen Begriff oder Norm beugt, steht, im Theoretischen wie im Praktischen, der Schematismus gleichsam mit negativem Vor­zeichen gegenüber, der aus der blossen Tatsache der In­dividualität schon die Befreiung von jeder allgemeinen Normierung folgert.

Dem gegenüber ruht der kategorische Imperativ auf der Voraussetzung, dass allerdings eine einzelne Seite einer Situation hinreichend bedeutsam sein kann, um den Handelnden, so individuell er im Übrigen sei, ganz zu bestimmen, und dies eben ist praktisch von der grössten Wichtigkeit.

Dass ein allgemeines Gesetz uns bestimmen soll, bedeutet, dass aus der Unendlichkeit von Qualitäten, Beziehungen, Tendenzen, die in jedem Augenblick unsere Individualität zusammensetzen, nur ein bestimmbarer, abgegrenzter Teil sittlich wirksam ist, gegen den die Ansprüche des Übrigen kein Recht besitzen.

Es quillt demnach nicht aus jedem Partikelchen unserer Persönlichkeit ein besonderes Sollen, die logische Gleichberechtigung aller unserer Beziehungen bedeutet nicht ihre sittliche, ja selbst die absolute Graduierung ihrer Werte kann praktisch nicht aufrecht erhalten werden, sondern irgendwo liegt eine Grenzlinie, diesseits deren das schlechthin Bestimmende, jenseits deren das als sittlicher Bestimmungsgrund Irrelevante steht.

Das ist der Sinn der Gesetzmässigkeit, die der kategorische Imperativ ausspricht: bei jeder Aufforderung zur Tätigkeit müsse sich eine Totalität von Bedingungen auffinden lassen, die die eine Art der Tätigkeit (<53) vielmehr als die andere zur Pflicht machen; an wem diese Bedingungen sich vereinigt finden, für den entsteht die Pflicht zu jener Tätigkeit, gleichviel wer oder was er sonst sein mag.

Alle individuellen Umstände, die ausserhalb dieses Kreises liegen, vermindern oder verschieben diese Verpflichtung nicht. Es scheint nun freilich ein identischer Satz, dass alle Verhältnisse ausser denen, die die Pflicht aus sich hervorgehen lassen, ohne Einfluss auf sie sind.

Allein das Wesentliche ist, dass dieser begriffliche Unterschied in der Wirklichkeit existiert - ungefähr wie es begrifflich. Selbstverständlich sein mag, dass, wenn von zwei Menschen mit gleichen Begierden nur der Eine das Objekt ihrer Befriedigung besitzt, sich der Wille des Anderen auf dieses Eigentum des Einen richten wird - während es doch zugleich keineswegs selbstverständlich ist, dass dieses Verhältnis in der wirklichen Welt vorkommt.

Es ist durchaus nicht logisch zu erweisen, vielmehr eine höchst wesentliche synthetische Tatsache, dass sich für jede Pflicht ein Kreis von Faktoren feststellen lässt, der seinen Anspruch unabhängig von einer besonderen Persönlichkeit geltend macht, an der er sich findet.

Indem der kategorische Imperativ die Allgemeinheit des Gesetzes fordert, dem man sich unterordne, stellt er die Forderung: sondere die nicht einflussreichen Bestimmungen deiner Lage von den einflussreichen - und setzt voraus, dass ein solcher Unterschied sachlich bestehe.

Als Persönliches kat exoochen erscheinen nun immer jene erstgenannten Bestimmungen und deshalb enthält der kategorische Imperativ den Anspruch auf eine moralische Gesetzgebung "ohne Ansehen der Person".

Durch die Voraussetzung jenes Unterschiedes gewinnt er die Möglichkeit, die gleiche Norm auf eine Mehrheit von Personen anwenden zu dürfen, und also eine reale Ausführbarkeit der Gleichheit vor dem Gesetz.

Die Kantische Formel sagt nur diese letztere aus. Während sonst die Morallehre befiehlt: handle dem und dem Gesetz gemäss, zeigt jene Formel ein feines Verständnis dafür, dass man unmöglich mit einem einzelnen Gesetz die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse richtig treffen kann. (<54 )

Man soll also so handeln, wie es wenigstens Gesetz sein könnte, wenngleich es aus irgend welchen Gründen noch nicht als Gesetz ausgesprochen ist. Die Formel ist also nur ein weiterer, den speziellen Inhalt nicht präjudizierender Ausdruck dafür, dass sich jede Handlung unter ein allgemeines Gesetz zu fügen hätte.

Ein allgemeines Gesetz aber ist nur dadurch möglich und wirkungsvoll, dass in der als Ganzes unvergleichbaren Lage des Einzelnen ein Teil als unqualifiziert, die sittlichen Konsequenzen derselben zu bestimmen, ausgeschaltet wird. Dies ist nicht nur die Voraussetzung, unter der allein eine Vielheit von Menschen sich unter einer und derselben moralischen Gesetzgebung zusammenfinden kann, sondern sie bedingt auch Gleichmässigkeit und Einheitlichkeit der sittlichen Lebensführung der Einzelnen.

Denn die fortwährend wechselnden Lagen, die formenreiche Entwicklung der äusseren und der inneren Zustände und die noch viel mannigfaltigere der Verhältnisse zwischen diesen beiden - würde die Durchführung einer sittlichen Maxime, das Einhalten eines von eine in sittlichen Ziele bestimmten Weges illusorisch machen, wenn die Individualität jeder momentanen Lage, die noch nicht dagewesene Kombination ihrer Elemente, uns jedes Mal vor eine völlig neue sittliche Entscheidung stellte; auch hier müssen wir, wie bei der auf mehrere Individuen bezüglichen Frage, gewisse Abschnitte der jedesmaligen Lage für sittlich gleichgültig erklären, damit dasjenige, was verschiedenen gemeinsam ist, auch eine gleichartige Wirkung, und die Norm einen mehr als punk­tuellen Geltungsbereich im Leben des Individuums gewinne. (<55 )

Besteht so die Gleichheit vor dem moralischen Gesetz in dem Ausschluss der die eigentliche Individualität des Falles bildenden Umstände, fordert sie, wo die Bedingungen des Gesetzes zutreffen, seine Erfüllung, gleichgültig gegen alle Bestandteile der Situation, die jenseits der durch dasselbe gezogenen Grenzlinie liegen - so scheint dies Gesetz in grosse Nähe des juristischen Gesetzes zu rücken, und zwar gerade nach der Seite hin, auf der dieses in die summa iniuria übergehen kann.

Die Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet nämlich keineswegs die Gleichheit in dem Gesetz, ja dieses kann seinem Inhalt nach die grösste Ungleichheit aussprechen. Wenn einmal gesetzlich bestimmt ist, dass eine Qualität M dem Individuum, welches sie besitzt, ein Recht P verleiht, das in einer Verpflichtung p aller Anderen gegen jenes Individuum besteht, so mag zwischen M und P ein noch so geringer vernunftmässiger Zusammenhang stattfinden, ohne dass die Gesetzmässigkeit dieses Zustandes anzuzweifeln wäre, wenn nur wirklich M allein es ist, auf Grund dessen P beansprucht wird, und die übrigen im Gesetze nicht vorgesehenen Eigenschaften und Verhältnisse des Bevorrechteten wie der Verpflichteten keinen Einfluss auf ihre hier in Frage stehenden Beziehungen ausüben.

Sobald nur die zum Gesetz gewordene Verbindung zwischen M und p in objektivem Sinne besteht, d. h. unabhängig von aller sonstigen Individualität der betreffenden Personen, so ist die Gleichheit vor dem Gesetz hergestellt; sie hat nichts damit zu tun, dass uns der Inhalt dieses Gesetzes, an einem anderweitigen Massstab gemessen, als die Sanktion der grössten Ungleichheit erscheint.

Der Brahmine kann sehr wohl wollen, dass sein Vorrecht vor dem Paria allgemeines Gesetz sei; es enthält nicht den geringsten Widerspruch in sich, sondern nur eine Bedingung, der sehr wohl allgemein nachgekommen werden kann.

Die Gleichheit vor dem Gesetze würde dann ihre vollständige Erfüllung finden, wenn dem Brahminen diese Rechte, nicht mehr und nicht weniger, gewährt würden, und zwar ganz ohne Alterierung durch alles Individuelle, das er ausser dem Brahminentum besitzt, und wenn ebenso der Paria nicht auf Grund von Gunst oder Ungunst, die ihm als Persönlichkeit zu teil werden, in seinen Pflichten erleichtert oder beschwert wird. (<56 )

Die Gerechtigkeit, die darin besteht, dass eine einmal legalisierte Benachteiligung wenigstens nicht überschritten, sondern geübt wird ohne Ansehen der Person, soweit sie nicht von den im Gesetze selbst vorgesehenen Bestimmungen getroffen wird - diese fällt bei näherem Hinsehen mit jener anderen zusammen, der man es gerade zum Vorwurf macht, dass sie ohne Ansehen der Person verfährt, d. h. der starr formalistischen, die keine aus den besonderen Verhältnissen der Person fliessenden mildernden Umstände kennt, keine Modifikation des Buch­stabens des Gesetzes je nach der Individualität des Falles.

Scheinbar sind beides entgegengesetzte Fälle; die Ungerechtigkeit des Gesetzes - nicht seiner Ausführung! - liegt im ersten Falle in einer zu starken Berücksichtigung der Person, im zweiten in einer zu geringen Berücksichtigung derselben.

Allein die Bedeutung, des ersteren ist doch, dass es gewisse allgemeine, von uns anerkannte Gesetze gibt, mit denen sich die Bevorzugung des Brahminen vor dem Paria nicht verträgt; diese sanktioniert ein Verhältnis, das allgemeineren Sanktionen widerspricht.

Und im zweiten Falle appellieren gleichfalls die Verhältnisse und Qualifikationen der Person an allgemeine Gesetze, die mit dem an ihnen vollzogenen im Widerspruch stehen; das Persönliche erscheint insofern als Allgemeines, die Ungerechtigkeit des Gesetzes besteht darin, dass nur ein Teil ihrer Gesamtverhältnisse das Fundament des Anspruchs an sie oder des Urteils über sie bildet.

So zeigt sich denn hier die For­derung des Individualismus als identisch mit der des Allgemeinheitsprinzips. (<57 ) Wo wir dem Einzelnen ein Ausnahmerecht gegenüber dem Gesetze zusprechen, da geht dies, wenn es eben ein Recht sein soll, doch auch auf Gesetze zurück, die nur aus anderen Ordnungen stammen; es appelliert gleichsam über den Kopf des einzelnen Gebotes hinweg an die höchsten Allgemeinheiten und stellt sich als Verkörperung der Gebote dieser heraus, gegenüber den mittleren Einzelgeboten, die den ganzen Menschen nur aus irgend welchem Partiellen heraus bestimmen wollen., das beschränktere Gesichtspunkte an ihm als allgemein verbindlich erkannt haben.

Es hat die engste Beziehung hierzu, wenn die Komplikation insbesondere des modernen Lebens zu der Maxime geführt hat, man müsse sich im praktischen, gleichviel ob direkt ethisch oder anderweitig bestimmten Handeln vor "Prinzipien" hüten, sondern sich ausschliesslich von Fall zu Fall entschliessen.

Zweifellos bedeutet auch dies nur, dass die Eigenart, in der die Elemente des Lebens jede Situation zusammensetzen, die Gesamtnorm für den einen Fall nicht mechanisch auf den anderen zu übertragen gestattet. Soll es aber überhaupt zu einer Entscheidung kommen, so muss sie doch nach irgendwie normativen Gesichtspunkten erfolgen, da sie sonst sinnlos wäre.

Dies können also nur die höchsten und letzten Zwecke sein, mit denen der einzelne Fall unmittelbar in Beziehung gesetzt werden soll, statt sich an eine schon vorher geprägte Regel zu wenden, die sich mit seiner Individualität eben nur teilweise deckt.

Jene letzten Prinzipien sind nur so sehr unbewusst und selbstverständlich, dass es scheint, wenn man die mittleren Prinzipien überspringt, um sie wirken zu lassen, als sähe man überhaupt von Prinzipien ab und entschiede den Fall rein aus sich selbst, was angesichts seines teleologischen Charakters und seiner Einordnung in die Gesamtheit der Lebensinteressen ein unbedingter Widerspruch wäre.

Für das direkt Sittliche aber liegt es nun auf der Hand, dass die Grenze zwischen denjenigen individuellen Eigenschaften oder Beziehungen, die in höchsten, über die nächste Pflicht hinausliegenden Normen einen Rechtsgrund ihrer Behauptung finden, und denen, die abseits des geltend gemachten Pflichtanspruchs stehend, ihn nicht modifizieren dürfen - dass diese Grenze nicht prinzipiell, sondern nur von Fall zu Fall festzusetzen ist. (< 58)

- Die Erkenntnis also, dass es eine Reihe von individuellen Umständen gibt, die dem allgemeinen Gesetz gegenüber gleichgültig sind und keine Ausnahme von ihm begründen, verhindert nicht die Ungerechtigkeit, dass in ihre Kategorie solche eingereiht werden, die tatsächlich zu höheren Normen in Beziehung stehen und berechtigt wären, zu den Faktoren der schliesslichen sittlichen Entscheidung gerechnet zu werden.

Die sittliche Normierung auch des individuellsten Falles durch ein allgemeines Gesetz oder, was wir als Fundament und Korrelat dazu erkannt haben, die Gleichgültigkeit einer Reihe individualisierender Bestimmungen jedes einzelnen Falles für die aus ihr folgende sittliche Entscheidung - ist eine allerdings für die Wissenschaft vom ethischen Leben höchst wichtige Erkenntnis, aber nicht, wie Kant meint, ein unmittelbar und jeden Fall entscheidendes praktisches Prinzip.

Als solches hat es nur eine ganz allgemeine und heuristische Bedeutung, indem es dein sittlichen Menschen aufgibt, auch in den individuellsten Situationen nach dem Allgemeinen zu suchen, das sein Verhalten normiere. Der kategorische Imperativ gibt den sehr bedeutsamen Gedanken, dass von den Bestimmungen, deren Synthese die Individualität bildet, ein Teil uns allgemeinen Gesetzen einfügte und der andere praktisch irrelevant bleiben müsse; so vereinigt er die Individualität als Realprinzip mit der Allgemeingültigkeit des Gesetzes als Normierungsprinzip.

Aber er bleibt selbst in diesem Allgemeinen, und wir sind darum im einzelnen Fall um nichts sicherer, wo denn nun die Linie liegt, die uns der kategorische Imperativ nur suchen, aber nicht finden lehrt.

Den kategorischen Imperativ mit den Forderungen der Individualität zu vereinigen, könnte man noch auf dem folgenden Wege versuchen, zu dem uns das oben herangezogene Gleichnis der bewegten Körper leitet. Die Gestaltung oder Bewegung in der Natur ist von völlig individueller Form, keine fällt, als Ganzes betrachtet, unter eine allgemeine Regel. (<59 )

Dennoch zweifeln wir nicht, dass sie von allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, und ihre Individualität besteht nur in der Kreuzung eben dieser. - Wäre einerseits unsere Kenntnis der Naturgesetze, andrerseits unsere Fähigkeit, die Erscheinungen in ihre Bestandteile aufzulösen, vollkommen, so würden wir auch die individuellste Erscheinung bis in ihre letzte Spitze hinein als gesetzlich notwendig begreifen.

Alle Individualität wird also von mannigfaltigen Allgemeinheiten gebildet, die sich zusammenfinden und jederzeit wieder herauserkannt, werden können. Die Dinge sind also nur in demselben Masse unvergleichbar, in dem sie nicht hinreichend analysiert sind.

Individualität ist nur Komplikation, und wenn wir die Erschei­nungen in ihre einfachen Teile auflösen, so ergibt sich, dass solche, deren Totaleindrücke die heterogensten und exzeptionellsten waren, doch aus den für Alle gleichen Gesetzen bestimmt werden. Wie es sich in dieser Hinsicht mit den natürlichen Objekten und Gesetzen verhält, so vielleicht auch mit denen des Sollens.

Wenn wir jemanden zu einer ganz besonderen Handlungsweise verpflichtet, oder wenn wir ihn oder seine augenblickliche Lage den Gesetzen enthoben glauben, die wir sonst als die allgemein gültigen betrachten, wenn also derjenige Fall eintritt, in dem uns die Formel des kategorischen Imperativs nicht genügt - so ist es wohl möglich, dass dies scheinbar ganz individuelle Sollen doch nur aus einer Komplikation ganz allgemeiner Gesetze besteht.

Für die komplizierten Erscheinungen der äusseren Natur sind doch gleichfalls keine Gesetze aufzufinden, welche sie als Totalitäten beherrschten; wirkliche und wirkende Gesetze regieren nur die letzten Bestandteile.

Es gibt kein besonderes Gesetz des Lebens oder der organischen Entwicklung, sondern was man so bezeichnet ist nur der gewöhnlich eintretende Erfolg des Zusammenwirkens derjenigen primären, chemischen, physikalischen und physiologischen Gesetze, die die Bewegungen der den organischen Körper bildenden kleinsten Teile bestimmen. (<60)

Aus analogem Grunde gibt es auch keine Gesetze der Geschichte; die Geschichte ist ein ausserordentlich komplizierter Prozess, und die Kräfte, die ihn leiten, äussern sich nicht gleichsam über den Kopf seiner physischen und psychischen Elemente hinweg, sondern sie beherrschen diese nach bestimmten Regeln, und das ganze Spiel der Geschichte ist die Folge, die Erscheinung oder die Synthese dieser primären Gesetzmässigkeiten, geht aber nicht aus einem besonderen, gerade auf diesen Effekt gerichteten Gesetz hervor.

Die Annahme eines solchen würde ein ganz überflüssiger Dualismus sein, da ja das Ganze nur aus seinen Teilen besteht, die Bewegung des Ganzen also der Bewegung der Teile gleich ist und diese eben schon ihre primären, das Verhältnis des Einfachen zum Einfachen regulierenden Gesetze besitzen.

In ähnlicher Weise nun kann man sich denken, dass es für die komplizierten Situationen des Lebens keine besonderen sittlichen Gesetze gäbe ; eine Mannigfaltigkeit von Ansprüchen und Restriktionen, von Rechten und Pflichten charakterisiert unsere Lage fast in jedem Augenblick und macht sie, als Ganzes, mit jeder anderen unvergleichbar ; ein allgemeines Gesetz also, das sich gerade auf sie bezöge, ist nicht vorhanden, und darum suchen wir so oft umsonst nach der einheitlichen Maxime, die unser Verhalten regele.

Nach der Darstellung Kants scheint sich freilich für jeden Fall ein mögliches Gesetz ohne Weiteres ergeben zu sollen, und hiergegen gelten alle schon betonten Einwände des Individualismus.

Wohl aber lässt sich denken, dass sich allgemeine Gesetze, gemäss der Formel des kategorischen Imperativs, für die einzelnen Bestandteile, Forderungen und Triebe finden lassen, deren Synthese eben die Individualität des Falles ausmacht.

Von diesem Gesichtspunkte aus bedürfte es nicht einmal der Ausscheidung von sittlich gleichgültigen individualisierenden Momenten der Situation, um für diese die Allgemeingültigkeit des Gesetzes zu retten. (<61) Man könnte von ihm aus ruhig zugeben, dass es keine Beziehung, keinen Bestandteil der Lage gibt, der nicht für die in ihr geschehende Handlung von irgend einem Belange wäre.

Es liesse sich hier an die Ausmachungen über das sittlich Gleichgültige im 1. Kapitel erinnern; wir sahen dort, dass es schlechthin gleichgültige Handlungen nicht gibt, sondern die vermeintliche Gleichgültigkeit der einzelnen Handlung nur ihre Gleichwertigkeit mit einer Anzahl anderer bedeutet, deren Gesamtheit keineswegs gleichgültig ist, sondern als Gesamtheit das Sollen einschliesst.

Und entsprechend könnte man nun folgendes sagen: Wenn irgend ein Moment unserer Lage als sittlicher Bestimmungsgrund unseres Handelns irrelevant erscheint, so bedeutet dies nur, dass dasselbe einem grösseren Kreise von Momenten angehört, die durchgängig selbstverständlich gewordene Bestandteile des Lebens sind.

Den Anschein der Gleichgültigkeit erhalten sie, weil sie die allgemeine Atmosphäre bilden, die auf jedes spezielle Ereignis in gleichmässiger Weise einfliesst, oder weil sie nur auf dem Umweg über die Gesamtstimmung der Persönlichkeit sittlich bedeutsam werden.

Dadurch scheinen sie von der momen­tanen Entscheidung weit abzuliegen. Tatsächlich können sie in solchen Fällen wohl durch bestimmte andere ersetzt werden; es ist oft irrelevant, ob diese oder jene Bestimmung, allein dass überhaupt Bestimmungen aus diesem Kreise vorhanden sind, das ist keineswegs gleichgültig.

Wie die Gleichgültigkeit von Handlungsweisen immer nur eine relative ist und nur sagen will, dass es gleichgültig ist, ob ich a oder b tue, nicht aber, ob ich überhaupt eines von diesen beiden tue : so bedeutet auch die ethische Gleichgültigkeit eines Umstandes für das Handeln nur, dass eine grössere Anzahl von Umständen vorhanden ist, von denen es für die Entscheidung gleichgültig ist, ob der eine oder der andere wirkt; dass aber überhaupt einer aus diesem Kreise da ist, hat jedenfalls Bedeutung für die Handlung. (<62 )

Gewinnen wir so ethische Folge und Bedeutsamkeit für jedes tatsächliche Bestandstück des Lebens, so ergibt sich nun weiter aus unseren obigen Ausmachungen die Möglichkeit, jede sachliche oder persönliche Individualität im Sittlichen als eine Kombination einfacherer Bedingungen oder Beziehungen anzusehen, die ihre Bestimmbarkeit durch allgemeine Gesetze auf die Totalität des höheren, aus ihnen zusammengesetzten Gebildes übertragen.

Wir münden hiermit an dem allerdings leicht missverständlichen, richtig verstanden aber vielleicht wichtigen Begriff eines ethischen Atomismus.

Es ist im Theoretischen der unvergleichliche Vorteil der atomistischen Anschauungsweise, dass sie die Eigenart der Erscheinung, der sie unverletzten, durch keinen komplexen Begriff präjudizierten Bestand gewährleistet, allein in die Form verlegt, ihren substantiellen Stoff dagegen aus den verschiedenartigsten Formungen heraus als den gleichen und denselben wesentlichen Bedingungen unterworfenen erkennt.

Vielleicht gelingt es entsprechend im Ethischen, in dem Individuellen der sittlichen Situation als solchem die blosse synthetische Form zu erkennen, in der sich überall gleiche Grundbedingungen, Grundansprüche zusammenfinden.

Die einfachen Forderungen der Hilfeleistung, der Treue, der Pietät u. a. bilden vielleicht die Elemente, aus deren Potenzierung und Verflechtung die schwierigsten und vergeistigtsten ethischen Besonderheiten erwachsen.

Dann würde, der kategorische Imperativ, d. h. die Forderung, nicht nach schlechthin individuellen, sondern allgemein­gültigen Normen zu verfahren, sich nicht gegen die indi­viduelle Lage als Ganzes richten, an der er so oft wirkungslos abprallt, sondern gegen ihre einzelnen Momente, die in der Totalerscheinung vielleicht verschwinden, wie die Atome als solche in dem sichtbaren Körper, von denen aber dennoch das Sein des letzteren so getragen wird und deren Gesetzlichkeiten seine Bewegungen so bestimmen, wie es in unserem Fall bezüglich des Sollens stattfindet. (<63 )

Vielleicht gibt es einige einfache Beziehungen zwischen den Menschen, deren Verbindungen den ganzen Reichtum ethischen Sollens aus sich entfalten , ähnlich der Fülle organischer Verbindungen, deren Zusammengesetztheit aus wenigen Elementen uns die Chemie lehrt.

Auch für manche Zweige des Ästhetischen, z. B. für die Lyrik, kann man wohl nachweisen, dass in ihrer gesamten Geschichte sich nur eine geringe Anzahl von Motiven entwickelt, deren Kombinationen ihren noch unerschöpften Reiz doch nur den elementaren, jenen Motiven entsprechenden Gefühlen verdanken; nur in Mass und Mischung dieser, in dem Verhältnis der Bewusstheit und der Unbewusstheit ihrer Mitschwebung liegen die Differenzen ihrer ästhetischen Bedeutung.

Die Kardinalfrage nun, an der die Rettung des ethischen Allgemeinheitsprinzips vermöge des ethischen Atomismus hängt, ist die: entsteht ein spezifisch neues Sollen durch die eigentümliche Formung, welche die ein­fachen sittlichen Elemente im Individuum annehmen, oder ist vielmehr das in jeder Situation geltende Sollen gleich der Summe resp. dem Ausgleichungsresultat derjenigen Forderungen, welche sich aus der Zerlegung der Situation in ihre elementaren Beziehungen für jede dieser letzteren ergeben? Die Beantwortung dieser Frage kann hier nicht versucht werden, weil sie nur durch die detaillierte psychologische und historische Untersuchung der einzelnen Pflichten und Pflichtenkonflikte möglich ist, also an den Schluss der Moralwissenschaft und nicht in ihre Einleitung gehört.

Ihre Bejahung würde aber den Individualismus mit dem kategorischen Imperativ prinzipiell versöhnen, wenn sie auch die praktische Entscheidung, wie denn nun im einzelnen Fall zu handeln wäre, nicht immer eindeutig geben könnte.

Denn wenn die Unsicherheit der Forderungen auch dadurch beigelegt wird, dass man das Rätsel der Individualität in eine Summe von Elementen auflöst, deren jedes allgemeinen, unindividuellen Gesetzen unterliegt, so ist nun um so weniger gewährleistet, dass die Ansprüche dieser mannigfaltigen letzteren durch irgend eine einzelne Handlung zugleich befriedigt werden können.

(<64) Auch unter den einfachsten menschlichen Beziehungen gibt es genug des Dualismus und der Entgegengesetztheit, um es unwahr­scheinlich zu machen, dass die einfache Handlung, zu der man sich doch schliesslich entschliessen muss, ihnen allen gleichmässig genugtue.

Der Individualismus und das Prinzip der Allgemeingültigkeit im Sittlichen würden sich durch diese ethische Atomistik also wohl nach der Seite der Forderungen hin, nicht aber nach der der Erfüllbarkeit dieser Forderungen zur Versöhnung bringen lassen. 

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Es ist in der bisherigen Erörterung betont worden, dass der kategorische Imperativ die Gleichheit vor dem moralischen Gesetz ausspricht: die Norm unseres Verhaltens dürfe keine individualistische sein, sondern eine solche, die für alle in der gleichen Lage befindlichen Individuen die gleiche ist.

Als zweites Wesentliches tritt die Bestimmung hinzu, dass dies nicht nur ein analytisches Erkenntnis, eine logische Konsequenz wäre, sondern dass es in der sitt­lichen Ordnung wirklich für jeden Fall ein derartiges allgemeines Gesetz gebe.

Da aber in der schon vorliegenden Gesetzgebung - rechtlichen oder moralischen - nicht jede Eventualität bereits berücksichtigt ist, so müssen wir uns das Gesetz derselben selbst konstruieren.

Und zwar geschieht dies einfach so, dass wir uns unsere projektierte Handlungsweise als die allgemeine, durchgehende, denken und uns fragen, ob wir mit dem dann resultierenden Zustand der Dinge einverstanden wären, ob wir ihn wollen können.

Dieser Ausdruck nun, ob wir unsere Handlungsweise als allgemeines Gesetz wollen können, ist an sich nicht ein­deutig und wird es auch nicht durch die Beispiele, die Kant gibt. (<65)

Er bezieht sich einerseits auf die reale Verfassung, die sich, erwünscht oder unerwünscht, aus der Verallgemeinerung unseres Handelns ergebe: ob der soziale Kreis durch dieselbe erhalten oder zerstört, ob das All­gemeinwohl gehoben oder geschädigt wird.

An einem Endzweck also, zu dem insoweit unser Tun nur als Mittel erscheint, an den realen Folgen seiner Verallgemeinerung sobald die natürliche Verkettung der Dinge sie aufgenommen und zu entschiedener Beziehung zu unserem eigenen und dem sozialen Wohl fortgebildet bat, ergibt sich die Zulässigkeit der Handlung; und so haben wir in dem Bisherigen jenes "Wollen können" verstanden.

Allein der strikteste und bedeutendste Sinn des Ausdrucks ist doch noch ein anderer. Ob ich eine fragliche :Handlungsweise als allgemeine wollen kann, war bisher abhängig davon, ob ich einen Endzweck, persönlicher oder sozialer Natur, will; will ich ihn, dann ist freilich unbedingt gegeben, ob ich eine Handlung, die im Verhältnis des Mittels dazu steht, wollen kann oder nicht.

Ob ich ihn aber will, ist nicht in gleichem Masse sicher, und mit der psychologisch sehr wohl möglichen Verneinung davon fällt dann das ganze Kriterium dahin. Dasselbe erscheint also nur dann ganz streng, wenn das Wollen-können nicht mehr von der Satzung eines bestreitbaren Endzwecks abhängig, sondern wenn unmittelbar darüber zu entscheiden ist.

Nur wenn es Handlungen gibt, die man überhaupt nicht im Stande ist als allgemeingültige zu wollen, spricht jene Norm eine unbedingte Bindung, wenigstens prohibitiv, aus.

Welchen Sinn kann nun aber diese unmittelbare Unmöglichkeit des Wollens haben? Psychologischen Sinn keinesfalls. Denn es gibt nichts, was ich nicht unter gewissen inneren und äusseren Bedingungen wollen könnte; in der Skala zwischen dem harmonischen, zu der letzterfass­baren Vernunft der Dinge abgestimmten Wollen des Genies bis zu dem Wahnsinnigen, der durchaus will, dass alle Menschen ihn als Kaiser von China ehren oder ihm zugeben, dass drei mal drei acht sei - in dieser Skala hat jedes überhaupt ausdenkbare Wollen Platz. (<66)

Irgend eine Bedingung muss also doch hinzugefügt werden, um die Ausschliessung eines Wollens zu ermöglichen. Es handelt sich nur darum, eine aufzufinden, die wenigstens in sich den Charakter der Unbedingtheit trägt. Für den menschlichen Geist sind dies nun die logischen Formen des Denkens.

Von allem materialen Weltinhalt kann ich absehen, ihn in Gedanken in sein Gegenteil verkehren und dieses Gegenteil wollen, Ich kann mir aber nicht denken, dass der einmal gesetzte Begriff zugleich sein Gegenteil sei; das logisch, d. h. absolut Unmögliche kann ich als vernünftiger Mensch nicht wollen, weil eben der Ausschluss solchen Wollens meine Vernünftigkeit bedeutet.

Weil die logische Forderung eine unbedingte ist, darum wird das Wollen durch sie die bestimmteste Grenze erhalten, die man ihm überhaupt setzen kann; involviert das "Wollen können" überhaupt eine Bedingung, weil es, wenn völlig bedingungslos, kein Objekt überhaupt ausschliesst, so ist die Bedingung logischer Widerspruchslosigkeit jedenfalls diejenige, unter der es sich der Unbedingtheit am meisten annähert.

Das Wollen-können einem Objekte gegenüber würde also bedeuten, dass man logisch imstande ist, es zu wollen, dass dieses Wollen möglich ist, ohne den Satz des Widerspruchs zu verletzen.

Und tatsächlich steht die Deutung der Kantischen Formel nach dieser Seite hin neben der bisher angeführten; diejenige Handlung sei die richtige, deren Verallgemeinerung logisch möglich sei; diejenige die unsittliche, die, als allgemeines Gesetz gedacht, sich in einen begrifflichen Widerspruch verwickele.

Kants klassisches Beispiel ist der Fall der Depositenunterschlagung. Es soll ein Depositum in meinen Händen sein, dessen Eigentümer verstorben ist, ohne einen Beweis der Deponierung zurückzulassen, und das ich mir also ohne Besorgnis äusserer Strafe aneignen könnte. (<67)

Ob eine solche Handlungsweise sittlich wäre, soll sich aus der Frage ergeben, ob sie wohl die Form eines Gesetzes anzunehmen vermag: dass Jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm Niemand beweisen kann.

Ich werde, fährt Kant fort, gewahr, dass ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, dass es gar kein Depositum gäbe. Diese Handlungsweise würde, in der Form eines allgemeinen Gesetzes, sich selbst aufreiben.

Der Begriff eines Depositums ist der eines Wertobjekts, das Jemandem auf die Bedingung der Rückgabe hin anvertraut worden ist; die Unterschlagung desselben widerspricht also seinem Begriffe, und wenn sie allgemein wäre, würde sie diesen Begriff überhaupt aufheben.

Die Forderung, dass man sich dies erst als verallgemeinerte Handlungsweise denken solle, um dann den Widerspruch zu erkennen - während doch tatsächlich der innere Widerspruch schon in der einzelnen Handlung liegt -  hat wohl nur die Grundlage, dass erst ihre Vervielfältigung den Begriff hervortreten lässt, und der logische Widerspruch eben als Wider­spruch gegen einen Begriff vorgestellt wird.

Erst indem die Handlungsweise, als durchgehende gedacht, sich widerspricht, kann man mit Sicherheit die Unzulässigkeit ihres einzelnen Vorkommens ableiten. - Noch deutlicher, als bei der Unterschlagung eines Depositums liegt der Fall bei der Lüge.

Der Begriff der Aussage involviert es, dass sie wahr sei, dies ist die unausgesprochene, selbstverständliche Voraussetzung, unter der allein es einen Sinn hat, etwas auszusagen.

Der innere, begriffliche Widerspruch, der demnach in der Lüge liegt, verkörpert sich äusserlich darin, dass bei der Verallgemeinerung derselben es überhaupt keine Aussagen in dem bisherigen Sinne mehr geben würde; sobald wir über den einzelnen Fall der Lüge hinaus sie uns als allgemeine Norm denken, erweist sich ihre innere Unmöglichkeit sofort an ihrer äusseren.

Ich kann unmöglich wollen, dass allgemein gelogen wird, d. h. dass eine Aussage, die die Form der Wahrheit hat, ihr Gegenteil zum In­halt habe, so wenig wie ich, wenn ich will, dass A sei, zugleich wollen kann, dass A nicht sei. (<68)

Der Ton liegt auf dem Können: ich kann es ebenso wenig, wie ich das schlechthin Unlogische als wirklich, wie ich die Kugel als nicht­rund denken kann. Diese Forderung, das Handeln durch die Widerspruchslosigkeit seiner Inhalte und die logischen Konsequenzen der Begriffe bestimmen zu lassen, liegt in der Richtung des spinozistischen Rationalismus.

Für Spinoza schien es undenkbar, dass man dasjenige missbilligen sollte, dessen logische Notwendigkeit man einsieht. Dem, was wir voll­kommen begreifen, dürfen wir eben damit auch das Recht der Existenz nicht bestreiten, so wenig, wie wir der Kugel das Recht bestreiten können, rund zu sein, oder so wenig wir wollen können, dass sie es nicht sei.

Dass so dasjenige, was nach dem Generalbass des Verstandes harmoniert, auch für Gefühl und Willen annehmbar sei, ist nur ein niederer Grad dieser Deutung des kategorischen Imperativs, der zufolge die innere logische Harmonie der Tat sogar über ihr Gesolltwerden entscheidet.

Es ist dasselbe Denkmotiv, das Spinoza zur Entgegensetzung zwischen dem endlichen, beschränkten Wesen der Dinge und ihrer absoluten Entfaltung und unbeschränkten Selbsterhaltung bewegt.

Jenes zwingt ihnen eine teilweise Nicht-Existenz auf, sie können in dem fortwährenden Bestimmtwerden durch fremde Kräfte nicht voll das sein, wozu sie an und für sich, man kann direkt sagen: ihrem Begriffe nach, bestimmt sind, und was sie eigentlich, sub specie aeterni betrachtet, auch sind.

So trägt jeder Begriff der menschlichen Praxis in sich und seinen logischen Folgen die Norm, nach dem unser Tun mit seinen Verwirklichungen zu verfahren hat, der begriffliche Inhalt des Tuns schliesst zugleich sein Sollen ein, der Widerspruch gegen Jenen ist zugleich ein Verstoss gegen dieses.  (<69)

Und im letzten Grunde ist dies nur eine Ausgestaltung jener platonischen Lehre, die zum dauernden Bestande der menschlich-geistigen Tendenzen zu gehören scheint und in immer neuen Formen je eine Seite der Gegensätze beherrscht, in die sich das intellektuelle Leben jeder Zeit spaltet: der Lehre, dass jedem Dinge eine Idee entspreche, die einerseits seinen Inhalt zeichnet, deren völlige Verwirklichung an ihm aber auch zugleich sein Ideal bildet.

Ich komme auf den eigentümlich bedeutsamen Sinn, den auch die realistische Ethik in dieser Metaphysik finden kann, gleich zurück und bemerke über die Bindung des Wollenkönnens an die begriffliche Widerspruchslosigkeit das Folgende.

Es ist ganz richtig, dass ich als Vernunft­wesen nicht wollen kann, dass A zugleich non-A, und dass ein zum Zurückgeben bestimmter Gegenstand zugleich ein zum Zurückbehalten bestimmter sei.

Allein dieser Widerspruch des Wollens gegen sich selbst entspringt doch nur, sobald ich den Begriff oder Gegenstand will und dabei doch dasjenige negiere, was in ihm logisch enthalten ist.

Wenn ich das ursprüngliche Objekt selbst nicht will, so fällt jeder Widerspruch fort. Es ist genau der gleiche Fall, den Kant auf theoretischem Gebiet gelegentlich des ontologischen Gottesbeweises so schlagend kritisiert hatte. Gott ist allmächtig, ist ein unbedingt wahrer Satz, weil im Begriff Gottes die Allmacht liegt, die ich also ohne Wider­spruch ihm nicht absprechen kann.

Hebe ich aber den Begriff Gottes selbst auf, so ist auch die Allmacht mit aufgehoben, und aus ihrer Negierung entspringt gar kein Widerspruch. Spinoza hat schon Recht, dass es einem nicht missfallen kann, dass die Kugel rund sei; allein es könnte einem missfallen, dass überhaupt eine runde Kugel sei.

Nur unter der Voraussetzung, dass ich überhaupt Depots will, muss ich auch wollen, dass sie zurückgegeben werden, hebe ich aber das Wollen des Depots überhaupt auf, so ist auch die Verpflichtung der Rückgabe damit ohne logischen Widerspruch aufgehoben. (<70)

Es kann jemand gegen eine allgemeingültige Regel mit sittlichem Bewusstsein verstossen, um eben durch den Erfolg davon zu beweisen, dass das allgemeine Wollen dieser Regel ein falsches ist. Es lässt sich z. B. denken, dass in einem Kreise das Ausgeben von Depositen in einer sehr unvollkommenen und leichtsinnigen Weise geschehe, und dass nun jemand, der aus irgend einem Grunde die äusseren Folgen nicht fürchtet, in der Tat ein Depositum unter­schlägt, um wirklich dadurch zu bewirken, dass es solche Deposita künftig nicht mehr gebe.

Ob ich also so handeln soll, wie es dem Begriffe entspricht, hängt offenbar nicht von dem Begriffe seinem logischen Inhalte nach, sondern davon ab, ob ich die Realisierung des Begriffes will, weil sonst seine Zerstörung nichts gegen sich hätte.

Also selbst dieses ganz formale logische Kriterium enthüllt sich, wie jede ethische Norm, als schliesslich abhängig von materialen Wertsetzlingen; wenn in vielen im Vorigen erwähnten Fällen sich das ethisch Erforderliche als physisches Mittel zu dem Endzweck enthüllte, so handelt es sich hier zwar nicht um reale, aber um rationale Beziehung zu einem solchen; abhängig aber von dessen schliesslicher Wertung bleiben wir auch hier.

Statt der Relation von Ursache und Wirkung ist nur die von Grund und Folge eingetreten, der es ebenso wenig gelingt, die Bestimmung des ethischen Sollens von der Zufälligkeit letzter Wertgefühle zu erlösen und an beweisbare, rationale Notwendigkeiten zu heften.

Hätte aber auch die logische Bestimmung des Sollens eine selbständige, von aller materialen Bedingtheit unabhängige Bedeutung, so würde dieselbe doch immer nur einen negativen Charakter tragen. Sie würde uns lehren, welche Handlungen, gemäss dem Satze des Widerspruchs, ausgeschlossen sind, während sie unter den übrig bleibenden keine positive Auswahl träfe.

Es gibt offenbar unzählige Handlungsweisen, die ich logisch durchaus als allgemeines Gesetz "wollen kann", die also nicht verboten sind, aber auch keine sittliche Notwendigkeit besitzen.  (<71)

Es könnte z. B. sehr wohl allgemeines Gesetz sein, dass alle Menschen sich wie die Quäker mit Du anredeten; trotzdem ich dies wollen kann, fühle ich keine Pflicht, so zu handeln.

Die Logik vermag auch in der Anwendung auf das Ethische nicht mehr, als in der blossen Theorie. Sie vermag bestimmte Vorstellungen auszuschliessen, aber sie kann keine neuen gewinnen, die nicht in dem Material, mit dem sie arbeitet, schon enthalten wären.

Denn wenn man selbst ihr gemäss in dem Falle des Depositums das positive Gebot ableitete, dass Depots wieder erstattet werden sollen, so enthält doch auch dies offenbar nur das Verbot der Unterschlagung und kann nur auf die zu Grunde liegende Möglichkeit und Befürchtung derselben hin aufgestellt werden.

Wie ich Unzähliges denken kann, das sich nicht widerspricht, aber dennoch nicht wirklich ist, so kann ich Unzähliges wollen, das sich nicht widerspricht, das aber darum noch nicht positiv sittlich ist; die Formel des kate­gorischen Imperativs, bloss logisch ausgedeutet, führt nur zu Verboten, nicht zu Geboten.

Dieser Prohibitivcharakter des Sittengesetzes genügt um so eher, je einfacher und primitiver die Verhältnisse sind, die es moralisch zu regeln gilt. Denn in solchen pflegt das positive Verhalten derartig sozial und instinktiv geregelt zu sein, dass es besonderer Impulse und Gebote nicht bedarf; je weniger kom­pliziert und differenziert Menschen und Dinge sind, desto enger knüpfen sich beide an das soziale Niveau, desto weniger Veranlassungen treten für das Individuum ein, sich durch eigenartige Imperative bestimmen zu lassen und sich in seinem praktischen Bewusstsein über die einfache, selbstverständlich gewordene Norm zu erheben.

Deshalb genügt es bei primitiven Situationen und Umständen, die Grenze zu bezeichnen, über die das Handeln nicht hinausgehen darf, während die mangelnden Konflikte und die einfachen Bedürfnisse des sozialen Körpers keine besonderen Vorschriften für das positive Handeln veranlassen. (<72)

Darum sind die frühesten Sittengebote, z. B. der Dekalog, wesentlich negativ, darum enthält das Recht, das nur die primärsten Existenzbedingungen der Gesellschaft sichern soll und als das ethische Minimum bezeichnet ist, in individuell-ethischer Beziehung fast nur negative Bestimmungen, darum endlich ist Kant genötigt, zur Exemplifizierung seines Prinzips nur die allereinfachsten ethischen Situationen heranzuziehen und allen eigentlichen Konflikt der Pflichten zu leugnen.

Es gibt indessen eine Denkmöglichkeit, nach der auch aus jener blossen Unterordnung des Handelns unter den Satz des Widerspruchs ein positives Regulativ folgte.

Wäre nämlich unsere ganze praktische Welt sozusagen begrifflich organisiert, bestimmte jeder Begriff derselben aus sich heraus seine logischen Konsequenzen mit völliger Sicherheit, so dass sich von jeder möglichen Handlung wenigstens nach dem Satz des Widerspruchs ergebe, ob man sie logischerweise wollen kann oder nicht: so würde sich der Kreis der Handlungen, die ich wollen kann, so verengern, dass nur eine einzige übrig bliebe, welche ich dann also sittlich wollen müsste.

Der Satz: "was nicht verboten ist, ist erlaubt", würde sich dann zu dem anderen zuspitzen: "was nicht verboten ist, ist geboten" ; das logisch Mögliche wäre dann zugleich das sittlich Notwendige, weil jede andere, diesem nicht gemässe Handlungsweise sich als Widerspruch herausstellen müsste.

Ich habe diesen Gedanken, vom Begriff des Erlaubten ausgehend, schon Bd. 1, S. 39 berührt. Dort sahen wir: Erlaubt ist jede einzelne Tat aus einem Kreise von Handlungen, der als ganzer nicht bloss erlaubt, sondern geboten ist; das sittlich Mögliche bezieht sich nur auf die Auswahl aus mehreren Handlungsweisen, aus denen aber überhaupt eine zu wählen sittlich notwendig ist.

(<73) Und wie nun das physisch Mögliche nur ein Ausdruck für unsere Unwissenheit ist und tatsächlich von allem in einem Falle Mög­lichen nur Eines wirklich wird, alles andere aber unmöglich ist, so würde bei richtiger Einsicht in das sittlich Erforderliche sich vielleicht aus dem ganzen Kreise des Erlaubten nur Eines als sittlich notwendig, alles andere aber als unmöglich herausstellen.

Was hierin ganz allgemein an­gedeutet wird, das spezifiziert unser augenblicklich vorliegender Gedanke. Das Erlaubte oder sittlich Mögliche wird jetzt näher bestimmt als dasjenige, was ich wollen kann, ohne einen Widerspruch gegen die Voraussetzung meines Handelns, gegen den Begriff, an dem es sich voll­zieht, zu begehen.

Derartiger Handlungsweisen gibt es nun aber meistenteils eine grössere Anzahl. Die einzige Bedingung, sich nur nicht direkt zu widersprechen, lässt vielen positiven Möglichkeiten Raum, die bei aller Verschiedenheit untereinander doch gerade ihr alle genügen.

Allein es wäre nun wohl denkbar, dass hier ebenso wie im Falle des physisch Möglichen, nur die mangelhafte Einsicht in das begriffliche Gefüge der Dinge, die Unfähigkeit, ihre logischen Zusammenhänge bis in jene feinsten Spitzen zu verfolgen, die das Erkenntnisideal Platos bildeten, diese Mannigfaltigkeit des Möglichen schaffen.

Schliesslich wirkt jede Handlung in ganz positiver Weise auf das Objekt zurück, das ihre Voraussetzung bildet, und angesichts der absoluten Individualität jeder Geschehensreihe würde sich für ein Denken, das mit lückenlosen Begriffszusammenhängen arbeitet, eine Skala derartiger Rückwirkungen herstellen, von derjenigen, in der die Handlung den ursprünglichen Begriff völlig intakt lässt, bis zu derjenigen, die ihn völlig zerstört.

Das unvollkommene Denken gibt einen weiten Spielraum, indem es die Handlungen ganz roh in widerspruchsvolle und logisch in sich übereinstimmende teilt; mit seiner steigenden Verfeinerung muss es auch hier eine Kontinuität der Übergänge anerkennen. (<74)

Betracht zieht, um so reicher und mannigfaltiger werden ,die Rückwirkungen der Handlung auf ihre begriffliche Voraussetzung, um so verzweigter die Erhaltungen und die Störungen derselben, um so sicherer also die Annahme, dass es schliesslich nur eine einzige Handlung sein kann, die ein Maximum von Erhaltung des Begriffs, ein Fernbleiben jeder aufhebenden, zerstörenden Folge garantiert.

Wenn uns also die Begriffswelt nur klar genug gegliedert wäre, wenn wir nur die Deduktion durch hinreichend viele Glieder durchführen könnten, so würde uns das Wollen­können in jeder Situation nur den Grenzfall jener einzigen Handlung übriglassen, die ein Minimum von Zerstörung der Begriffe darbietet, und die also, als allein nicht verboten, allein erlaubt, d. h. geboten wäre.

Von den mancherlei Erwägungen, die sich an dieses Prinzip knüpfen lassen, will ich nur eine über sein Motiv, eine andere über seine Voraussetzung hervorheben.

Der Gedanke, dass die moralische Wertung der Handlungen an ihre logische geknüpft sei, entspringt offenbar dem Bedürfnis, einen möglichst zweifelsfreien und allgemein mitteilbaren Inhalt und ein überall anzuwendendes Kriterium der Sittlichkeit zu gewinnen.

Die Ermahnung, sich doch nicht selbst zu widersprechen, appelliert an eine letzte Instanz in uns.

Wer auf unbedingte Sicherheit der sittlichen Bestimmung ausgeht, der muss, an allen unseren früheren Ausmachungen über den primären und unbegründ­baren Charakter des letzten Sollens und Wollens vorüber, sie auf diesen letzten, vom Skeptizismus noch nicht angenagten Felsen, auf den Satz des Widerspruchs bauen. (<75)

Darum bemerken wir die Neigung, die begrifflichen Opera­tionen gemäss dem Satz des Widerspruchs zur Bestimmung des Moralischen heranzuziehen, auch überall da, wo charakterologisch das Bedürfnis einer möglichsten Festigung der ethischen Normen vorliegt, ohne dass man doch zu einer transzendenten Begründung greifen möchte, und zwar ins besondere, wenn es sich destruktiven oder für destruktiv gehaltenen Strömungen gegenüber um eine Reinhaltung der Moral, um ein unangreifbares Bollwerk zu ihrer Verteidigung handelte: bei Sokrates, bei Price, bei Kant, in der Entwicklung der französischen Moral - mehr noch der öffentlich-geistigen als der philosophischen - mit ihrem Glauben an die Allmacht des Verstandes in ethischen Dingen, in gewissem Sinne auch bei Hegel, der, hierfür charakteristisch genug, seine eigentliche Ethik in der "Rechtsphilosophie" gibt.

Natürlich stellt sich überall hier die Fundierung des Ethischen auf den Satz des Widerspruchs nicht rein, sondern nur in der Tendenz dar. Unverkennbar aber ist allenthalben das Motiv, dem schwan­kenden Gefühle, dem unverantwortbaren Willen gegenüber eine höchste Instanz anzurufen, die wir eben nirgends als in den logischen Gesetzen finden, und nun die Latitude, welche diese für die Bestimmung der materialen Inhalte freilassen, durch Verfeinerung der Begriffe so einzuschränken, dass auch logisch nichts übrig bleibt, als das positiv Moralische.

So wunderlich, abstrus und traumhaft die Vorstellung erscheinen muss, dass man mittels logischer Operationen zu jedem beliebigen Punkte der sittlichen Welt gelangen und ihn unzweideutig bestimmen könne, so ist sie doch der konziseste Ausdruck und Gestaltung eines sehr ernst­haften, in die Tiefen sittlicher Weltanschauung hinab­reichenden Grundgedankens.

Es handelt sich dabei um die Frage: ist das Gebiet des Sittlichen präformiert, derart, dass das Individuum es nur zu erkennen braucht? Ist das Sittliche eine objektive Gegebenheit - unabhängig von unserem Willen, die unser Bewusstsein nur nachzuzeichnen hat, so dass es ihm gegenüber höchstens Entdecker, aber nicht Erfinder ist? Der Vergleich mit der theoretischen Erkenntnis wird dies Problem deutlicher machen. (<76)

Auch der vollkommenste Idealismus, der keine ausserhalb des Bewusstseins liegende Existenz anerkennt, leugnet nicht, dass der einzelne Erkenntnisinhalt, unabhängig vom Willen und als ein in sich Bestimmtes gegeben sei, das nur so und nicht anders sein kann.

Mag es also auch keine an sich seiende materielle Ordnung der Dinge geben, die uns zu dieser bestimmten Art sie aufzunehmen zwingt, so ist doch jedenfalls unleugbar, dass, wenn wir überhaupt ein Objekt erkennen wollen, wir es - dem Resultate nach, nur auf eine Art erkennen können - eine Bestimmung, deren prinzipielle und ideale Geltung von den Unzulänglichkeiten und Entgegengesetztheiten der auf die Wahrheit hin ge­richteten Entwicklung ganz unabhängig ist.

Wohin wir auch die Ursache jenes Zwanges verlegen, und wenn wir selbst die Frage nach einer solchen Ursache als ungehörig abweisen mögen: wir können dasjenige, was wir Wahrheit nennen, uns nicht anders vorstellen, denn als einen Parallelismus unseres Denkens mit einer ideellen Ordnung, die dieselbe bleibt, gleichviel ob wir sie erkennen oder nicht.

Wie sehr wir auch das Gravitationsgesetz von der anthropologischen Form der Raumanschauung und Grössenbildung abhängig denken, so müssen wir doch sagen, dass es schon gegolten hat, bevor Newton es erkannte; der Zwang, es nur so oder überhaupt nicht zu erkennen, ist uns nur vorstellbar als Korrelat einer zeitlosen Geltung der Wahrheit, die unser Denken nur nachzeichnen kann, gleichviel ob durch äussere oder innere Veranlassung oder durch eine, auf welche die Kategorie des Äusseren oder Inneren überhaupt nicht passt.

Es soll damit einfach eine Vorstellungstatsache, nicht die bestreitbare Ursache derselben ausgedrückt werden; nicht um eine Erklärung der Erkenntnis handelt es sich, sondern um eine meinetwegen symbolische Darstellung ihres immanenten Charakters, wenn wir uns das Gebiet überhaupt möglicher wahrer Erkenntnis als ein irgendwie bereit liegendes denken , das in seiner unwandelbaren Bestimmtheit nur nachgebildet werden kann,

und also an dieser und seiner eigentümlichen Geltungsart nichts verliert, auch wenn eine solche Nachbildung nicht erfolgt. (<77) Verhält es sich nun mit den ethischen Forderungen ebenso wie mit den theoretischen Erkenntnissen? Liegt das Reich des Sollens ebenso in ideeller aber unverrückbarer Formung vor uns, wie das des Seins, so dass unser Bewusst­sein jeden Punkt seiner, zu dem es dringt, bereits bestimmt findet?

Hat beim Sollen ebenso wie beim Sein das Be­wusstsein nur zu konstatieren, was inhaltlich schon fixiert ist, oder besitzt es jenem gegenüber die Fähigkeit, das Objekt erst durch den Akt seines Bewusstwerdens in seinem Inhalte, seiner Wahrheit, seinem Geltungsmasse zu erschaffen?

Dass ihm dem Sein gegenüber diese Freiheit versagt ist, kann kein Idealismus oder Solipsismus leugnen, wenn er auch jene Bindung aus einer höheren, ausserhalb des unmittelbaren Bewusstseins gelegenen Freiheit des Ich ableitet.

Als immanente Qualität des Erkennens bleibt sie bestehen, und als solche wird sie auch für das Sollen von der rationalistischen Ethik voraus­gesetzt, deren entschiedensten Ausdruck der kategorische Imperativ in seiner hier behandelten Bedeutung darstellt.

Soll es möglich sein, durch bloss logisches Verfahren in jeder Situation das sittlich Notwendige zu erkennen, so muss dieses seinem Inhalte nach schon unverrückbar festliegen; der Wille hätte dann nur die Freiheit, das sittlich Vorbestimmte zu tun oder zu lassen, könnte aber nicht aus sich heraus einen neuen Inhalt mit der Bestim­mung, dass er gesollt werde, setzen - wie es ihm wohl freisteht, diesen und jenen Teil der möglichen Erkenntnis zu aktualisieren, aber nicht, einen ausserhalb dieses ideell präformierten Gebietes liegenden Inhalt mit der Bestimmung, dass dies nun Wahrheit sei, zu setzen.

In den Dingen selbst, bez. in den Begriffen ihrer, liegt nach dieser Anschauung schon die Gesamtheit des Sittlichen in latenter Form, sie steht dem Subjekt als ein objektiv Gültiges gegenüber, dessen Umrisse es durch sein Tun erfüllt, aber nicht schafft; aus diesem Prästabilismus des Sittlichen folgt leicht begreiflicher Weise die Kantische Bestimmung, dass niemand im Sittlichen mehr tun könne, als eben seine Pflicht. (<78)

Deutlich ist hier auch eine Ver­wandtschaft der rationalistischen mit der religiösen Ethik zu beobachten. So verschieden beide über die Sanktionen denken mögen, mit denen man die ethische Forderung begründe, so verschiedene Inhalte sie ihr auch geben mögen, so stimmen sie doch über sie selbst nach dieser wichtigen, formalen Seite hin überein.

dass der Wille das Sittliche nicht zu setzen, sondern nur zu erfüllen habe, dass die Inhalte des Sollens sich uns nicht durch einen Willens- , sondern einen Erkenntnisakt ergeben.

In dieser tiefsten Überzeugung über das Wesen des Sittlichen liegt die sozusagen unterirdische Verbindung, in Folge deren Kant, nachdem er den reinen Rationalismus, die Herrschaft der Logik im Finden des Sittlichen gelehrt hatte, dann zu der Definition gelangte, Religion sei die Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote.

Denn mag nun Logik oder Offenbarung den Erkenntnisgrund des Sittlichen bilden, gemeinsam ist beiden Tendenzen, dass das Sittliche prä­formiert ist, bevor es in dem Bewusstsein des Individuums auftaucht, sei es ideell in den Konsequenzen der Begriffe, ob wir sie nun gezogen haben oder nicht, sei es real im Geist Gottes, möge es nun offenbart sein oder nicht.

Von dieser Seite angesehen, ist die Bestimmung unserer Pflichten als göttlicher Gebote nur eine Hypostasierung oder Substanzialisierung ihrer Bestimmung als logischer Konsequenzen der Begriffe.

Zu bemerken ist dabei, dass der Rationalismus, um den es sich hier handelt, nicht etwa derjenige ist, der die Vernunft zur subjektiven Triebfeder für die Erfüllung des Sittlichen macht; dies vielmehr wird ganz unentschieden gelassen und nur der Inhalt und die ideale Geltung der sittlichen Forderungen aus der Quelle der theoretischen Vernunft abgeleitet. (<79)

Die entgegengesetzte Sinnesart empfindet das sittliche Tun keineswegs als blosse Erfüllung eines in der ewigen Ordnung der Dinge bereits Geforderten; sie bestreitet, dass man aus schon bestehenden Begriffen heraus die Grenze setzen könne, die zugleich Maximum und Minimum des sittlichen Anspruchs bilde.

Niemand leugne, dass unser Wille überhaupt nicht von der Vorstellung begleitet werde, die unser Erkennen charakterisiert: dass die Inhalte desselben ein ideal Feststehendes und Gültiges, von seiner zufälligen psychologischen Verwirklichung Unabhängiges darstellten; und nun, behauptet die anti-rationalistische Auffassung, dass die Sittlichkeit sich hierin gerade nur wie der Wille überhaupt verhielte.

Sie schaffe ihre eigentümlichen Werte, ohne dieselben durch eine Logik bestimmen zu lassen, die doch nichts könne, als bereits Festgestelltes exponieren. Das Wesen höherer Sittlichkeit bestehe gerade in einer eigensten Initiative des Subjekts, deren Inhalte ihren Adelsbrief selbst erwerben, ohne ihn auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer, wenn auch nur ideell bestehenden, Hierarchie der ethischen Begriffe zu reklamieren.

Wenn uns die Pflicht dennoch als ein objektives, vom Willen unabhängiges, durch innere Logik zusammengehaltenes Gebilde entgegentritt, so beruhe erstens ihre scheinbare Unabhängigkeit vom Willen auf der falschen Hypostase eines rein psychologischen Unterschiedes zwischen verschiedenen Willensakten; und zweitens treffe diese ganze Beschreibung nur die gewöhnlichen, allgemeinen Pflichten.

Diesen sei die berechenbare Eingestelltheit in logische Begriffsreihen daher entstanden, dass das Zusammentreffen sehr vieler Subjekte in den gleichen Sollensvorstellungen diese über jedes einzelne jener zu erheben schien, und dass ihre Beziehung zu den sozialen Notwendigkeiten sie einem Gefüge dienstbar machte, das nur zweckmässig war, wenn es sich möglichst logisch verhielt. (<80)

In feineren, individuelleren, der Höherbildung des Bestehenden dienenden Fragen sind wir nicht durch irgend einen logischen Zwang an das Sittliche gebunden, sondern empfinden uns gewissermassen schöpferisch, wir ziehen nicht nur die praktischen Folgen aus irgend einem Begriff, sondern setzen selbst einen solchen ; ja gerade diese Originalität des sittlichen Individuums sei besonders wertvoll, die dem Sollen neue, aus allem Bisherigen unberechenbare Inhalte gebe.

Ich bin mir der Schwierigkeit bewusst, diese Gegensätze der Denkarten in begrifflicher Beschreibung festzulegen.

Es handelt sich eben im letzten Grunde uni charak­terologische Unterschiede, deren Fixierung in Worten immer zu viel und zu wenig sagt: zu viel, weil die psychologische Wirklichkeit die Gegensätze nie in der absoluten Schärfe ihrer abstrakten Begriffe, sondern in unendlichen Abstufungen zeigt, und jeder reale, nach einer Seite hin entschiedene Charakter irgend eine Spur auch der entgegengesetzten Tendenz aufweist; zu wenig, weil die Sprache da ein ganz besonders unsicheres Werkzeug ist, wo die Gesamtfärbung von Charakteren bezeichnet werden soll; die Hauptsache, um die es sich dabei handelt, lässt sich mit unseren Begriffen eben doch nur sehr unvollkommen sagen; wenn Worte schon überhaupt auf das gutwillige Verständnis des Hörers angewiesen sind und nur das bedeuten, was sie in ihm an Vorstellungen und Empfindungen reproduzieren, so leisten sie diesen Dienst da noch besonders unvollkommen, wo die Stärke und Entschiedenheit der auszudrückenden Gegensätze es dem Einzelnen erschwert, sich in die seiner eigenen entgegengerichtete Tendenz hineinzufühlen.

Der Gegensatz zwischen derjenigen Sittlichkeit, die sich an die blosse Widerspruchslosigkeit der Handlung binden, und derjenigen, die sich aus Kräften entwickeln will, welche unabhängig von jeder logischen Dignität sind, ist auch eine Seite des weltgeschichtlichen Unterschiedes zwischen der konser­vativen und der fortschrittlichen Tendenz.  (<81)

Wer an ein ideal feststehendes System des Sittlichen glaubt - man pflegt es als die "sittliche Weltordnung" zu bezeichnen - der wird das freie, schöpferische Setzen neuer Ziele, selbst wenn es sich allenfalls begrifflich mit jenem Glauben ver­einigen lässt, charakterologisch weniger anzuerkennen ge­neigt sein.

Wer aus den schon feststehenden Begriffen durch blosses Entwickeln ihrer Konsequenzen zu aller überhaupt möglichen Sittlichkeit zu gelangen meint, der muss diese wenigstens potentiell in dem bereits Gegebenen enthalten glauben; und die Forderung, dem bestehenden Begriff nicht zu widersprechen, wird leicht in die übergehen, den bestehenden Zuständen nicht zu widersprechen.

So geht denn auch hier dasjenige, was als blosse Theorie auf­tritt, im letzten Ende auf die tiefsten Gründe der Charaktere und ihre polaren Gegensätze zurück, auf die grossen Gegenströmungen, in deren Reibung oder Ausgleichung sich die Entwicklung der Menschheit vollzieht.

So bedenklich es nun auch nach allen obigen Gesichts­punkten mit der Herleitung der sittlichen Forderung aus der logischen Konsequenz der Begriffe steht; so sehr man dagegen geltend machen muss, dass die praktischen Interessen sich nicht an die blosse verstandesmässige Widerspruchs­losigkeit des Handelns binden, und dass man aus den Begriffen nur das, aber auch alles das herausziehen kann, was man in sie hat hineinlegen wollen - trotz aller dieser und vieler anderen Bedenken gegen die rationalistische Statuierung sittlicher Imperative ist doch der Reiz der Begriffe und der Regulierung des Sollens nach ihnen nicht so schnell zu den blossen Irrtümern zu rechnen, wie eine eilige Aufklärung es wünscht.

Gewiss hat eine realistische Auffassung, die aus treuer Beobachtung der Einzelheiten die Gesetze ihrer Bewegungen ergründet, das Recht, den Begriffsrealismus als eine Verirrung der Geister zu betrachten; man wird sogar behaupten dürfen, dass die Durchführung des Nominalismus, die Auflösung der komplexen Begriffe, die unser Verständnis der Welt präjudizieren, in die realen Einzelheiten und ihre Gesetze noch heute zu den Hauptaufgaben der Geisteskultur gehören.

(<82) Allein gerade das, was den Begriff zum Mittel einer feineren und empi­rischen Erkenntnis ungeeignet macht: die Willkür, der anthropologisch-subjektive Charakter seiner Bildung, hat die Gelegenheit gegeben, ihm einen tief gelegenen, im Folgenden auseinanderzusetzenden Wert zu verleihen.

Im Begriff sind Anschauungen verdichtet, aber doch nicht der ganze Umfang der einzelnen Anschauung; sondern ein Teil von ihr ist mit einem Teile einer anderen zu der Gemeinsamkeit, die der Begriff ausdrückt, zusammengebracht.

Das Wesen des Begriffs ist also damit noch nicht erschöpft, dass er eine Wahrnehmung aus dein Konkreten ins Ab­strakte, aus der Vereinzelung in die Verallgemeinerung überträgt.

Sondern die Art, wie dies geschieht, die Auswahl der Anschauungsteile aus den Gesamtanschauungen, die Betonung gerade der einen Eigenschaft als hinreichend wichtig, um den Begriff des Dinges zu bilden, während alle anderen als zufällige Bestimmungen derselben erscheinen - dies alles setzt ganz bestimmte Gesinnungen, Überzeugungen, Erkenntnisse voraus, die das A priori für die Bildung der Begriffe ausmachen und irgendwie in diesen enthalten sein müssen.

Der Begriff ist, auf seinen Inhalt angesehen, freilich nichts anderes, als eine Zusammenfassung von Einzeltatsachen, so dass man aus ihm auch eben nur diese, die man vorher in ihn hineingetan hat, herausgewinnen kann, weshalb denn alle reinbegriffliche analytische Erkenntnis sich im Kreise dreht.

Allein was keineswegs bloss analytisch ist, sondern sehr bedeutsame und synthetische Voraussetzungen einschliesst, ist der Umstand, dass man gerade diese Einzeltatsachen gewählt hat, um einen Begriff aus ihnen zu bilden.

Und wenn ein Wesen, ein Zustand, ein Geschehen unter einen bestimmten Begriff gehört, so pflegt damit die Überzeugung der Gattung ausgesprochen zu sein, dass dies das Wichtige und Charakteristische an dem betreffenden Objekte sei. (<83)

Der Begriff ist also keineswegs nur eine formale, logische Zusammenfassung, die das Gleiche an mannigfaltigen Gegenständen mechanisch und ohne tiefere, unterscheidende Begründung umschlösse; er trifft vielmehr unter der Unendlichkeit möglicher Zusammenfassungen eine Auswahl nach wenngleich unbewussten Prinzipien, setzt zu seiner Bildung eine ganz bestimmte Art des Anschauens und der Betonung der Anschauungen voraus, enthält implizite eine grosse Anzahl theoretischer und Werturteile der Gattung, die ihn zu einem Erkenntnismittel, weit über seinen analytisch zu entwickelnden Inhalt hinaus, machen können.

Dass eine Eiche vor allem unter den Begriff  Baum gehört, uns als "Baum" entgegentritt, enthält das Urteil : Was der Eiche mit der Linde, Esche, Buche etc. gemeinsam ist, das ist das Wesentliche an ihr, nicht das, was sie auch mit dem Grashalm verbindet, dass sie also ein Gewächs ist, nicht was ihr mit den näher verwandten Baumarten gemeinsam ist, sondern gerade dieser bestimmte Grad von Gemeinsamkeit und Verschiedenheit mit anderen Objekten.

Dass dieser Begriff gebildet ist, dass man sieh weder auf jenen weiteren, noch auf diesen engeren beschränkt hat, ist etwas Synthetisches und inhaltlich Bedeutsames.

Wenn über die ursprüngliche Abgeschlossenheit der sozialen Gruppe hinaus, die keine verbindende Gemeinsamkeit irgend welcher Art mit den Aussenstehenden anerkannte, sieh der Begriff "Mensch" gebildet hat' unter den nun auch der Fremde und der Feind gehört, so ist dies ein praktisch-ethischer Fortschritt von grosser Wichtigkeit.

Im Begriff Mensch liegt nicht nur der logische Prozess, der aus einer Anzahl verschiedener Personen das Gemeinsame auswählt und zu einer höheren Allgemeinheit zusammenschliesst.

(<84) Es liegen vielmehr darin auch die psychologischen Vorgänge aufgespeichert, die überhaupt dazu führten, jenen formalen Prozess gerade an diesem Material auszuführen; es liegen darin die Gefühle, welche über  die ursprüngliche absolute Feindseligkeit der Gruppen triumphierten und die Objektivität bewirkten, infolge deren man auch am Gegner das uns mit ihm Gemeinsame beachtet; es liegen darin die Erfahrungen der Gattung darüber, dass dieses Gemeinsame von einer hinreichenden Wichtig­keit gegenüber den spezifischen und trennenden Eigenschaften ist, um, wenigstens mehr und mehr, jedes Individuum vor Allem unter diesem Begriff anzusehen.

Und ferner, welche Eigenschaften in dem Begriff Mensch vereinigt sind, ob nur die Gemeinsamkeit oberflächlichster Qualitäten, oder schon die tiefere Gleichheit unter anscheinender Verschiedenheit, ob dieser Begriff als Zusammenfassung des formal Gleichen gegenüber inhaltlicher Verschiedenheit, oder als Bezeichnung gleichen Inhalts bei nur formaler Verschiedenheit gilt  dies alles sind offenbar Angelegenheiten von höchster praktischer Bedeutung.

Und nun ein letztes Beispiel. Der Begriff des Lohnarbeiters enthält die Verdichtung einer Entstehungsgeschichte in sich, die ausserordentlich viel inhalts- und folgenreicher ist, als die Analyse seiner logischen Merkmale ergeben kann.

Bis zum Aufkommen der Grossindustrie war die berufliche, lokale und nationale Geschiedenheit der Arbeiter so stark und erfüllte das Bewusstsein dermassen, dass es zur Bildung eines Begriffs, der nur die dem Lohnarbeiter als solchem zukommenden Merkmale enthielte, überhaupt nicht kam.

Die Leichtigkeit, mit der man vom rationalen Standpunkt aus scheinbar jede beliebige Summe von Objekten zusammenstellen und ihr Gemeinsames zu einem allgemeinen Begriff ihrer verdichten kann, die Gleichgültigkeit, mit der sich dieser rein logische Prozess gegen seine Inhalte verhält, steht im schärfsten Kontrast gegen die Fluktuierungen sozialer und psychologischer Mächte, die die Bildung eines Begriffs einmal völlig ausschliessen, ein ander­mal notwendig aufdrängen. (<85)

Es bedurfte der Ausdehnung der Industrie, die Hunderte oder Tausende von Arbeitern unter die genau gleichen sachlich-persönlichen Bedingungen stellte und gerade mit der fortschreitenden Arbeitsteilung die verschiedenen Zweige um so enger auf einander anwies; es bedurfte des vollkommenen Durchdringens der Geldwirtschaft, die die Bedeutung der persönlichen Leistung ganz und gar auf ihren Geldwert reduziert; es bedurfte der wachsenden Höhe der Lebensansprüche und ihres Missverhältnisses zum Arbeitslohn - um dem Moment der Lohnarbeit als solcher die entscheidende Betonung zu verleihen, um den Allgemeinbegriff des Lohnarbeiters aus dem des Kohlenhäuers, Webers, Maschinenbauers etc. sich herausdifferenzieren und oft genug als den wesentlichen Begriff empfinden zu lassen, dem gegenüber der spezifische Inhalt der Arbeit eine sekundäre Wichtigkeit für die Lebensinteressen besitzt.

Darum macht sich der Einfluss des Unternehmertums auf die Sozialgesetzgebung auch immer dahin geltend, dass die genossenschaftlichen Vereinigungen der Arbeiter verschiedenartiger Branchen möglichst verhindert werden, weil die grössere Mannigfaltigkeit der Inhalte der Arbeit das Allen gemeinschaftliche Merkmal des Lohnarbeiters, mit allen seinen Konsequenzen, um so schärfer hervortreten lässt, den Begriff mit um so entschiedeneren Merkmalen ausstattet.

Wie sehr praktische Interessen und Urteile die Bildung der Begriffe beeinflussen, wird auch durch das Korrelat zum Lohnarbeiterbegriff, durch den des Unternehmers nahe gelegt. Obgleich derselbe selbstverständlich zugleich mit dem des Arbeiters entstanden ist, so hat er doch durch den geringeren äusserlich sichtbaren Zusammenschluss der Unter­nehmer nur eine geringere Betonung erhalten, als der des Arbeiters.

Nun aber hat sieh vor Kurzem in Nordamerika angesichts der überhandnehmenden Strikes der dortigen Arbeiter eine Vereinigung der Unternehmer als solcher ge­bildet, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Geschäftsbranchen, um als geschlossene Partei der Arbeitervereinigung, (<86) wo sie sich auch zeige, einen solidarischen Widerstand entgegenzusetzen.

Diese schon weit gediehene Vereinigung hofft (1892) allmählich die gesamten Vereinigten Staaten zu umfassen, und es ist wohl möglich, dass die Gleichheit der den Arbeitern entgegengerichteten Interessen die Unter­nehmer auch sonst zu derartigen Kartellen bringt. Dadurch würde aber offenbar der Allgemeinbegriff Unternehmer eine ganz besondere Verschärfung, eine neue Betonung seines Inhaltes und eine Vermehrung desselben durch die neu dazu­getretene soziale Beziehung erhalten.

Diese Beispiele werden es hinreichend verdeutlichen, dass der Begriff nicht nur einen sachlichen ideellen Inhalt hat, dem gegenüber sich seine Form - eben die Herausdifferenzierung des Gleichen aus verschiedenartigen Erscheinungen und die Zusammenfassung desselben zu einer einheitlichen Vorstellung - immer gleich verhielte und überall gleich möglich wäre.

Nennen wir das begriffsbildende Subjekt der Kürze halber die Volksseele, so erzählt uns die Geschichte jedes Begriffs, welche Qualitäten an den Er­scheinungen für die Volksseele als die hervorstechendsten erschienen, welche sie für trennbar, welche für zusammengehörig, welche für entbehrlich oder für unentbehrlich hielt.

In dem Begriff wird also dem Individuum keineswegs nur ein rein logisches Hilfsmittel für die objektiven Erkennt­nisoperationen geliefert, sondern eine Verdichtung bedeutsamer Urteile, gerade wie, auch in sachlichem Zusammenhänge hiermit, die Worte zweier Sprachen für dasselbe Objekt keineswegs ebendenselben Inhalt in bloss äusserlicher Formverschiedenheit enthalten, sondern eine Differenz von Apperzeptionen, Anschauungen, Tendenzen kundgeben, die jedes Übersetzen zu einer eigentlich unlösbaren Aufgabe macht.

Die Entfaltung dessen, was in einem Begriff liegt, der Konsequenzen seines Inhaltes, ist deshalb keineswegs ein erkenntniswertloses Verfahren; denn wenn es auch nur dazu dient, einen Inhalt, den man erst in die Hülle (<87) des Begriffs hineingelegt hat, wieder herauszuschälen, so liegt das Synthetische, den Fortschritt Bedeutende darin, dass das Subjekt, welches den Begriff nun expliziert, nicht dasselbe ist, wie dasjenige, das ihn gebildet hat - jenes ist das Individuum, dieses die Gattung.

Es wird bei dieser Auffassung freilich vorausgesetzt, dass das Individuum die Erfahrungen und Urteile der Gattung irgendwie zugleich mit dem Begriff überliefert erhält, dass es wenigstens psychische, an den Begriff angeschlossene Gebilde besitzt, die zunächst noch keine bewussten verstandesmässigen Erkenntnisse sind, aber zu solchen werden, sobald das Bewusstsein sich scharf auf den Begriff konzentriert und auf die Apperzeptionen, Strebungsgefühle, Urteilsansätze achtet, die sich bei dieser Gelegenheit einfinden und sämtlich von dem Bewusstsein, zu eben diesem Begriffe zu gehören, wie von einem Obertone begleitet sind.

Dies ist nun freilich einer der dunkelsten und schwierigsten Punkte aus der Psychologie des Erkennens. Wieso, in welcher Form ent­hält der Begriff der Dinge diejenigen Realvorstellungen, in Folge deren uns seine begriffliche Deduktion und Analyse sichere Überzeugungen über die Wirklichkeit, über Wahr­heit und Falschheit von Behauptungen und Forderungen verschaffen kann?

Es bleibt nichts übrig, als auf die Vererbung von Vorstellungsdispositionen und auf unbewusste Erfahrungen zurückzugreifen, womit hier indes nur asyla ignorantiae geschaffen sind. - Am wenigsten roh ist vielleicht die Annahme, dass die überlieferten Begriffe als Bestandteile unseres Bewusstseins zwar nicht von vornherein einen explizierbaren Inhalt, wohl aber eine gewisse Struktur besitzen, vermöge deren sie aus der umgebenden Erfahrungswelt gerade bestimmte Einzelheiten apperziepieren, andere beziehungslos an sich vorübergleiten lassen.

Die Gesamtorganisation unserer Psyche lässt ihre latenten, durch die Gattungsentwicklung bestimmten Kräfte vielleicht gerade auf die Begriffsvor­stellungen sich so vereinigen, dass diese nun ein der chemischen (<88) Affinität ähnliches Verhältnis zu später einströmenden Einzelvorstellungen besitzen; umgekehrt mögen diese Einzelvorstellungen von vornherein in einer Weise gebildet werden, die ihre Zusammenschliessung zu bestimmten Begriffen besonders erleichtert.

Mit objektiverer Wendung könnte man annehmen, dass die Verhältnisse, die uns umgeben, die Kultivierung der Naturprodukte, die gesamten, durch den Menschen beeinflussbaren Objekte, eine Form erhalten haben, die zu unseren Allgemeinbegriffen ein harmonisches Verhältnis besitzt.

Von vornherein treten uns die Dinge, vermöge der äusseren Gattungsarbeit an ihnen, so entgegen, dass sie ihren Zusammenschluss gerade zu den Begriffen nahe legen, die die innere Gattungsarbeit geschaffen hat.

Wie es sich nun aber auch mit diesen Problemen verhalten mag, deren unendliche Komplikation die Hoffnung ihrer exakten Lösung fast zu einer Illusion macht: die Tatsache scheint mir unzweifelhaft, dass der Allgemeinbegriff, sowohl an und für sich, wie in seiner psychologischen Wirkung sehr viel bedeutungsvoller und inhaltsreicher ist, als sein Charakter als bloss logisches Gebilde zeigt.

Wird er nur als solches angesehen, so verhält sich seine Form als Begriff völlig indifferent gegen seinen Inhalt und dieser scheint nichts zu enthalten, was ihn mehr als andere Inhalte zu der begriff liehen Synthese qualifizierte -, tatsächlich aber liegen derartige Veranlassungen doch vor, reale historische Kräfte bewegen die Gattung zur Bildung von Begriffen, die unter anderen Verhältnissen unmöglich gewesen wären, und werden in ihnen latent, derart, dass das Individuum durch die blosse Explizierung der Begriffe und ihre logischen Kombinationen einen Reichtum an Hinweisungen, Anregungen, ja Urteilen gewinnt.

Ist dies aber der Fall, so ist es verständlich, wieso immer und immer wieder der Versuch gemacht werden kann, in der logischen Behandlung der Begriffe einen Massstab für die sittliche Bedeutung des Handelns zu gewinnen. (<89)

Die Begriffe enthalten oder markieren in ihrer überlogischen, historischen Bedeutung eine Ordnung der Dinge, sie ent­halten bestimmte Ansichten über die Zusammengehörigkeit der Einzelheiten, über das Wesentliche an ihnen; nicht in der Tatsache ihrer Form an und für sieh, sondern in der Tatsache, dass diese Form in dem einen Fall zur Geltung kommt, im anderen nicht, liegt eine Weltanschauung angedeutet, die freilich den individuellen Auffassungen genug Zweideutigkeiten und Entgegengesetztheiten, deren Durch­führung, Erhaltung oder Weiterbildung aber dem moralischen Sinne wohl Befriedigung bieten mag.

Vielleicht erklärt sich von hier aus die eigentümliche Zwiespältigkeit der platonischen Ideenlehre, die in den substanzialisierten Begriffen einerseits die höchste Realität der Dinge, ihr eigentliches Sein erblickt, andererseits doch auch ihr Ideal, den höchsten Wertbegriff, dem sie zustreben.

Sind Begriffe gebildet, um die Wirklichkeit zu repräsentieren, entstammt aber die Art ihrer Bildung praktisch-sozialen Wertungen, Tendenzen, Entwicklungsnotwendigkeiten -  so liegt darin die tiefste Wurzel der Möglichkeit, in ihrem metaphysischen Korrelat, den Ideen, das Sein und das Sollen der Dinge sieh berühren zu lassen.

Ein dunkler Instinkt für die Unermesslichkeit der Erfahrungen und Zweckmässigkeiten, die die Entwicklung der Gattung in den Begriffen aufgehäuft hat, mag die rationalistisch-deduktive Ethik geleitet haben, bis sie sich zu jener Spitze aufgipfelte, die in der hier diskutierten Auffassung des kategorischen Imperativs liegt: die sittliche Aufgabe bestehe überhaupt darin, die Begriffe, wie sie nun einmal sind, in ihrer Reinheit und Widerspruchslosigkeit zu erhalten.

Dieser Imperativ sucht eben aus den theoretisch-logischen Begriffen diejenigen praktischen Werte wieder herauszugewinnen, aus denen jene einst hervorgingen.

So schief und ungenügend dieser Versuch als ethisches Prinzip auch sein mag: er bleibt immerhin die energischste Ausgestaltung der tiefsinnigen (<90) Tendenz, die praktischen und die theoretischen Werte ineinander umzusetzen - eine Tendenz, die ihre eigentliche Bedeutung und Rechtfertigung erst erhält, wenn der Rationa­lismus, der die Praxis aus der Theorie ableiten will, durch den Historismus ergänzt wird, der die Theorie ihrerseits als Ergebnis der Praxis zeigt.

Ich verfolge die Bedeutung des Begriffs für die Idealsetzung noch nach einigen anderen Seiten hin und knüpfe an den oben (Bd. I. S. 51) zitierten Sittenspruch des Confucius an: "Der Fürst sei Fürst, der Untertan sei Untertan, der Vater sei Vater, der Sohn sei Sohn".

Ausserordentlich oft hört man die Normierung des Verhaltens in dieser Weise ausgedrückt, und zwar nicht nur nach seiner persönlichen Seite hin, sondern auch in Beziehung auf die Objekte, deren Gestaltung wir bezwecken; auch von diesen verlangen wir, dass sie dasjenige, was sie nun einmal sein sollen und wollen, auch ganz und vollständig sind.

Jedes Wesen, persönlicher oder unpersönlicher Art, trägt offenbar durch diejenigen Bestimmtheiten, die es in einem gegebenen Augenblick aufweist, für unsere Anschauungsweise die Anweisung auf eine Vollständigkeit oder Vollkommenheit in der Richtung eben dieser Bestimmtheiten in sich.

Und dieses Ideal, das es zu erfüllen, dem seine individuelle oder augenblickliche Besonderheit sich unterzuordnen hat, bezeichnen wir eben mit seinem Begriffe. Dass ein Fürst auch wirklich dem Begriff des Fürsten entspreche, jeder einzelne Mensch dem wahren Begriffe des Menschen, dass eine Frau auch wirklich eine "echte Frau" sei - das drückt aus, was wir von all diesen verlangen.

In dem allgemeinen Begriff des Wesens scheinen uns so ganz oder wenigstens teilweise die Forderungen vereinigt, die wir an dasselbe als Individuum stellen; damit aber geben wir offenbar weit über die logische Geltung der Begriffe hinaus.

Denn dass auch der unmensch­lichste Mensch doch schliesslich ein Mensch ist, auch der Sohn, der alle Bande der Pietät gelöst hat, logisch (<91) genommen immer ein Sohn, und die unweiblichste Frau immer eine Frau bleibt, kann doch von Seiten des Verstandes her nicht geleugnet werden.

Es werden also mit jenen scheinbar analytischen Sätzen durchaus synthetische Forde­rungen gedeckt. Was uns für jetzt  daran interessiert, ist nicht die direkt ethische Tatsache dieser Forderungen selbst, sondern dass es gerade der Begriff der Dinge ist, also scheinbar der blosse allgemeine Ausdruck ihrer wirk­lichen Qualitäten, mit dem man so auch ihr Sollen ausdrückt.

- Hierin liegt wahrscheinlich ein Derivat des sozialen Triebes vor. Der Einzelne erhält die Regel seines Verhaltens zunächst durch das allgemeine normale Verhalten derer, die mit ihm in derselben Gruppe vereinigt sind.

Dies überträgt sich leicht auf besondere Abteilungen innerhalb der Gruppe, auf das Verhältnis zu dem Komplex derjenigen Individuen, die mit jenem durch gleiche Qualitäten vereinigt sind.

Was alle Väter tun, wird zur Norm für den einzelnen Vater, was alle Söhne, zur Norm für den einzelnen Sohn. Der Begriff des Vaters, bez. des Sohnes, schliesst eben alles dasjenige ein, was allen Vätern, bez. Söhnen, als solchen gemeinsam ist.

Folglich wird dieser Begriff zum Regulativ für das Verhalten des Einzelnen, er repräsentiert diesem gegenüber diejenige Sondergruppe, zu der er gleichfalls gehört, und die über ihn deshalb die ethische Macht des Sozialen über das Individuelle besitzt.

Diese Mittelstellung, die der Begriff zwischen dem Sein und dem Sollen der Dinge einnimmt, ruht, metaphysisch gewandt, auf der Vorstellung, dass in der Wirklichkeit jedes individuellen Wesens seine Vollendung in potentieller Form liegt, dass jede Wirklichkeit sozusagen ein Rudiment des Ideals ist.

Indem der einzelne Mensch einen Teil der allgemeinen Eigenschaften der Menschen überhaupt besitzt, hinreichend, um überhaupt unter den Begriff Mensch zu gehören, erscheint dadurch zugleich die Forderung gerechtfertigt dass er nun auch die übrigen zu dem Begriff (<92) gehörigen Eigenschaften besitze, dass er ein "echter Mensch", dass er "menschlich" sei.

Die äussere Zugehörigkeit zu dem Begriffe "Vater" enthält für unser Empfinden die Ansätze zu der Gesamtheit auch der inneren mit diesem Begriffe verknüpften Qualitäten - Ansätze, die vielleicht in dem einzelnen Falle nicht entwickelt sein mögen, aber doch die sittliche Forderung, dass sie sieh entwickeln, objektiv begründen.

Findet diese Entwicklung nicht statt, bleibt das Individuum oder der Gegenstand hinter seinem Begriff zurück, so entsteht ein Gefühl von Unbefriedigung, das nicht nur ethisch, sondern auch ästhetisch ist. Die Explikation der letzteren Folge wird die erstere verdeutlichen.

In der Natur wie in der Kunst erfreut uns der Anblick einer bestimmten Muskulatur, wenn wir sie an einem Manne, stösst uns ab, wenn wir sie an einer Frau finden; was uns als Adorante entzückt, würde, unter dem Begriffe des Athleten dargeboten, nur ästhetischen Widerspruch hervorrufen; die gleiche Musik, die wir als weltliche schön finden, erscheint uns als Kirchenmusik unter Umständen direkt unschön.

Von anatomischer Seite hat man geglaubt nachweisen zu können, dass alles, was wir als körperliche Hässlichheit beurteilen, eine Ähnlichkeit mit dem Typus niederer Tiere, ein atavistisches Abweichen von dem spezifisch Menschlichen aufweise, und unabhängig hiervon ist bemerkt worden, dass die Übergangsformen der einzelnen Tierklassen den eigentlichen Herd des Hässlichen bildeten: wir sind eben ästhetisch verletzt, wo ein Wesen sieh nicht völlig mit dem Begriff deckt, dem es doch noch im Allgemeinen und Wesentlichen zugehört; darum bietet ein schlafender Mann so häufig einen unsympathischen Anblick, ein schlafendes Weib oder Kind dagegen fast immer einen angenehmen, weil mit dem Begriff des Mannes Energie, Aktion, Produktivität ver­bunden sind, die im Schlafe in Passivität verschwinden.

Und so töricht auch vielfach die Forderungen sein mögen, (<93) die man aus einem vorgeblichen "Wesen" der Malerei oder Plastik, des Dramas oder der Lyrik heraus an das einzelne Kunstwerk stellt, um an dem Verhältnis zu ihnen dessen Wert oder Unwert zu prüfen, so liegt der Irrtum doch hauptsächlich an der Enge und Unbeweglichkeit der massgebenden Begriffe ; prinzipiell liegen in der Form oder Materie eines Kunstwerks zweifellos von vornherein Qualitäten, die die Zusammengehörigkeit mit anderen psychologisch fordern, so dass die Abbiegung von diesen Unbefriedigung bewirkt.

Die liberalen Richtungen des Kunsturteils fassen nur den Begriff, in dem die so auf einander hinweisenden Eigenschaften sieh zusammenschliessen, ent­sprechend weiter, aber irgend einen, wenn auch noch so allgemeinen Begriff müssen doch auch sie zu Grunde legen, um in ihm zu beurteilen, ob die, Synthese von Eigenschaften, die das vorliegende, einzelne Kunstwerk zeigt, eine vernünftige und befriedigende ist.

Selbst wo etwa nur das Ideal der Wahrheit als Kriterium gilt, bedeutet dies doch nur, dass, nachdem einmal bestimmte Situationen und Charaktere eingeführt sind, nun die Weiterentwicklung derselben in einer festen Konsequenz und gemäss der empirischen Zusammengehörigkeit derselben mit anderen Ereignissen oder Qualitäten stattzufinden habe.

Und ganz entsprechend hat man hervorgehoben, dass die Natur an und für sieh niemals hässlich ist, sondern es erst wird, wenn der Auffassende einzelnen Naturobjekten bestimmte Prätensionen unterschiebt: der Affe erschiene als hässlich, sobald man ihm zumutet, den Menschen spielen zu wollen. usw.

Diese Beurteilung des ästhetischen Objekts an einem mitgebrachten Anspruch findet auch da statt, wo der Reiz desselben ein völlig freier, formaler, festgestellten Forderungen völlig entzogener zu sein scheint, z. B. bei der Musik.

Schlechte Musik ist deshalb schlecht, weil sie nicht diejenige Gefühlsfolge im Zuhörer erregt, die er von ihr, entweder als Musik überhaupt oder in Konsequenz (<94) gewisser Ansätze in dem einzelnen Stück, erwartet.

Es fehlt ihr das feste, wenn auch nur symbolische Verhältnis zu den inneren Bewegungen, deren Reproduktion sie anregt, aber nicht sich befriedigend ausleben lässt. Deshalb ist für ein vornehmes Empfinden triviale Musik, für ein ordinäres tiefes, polyphone Musik hässlich.

Und wenn die formalistische Musikästhetik ein beweisendes Gleichnis darin suchte, dass die Schönheit der Musik der der Arabeske gleich sei, so scheint mir doch auch die letztere von Voraussetzungen, mitgebrachten Kriterien abhängig, die es allenfalls auch vertrügen, aus der blossen Gefühlsform in begriffliches Bewusstsein gehoben zu werden.

Denn auch ob uns eine Arabeske schön oder hässlich erscheint, hängt von dem Verhältnis ihrer Teile zu einander derart ab, dass die Stimmung oder Erwartung, die der eine Teil erregt, in den anderen ihre Weiterführung, ein zu ihr harmonisches Anschwellen oder Abklingen finden muss.

Wo dies nicht der Fall ist, wo Tempo, Rhythmus und Richtung der Gefühle und Vorstellungen nicht diejenigen Ergänzungen finden, die wir, durch den Beginn des ästhetischen Objekts angeregt, antizipieren und von seiner Fortsetzung verlangen, da ist dieses Objekt hässlich; darin, dass das Kunstwerk als Ganzes diejenige Erwartung erfüllt, die ein Teil seiner hervorruft, könnte man etwa die "Wahrheit" suchen, die das Kunstwerk zu leisten hat.

Tatsächlich hätte dann schlechte Musik nach den obigen Bemerkungen keine Wahrheit, weil sie diejenigen Gefühle nicht produziert, die zu dein einmal gegebenen Ansatz gehören.

Dies gilt sogar auch für die Baukunst: Pfeiler, die nichts zu tragen haben, Gebälke, die nicht hinreichend gestützt werden, bedeutsame Ornamente an konstruktiv unbedeutenden Stellen und umgekehrt, Formungen des Materials, die seinem Wesen schon technisch widerstreben - alles dies ist un­wahr, enthält innere reale Widersprüche, die mit den logischen wenigstens formale Analogie zeigen, und wirkt (<95) deshalb abstossend und hässlich, dass alles dies als Widerspruch des Objekts gegen seinen Begriff erscheint, ist nicht nur ein analytischer Satz, insofern man den Begriff eben aus den wesentlichen und erforderten Bestandstücken des Objekts zusammengesetzt hat, sondern es ist positiv bedeutsam, insofern dieser Begriff dasjenige einschliesst, aus demjenigen besteht, was der Gesamtheit der im Allgemeinen mit jenem übereinstimmenden Objekte gemeinsam ist.

Der Begriff ist also aus einer tatsächlichen Erfahrung gezogen, er macht, wie ich bereits oben hervorhob, die Wirklichkeit der Gesamtheit zum Regulativ für den Einzelfall. Nun ist dieses Regulativ zwar im Ganzen nur einschränkend; es lässt das individuelle Wesen, das ihm nicht genügt, als hässlich oder unzulänglich erscheinen, enthält aber zunächst noch nicht die Mittel oder Qualitäten, durch die das Wesen positiven Reiz und Bedeutung erhält, - ganz ebenso, wie wir es von der begrifflichen Regulierung des Handelns aussagten, die nur Verbote gibt, aber für das nach Ausschluss des Verbotenen noch übrigbleibende nicht den Impuls einer direkten Wahl zu geben weiss.

Man könnte sagen, dass auch im Praktischen die Allgemeinheit ihre Normen auf den Satz des Widerspruchs einschränkt; in­sofern diese, wie hervorgehoben, meistens prohibitiv sind, nur das Unterlassen gewisser Handlungen anbefehlen, ist ihnen genügt, wenn ihnen nur nicht widersprochen ist, gerade wie der Logik genügt ist, wenn nur dem Begriffe nicht wider­sprochen wird.

Dennoch sehen wir in einzelnen Fällen, dass darüber hinaus sowohl im Ethischen wie im Ästhetischen die Übereinstimmung mit dem Begriff auch als positiver Wert empfunden werden kann. Die Erfüllung des Begriffs erwirbt schliesslich einen selbständigen, von der Qualität des Inhalts unabhängigen Reiz.

So ist es keineswegs nur eine Karikierung, wenn man sagt, dass Ärzte von einem .,schönen" Fall, etwa von carcinoma recti, sprächen. Die absolute Erfüllung der Symptome, das reine, (<96) von keinen Nebenerscheinungen gestörte Bild der gerade vorliegenden Krankheit, das völlige Siebdecken des Falles mit dem mitgebrachten, in dem Begriff der Krankheit zu­sammengefassten Vorstellungskomplex - dies ist offenbar eine von allen materiellen Widrigkeiten des Falles und abhängige und formal mit der ästhetischen zusammenhängende Befriedigung.

Man verlangt vom Kunstwerk, dass es seinen Gegenstand gereinigt von den Trübungen und Störungen des Zufalls, unter Abtrennung des Akzidentellen von seiner Hauptsache darstelle, und dies gilt nicht nur als Vorbedingung, deren Erfüllung etwa erst für die positiven ästhetischen Reize den Platz frei machte, sondern schon selbst als ästhetische Qualifikation als Inhalt des Kunstwerks als solchen.

Näher zugesehen aber ist auch diese Bestimmung nur eine Umschreibung der Abhängigkeit des Kunstwerks von einem Begriff. Denn die Scheidung des Zufällige vom Wesentlichen ist offenbar nur möglich, wenn man vorher weiss, was denn das Wesentliche ist, und alle Vollkommenheit und Reinheit der Darstellung ist sinnlos, wenn sie eben nicht eine solche Darstellung eines vorher feststehenden Begriffes bedeutet.

Dieser verselbständigte, zu einer Befriedigung sui generis ausgewachsene Reiz der Harmonie zwischen der Einzelvorstellung und ihrem Begriffe zeigt sich nicht weniger an den Figuren etwa der späteren Barockzeit, die nur das formelle, von jedem individuellen Inhalt ausgehöhlte Schema der Menschengestalt geben, wie an dem extremen Realismus modernster Richtungen, die die vorliegende Einzelerscheinung bis in ihre letzten Einzel­heiten zu kopieren streben.

Die Deckung des Einzelnen und des Allgemeinen sucht der Realismus in der Kunst von der Seite des Einzelnen, der Idealismus von der Seite des Allgemeinen her zu erreichen; jener setzt voraus, dass sein Individuelles das Allgemeine einschliesse - denn ein Einzelnes im strengsten Sinne, das also keine Assoziationen weckte, würde weder Verständnis noch Interesse finden - (<97) dieser, dass das Allgemeine das Individuelle in sich fasse.

Es ist ein ganz eigenartiger und keineswegs nur auf den bisher erwähnten Gebieten wirksamer Idealismus, der sieh in der Tendenz auf das Zusammenstimmende, auf die blosse Harmonie zwischen Einzelfall und Norm äussert.

Ich er­innere an jene nicht allzu seltenen Menschen, die genau darauf halten, dass ihre Uhr auf die Minute richtig gehe, ohne dass irgend ein praktisches Interesse sich damit für verbände, wahrend doch die Zeitbestimmung nur insofern von Wert ist, als sie irgend etwas nach sich bestimmt.

Der reale Inhalt dessen, was zusammenstimmt, ist für die Freude in der blossen Tatsache, dass es zusammenstimmt, hier so irrelevant, wie für den naturalistischen Künstler die an die Materie des Kunstwerks geknüpfte Empfindung völlig vor dein Interesse an der Übereinstimmung zwischen jener Materie und ihrem Bilde zurücktritt.

Diese Freude an der Harmonie des Individuellen mit seinem normalen Typus, die sieh auf theoretischen wie praktischen, sittlichen wie eudämonistischen Gebieten äussert, könnte man so deuten, dass das Einzelne in Folge seiner zunächst perzipierten Eigenschaften sieh unter den Begriff seines Typus rangiert und so die Erwartung des gesamten Inhaltes desselben erregt; diese Erwartung aber ist psychologisch ein Spannungsgefühl, das durch die wirkliche Wahr­nehmung, den wirklichen Eintritt eben dieser erwarteten Qualitäten gelöst wird und entsprechend Lust weckt.

Für das Ethische wie für das Ästhetische zeichnen sieh die Verschiedenheiten der Wertsetzungen an der Lage des Punktes, von dem an man das Einzelne durch den Allgemeinbegriff gedeckt wünscht.

Dass ein individuelles Sein überhaupt nichts anderes sei, als die Darstellung eines Gattungstypus, ist natürlich ebenso unmöglich, wie die entsprechende Forderung für das Handeln, dass dasselbe bloss widerspruchslos sei, bloss die Begriffe, die es voraussetzt, konserviere, ohne darüber hinaus eine besondere individuelle Färbung (<98) und Qualifikation zu besitzen.

Die Frage ist nur, ein wie grosser Teil des einzelnen Seins oder Tuns dem Allgemeinbegriffe parallel zu gehen habe. Neuere künstlerische Richtungen geben mit diesem Anspruch sehr tief hinab; sie verlangen nur ein sehr allgemeines Sichdecken der Einzelerscheinung mit dem Begriff, dem sie angehört, nur ein Übereinstimmen des Einzelnen in verhältnismässig wenigen Zügen mit dem Typus, und geben der spezifischen Differenz einen grossen Spielraum zu.

Entsprechend verlangt die liberale Auffassung von der Lebensgestaltung nur ein ganz allgemeines Verbleiben innerhalb der Grenzen der geltenden praktischen Begriffe, sozusagen nur ein skizzenhaftes Nachgestalten ihrer Umrisse, während sie die Synthese der Elemente zu neuen Begriffen und eine individuelle, unter keinen vorhandenen Begriff einzureihende Formung der Lebensprobleme und ihrer Lösungen in weiterem Umfange gestattet.

Diese und die entgegengesetzte Tendenz finden ihre psychologische Bestimmung der Frage gegenüber: welche Summe von Qualitäten oder Inhalten muss ein Sein oder Tun aufweisen, um assoziativ die Erwartung weiterer zu erregen, welche mit jenen zusammen einen bestimmten Begriff ausmachen?

Man kann so die ganze Behauptung, dass das und der Einzelne durch seine Zugehörigkeit zu einem Begriff in seinem Sollen präjudiziert werde, auf die Enge der Assoziation reduzieren, welche zwischen den tatsächlichen, perzipierten Eigenschaften dieses Individuellen und den weiteren besteht, die jene zu dein vollen Begriff ergänzen.

Bei Kant ist diese Assoziation sehr kräftig und umfassend, tritt also schon sehr früh, schon bei dem Vorhandensein relativ weniger Merkmale ein. Jede Aussage ist ihm unmittelbar mit denjenigen Qualitäten assoziiert, die noch zum Begriff der Wahrheit gehören, und so erwächst ihm auf dem Umwege über diesen Begriff für jede Aussage die Pflicht, nur wahrhaftig zu sein.

Die Vorstellung der deponierten Summe ist mit der des Wiedergebens so (<99) direkt verbunden, dass die Verpflichtung zu diesem ihm schon zum Sollen wird, bevor noch die sonstigen individuellen Umstände des Falles in Betracht gezogen sind, die viel­leicht die Zugehörigkeit desselben zu dem allgemeinen Begriff des Depots fraglich machen.

Die Tatsache, dass jemand gemäss einer Anzahl von Eigenschaften zum Genus homo gehört, lässt für die Gläubigen der Menschenrechte, Menschenwürde usw. sofort eine weitere Anzahl von Vorstellungen an ihn heranbringen, die seine Rechte und Pflichten ausmachen, ohne dass nach speziellen Bestimmungen des einzelnen Falles gefragt würde; die Assoziation und in Folge dessen die Normierung nach einem Begriff wirkt in allen diesen Fällen schon auf relativ wenige Kennzeichen hin.

Jene metaphysische, nach der ethischen wie nach der ästhetischen Seite sich verkörpernde Forderung  ­dass, wenn ein Wesen einmal unter einen bestimmten Begriff gehöre, es denselben auch ganz und lückenlos erfüllen müsse - normiert den einzelnen Fall natürlich erst dann, wenn bestimmte Eigenschaften des Wesens dasselbe generell unter einen Begriff gereiht haben.

Ob diese Einreihung schon auf wenige Eigenschaften hin geschieht, oder ob bis zu ihrem Eintreten für viele individuelle Qualitäten Raum bleibt; ob man sich angesichts der Entwicklung eines Wesens früh entschliesst, es gemäss dem abgelaufenen Teil derselben in eine Kategorie einzureiben, deren sonstigen Habitus man nun von ihm fordert, oder ob man erst nach langen, der Individualität freigegebenen Entwicklungen zu einem Urteil über die Tendenzen und Potenzialitäten des Wesens, und also über sein Sollen vorschreitet - diese Unterschiede markieren ersichtlich die gewaltigsten Gegensätze der Weltanschauung und der Charaktere in praktischer, theoretischer und ästhetischer Richtung.

Es zeigt sich also auch hier, dass die scheinbar einerseits allzu abstruse, andererseits allzu einfache Formulierung des kategorischen Imperativs, die die einzelne Tat nach dem Verhältnis (<100) zu ihrem Begriff beurteilt, doch die energischste Ausprägung einer tiefen, umfassenden Charaktertendenz ist ; sie bildet auch in dieser logischen Ausdeutung ebenso wie in der mehr materialen des vorigen Abschnitts, die äusserste Spitze der Reihe, die von der absoluten Selbstherrlichkeit des Individuellen zu jener absoluten Bindung führt, für die das Einzelne nur als Fall eines schlechthin Allgemeinen berechtigt ist. 

Die Frage, wie sich das Allgemeine und eine Beziehung zum Einzelnen in theoretischer Beziehung, zu der Allgemeinheit und der Individualität in praktischer Hinsicht verhalte.

Ist in den bisherigen Erörterungen oft gestreift worden: der kategorische Imperativ, ja vielleicht jede rationalistische Ethik setzt irgend welches Verhältnis zwischen jenen Werten voraus, so dass eine prinzipielle und in die möglichen Verzweigungen dieses Verhältnisses eingehende Erörterung für die ethischen Grundfragen von Belang sein muss.

Die Entwicklung der griechischen Philosophie von den Sophisten bis zu Plato lässt deutlich eine Wechselwirkung zwischen den Werten der "Allgemeinheit" im praktischen und im theoretischen Sinne hervortreten.

Die Stellung der Sophisten gegenüber der überlieferten Erkenntnis deckt sieh in wesentlichen Beziehungen mit der der späteren Nominalisten. Sie erkannten, dass die Formen und Inhalte, in denen sich das allgemeine Denken bewegte, willkürliche Gestaltungen wären und so im Wesen der Dinge selbst kein Gegenbild fänden.

Versucht man sich diesem Wesen möglichst zu nähern, so mündet man an dem Unverbundenen, schlechthin Individuellen. Diesen Schluss zogen die Sophisten sowohl nach der objektiven wie nach der subjektiven Seite.

Jenes, indem sie es für sachlich unbe­rechtigt erklären, ein Prädikat mit einem Subjekt zu verbinden: (<101) denn das Prädikat sei immer ein Vielfaches, das Subjekt ein Einzelnes, und das Eine könne doch nicht zugleich Vieles sein; man könne also nicht einen Menschen unter den Begriff des Guten einreihen und sagen: der Mensch ist gut, sondern nur sagen, der Mensch sei der Mensch, und das Gute sei das Gute.

Oder: wenn man jemanden eines Menschen Bruder nenne, so sei er jeder­manns Bruder, denn der Bruder könne doch nicht zugleich Nicht-Bruder sein.

Von der törichten Scheinlogik der Beweise abgesehen, ist die Grundtendenz hier jener absolute objektive Individualismus, der die Beziehungen der Dinge und ihre Synthese zu höheren Begriffsgebilden leugnet, weil diese Beziehungen nicht in demselben Masse greifbar sind, wie das einfache Material, das ihnen zum Grunde liegt, und dessen absolute Individualität demnach das Einzige ist, womit der nach dem Objektiven ringende Geist scheint rechnen zu können.

Geht man von der Seite des Subjekts aus, so führt eben dieselbe Tendenz dazu, nur die augenblickliche Vorstellung von den Dingen für ihre Wahrheit, oder wenigstens für das, was die Wahrheit vertritt, zu halten. Wie dort jedes Wesen nur für sich besteht, jede Vorstellung nur von sich selbst ausgesagt werden kann, so wird dies hier auf die Zeit übertragen: wie die Dinge augenblicklich existieren, so und nur so sind sie.

Und dies ist eben prinzipiell ausgedrückt der Satz, dass der Mensch das Mass aller Dinge ist. Die dauernde substantielle Wahrheit der Dinge fällt fort, und das ato­mistische Augenblicksbild im vorstellenden Subjekt tritt an ihre Stelle. Deshalb ist auch jeder derartige Schein gleich berechtigt, das Gegenteil jedes Satzes ist, soweit beide überhaupt vorgestellt werden, so wahr wie er selbst.

Dem entspricht nun aufs genaueste die sophistische Ethik wenig­stens in ihren konsequenten Ausgestaltungen. Dem dauernden überlieferten Gesetz wird das sachlich und zeitlich punktuelle Belieben des Subjekts als die einzig reale Kraft, im Sein (<102) und im Sollen, gegenüber gestellt.

Dass nicht die Gemeinschaft, sondern nur der einzelne Mensch, und innerhalb dieses wieder das einzelne augenblickliche Bedürfnis das einzig Berechtigte sei, bezeichnet diesen ethischen Nominalismus, dem alles Allgemeine ein nomen ist, nur pata ton nomon , nicht pata jnsin besteht, und es charakterisiert diese Tendenz aufs Entschiedenste, wenn jeder allgemeingültige Begriff der Tugend abgelehnt wird, und nur die des Mannes und des Weibes, des Freien und des Sklaven geschildert wird - da es für jeden eine besondere gebe.

Es ist nur konsequent, wenn dann sogar nicht mehr der Mann überhaupt und das Weib überhaupt, sondern jedes Individuum eine Norm des Verhaltens für sich haben soll. Das gleiche Verhältnis zwischen Theoretischem und Praktischem zeigt Sokrates, allein bei völlig anderem Inhalt beider.

Gegenüber der momentanen unvertieften Meinung von den Dingen sucht Sokrates zweierlei: ihr Wesen und ihren allgemeinen Begriff. Gerade indem ihm beides zu­sammenfällt, zeichnet sich aufs Schärfste sein Gegensatz gegen jeden erkenntnistheoretischen Atomismus. Die Einzeldinge in der Isoliertheit ihrer Erscheinung haben kein Interesse und keine Wahrheit für ihn; erst indem wir uns zu dem allgemeinen Begriff erheben und mit ihm operieren, erkennen wir ihr Wesen und ihren Wert.

Im Begriff ist also das Objektive gewonnen, das der wechselnden Ansicht des Subjekts gegenübersteht; die momentane, von den Sophisten allein zugegebene Erscheinung ist sowohl nach der Seite ihres eigenen Wesens, wie nach der des vorstellenden Subjekts hin abgelöst durch den allgemeinen, sie darstellenden Begriff.

Entsprechend nun wie die Einzelheit zum Begriff verhält sich bei Sokrates das Individuum zur Gesamtheit und ihren Normen. Auf das Belieben des Augenblicks lässt sich so wenig ein vernünftiges, die Ziele des Subjekts selbst förderndes Handeln gründen, wie ein Erkennen auf den Eindruck des Augenblicks; vielmehr (<103) nur durch die Berücksichtigung Anderer und des Ganzen, des Staates, gewinne der Einzelne die praktische Direktive, wie aus der Berücksichtigung der Begriffe die theoretische.

Deshalb ist auch die Tugend ihm nicht, wie den Sophisten, für jeden eine besondere, sondern es gibt schlechthin nur eine, ohne Unterschied der Personen und Geschlechter. Und wenn er, freilich mit geringer Tiefe der Begründung, die Teilnahme an den öffentlichen Interessen, den Gehorsam gegenüber den Gesetzen der Allgemeinheit fordert, weil das Wohl des Einzelnen durch das Wohl des Ganzen bedingt sei, so ist damit doch nur die Lehre, dass über das Einzelding nur der Allgemeinbegriff entscheide und die Wahrheit über ihn gebe, ins Praktische übersetzt.

Und gerade die sokratische Betonung der freien Subjektivität und Innerlichkeit des sittlichen Tuns gibt dieser Normierung desselben durch die konkrete Gesamtheit den rechten Hintergrund; indem bei Sokrates, im Gegensatz zum Altgriechentum, die Spannung zwischen dem Subjekt und der ihm äusseren Gesamtheit bewusst wird, beides die volle gegenseitige Selbständigkeit gewinnt, erhält die Synthese beider, die freiwillige, gewissensmässige Hingabe des Individuums an die Gesamtheit, erst ihre eigentliche Bedeutung - gerade wie er das Einzelding und den Begriff keineswegs ineinander verschwimmen lässt, sondern jedem seine ge­sonderte Stelle anweist, um dann erst durch Analyse des Einzelnen und Induktion aus ihm den Begriff zu gewinnen, durch den nun das Einzelne in seiner Wesenheit erkannt wird.

In dem theoretischen wie in dem praktischen Falle vollzieht sich die Normierung des Individuellen durch das Allgemeine deshalb mit besonderer Betonung und Vertiefung, weil sie von einer klaren Isolierung des einen gegen das andere ihren Ausgang nimmt. Alle diese sokratischen Bestimmungen gehen bei Plato sozusagen in einen festeren Aggregatzustand über, die Allgemeinheit erhält statt der funktionellen Bedeutung (<104) eine mehr substantielle, die Tendenzen verlieren ihr subjektives und heuristisches Wesen, um ein metaphysisches anzunehmen.

Innerhalb dieses veränderten Gesamtcharakters aber finden wir den gleichen Parallelismus zwischen den ontologischen und den ethischen Beziehungen von Einzelnem und Allgemeinheit.

Die Idee ist das Allgemeine gegenüber dem Individuellen, dadurch zugleich aber das Wesentliche gegenüber dem Flüchtigen und Nichtigen; nur dadurch, dass das Individuelle an der dauernden Idee teilhat, empfängt es sein eigenes Wesen und jede ihm mögliche Vollkommenheit.

So trägt in Plato's Idealstaat das Individuum seine Qualitäten von der Organisation des Ganzen zu Lehen (ich darf hiervon abweichende Bestimmungen bei ihm als für den jetzigen Zweck gleichgültig übergehen); denn jedes Kind soll schon von der Geburt an der individualistischen Atmosphäre des Elternhauses entrückt, öffentlicher Erziehung überwiesen, und demnächst von der Obrigkeit in die Funktion, an die Stelle gesetzt werden, wo es zu verbleiben hat; darum verlieren auch die Frauen die häusliche, persönlichen Charakter tragende Beschäftigung und empfangen, den Männern sogar im Krieg und in politischer Tätigkeit koordiniert, gleichfalls von dem Gemeinwesen den Inhalt ihrer Existenz.

Indem der Begriff ebenso wie die ethische Allgemeinheit den sokratischen Bestimmungen gegenüber in eine höhere Potenz erhoben wird, ist die Einzelheit und Subjektivität um ebensoviel heruntergedrückt, der Verfestigung jener entspricht eine Verflüchtigung dieser. Das Einzelding ist eigentlich ein Nicht-Seiendes und zugleich auch ein völlig Wertloses.

Ganz entsprechend ist auch der einzelne Bürger - mit Ausnahme des gerade in der unmittelbaren Betrachtung der Ideen lebenden Philosophen - ein wertloses, dem Ganzen gegenüber nichtiges corpus vile; wie der sinnliche Gegenstand nur dazu da ist, um die Idee zu repräsentieren, so soll der Einzelne nur dem abstrakten (<105) Kunstwerk des Staates dienen; und wie jener sogar das Licht der Idee nur verdunkelt und entstellt durch sieh hindurchscheinen lässt, ihr die Erscheinung erschwert und sich ihr gewissermassen mit der Plumpheit und Verworrenheit seiner Sonderexistenz entgegenstellt: so erwartet Plato auch von der Masse der Einzelnen nicht, dass sie sich leicht und vollkommen den Zwecken des Ganzen fügen; er weiss, dass sie der Organisation desselben widerstehen werden, und dass es deshalb nicht darauf ankommen darf, auch gegen ihren Willen das Ideal eines Staates an ihnen zu verwirklichen.

Ebenso wie das Wesen liegt auch der Zweck alles Individuellen für Plato in der Darstellung, oder Hervorbringung eines Allgemeinen, und zwar gleichmässig in theoretischer wie in sittlich-politischer Hinsicht. Ich habe dies mit einiger Ausführlichkeit dargestellt, weil die relativ geringere Zahl der Denkmotive im voraristotelischen Denken derartige Analogien klarer hervortreten lässt.

Es ist aber auch sonst allenthalben zu bemerken, dass nominalistische Tendenzen sich mit ethischem In­dividualismus, begriffsrealistische mit anti-‑individualistischen zusammenzufinden pflegen.

Der offizielle Katholizismus mit seiner Beugung des Individuums unter schlechthin allgemein - paj olon - geltende Sätze und Mächte hat den Begriffs­realismus äusserst zähe festgehalten; als er sich schliesslich in der Periode des Skotismus mit der nominalistischen Doktrin abfand, war dies nur durch die unnatürlichste und schliesslich unhaltbare Überspannung des Glaubensprinzips im Gegensatz zur Vernunft und Erkenntnis möglich.

Es ist dies der gleiche Beweis aus der scheinbaren Gegeninstanz, wie ihn in umgekehrter Richtung später Berkeley liefert. Berkeley ist so weitgehender Nominalist, dass er nicht nur die Existenz irgend eines realen Allgemeinen, sondern sogar die von psychologischen Allgemeinbegriffen in Abrede stellt: wenn wir ein Allgemeines vorzustellen glaubten, so sei es eine Täuschung, tatsächlich stellten wir nur (<106) Einzelnes vor, und zwar nicht einmal einzelne Dinge, sondern nur einzelne Qualitäten, Empfindungen, deren konstante Summe uns als Ding erscheint.

Zu derjenigen Allgemeinheit, die den mathematischen und Naturgesetzen nicht abzusprechen ist, gelangt er bekanntlich auf dem Umwege über das göttliche Prinzip, das in uns alle Vorstellungen errege und dessen Unveränderlichkeit das unverbrüchliche gesetzmässige Zusammensein der Einzelvorstellungen garantiere.

Da Berkeley nun an denjenigen sittlichen Normen festhalten will, die nicht ohne eine real-soziale Allgemeinheit bestehen können, gelingt ihm dies nur, indem er an Stelle dieser wiederum höchste Instanzen als normgebende einführt, die nicht sowohl umfassend allgemein als überindividuell sind: Gott und die Obrigkeit.

Als Fundament aller sittlichen Verfassung lehrt er beiden gegenüber eine unbedingte Unterwerfung unter Verzicht auf das Geltendmachen jedes persönlichen Willens. Er kann also nur durch Einführung einer mit freiem Belieben ausgestatteten Instanz - mit der freilich jedes Resultat zu erlangen ist - neben seinem theoretischen Nominalismus eine allgemeingültige Norm praktisch-ethischer Natur rechtfertigen.

- In positiver Weise dagegen zeigt die Entwicklung des mittelalter­lichen Nominalismus unseren Zusammenhang.

Wenn etwa Wilhelm von Occam, nach der metaphysischen Seite hin, jede Sonderexistenz des Allgemeinen leugnet und allein das Individuelle als wahrhaftes extra animum bestehendes Sein anerkennt, so entspricht dem zugleich ein psychologischer Individualismus, der sich insbesondere in der Lehre ausdrückt, dass unser Wille unserem Verstande nicht unterworfen sei.

Der Verstand ist das allgemeingültige Verständigungsmittel, der Quell alles dessen, was von Allen anerkannt werden muss; der Wille dagegen ist das Unberechenbare - so dass nach Occam's Ansicht Gott auch die jetzt verabscheutesten Handlungen hätte zu sittlich gebotenen machen können, wenn er es gewollt hätte; die Unabhängigkeit (<107) des Willens vom Verstande bedeutet die Enthebung der Einzelseele von dem allgemeinen, durch gemeinsame Normen beherrschten Niveau.

Wir finden entsprechend in dieser späteren Periode der Scholastik gerade den Nominalismus mit der feineren Psychologie verbunden, der genaueren Beobachtung und Betrachtung des Einzelnen und seiner Rechte, sogar in direkt sozialen Fragestellungen, wie sie ein Nicolaus Oresmius gibt.

Noch einmal tritt in der Geschichte der Philosophie der Zusammenbestand von theoretisch nominalistischer mit praktisch individualistischer Denkweise auffallend hervor: Locke, der sich aufs Nachdrücklichste zum Nominalismus bekennt, für den alle allgemeinen Begriffe nur innerliche, abstrakte Gebilde sind, lässt so nur den einzelnen Gegenstand, der den einzelnen Eindruck in uns auslöst, als Realität bestehen.

Und damit verbindet sich nun eine politische Theorie, die jeden Eigenzweck und Eigenbestand des sozialen Ganzen aufhebt, und nur dem Einzelnen eine möglichst freie individuelle Existenz verschaffen will.

Daher seine Opposition gegen die Beschränkungen des Zinsfusses und der inmitten des Merkantilsystems individualistische Gedanke, dass der wirtschaftliche Wert fast nur auf der Arbeit beruht; daher seine Bemühung, die Familie vor aller Einmischung von Staat oder Kirche zu behüten und dem Einzelnen eine individuelle statt der öffentlichen Schulerziehung zu sichern; daher seine Rechtfertigung der Bürger, bei jeder Verletzung ihrer Rechte zur Revolution zu schreiten, seine grundsätz­liche Vertretung des Konstitutionalismus und seine, wenig­stens relative, Forderung der Toleranz in religiösen Dingen.

Es ist der gleiche Parallelismus zwischen praktischem und theoretischem Verhältnis des Individuums zum Allgemeinen, wenn sehr individualistische, selbstherrliche Geister eine Abneigung gegen die mechanistische Naturwissenschaft empfinden: Goethe, Carlyle, Nietzsche.

Ihr praktischer Individualismus verhindert sie, auch nur theoretisch jene (<108) Herrschaft des Allgemeinen anzuerkennen, unter die das Naturgesetz das Einzelne unterschiedslos und mechanisch beugt.

Mit alledem soll nicht etwa ein "Gesetz" aufgestellt werden, das eine sachlich notwendige Beziehung zwischen der theoretischen und der ethischen Ausgestaltung des In­dividualismus oder seines Gegenteils behauptete.

Es scheint nur, als ob eine psychologische Grundtendenz bestünde, die, wenn sie nicht durch anderweitige Einflüsse und Interessen abgelenkt wird, allerdings dazu disponiert, die Frage: wie verhält sich das Einzelding zu seinem Begriff - in ähnlicher Weise zu beantworten, wie die: wie verhält sich das Individuum zu der Gesamtheit?

Obgleich nur diese letztere unmittelbares ethisches Interesse hat, so ist doch die Heranziehung jener theoretischen Parallele für die Moralwissenschaft deshalb wichtig, weil sie es wahrscheinlich macht, dass irgend ein tieferer charakterologischer Grund für die Wahl zwischen individualisierender und sozialisierender Anschauungsweise vorliegt.

Beschränkt sich die Betrachtung auf die letztere Alternative, so findet sie viel leicht keine Veranlassung nach tiefergelegenen Gründen der Entscheidung zu suchen, sondern behandelt diese als eine letzte Tatsache; zeigt sich dagegen, dass dieselbe einer Entscheidung auf anderem Gebiet häufig parallel geht und eine formale Verwandtschaft mit dieser besitzt, so liegt es nahe, eine gemeinsame Wurzel zu suchen, welche nun auch für den ethischen Fall eine Erklärung abgeben würde.

Vielleicht lehrt uns die physiologische Psychologie einmal feine individuelle Unterschiede in der Aufnahme der Sinnes­eindrücke und der Reaktionen auf sie kennen, die die gemeinsame Wurzel jener theoretischen und praktischen Parallelerscheinungen abgeben.

Es liesse sich z. B. eine sensorische Tendenz zur Punktualität denken, derart, dass gewisse Individuen besonders scharfe Eindrücke von den sinnlichen Objekten erhalten, allein mit der Folge, dass (<109) das aufnehmende Vermögen nun gegen den nächsten ähnlichen Reiz abgestumpft ist; die Empfindlichkeit würde sieh dann auf einen einzelnen Eindruck zuspitzen, um dafür andere um so gleichgültiger vorübergleiten zu lassen.

Daraus ergebe sich erstens für das Denken die Inklination, am Individuellen zu haften, und die Verschmelzungen relativ selten zu vollziehen, deren es zur Begriffsbildung bedarf; die starken Unterschiede im Klarheitsgrade der Sinnesvorstellungen sind für ihre Koordinierung im Begriff ungünstig.

Zweitens aber würde ebendieselbe sinnliche Beanlagung für den ethischen Individualismus disponieren, weil die scharfe Pointierung einzelner Empfindungen, die entschiedene Konzentrierung auf den augenblicklichen Eindruck, der dann Erschlaffung folgt, ein starkes, subjektivistisch gefärbtes Ichgefühl zur Folge zu haben pflegt.

Auch würden die teils reflektorischen, teils durch das Bewusstsein hin­durchgeleiteten Handlungsimpulse, die sich an derartige Empfindungen anschliessen, gleichfalls mehr punktuellen und individualistischen, als jenen ausgeglichenen Charakter tragen, der ihre Entstehung aus dem sozialen Ganzen und ihr Rückströmen in dasselbe dein Subjekte nahe legte.

Weiterhin würde unsere Einsicht tiefer unter den fraglichen Zusammenhang hinabreichen, sobald wir erst eine genauere Analyse der folgenden Erscheinung besässen.

Wenn wir die Entwicklungsgeschichte einzelner uns gut bekannter Personen in den weitesten Umrissen betrachten, so glauben wir in der Art, wie die einzelnen Elemente sieh zu der Gesamtpersönlichkeit zusammenfügen, eine gewisse Gleichmässigkeit zu erkennen, ein Tempo und einen Rhythmus, die man zusammen als das Temperament der Persönlich­keit bezeichnen könnte.

Ins Einzelne gehend, erinnere ich zunächst an das Abwechselungsbedürfnis betreffs sinnlicher Eindrücke oder Phantasiebilder oder Verstandesvorgänge; schon bei Kindern sind grosse Unterschiede zu beobachten, ob sie z. B. rasch von Eindruck zu Eindruck eilen, weil (<110) der einzelne sie leicht langweilt, oder ob sie relativ lange bei ihm verweilen; ob die Perioden, in denen sie gern zu den gleichen Eindrücken zurückkehren, länger oder kürzer sind, ob sie sich mit dem Charakter des Legato oder des Staccato gegeneinander absetzen.

Ich erinnere an den Rhythmus, in dem Bewusstsein und Aufmerksamkeit sich zwischen Anspannung und Lösung, zwischen Konzentriertheit und Zerstreuung auf- und abbewegen, so dass die Intensitätskurven derselben unter sonst gleichen Umständen annähernd regelmässige Hebungen und Senkungen aufzuweisen scheinen.

Ich erinnere endlich daran, dass nicht nur Inhalt und Intensität der einzelnen Seelenenergien, sondern auch diese als Ganze eine Tendenz zu regelmässiger gegenseitiger Ablösung haben, so dass nach einer Periode starker sinnlicher Eindrücke gern eine solche der Reflexion und der innerlichen Geistestätigkeit eintritt; nach einer Zeit des Schaffens eine solche des Aufnehmens; nach einer Epoche der aktiven Anstrengung eine solche des hingegebenen Genusses; und umgekehrt.

Und zwar findet eine solche Rhythmik einmal für grössere Abschnitte unserer Lebensgeschichte statt, die sich nach den führenden physischen Äusserungen charak­terisieren, dann aber spiegelt ein jeder derselben, ja, man könnte sagen ein jeder Tag im Kleinen und innerhalb seiner Gesamtfärbung die gleiche Abwechslung zwischen den Seelenenergien in dem gleichen, für die Persönlichkeit charakteristischen Rhythmus wieder.

Wie wichtig gerade diese rhythmische Form der psychischen Ereignisse ist, wie sie auf die inneren Schicksale Wirkungen ausübt, die sich aus ihrem blossen Inhalt absolut nicht berechnen lassen, dafür erinnere ich an die Rhythmik, die in dem periodischen Auftauchen des sexuellen Triebes liegt.

Je nachdem er in bestimmten Abständen sehr heftig auftritt und dazwischen Ruhe gibt, oder, mehr chronisch, sich in geringeren Hebungen und Senkungen bewegt, wird er mannigfaltigste Seiten des Wesens verschieden beeinflussen, derart, dass (<111) seine absolute Stärke oder die Summe der in einer grösseren Zeiteinheit geforderten Befriedigungen keineswegs einen Schluss auf seine allgemeine psychologische Wirkung gestattet; vielmehr wird über diese nicht sein Quantum, sondern jene Rhythmik im Wesentlichen entscheiden.

Wenn wir nun tatsächlich an inhaltlich sehr verschiedenen psychischen Vorgängen derselben Person eine Identität des Rhythmus bemerken, so wird wohl die theoretische und die praktische Seite des Individualismus bez. seines Gegen­teiles wohl mit zu den ersten unter den höheren, durch ihn beeinflussten Formationen gehören.

Die soeben an­geführten Beispiele für das Hervortreten eines einheitlichen Rhythmus der Persönlichkeit geben, glaube ich, ohne Weiteres Anweisung darauf. Wie lange das Interesse an dem individuellen Dinge haftet, ehe es sich zur Bildung allgemeiner Begriffe aus solchen wendet, wie lange es sich innerhalb des Abstrakten bewegen mag, bis sich das Bedürfnis nach der Anschauung des Einzelnen, Konkreten meldet - das ist eben eine Frage des Gesamtrhythmus der Seelenenergie.

Und zwar wird sich derselbe auch in der Zeitlänge kundgeben, während deren die Erhebung zu dein Allgemeinen im sozialen Sinne gelingt, bis wieder die Interessen des Einzellebens - des eignen oder eines fremden - das Bewusstsein fesseln, oder während deren die letzteren uns ausfüllen, bis eine Ermüdung und Unbefriedigung an ihnen eintritt, die unser Denken und Fühlen zu dem Überindividuellen forttreibt.

Je tiefer gegründet indessen solche Zusammenhänge scheinen, desto näher liegt die Gefahr, über das wirklich konstatierbare Mass der Einheitlichkeit hinaus zu einem Grunde derselben zu greifen, der jenseits aller einzelnen psychischen Vorgänge liegt.

Angenommen, man entdeckte in allen Äusserungen einer Persönlichkeit verwandte Rhythmen, ein immer gleiches Tempo, so wäre es unserer Denkgewohnheit fast unvermeidlich, irgendwo die Zentralkraft (<112) zu suchen, von der alle jene Einzeläusserungen ausgingen, und deren Einheitlichkeit die formale Verwandtschaft der letzteren erklärte.

So setzt das gleichmässig bewegte Hauptschwungrad eines grossen Fabrikationsbetriebes eine grosse Anzahl von Hämmern, Pressen, Sägen in Tätigkeit, deren jedes zwar je nach der Länge und Art der Transmission und seiner Anlage eine besondere Bewegungsform hat; allein die rhythmische Gleichmässigkeit jeder derselben für sich, sowie der Umstand, dass jede als eine Funktion der anderen ausrechenbar ist, hängt doch allein von der Einheitlichkeit jener zentralen Bewegung ab.

Diese Vorstellung über den Rhythmus der Persönlichkeit, von dem auch die Gleichmässigkeit ihres Verhaltens zu dem begrifflichen und zu dem sozialen Individualismus abhinge, ist doch nur eine Fortsetzung der Tautologie, die den Seelenbegriff überhaupt bildet.

Wie dieser einen Träger des Vorstellens abgeben soll, ohne doch etwas anderes zu sein, als die substanziierte Forderung eines solchen Trägers, so wird hier eine be­stimmte Qualität des Vorstellens auf eine solche dieses Trägers zurückgeführt, ohne dass diese letztere uns anders bekannt wäre, als durch Rückschluss aus jenen, die be­treffende Qualität zeigenden Erscheinungen, die sie doch gerade erklären soll.

Ganz allein die realen Beziehungen der Vorstellungen unter einander, mit ihrem Sichverbinden, Abschleifen und Anpassen, können eine gewisse Einheitlichkeit erzeugen, die dann jedoch ein Resultat, aber nicht der Anfang der psychischen Entwicklung ist.

Die Vorstellungen weisen nicht Ähnlichkeiten auf, weil sie aus einer einheitlich qualifizierten Seele entspringen, sondern die Seele, d. h. der Gesamt­komplex unserer Vorstellungen, ist relativ einheitlich, weil seine einzelnen Bestandteile durch auf einander ausgeübte Kräfte sich schliesslich einander anähnlichen.

Von einer einheitlichen Quelle, die der begriffliche und der soziale Individualismus in der Rhythmik der Seelentätigkeit finden (<113) könnte, darf also nur insoweit die Rede sein, als die Wechselwirkung der psychischen Elemente, sei es auf Grund des Prinzips der Kraftersparnis, sei es auf Grund anderer Gesetze bewirkt hat, dass höhere, neuformierte Gebilde in denjenigen Bahnen abrollen, die sich für den bereits vorhandenen Bestand als die zweckmässigsten fixiert haben.

Die abstrakten Funktionen, die schliesslich die Entscheidung über Nominalismus und Realismus in jedem Sinne enthalten, reichen mit tausend Wurzelfasern in die breiten, primitiven Vorstellungsmassen hinab, diese bilden das Material für sie, so dass die Bewegungsformen, die sozusagen das Gros der Persönlichkeit in sieh ausgebildet hat, auch auf jene höhere Tätigkeit einen anähnelnden Einfluss ausüben wird.

Ausschliesslich in diesem Sinne kann und muss man vielleicht davon sprechen,. dass der einheitliche Rhythmus, das Tempo der Gesamtpersönlichkeit auch die Parallelität der hier fraglichen Erscheinungen bewirke.

Gleichviel indes, ob man auf diesem oder irgend einem anderen Wege zu dem Grunde derselben gelangt: es sollte nur bemerkt werden, wie wichtig es für die Erklärung ethischer Erscheinungen ist, formal verwandte Vorgänge aus anderen Gebieten heranzuziehen.

Denn gegenüber den Tatsachen des sittlichen Lebens neigt man, vielfach mit Recht, zu dem Glauben, an letzten, nicht weiter zurück­führbaren Fundamenten des Seelenlebens angelangt zu sein, und uni so wichtiger ist es, ähnliche Erscheinungen aus anderen Seelenprovinzen daneben zustellen, weil erst die Unwahrscheinlichkeit, dass solcher Parallelismus rein zufällig sei, auf einen gemeinsamen Grund beider und also auf eine Erklärungsmöglichkeit auch des ethischen Ereignisses Anweisung gibt.

So lange freilich jener einheitliche Quell­punkt der parallelen Erscheinungen noch nicht gefunden ist, wird es immerhin zweifelhaft bleiben, ob man zwischen ihnen ein reales, direktes oder indirektes, Abhängigkeitsverhältnis oder eine blosse Analogie, eine nur im Beobachter sich vollziehende Synthese anzunehmen hat.

(<114) Rein sachlich und ohne das durchgängige historische Zu­sammentreffen der praktischen und der theoretischen Tendenz behaupten zu wollen, kann man sagen, dass alle Schattierungen der Parteifrage, ob die universalia ante rem, in re oder post rem sind, sich in dem Wechsel der Überzeugungen darüber widerspiegeln, ob die Allgemeinheit vor den Einzelnen sei, in ihnen, oder nach ihnen, d. h. eine Abstraktion.

Und den Differenzen dieser gleich näher zu betrachtenden Thesen entsprechen solche der ethischen Gesinnungen.

An den Meinungen über das tatsächliche Verhalten des Ein­zelnen zur Gesamtheit kann man alle diejenigen über sein gesolltes Verhalten zu ihr abrollen.

Der Erkenntniswert hiervon erscheint mir selbst dann nicht unbedeutend, wenn es als blosse verdeutlichende Analogie gilt, ohne dass man auf die im 1. Kapitel ausgeführte kausale Beziehung zwischen der Wirklichkeit und dem Sollen zurückgreift.

- Die Vorstellung, dass das soziale Ganze vor den Einzelnen sei, aus denen es doch besteht, ist bei näherem Zusehen nicht so paradox und widerspruchsvoll, wie der sprachliche Ausdruck sie erscheinen lässt.

Zwar ihre aristotelische Begründung auf den Satz, dass das Ganze früher sein müsse als der Teil, werden wir nicht zugeben. Für das Ganze der Welt können wir seine logisch-metaphysische Geltung einräumen: denn da wir jede Entstehung eines Etwas aus dem Nichts leugnen, so muss freilich das Ganze der Welt als Ganzes ewig sein und geht deshalb jedem Teile als solchem voran; denn der Teil entsteht durch Teilung, also durch einen zeitlichen Prozess, der sein Material, das Ganze, schon voraussetzt.

Anders aber liegt die Frage für die relativen Ganzen, die selbst erst durch Abgrenzung innerhalb des Weltganzen entstanden sind. Da man diesen doch eine Entstehung zusprechen kann -  nicht der Substanz, wohl aber der Form nach, in der ja überhaupt ihr Wesen als diese bestimmten Ganzen besteht -  so liegt kein Grund vor, weshalb sie nicht aus schon vorher abgesonderten Teilen zusammengesetzt sein sollten.

(<115) Eine so umfassende und schwierige Behauptung, wie die Präexistenz des sozialen Ganzen, kann nicht auf derartigen, bloss begrifflichen Deduktionen balancieren.

Dagegen gibt die Auflösung des Ich in die Summe der einzelnen Vorstellungen und ihrer Funktionen einen Hinweis auf den sekundären Charakter des Individuums. Denn nimmt man nun weiter an, dass die psychischen Inhalte im Wesentlichen aus dem sozialen Milieu aufgenommen sind, so ist allerdings der Einzelne sozusagen völlig aus dem vorangegangenen Gattungserwerb zusammengesetzt, weil nach aufgehobener Seelensubstanz eben nichts bleibt, als diese einzelnen, von ihm individuell verarbeiteten, aber nicht individuell geschaffenen psychischen Bestandteile.

Der Einzelne wird in einen ungeheuren Zusammenhang hineingeboren, aus dem er Sprache und Denkformen, Sitte und Erwerbsart, sein theoretisches wie sein praktisches Weltbild gewinnt.

Der Gesamtinhalt der Kultur im weitesten Sinne bietet sich den Individuen dar, als ein schlechthin Gemeinsames und Allgemeines, dem gegenüber sie sich je nach den Teilen unterscheiden, die sie sich zu eigen machen, und je nach der Art, in der die Mannigfaltigkeit dieser Teile sich verschlingt und zu Haupt- und Nebensachen gliedert.

Lassen wir also von der Einzelseele nichts bestehen, als ihre einzelnen Inhalte, und leiten wir jeden dieser Inhalte historisch von dem in der Gattung niedergeschlagenen, objektivierten Geiste ab, so verhält sich allerdings jedes sogenannte Ich zu diesem letzteren, wie sich die Einzeldinge zu dem platonischen Ideenreiche verhalten.

Die eigentümliche Geltungsart , die der begriffliche Inhalt der Dinge gegenüber der einzelnen Substanz besitzt, jenes Teilhaben des Einzelnen am Allgemeinen, dessen mannigfaltige Komplikationen das Einzelne bilden: eben dieses, aus dem Logisch-Metaphysischen in das Historisch-Praktische übertragen, besteht für eine sozialisierende Auffassung zwischen dem geistigen Gattungs­besitz und seiner Realisierung an dem einzelnen Subjekt. (<116)

Die Unberührtheit des ideellen Inhaltes der Dinge davon, ob viele oder wenige an ihr teilhaben, jener Zwischen­zustand zwischen blosser Potentialität und bestimmter Wirkung, in dem sich die Idee der Dinge gegenüber den Dingen befindet - auch dies spiegelt sieh in dem allgemeinen geistigen Besitz der Gattung, der den Einzelnen das Material ihrer geistigen Besonderung bietet; so dass man wohl begreift, wie die Denktendenz, die zur Behauptung der präexistierenden Ideen, der universalia ante rein führt, aus der formalen Ähnlichkeit mit dem Verhältnis zwischen Volksgeist und Individualgeist gewissermassen einen soziologischen Realismus bilden konnte.

Die ethische Beziehung dieser Anschauungsweise wird näher gelegt, wenn man statt der Begriffe der Dinge ihre Gesetze in ihrer Geltungsart betrachtet.

Das Gesetz ist das absolut Allgemeine, das sieh gegen die besonderen Umstände des Falles, sobald sie nicht die von ihm selbst kenntlich gemachten Bedingungen aufheben, völlig gleichgültig verhält und dessen Geltung ganz unabhängig davon ist, ob sich jene Bedingungen seines In­krafttretens einmal oder tausendmal finden; so erscheinen die Naturgesetze als etwas jenseits der Realität stehendes und doch als dasjenige, dessen Normen und Komplikationen die Wirklichkeit völlig bestimmen.

Entsprechend stellen sich nun Gesetze im politisch-sozialen Sinne dar. Das bürgerliche, das sittliche Gesetz lässt zwar nicht wie das Naturgesetz überall und unweigerlich da bestimmte Folgen eintreten, wo bestimmte Bedingungen gegeben sind, da es nur ein Sollen anstatt einer Wirklichkeit aussagt; allein gültig ist es doch auch in dem Falle, in dem es nicht befolgt wird.

Das Entscheidende, in beiden Fällen Gleichmässige ist dies, dass dem Einzelnen ein Allgemeines gegenüber­steht, von dem es eine Normierung empfängt und das seine Priorität darin zeigt, dass die Zahl seiner Verwirklichungen, ja, ob es überhaupt verwirklicht wird oder nicht, für seine innere Wahrheit und Bedeutsamkeit völlig irrelevant ist. (<117)

So erscheint das Gesetz in seinen beiden Bedeutungen als ein Allgemeines ante rem. Jenes allgemeine Gesetz der Dinge, das den Stoikern als die lebendige Kraft einerseits, als die Vernunft des Alls andrerseits galt. gibt in der Ausstrahlung seiner metaphysischen Bedeutung auf die Physik, Moral und Politik ein deutliches Beispiel für den Zusammenhang des Allgemeinbegriffes in seinem logisch - physikalischen mit seinem ethisch‑sozialen Sinne.

So wenig stichhaltig und wenig erklärend nun auch dieser ganze soziologische Realismus, dem Begriffsrealismus entsprechend, sein mag, so besitzt er doch jene scheinbare Klarheit, jenes feste Verhältnis der Elemente zu einander, wodurch metaphysische Konstruktionen so oft darüber hinwegtäuschen, dass sie uns nur die irgendwie umgestaltete Frage statt der Antwort zurückgeben.

Die Behauptung der universalia in re, die einer konkreten Betrachtungsweise offenbar näher liegt, hat dennoch sowohl an sieh, wie in ihrer soziologischen Parallele grössere Schwierigkeiten der Verdeutlichung als die sehr viel mehr metaphysische Lehre von der gesonderten Existenz des Allgemeinen gegenüber und vor dem Einzelnen.

Das tiefere Gedankenmotiv, ans dem dem Allgemeinen zwar eine konkrete, an sich seiende Existenz zugesprochen, dieselbe aber nur innerhalb des Einzelwesens und in unlöslicher Verbindung mit ihm gesucht wird, ist das folgende.

Bei jeder Erscheinung trennen wir, unvermeidbaren Kategorien zufolge, das Was und das Dass - ihren Inhalt, ihre Qualitäten, ihren Charakter - auf der einen, ihre Existenz, die Realisierung eben jener inhaltlichen Bestimmungen auf der anderen Seite.

Die letztere nun ist etwas schlechthin Individuelles. Jedes Ding, auf seine Existenz hin angesehen, ist eben nur dieses bestimmte, nur dieser umgrenzte Ausschnitt aus dem Weltganzen; sein Dasein als blosses Dasein ist ein völlig einzelnes; es ist nicht unvergleichbar in dem Sinne, dass es zufällig nichts gibt, womit es verglichen werden könnte, sondern in dem, dass es überhaupt jenseits der Frage nach irgend welcher Vergleichbarkeit steht; das Sein ist keine Eigenschaft der Dinge, und nur Eigenschaften, Bestimmungen können verglichen werden. (<118)

Von diesem letzteren Gesichtspunkt aus erscheint die Qualifikation, die Bestimmung der Dinge nach ihrem Was und Wie als ein Allgemeines, als etwas, was sie mit anderen teilen können , während jedes seine Existenz absolut nur für sich hat.

Die Eigenschaften aber sind doch das Wesentliche, sind das, was jedes Ding zu dem macht, was es ist. Von hier aus wird es verständlich, wieso Aristoteles der Einzelsubstanz allein Realität zusprechen und doch das Wesentliche, das Objekt der Erkenntnis, ausschliesslich im Allgemeinen suchen konnte: es ist der Unterschied zwischen dem Dass und dem Was der Dinge, den er damit markiert.

Das Dass der Dinge ist einzig, und um­gekehrt: das einzig sicher Einzige, was jedes Ding besitzt, ist die Existenz; sein Was dagegen, die qualitative Bestimmtheit, teilt es möglicherweise mit vielen Andern.

Das Dass und das Was ist nun aber in dem einzelnen Ding unlöslich verbunden, und so liegt denn das Allgemeine, das zugleich das Wesentliche, Inhaltgebende ist, ausschliesslich in dem Einzelding, welches allein subsistiert.

Konsequenterweise scheint dies in den reinen Nominalismus einmünden zu müssen: kommt nur dem Einzelnen Existenz zu, so ist der Allgemeinbegriff, der das Gemeinsame aus vielen Einzelnen zusammenschliesst, nur ein subjektives Gebilde, nur eine nachträglich - post rem - erfolgende Abstraktion.

Allein tatsächlich wird der Schluss aus jener Voraussetzung keineswegs immer nach dieser Richtung gezogen; vielmehr kann er auch die objektive Grundlage und Rechtfertigung für die Bildung des Allgemeinbegriffs betonen und die blosse Subjektivität des letzteren durch die Bemerkung abwehren, dass man doch mehr oder weniger gültige Begriffe bilde, dass nicht jede beliebige Zusammenfassung einen haltbaren Begriff ergebe, dass auch sie irren könne. (<119)

Dies sei aber nur durch eine wie auch immer dunkle Beziehung des Gedankens zum Sein möglich, und deshalb könne der Begriff nicht schlechthin subjektiv sein, sondern müsse ein Korrelat im objektiven Sein besitzen.

Was dies für eine Kategorie des Geltens oder Existierens sei, die das Allgemeine einnimmt: nur an dem Einzelnen subsistierend und dennoch ein wirkliches, nicht nur psychologisch Allgemeines - das ist nicht wieder durch Zurückführung auf die üblichen Kategorien, Sein und Denken, klar zu machen.

Vielmehr ist diese Seinsform des Allgemeinen in re ein Begriff sui generis, der gewissermassen zwischen Realität und Idealität in der Mitte steht, ohne doch etwa aus beiden mechanisch zusammensetzbar zu sein.

So wenigstens stellt sich das Prinzip bei den Verteidigern der universalia in re dar, gleichviel, ob wir es als eine klare und haltbare Vor­stellungsweise ansehen können oder nicht.

Die soziologische Analogie hierzu wird durch den Umstand nahe gelegt, dass die Anhänger der obigen Theorie das Was der Dinge, ihre allgemeinen aber inhärenten Qualitäten auch als ihre Form bezeichnen.

Die Materie, der Stoff ist das blosse Sein, das schlechthin Einzelne; die Form, die von der Qualität nur dem Worte nach getrennt ist, ist ein Allgemeines; sie schliesst das Objekt mit anderen zu einer Gattung zusammen und ist zugleich das Wesentliche, die Bestimmung seines Soseins.

Entsprechend nun ist die Vergesellschaftung die Form der Individuen, und zwar in doppeltem Sinne: einmal ist die Gesellschaft selbst eine Form, zu der die Individuen das Material bilden, die aber nur an diesem Material besteht; und dann erhält das Individuum, an und für sich betrachtet, durch die sozialen Beziehungen seine eigenen Qualitäten, seine wesentliche Form.

Das erstere verwirklicht sich insbesondere in der Tatsache, dass die Gliederung und Gestaltung einer sozialen Gruppe durch Generationen hindurch dieselbe bleiben kann; es findet also Formbeständigkeit bei völligem Wechsel des Personenmaterials statt, vergleichbar der beharrenden Gestalt des organischen Körpers bei fortwährender Ausscheidung und Ergänzung seiner Materie. (<120)

Hier haben wir also ein praktisch Allgemeines, das, dem Einzelnen begrifflich gegenübergestellt, volle Realität besitzt , das scheinbar in der Zergliederung des Einzelnen weder gefunden noch erschöpft werden kann, und dessen greifbare Wirksamkeit sich ganz jenseits des Verdachtes bloss abstrakter Existenz für den Beobachter stellt.

Andrerseits aber besteht diese dauernde reale Form und Allgemeinheit doch nur in und an den Einzelnen. Man spricht wohl von innerlich nichtigen und unwahren sozialen Gebilden, z. B. überlebten Institutionen; allein damit wird doch nur ein Werturteil, nicht aber ein Existenzialurteil ausgesprochen; losgelöst von den Individuen, die es tragen, kann auch das ausgehöhlteste soziale Gebilde nicht bestehen.

Hier haben wir also ein Allgemeines, das weder ante rein noch bloss post rem ist, sondern tatsächlich dem Einzelnen inhäriert, eine zusammen­fassende Form, die nicht ausserhalb ihres singulären Materials existiert, nur allein vermöge dieses bestehen kann und dennoch eine für sich bestehende Bedeutung besitzt, ein Wie und Was kenntlich macht, das von dein Individuellen begrifflich unabhängig ist, während es doch sein Dass ausschliesslich von und in ihm empfängt.

Was die zweitgenannte Bedeutung der Analogie betrifft, so besteht sie in einer Wirkung der Tatsachen, die die erste bildeten. Das Enthaltensein in einer Gruppe, die Abhängigkeit von gemeinsamen herrschenden Kräften, die Einordnung in eine einheitliche soziale Organisation muss eine gewisse qualitative Gleichheit unter allen Mitgliedern derselben bewirken.

Indem man dieselbe Sprache gebraucht, demselben Recht und derselben Sitte, vielfach überhaupt denselben Lebens­bedingungen unterliegt, ergibt sich ein allgemeines Niveau des (<121) Denkens und Fühlens, in dem jeder für sich teil hat, das jeden für sich besonders bestimmt, aber ebenso wie seinen Nachbar und jeden anderen.

Und auch auf den Gebieten, auf denen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe Unterschiede der Individuen schafft, besteht doch ein gewisser Zusammenhang, eine funktionelle Abhängigkeit dieser Unterschiede untereinander, die, oft vielleicht noch mehr als unmittelbare Ähnlichkeit der Individuen, diese als einheitlich zusammengehörige charakterisiert.

Hier ist also ein Allgemeines, das begrifflich noch enger als die intersubjek­tive soziale Form selbst an den Einzelnen haftet, unmittel­bar ihre Qualität bestimmt, oft genug das Wesentliche und Formgebende für sie ist.

Und das Wesen dieses Allgemeinen ist als solches keineswegs damit abgeschlossen, dass gleiche Eigenschaften an den Einzelnen, der Gruppe Zugehörigen, bestehen, sondern durch die gemeinsame Wurzel, die reale, eben diese Gleichheit bewirkende soziale Kausalität erhält die Allgemeinheit der blossen Qualitäten eine feste, greifbare Bedeutung, die sie als etwas mehr denn als blosse beobachtende Zusammenfassung des Gleichen erkennen lässt.

Es ist ein universale im objektiven Sinn, weil die Quali­täten der Einzelnen, deren Gleichheit eben das universale bildet, sich einander realiter zu dieser Gleichheit bestimmen bez. von einer dritten Macht aus zu ihr bestimmt werden - zugleich aber, weil es sich nur um ein Was und Wie handelt, findet es nur an dem Dass, an dem Sein der Einzelnen, seine Wirklichkeit, ist ein universale in re.

Einfacher ist die Analogie auf beiden Seiten, wenn nun endlich drittens jegliche Allgemeinheit als blosse, subjektive Abstraktion gilt, als eine Synthese, welche der Beobachter an den Dingen vollzieht, während sie an und für sich individuell sind.

Wie es sich mit der Ähnlichkeit zweier Personen verhält, die für den einen Beobachter vorhanden ist, während sie dem anderen absolut nicht auf­gehen will und dadurch beweist, dass sie nicht innerlich sachlich bedingt ist: so soll es mit der Gleichheit der  Eigenschaften sein, die nach den früheren Ansichten von dem Allgemeinbegriff als einer Realität getragen wurden. (<122)

Der Begriff ist für diese Theorie eine Rechenmarke, ein willkürliches Symbol, geschaffen, um mit einer Anzahl von Einzeldingen, die man aus irgend einem Grunde zusammen­fassen will, kürzer und handlicher zu operieren. Der hierfür grundlegende erkenntnistheoretische Gedanke ist dieser.

Die Bildung eines Allgemeinbegriffs setzt die Gleichheit von Eigenschaften der Dinge voraus; dass aber mehrere Dinge gleich sind, liegt nicht in ihnen selbst, ist nicht selbst eine Qualität ihrer, da jedes von ihnen genau das gleiche bliebe, wenn es auch gar nichts ihm überhaupt Vergleichbares in der Welt gäbe.

Die Gleichheit ist also nichts Objektives, nichts Seiendes, sondern sie entsteht erst durch die Vergleichung, also durch einen nur im Beobachter stattfindenden Vorgang.

Also kann auch der Allgemein­begriff, dessen ganzer Inhalt eben diese Gleichheit ist, nichts in oder gar vor den Dingen Bestehendes sein, sondern erst nachdem die Dinge in der Abgeschlossenheit und Fertigkeit ihrer Existenz gegeben sind, entsteht das universale sogar erst durch einen psychologischen Prozess zweiter Potenz: über denjenigen, der überhaupt erst die Gleichheit der Dinge schafft, von der ihre objektive Existenz sozusagen nichts weiss, wird dann erst der weitere gesetzt, der diese Gleichheit wieder zu einer Einheit, dem Begriff, verfestigt.

Die Subjektivität eben dieser Einheit ist es, auf die sich der soziologische Nominalismus stützt. Bisher war behauptet worden, dass die soziale Gruppe ihr Wesen nicht in der Summe ihrer Mitglieder erschöpfe, sondern über oder wenigstens in ihnen eine reale Einheit bilde, eine Allgemein­heit, die nicht aus der isolierten Betrachtung jedes Elementes, sondern nur aus ihrem Zusammen zu gewinnen ist.

Den­noch sei sie keine blosse Vorstellung, sondern ihre Existenz und Inhalt sei ganz unabhängig davon, ob sie vorgestellt werde oder nicht. (<123)

Dem gegenüber kann nun hier behauptet werden, dass die ganze Anschauung auf dem alten metaphysischen Fehler beruhe, der die zwischen mehreren Elementen spielenden Vorgänge zu ausserhalb derselben liegenden Wesenheiten hypostasiert; es sei eigentlich der Doppelsinn des Zwischen, an den sich der ganze Irrtum hefte: eine Wechselwirkung zwischen zwei Ele­menten werde vorgestellt als ein gewissermassen im räumlichen Sinne zwischen ihnen liegendes Objekt.

Alle Gesellschaft, alle soziale Formung beruhe darauf, dass ein Individuum auf das andere wirke, allein diese Wirkungen bleiben eben in den Individuen beschlossen als Qualitäten oder Bewegungen derselben, die sich in keiner Weise von den sonstigen, die Persönlichkeit bildenden Modifikationen unterscheiden.

So wenig man diejenigen mannigfaltigen Beschaffenheiten der Personen, die sie den Einwirkungen ihres geographischen Milieu verdanken, als eine besondere Einheit über oder in den Individuen gelten lasse, so wenig können dies die Bestimmungen, die die soziale Wechselwirkung an den Einzelnen hervorbringt.

Die soziale Allgemeinheit wird zur Einheit, also zu der Vorstellung eines Konkreten, erst in der Betrachtung desjenigen, der die Wechselwirkungen der Individuen unter einem mitgebrachten Begriff zusammenschliesst.

Konkrete Allgemeinheit ist nichts, als Einheit von Mannigfaltigem, diese Einheit aber kann nur von einem Subjekt nach bestimmten Kategorien hergestellt werden, und wenn man ein objektives Korrelat ihrer zu erblicken glaubt, verwechselt man eben die Wechselwirkung, d.h. wechselseitig ausgelöste, aber ausschliesslich in den Individuen verbleibende und individuell charakterisierte Modifikationen mit einer zwischen den Individuen befindlichen und sie wie ein körperhaftes Band umschliessenden Wesenheit.

Ja, das nominalistische Prinzip kann zu seiner tieferen Begründung und Exemplifizierung anführen, dass auch die physisch-psychische Einheit des menschlichen Individuums nicht in dem absoluten und realen Sinne besteht, in dem lange Denkgewohnheit sie erscheinen lässt. (<124)

Die Einheit des Selbstbewusstseins einerseits, die Vorstellung einer den Körper als Ganzes zusammenhaltenden Lebenskraft andrerseits stellten den Einzelmenschen als ein metaphysisch einheitliches Element dar.

Über den Kräften, die die Atome des Leibes in Wechselwirkungen aneinander banden, schien noch eine Totalkraft zu walten, die jene nach einheitlichem Plane lenkte, gerade wie sich über den einzelnen Gesetzen für den Zusammenhang der Vorstellungen - die uns freilich erst in rohen Antizipationen bekannt sind - die persönliche Seele erhob, als der unteilbare Quellpunkt alles psychischen Lebens.

Wir erkennen heute, dass die Annahme solcher Einheitlichkeit uns nicht fördert, sondern dass alles darauf ankommt, die einzelnen Prozesse und ihre Gesetze zu erkennen, in denen sich das Wechselspiel der kleinsten Teile vollzieht; freilich sind diese Wechselwirkungen innerhalb des Körpers wie innerhalb der Seele und innerhalb beider unter einander besonders eng ; allein das darf nicht darüber täuschen, dass auch der Organismus aus Zellen zusammengesetzt ist, die immer noch eine relative Selbständigkeit gegen einander besitzen, und dass in der Seele kein Punkt zu entdecken ist, von dem aus die Mannigfaltigkeit und Divergenz ihrer Inhalte als harmonische Entwicklung einer ursprünglichen Einheit erscheinen müsste.

Jene Einheit ist nichts als ein Kreis, den wir der Summe unserer psychischen Erscheinungen umschreiben, ein rein formaler Gedanke selbst, der deshalb nicht über den Vorstellungen stehen und sie mit realer Kraft zur Einheit zusammenschliessen kann.

Der Versuch, zu einer möglichst "reinen" Erfahrung zu gelangen – die allerdings hier nur die konstruktive Fortsetzung bisher erfolgreicher Denkmodi bedeutet - mündet bei den punktuellen Atomen oder sonst irgendwie zu denkenden kleinsten Teilen als dem eigentlich und allein Objektiven, während jede höhere, überhaupt aus Teilen bestehende Einheit nur subjektiverweise eine solche ist. (<125) Mit dem Nominalismus ist diese Leugnung der anthropologischen Einheitlichkeit insofern identisch, als sie behauptet, dass eben diese Einheit nur vermöge eines Begriffs zustande kommt, den wir an die atomistische Wirklichkeit heranbringen, und nach dessen Norm wir diese durch Unterscheiden und Verbinden zu höheren, zusammengesetzten Einheiten gestalten.

Die anthropologische Einheit ist also die Folge oder Darstellung des Begriffes Mensch, und in dem Augenblick, wo eines von beiden seine objektive Berechtigung verliert, ist auch die des anderen erschüttert.

- Das Gedankenmotiv also für die Verteidiger sowohl der begrifflichen wie der soziologischen Behauptung der universalia post res ist dies, dass jede Allgemeinheit Resultat einer Zusammenschliessung ist, ja, in dieser Zusammenschliessung, Synthesis, überhaupt besteht, Synthesis aber, nach Kant's Ausdruck, niemals in den Dingen liegen kann, sondern ausschliesslich eine Funktion des Subjekts ist.

Ich habe diese Analogie zwischen dem allgemeinen oder erkenntnistheoretischen und dem soziologischen Realismus bez. Nominalismus ausgeführt, weil die soziologische Form desselben einen Übergang zwischen der allgemeinen und der ethischen bildet.

Es liegt nahe, anzunehmen, dass der theoretischen Meinung über das Verhältnis des Ein­zelnen zur Allgemeinheit eine praktisch-teleologische parallel gehe.

Wer die Gesamtheit dem Individuum gegenüber als das Primäre ansieht, werde auch den Wert des letz­teren nur nach dem Masse schätzen, in dem es für die Allgemeinheit wirkt und die Kräfte und Werte, die es aus ihr empfangen, wieder an sie zurückströmen lässt.

Ein theoretischer Individualismus scheint es umgekehrt mit sich zu bringen, dass die Allgemeinheit auch im ethischen Sinne nur als Durchgangspunkt für die Gestaltung des Einzelnen gelte; wer die Existenz einer Allgemeinheit als Realität jenseits der Einzelnen leugnet, kann auch natürlich in ihr kein Objekt sittlicher Zwecksetzung finden. (<126)

Der soziologischen Mittelpartei endlich, die dem Allgemeinen zwar eine konkrete, aber keine gesonderte Existenz zugibt, würde ein Imperativ entsprechen, der dem Individuum die Steigerung der sozialen Eigenschaften zur Pflicht machte, jedoch nicht in dem Sinne, dass das objektive soziale Gebilde oder Gebot Endzweck wäre; auch nicht so, dass die soziale Rücksicht oder Qualität schliesslich doch in eine rein individuelle Modifikation einzumünden habe; sondern so, dass unter den Eigenschaften der Personen die auf die Gesellschaft bezüglichen den eigentlichen Wert der Person ausmachen und die Ausbildung derselben einen sittlichen Zweck bildet, ohne dass weiter gefragt werden könnte, ob derselbe etwa seinerseits ein blosses Mittel für ein Ideal des Individuums oder für eines der Gesamtheit wäre.

Das Allgemeine am Einzelnen immer reiner und vollkommener darzustellen, ist eben ein für sich befriedigender Zweck; wie theoretisch das Was und das Dass der Dinge und Personen tatsächlich zusammengehört, und dennoch das Was, das Formgebende, in begrifflicher Trennung und gesonderter Wertung betrachtet werden kann: so würde sich entsprechend im Ethischen die Stellung des Einzelnen in der sozialen Gruppe, oder seine aus der Gesamtheit geflossenen Eigenschaften, oder sein altruistisches Handeln zwar tatsächlich nicht auf einen ausser ihm gelegenen Zweck projizieren lassen, vielmehr ganz und gar nur als Modifikationen der realen Persönlichkeit gelten, welche Modifikationen sich eben als die sittlichen Endzwecke dieser Persönlichkeit darstellen.

Diese Zusammenhänge zwischen soziologischer Über­zeugung und praktischer Gesinnung sind psychologisch wohl begründbar und mögen sich oft genug in mehr oder weniger bewusster Form, mit grösserer oder geringerer prinzipieller Entschiedenheit in Wirklichkeit vorfinden.

Statt aller weiteren historischen Beispiele weise ich nur darauf hin, wie sich in der Gegenwart der soziologisch – historische Charakter aller auf den Menschen bezüglichen Erkenntnisse mit der sozialen Tendenz der Sittlichkeit verbindet. (<127)

Wenn wir den Einzelnen als ein Produkt der Allgemeinheit, als den blossen Erben ihrer unmittelbar persönlichen wie ihrer objektiv gewordenen Erwerbungen ansehen, andrerseits in der Eingabe an das soziale Ganze, an die Gattung, die Gesamtheit seiner Pflichten beschlossen glauben, so dürfte es schwer sein, zu entscheiden, welches von beiden Momenten die Ursache und welches die Wirkung ist.

Und gerade die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit dieser Entscheidung beweist die Enge des Zusammenhanges zwischen der theo­retischen und der ethischen Tendenz.

Dennoch zeigt sich auch hier die Unmöglichkeit, zu einer apriorischen Festsetzung derartiger Verhältnisse zu gelangen; denn die mannigfaltigsten, aus den Begriffen gar nicht zu konstruierenden Kombinationen zwischen dem theoretischen und dem ethischen Realismus oder Nominalismus kommen vor, und zwar sind sie insbesondere da nahegelegt, wo eine entschiedene erkenntnistheoretische Scheidung entweder zwischen der Erscheinung der Dinge und ihrem übersinnlichen Substrat oder zwischen regulativen und konstitutiven Prinzipien zum Grunde liegt.

Religiöse Stimmungen z. B. werden die Isolierung des Individuums gegenüber der allumfassenden göttlichen Einheit oft schwer empfinden; und gerade dies Gefühl, dass das irdische Leben der Ein­zelnen auf sich selbst gestellt ist, dass die Ansätze zur Einschmelzung in die höchste Allgemeinheit erfolglos abprallen, mag die Vorstellung und den Trieb einer inneren Arbeit der Seele hervorrufen, die zwar eben nicht im Irdischen, aber im Jenseits zu jener absoluten Einheitlichkeit mit Gott führe.

Dieselbe mag als Anlage, Potenz, dunkler Drang allem Tun zum Grunde liegen, das demnach sein eigentliches Ziel, die Aufhebung der Eigensucht und Eigenexistenz, gar nicht hier erreichen kann: die Vorstellung also eines tatsächlichen Individualismus ist mit einem metaphysischen Realismus des Wollens verbunden. (<128)

Die formal gleiche Verbindung bei sehr unterschiedenem Inhalte zeigt die Wertung der Konkurrenz.

Die Voraussetzung derselben ist die Isolierung der Einzelnen gegen einander, die der Erkenntnis gegebene Tatsache, dass jeder auf sich steht und, indifferent gegen die Allgemeinheit, sich gegen jeden anderen Einzelnen zu behaupten sucht.

Allein dieser Individualismus der primären Erscheinung kann nun doch verbunden werden mit dem Realismus übersubjektiver Werte und Gebilde, welche aus der Konkurrenz hervor­gehen sollen. Gerade sie sei das Vehikel für das der Gesamtheit Nützliche, die Vereinzelung und Reibung der Kräfte produziere nach einer geheimnisvollen Weisheit der Weltordnung die Institutionen und Güter, die dann jenseits aller Einzelnen stehend ihren Segen auf diese zurückstrahlen.

Gewissermassen eine intersubjektive Sittlichkeit setze sich diese objektiven Ideale, die den Individualismus der Subjekte zur Voraussetzung und zum Mittel haben. - Für eine andere Richtung mag ein theoretischer Realismus der sozialen Be­griffe zum Grunde liegen.

Die Gebilde, in denen sich das soziale Geschehen verfestigt und objektiviert hat: Sprache, Religion, vernünftige Denkform, Recht, Moral, Staat - haben sich allerdings von dem Einzelnen, der daran teilhat, scheinbar unabhängig gemacht; er findet sie vor als einheitliche Gegebenheiten, in denen die Beiträge der Individuen nicht mehr herauszuerkennen sind, die sich zwar jedem darbieten, aber sich gleichgültig dagegen verhalten, ob er daran teilnimmt oder nicht; daher denn keines von diesen der Vorstellung entgangen ist, ein unmittelbares Geschenk der göttlichen Macht zu sein, eine Vorstellung, die doch offenbar nur der substantialisierende Ausdruck dafür ist, dass uns die einzelnen individuellen Wirkungen nicht bekannt sind, die diese Gebilde geschaffen haben. (<129)

Auch hier bewahrheitet sich die Vermutung, die ich im 4. Kap. (I, 446) aussprach: dass das Verhältnis des Individuums zu Gott vielfach nur ein Symbol seines Verhältnisses zur sozialen Allgemeinheit sei; die Hypostasierung der sozialen Kräfte in Gott ist der Höhepunkt des soziologischen Begriffsrealismus.

Man braucht indes gar nicht so weit aufwärtszuschreiten, um jene Gebilde als konkrete und von den Individuen unabhängige Einheiten anzusehen und die völlige Abhängigkeit des Einzelnen von ihnen zuzugestehen, positiv, indem er seine Lebensinhalte von ihnen empfängt und nach ihnen gestaltet, negativ, indem er ihnen gegenüber machtlos ist.

Sie bilden gewissermassen das Apriori, das alle erfahrungsmässigen Betätigungen des Individuums erst möglich macht. Über diese theoretische Einsicht aber kann man gerade nun die teleologische Überzeugung von dem Berufe des Einzelnen setzen: dass er jene Allgemeingebilde als Material für eine ganz besondere, nur ihm eigene Formung des Lebens zu benutzen habe.

Der theoretische Realismus bildet so gerade die Grundlage für einen ethischen Nominalismus, das sozial Allgemeine erscheint gerade wegen seiner substantiellen Realität und Bedeutsamkeit zur Auflösung in das Individuelle bestimmt.

- Ferner ist eine Kombination denkbar, in der die Existenz des Sozialen am Individuum als Tatsache anerkannt und die sittlichen Forderungen dahin zusammengefasst werden, dass diese an den Einzelnen gebundene soziale Qualität oder Energie sich aus ihm heraus in objektiven Gebilden verkörpere.

Wer z. B. meint, dass alle künstlerischen, wissenschaftlichen, praktischen Begabungen nur besonders günstige Vererbungen seien, nur Anhäufungen von Erwer­bungen der Gattung, der wird, indem er zwar sehr wohl weiss, dass die Gattung dies eben nur am Individuum in die Erscheinung treten lässt, doch zugleich die Pflicht daraus herleiten, dass solche Begabung nicht nur individuell ausgenützt werde, sondern er wird das Herstellen objektiver Werke und Taten als sittliches Ideal anerkennen können. (<130))

Das tatsächliche Universale in re, bez. in persona, wird ihm die Grundlage der ethischen Forderung, dass dies Universale zu einem für sich Bestehenden, von dem Individuum Gelösten jenseits des Persönlichen weitergebildet werde.

- In umgekehrter Richtung endlich bewegt sich jene ethische Geschichtsphilosophie, die ihren Angelpunkt in dem Unterschiede der öffentlichen, esoterischen, von der persönlichen, innerlichen Sittlichkeit findet, und behauptet, dass jene zu immer reineren und umfassenderen Gestaltungen vorschreitet, während diese immer von vorn anfängt.

Das allgemeine Gewissen der Menschheit, die sozusagen offiziellen Ansprüche und Voraussetzungen in sittlicher Hinsicht erhöhten und veredelten sieh im Laufe der Geschichte; diesen Stand des allgemeinen Gewissens aber erreiche der Einzelne nicht, das Aufsteigen zu ihm, das Hineinbilden desselben in die eigene Persönlichkeit bleibe der Inhalt subjektiv sittlicher Idealbildung.

Hier liegt also ein Realismus des soziologischen Universale als theoretisch anerkannte Tatsache vor, während die ethische Aufgabe darin besteht, dies Universale zu einem in dem Individuellen, Lebendigen und Konkreten zu machen.

Ich begnüge mich mit diesen Beispielen, die nur zeigen sollen, eine wie grosse Anzahl von Lebensrichtungen und -gestaltungen sich aus der Verflechtung jener einfachen Motive ergibt, die theoretisch als Nominalismus und Realismus geformt sind.

Hierdurch erhält erst der kategorische Imperativ seine Stellung in der Geschichte der grundlegenden Gedanken der Menschheit.

Denn auch er ist nur einer der Versuche, zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen zu vermitteln, indem er das logische Verhältnis beider zum Prototyp ihres praktisch-sozialen macht; und weil er dies letztere bloss imperativisch, bloss als ethisches Ideal fasst, ermöglicht er es, zugleich doch auch andrerseits die Tatsächlichkeit des soziologischen Verhaltens als das Prototyp des logisch-metaphysischen Problems und seiner Lösungen anzusehen.

 

Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe

Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93

Vorworte

Band 1:
1. Kapitel: Das Sollen
2. Kapitel: Egoismus und Altruismus
3. Kapitel: Sittliches Verdienst und sittliche Schuld
4. Kapitel: Die Glückseligkeit

Band 2:
5. Kapitel: Der kategorische Imperativ
6. Kapitel: Die Freiheit
7. Kapitel: Einheit und Widerstreit der Zwecke

 


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
Andreasstr. 15 
8050 Zürich 
Tel. ++41 55 2444012