Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
presents: Georg Simmel Online

  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online G.Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft

 

Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe

Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93

Band 1: Zweites Kapitel: Egoismus und Altruismus (S. 85-210)

Der »natürlichere« Charakter des Egoismus gegenüber dem Altruismus

Tatsächlichkeit seiner Herrschaft; zeitliches Verhältnis zum Altruismus

Methodologische Schätzungen des Egoismusprinzips

Der Egoismus in der Natur - seine ethische Bedeutung

Der logisch-erkenntnistheoretische Beweis des Egoismus als tatsächlichen Motives

Leerheit des Egoismusbegriffs

Moralprinzip des Willensmaximums

Das Verhältnis von Egoismus und Altruismus als bewusster Triebfedern

Die Alternative zwischen ihnen; Mischungen und Übergänge; die objektiven Ziele

Das Ich und seine Inhalte

Die Pflichten gegen sich selbst

Allgemeinster Gesichtspunkt für das Verhalten des Einzelnen zu einer Gesamtheit

Sittlichkeit als Sozialegoismus

Die Selbsterhaltung; das Moralprinzip des Lebensmaximums

Die Ehre

(< 85) Moralphilosophische Betrachtungen pflegen damit zu beginnen, dass der natürliche Ausgangspunkt menschlichen Handelns der Egoismus ist: Im Anfang war das Ich; und nicht nur zeitlich habe in der Entwicklung der Menschheit und des Menschen der Egoismus den Vortritt vor dem Altruismus, sondern er habe ihn, weil er sachlich das Primäre, der natürlichste und ursprünglichste Trieb alles Lebenden sei.

Nur wie die Kunst zur Natur; die veredelte Frucht zur wildwachsenden, so verhalte sich die altruistische Gesinnung zur egoistischen.

Diese sei der natürliche Mittelpunkt unserer Handlungen, um den sie sich sozusagen von selbst bewegen, während es immer einer besonderen Kraft bedürfe, um sie aus dieser Bahn heraus in die des Altruismus zu lenken, aus der sie dann wieder in jene zurückfallen, sobald die besondere Einwirkung und Modifizierung aufgehört hat - wie die Schwere sofort wieder den irdischen Körper abwärts zieht, sobald ihm die Stütze entzogen ist, die ihre Erscheinung zeitweise aufhob. (<86)

Es gibt nur wenige Begriffe, mit denen soviel Missbrauch getrieben, so viel Scheinerkenntnis hervorgerufen ist wie mit dem des »Natürlichen«.

Kein Mensch weiss zu bestimmen, was damit eigentlich gesagt werden soll, dass der Egoismus ein natürlicher Trieb und der Altruismus etwas anderes ist.

Entweder man stelle das Bewusstsein samt allen seinen Inhalten der Natur als dem unbewussten Sein gegenüber, alles vom Zweck geleitete Geschehen dem bloss mechanischen Lauf der Dinge, dann gehört auch das egoistische Wollen nicht in die blosse »Natur« hinein; oder man betrachte die Natur als den Inbegriff aller erkennbaren Erscheinungen - dann gehört die Aufopferung des Egoismus ganz ebenso zu ihr wie seine Durchführung.

Aber mitten durch den menschlichen Willen eine metaphysische Grenzlinie zu legen, die seinen Erscheinungen ganz verschiedenartige Provenienzen aufdrängt, ist völlig inkonsequent und willkürlich.

Es können, so viel ich sehe, nur zweierlei Gesichtspunkte sein, unter denen der Egoismus als der natürliche Trieb gegenüber dem Altruismus erscheint.

Zunächst die Tatsache seiner weiteren Verbreitung.

Wir sind gewöhnt, das Typische, überall Auftretende und die Erscheinungen im allgemeinen Beherrschende als das natürliche Fundament des betreffenden Gebiets anzusehen, über das das Seltenere, Individuelle, nur in besonderer Formung und Aufgipfelung der Kräfte sich Darstellende erst als sekundäres Gebilde hinauswächst.

Aber wir wissen nicht etwa von vornherein, was der Begriff des Natürlichen bedeutet, so dass die Häufigkeit und der durchgehende Charakter einer Erscheinung nur die ratio cognoscendi für ihn, nur die äusserliche Signatur wären, auf die hin wir ihr das Prädikat des Natürlichen zuerkennen; sondern dieses selbst hat an und für sich keinen bestimmten Inhalt und ist deshalb nichts als ein Name für die Eigenschaft des Durchgängigen, Allgemeinen, überall Bemerkbaren. (<87)

Im Denken wie im Empfinden, im Ethischen wie im Ästhetischen erwirbt das Verbreitete, Volksmässige, statistisch Überwiegende den Titel des Natürlichen, und da nun der Altruismus dem Egoismus gegenüber sehr in der Minorität zu bleiben scheint, erregt dieser die Vorstellung, der natürlichere Affekt zu sein.

Zieht sich die Frage so dahin zusammen, wie Egoismus und Altruismus sich quantitativ verhalten, so darf man nie vergessen, dass nur für die oberflächlichste Beobachtung die Tat unmittelbar der Herold ihrer Gesinnung ist.

Vielmehr ist diese immer Sache der Deutung und oft einer äusserst schwierigen.

Verhältnismässig einfach liegt der Fall noch da, wo bewusste Heuchelei die egoistische Absicht nur in die Form eines altruistischen Handelns kleidet; oder wo umgekehrt ein gewisses Mass von Egoismus zunächst aufgewendet werden muss, z. B. beim ökonomischen Erwerb, um die Mittel zu altruistischem Handeln zu gewinnen.

Sehr erschwert aber wird die Entscheidung, ob Egoismus oder Altruismus vorliegt, oft dadurch, dass das Bewusstsein des Handelnden selbst nicht die richtige Auskunft über seine Motive zu geben vermag.

Es gibt genug unklare Menschen, die in der Meinung, dass Güte eine Schwäche sei, egoistisch zu handeln glauben, während sie unbewusst von lauter Motiven der Gutmütigkeit und des Altruismus bestimmt werden; andere, die um ihren fundamentalen Egoismus nicht nur vor andern, sondern auch vor sich selbst zu verbergen, ihm auf altruistischen Umwegen genügen oder der Selbstsucht allerdings entsagen, aber nur wo und weil sie von den unvermeidlichen Gewissensschmerzen ein grösseres Leid befürchten als ihnen die egoistische Handlung Freude bereitet, so dass das Motiv doch wieder Egoismus ist.

Noch komplizierter liegen die Sachen, wenn die soziale Gruppe Formen für das egoistische wie für das altruistische Handeln geschaffen hat, in welchen jegliche Gesinnung sich notwendigerweise bewegen muss und die dann ihrerseits wieder auf die Gesinnung zurückwirken. (<88)

Die Festsetzungen des Rechts, der Sitte, der Verkehrsformen jeder Art, die die Allgemeinheit zu ihrem Nutzen, d. h. im sittlichen, der individuellen Selbstsucht entgegengesetzten Interesse geprägt hat, erstrecken sich schliesslich soweit in alle Lebensverhältnisse des Einzelnen hinein, dass er in jedem Augenblick von ihnen Gebrauch machen muss.

Je ausgedehnter und mannigfaltiger meine Beziehungen zu anderen Menschen sind, desto häufiger bin ich genötigt, um meines Vorteils willen für den ihrigen in der Form der Assoziation wie der Zuwendung zu sorgen.

Je grösser die Kreise sind, in denen der Einzelne steht, ein desto kleinerer Teil jedes derselben kann er nur sein, desto weniger kann er unmittelbar egoistisch verfahren, sondern muss seine eigene Förderung von der der Personen und Kreise erwarten, mit denen er zusammengeschlossen ist.

Hierin liegt die wichtige Erkenntnis, dass die blosse quantitative Ausdehnung der Beziehungen, Interessen, Verbindungen rein als solche schon ein Hebel der Sittlichkeit, über den Egoismus hinweg, wird.

Auch die egoistischsten Absichten können nicht anders verwirklicht werden als in den Formen, die sozial vorgeschrieben sind und die ihrer Tendenz nach allerdings jenen Absichten sehr entgegengesetzt sind; ich erwähne den Gebrauch rechtlicher Formen bei betrügerischen Transaktionen, die äussere Höflichkeit bei innerer Schurkerei u. ä. 

Es ist die Aufgabe der Kultur, die Formen des Verkehrs, deren sich ein jeder zur Erreichung seiner Zwecke bedienen muss, mehr und mehr so zu bilden, dass sie der Aufnahme eines unsittlichen Inhalts widerstreben; und es ist unvermeidlich, dass, je mehr diese Formen auch über den Inhalt des persönlichen Handelns Macht gewinnen, der Egoismus desselben von dem Altruismus, der in jenen liegt, gekreuzt wird, so dass es schliesslich sehr schwer zu entscheiden sein dürfte, ob die loyale Handlung nur als Mittel zum egoistischen Zweck oder aus selbständigem sittlichem Interesse entsprungen sei. (<89)

Wo der Einzelne unter die Forderungen des Rechts und der Sitte sich beugt, findet auf höheren Kulturstufen eine meistens wohl kaum entwirrbare Mischung von Eigeninteresse, das mit der Verletzung jener Formen sich selbst beeinträchtigen würde, und von verselbstständigtem, sittlich-altruistischem Interesse statt.

Man muss immer im Auge behalten, dass die Arbeit für das eigene Glück dieses nicht unmittelbar bereitet; dass sie vielmehr in der Bearbeitung äusserer und hauptsächlich menschlicher Objekte besteht, welche dann erst auf uns lustweckend zurückwirken.

Mag der Endzweck noch so sehr ein persönlicher sein - zu den Mitteln müssen wir uns aus uns selbst entfernen.

Es bedarf des Umweges über objektive Verhältnisse, an die wir uns hingeben, die wir kennen lernen und bearbeiten müssen, damit endlich durch viele Zwischenglieder hindurch ihre Wirkung in uns die Reaktion der Freude auslöse.

Da der Mensch aber, namentlich je höher die Kultur steigt, mehr und mehr nach lebhaften Interessen als solchen strebt, da diese Kultur die definitiven Ziele ferner und ferner an den Horizont des Bewusstseins und schliesslich hinter ihn rückt, so wird sich das Interesse auch des Egoisten mehr und mehr an die objektiven Verhältnisse heften, mit denen er immerwährend zu tun hat.

Die Lebensbedingungen der Menschheit werden allmählich so kompliziert, der Kampf ums Dasein so immer mehr zum Kampf um die Mittel zum Dasein, dass alle Interessen gar nicht mehr der definitiven Lust und Schmerz, sondern ihren Bedingungen und den Bedingungen ihrer Bedingungen gelten.

Die Ausbildung des teleologischen Apparats überdeckt und verschlingt den Endzweck; aber eben dadurch erheben wir uns über das persönliche Interesse, das diesen ausmachte, zu den objektiven Interessen, die sich an die Mittel zu ihm heften.

Indem freilich ebendieselbe Kulturhöhe den Kreis erweitert, in dem der Kampf ums Dasein spielt, und die Ansprüche steigert, die das Leben an uns und die wir an das Leben stellen, werden persönlich altruistische Verhältnisse oft durch die Schwierigkeit der Selbsterhaltung gekreuzt; die langen und verwickelten Wege, auf denen man überhaupt zu den Mitteln der Bewährung altruistischer Gesinnung gelangt, fordern die Aufmerksamkeit so für sich, dass schliesslich selbst da, wo die letztere Gesinnung den Ausgangspunkt bildet, das Bewusstsein sich an egoistische Maximen anpassen muss und so auch von dieser Seite eine Sonderung des Egoismus vom Altruismus oft undurchführbar sein dürfte. (<90)

Diese Bemerkungen sollen nur die Schwierigkeit des Problems: wie weit der Egoismus unserer Handlungen den Altruismus überwiegt, beleuchten und mit ihr die Unberechtigung der Vorstellung, dass der Egoismus das natürliche Fundament unseres Handelns ist, insoweit sie auf die tatsächliche Herrschaft des Egoismus gegründet ist.

Es ist nun allerdings kein Zweifel, dass, wenn einmal unser Handeln auf ein einheitliches Prinzip zurückgeführt werden soll, ganz allein der Egoismus dazu taugt.

Da Gesinnungen immer nur erschlossen, nie unmittelbar konstatiert werden können, so hat Sophistik und psychologische Willkürlichkeit zwar nach beiden Seiten hin freies Spiel; allein tatsächlich scheitert der Versuch einer monistischen Zurückführung alles Handelns viel eher, wenn er nach der altruistischen als wenn er nach der egoistischen Seite hin unternommen wird.

Kein Mensch hat je etwas getan, was sich nicht mit längeren oder kürzeren Umwegen auf egoistische Motive bringen liesse, während die altruistische Auslegung selbst bei dem gutwilligsten Vorurteil an einer Reihe von Fällen halt machen muss.

Diese Möglichkeit einer durchgehenden Reduktion des Handelns auf Egoismus wird, weil sie den kraftsparenden Trieb nach Einheitlichkeit des Vorstellens befriedigt, leicht zu dem Glauben auswachsen, dass der Egoismus auch wirklich allen Handlungen zum Grunde läge.

Die Vorstellung, zu einem Verständnis des Lebens nur durch Vereinheitlichung seiner Triebfedern zu gelangen, bedroht ethische Deduktionen freilich nicht selten mit dem Zirkel, den Egoismus als eine Art von Altruismus und den Altruismus als eine Art von Egoismus zu erklären, während doch gerade ihr Charakter als unmittelbar bewusste ethische (<91) Affekte darauf beruht, dass sie nicht aufeinander zurückführbar sind, dass eines nur in der Ausschliessung des andern sein Wesen hat.

Das Egoismusprinzip hat überhaupt als Erklärung wie als praktische Norm etwas sehr Verstandesmässiges und rational Einleuchtendes.

Deshalb herrscht da, wo das Recht vorwiegend logischen und rationalistischen Charakters ist, die Vorliebe, den Kollektivbesitz der Körperschaften zu negieren und nur das persönliche Sondereigentum, den Egoismus in Substanz, anzuerkennen.

Im modernen Italien ist diese Tendenz sehr sichtbar; die Reduktion aller Rechtsverhältnisse auf die klaren, logischen Bestimmungen des römischen Rechts hat zur Folge, dass man sich gegen die Vorteile des noch vielfach vorhandenen Gemeindebesitzes blind macht, der freilich nicht mit so rationalen, durchsichtigen Kategorien behandelt werden kann wie jenes.

Der zweite Gesichtspunkt, von dem aus der Egoismus als die natürliche Triebfeder erscheinen kann, ist sein zeitlich früheres Hervortreten dem Altruismus gegenüber.

Nicht nur die seltenere, sondern auch die spätere Erscheinung sei dieser, erst zugleich mit der Entwicklung der höheren Funktionen des menschlichen Gemüts erhebe er sich und wachse langsam mit fortschreitender Vervollkommnung unseres Wesens.

Und zwar gelte dies ebenso für den Einzelnen wie für die Gattung; das Kind folgt wie das Tier nur seinen selbstischen Antrieben und kennt im allgemeinen keine Rücksicht auf Andere und keinen Verzicht um ihretwillen; und das sei die Verfassung, die im Kindesalter des Menschengeschlechts als Krieg aller gegen alle die herrschende sei.

Über die Wahrheit dieser Behauptung kann man streiten.

Der Egoismus in dem Sinn, mit dem wir in der Ethik zu tun haben, kann erst auftreten, wenn irgend eine menschliche Gesellschaft existiert.

Von dem präsozialen Menschen können wir uns keine bestimmtere Vorstellung machen.

Es müssen ihm so wesentliche Eigenschaften gefehlt haben, dass die Anwendung des gleichen Namens für ihn von zweifelhafter Berechtigung ist. (<92)

In Gesellschaft aber kann der Mensch nur leben, wenn er schon seinem Egoismus Einhalt getan und mehr oder weniger für andere zu leben gelernt hat.

Nun mögen im Ideale höchster Kultur alle Zustände so geordnet sein, dass die Beiträge, welche der Einzelne zum Bestehen der Gesellschaft liefert, ihm schliesslich selber zu gute kommen und aller Altruismus sich als blosses Mittel des Egoismus herausstellt; primitive Zustände aber sind von dieser Versöhnung entschieden sehr weit entfernt; je härter und namentlich je unorganisierter der Kampf gegen die Natur und gegen feindliche Gruppen noch ist, um so häufiger wird das Bestehen des Ganzen die Aufopferung des Einzelnen verlangen.

Damit überhaupt die Zustände sich bilden können, in denen der Mensch als solcher existieren und seinen Egoismus entfalten kann, muss ein gewisses Mass von Altruismus schon vorhanden sein, ganz ebenso wie intellektuell ein Bewusstsein des Ich erst durch Abscheidung und Gegensatz gegen Andere entstehen konnte.

Auch hören wir fast durchgehendes von mehr oder weniger kommunistischen Zuständen bei sehr primitiven sozialen Gruppen.

Und wenn diese auch nicht aus einer unmittelbar altruistischen Gesinnung in unserm Sinn, sondern aus einer einfachen sozialen Notwendigkeit hervorgehen, so beweisen sie doch jedenfalls, dass ein unbedingtes Durchsetzen der selbstsüchtigen Bestrebung um jeden Preis sich für die frühesten Zustände des Menschengeschlechts nicht nachweisen lässt.

Wenn man übrigens die Tatsache, dass reale Zustände früherer Zeiten sich als Triebe auf die späteren Generationen vererben und zwar insbesondere dann als solche bewusst werden, wenn die Verhältnisse ihnen nicht mehr selbstverständliche und unbedingte Verwirklichung gestatten - wenn man diese Tatsache für das vorliegende Problem verwerten will, so könnte man annehmen, dass der spezifische Altruismus in unserem Sinne ein von jenem ursprünglich kommunistischen Zustande her vererbter Instinkt ist, der durch die Reibung mit dem inzwischen gross gewordenen Egoismus bewusst (<93) wird und erst in diesem Gegensatz seinen eigentlichen Sinn erhält.

Andererseits darf freilich nicht übersehen werden, dass nach sprachlichen und sonstigen Zeugnissen derjenige Wert, den wir dem sittlich Ausgezeichneten zusprechen, sich in früheren Kulturen an den Mächtigen, Reichen, Glücklichen heftete.

Die Worte für sittliche Qualitäten bezeichnen durchgehendes ursprünglich das physisch Gute und Schlechte.

Noch in der buddhistischen Moral ist der Sittliche ganz allein der, der sein eigenes Heil, das irdische wie das der Erlösung zu erreichen weiss.

Im Englischen bedeutete das Wort villain ehemals einen Leibeigenen, das Wort noble eine sozial hochstehende Persönlichkeit, daraus ist für jenes die Bedeutung eines schlechten, für dieses die eines guten Charakters geworden.

Der Unterworfene erschien als Schlechter und mit gewissem Rechte, insofern die kriegerische Tugend, in welcher er zurückstand, früher den wesentlichen Inhalt des sozialen und also sittlichen Verdienstes bildete; und eben weil er als Schlechter erschien, gewann seine Unterdrückung einen moralischen Rechtstitel, der noch vorhielt, als jene Schätzung längst nicht mehr die allein gültige war.

Gedrücktheit der sozialen Stellung und Unsittlichkeit stehen tatsächlich in Wechselwirkung, namentlich dann, wenn die erstere ein Pariatum ist, derart, dass sie als Erniedrigung empfunden wird, weil gewisse Elemente da sind, welche eine höhere Stellung rechtfertigten; es wirkt hier ein gewisses Gefühl der Rache gegen die Gesellschaft, die die Ausstossung vollzogen hat, zusammen mit dem Wunsche, diese Vogelfreiheit nun wenigstens zu solchen Vorteilen und Freuden zu benutzen, auf welche die Mitglieder der »Gesellschaft« verzichten müssen.

Die sittliche Anrüchigkeit des Schauspielertums, die dies belegt, bessert sich eben deshalb auch in Wechselwirkung mit der sozialen Stellung der Schauspieler.

Von ähnlichen Gesichtspunkten aus verstehen wir, wie der persönlich Bevorzugte, egoistisch Glückliche zu sozial-ethischer Wertschätzung gelangen (<94) konnte.

Für die Allgemeinheit war die Existenz von Einzelnen, die sich in glücklicher und behaglicher Lage befanden, vorteilhaft.

Der Arme, Unglückliche war der Allgemeinheit zur Last; ferner, die Reichen und Mächtigen bildeten die sittlichen Begriffe nach ihrem Belieben und nach ihrem Bilde.

Die Schmeichelei und der Vorteil der andern ebenso wie ihre eigene Macht erhoben ihr Sein und Tun auch zu dem normalen und seinsollenden; endlich hat sich wohl aus der allgemeinen Vorstellung des Seinsollenden, Erstrebenswerten noch nicht genügend dasjenige, was in egoistischer Hinsicht sein soll, von dem differenziert, was in altruistischer sein soll, an beide knüpft sich die gemeinsame Vorstellung des Wertvollen.

In demselben Masse nun, in dem die absolute Herrschaft des Starken über die Schwachen gebrochen wurde und der tatsächliche Einfluss der breiten Massen die Ausgleichung der Glücksgegensätze zur sittlichen Aufgabe emporhob, in demselben musste auch die ursprüngliche Konfundierung des Glücklichen mit dem sittlich Wertvollen verschwinden, die der egoistischen Bestrebung eine sittliche Rechtfertigung zu leihen schien.

Gleichviel indes, welches das zeitliche Verhältnis zwischen dem Hervortreten des Egoismus und des Altruismus ist, in jedem Fall ist die Denkweise ungerechtfertigt, die auf eine frühere Entwicklung jenes hin ihm das Prädikat grösserer Natürlichkeit zusprechen will.

Wenn man den Altruismus für einen weniger natürlichen Trieb hält als den Egoismus, weil er sich später einstellt, so muss man ebenso den Geschlechtstrieb für einen weniger natürlichen halten als den Hunger, weil er sich erst im zweiten Jahrzehnt des Lebens, dieser aber schon an seinem ersten Tage einstellt; oder den Wuchs des Bartes für weniger natürlich als den des Haupthaares.

Die ganze Denkgewohnheit, die das Ältere, Primitivere in ein besonders nahes Verhältnis zur »Natur« setzt und ihm darauf hin gewisse Qualitäten zuspricht, ist völlig verkehrt und missverständlich.

Scheiden wir zwischen der Natur und irgend (<95) einem Gegensatz zu ihr, mag er Kultur oder Sittlichkeit oder Zweckmässigkeit heissen, so sind freilich diese Zustände immer die zeitlich späteren; aber ganz ungerechtfertigt ist die Umkehrung davon, dass nun das zeitliche Verhältnis schon genügen soll, um dem Früheren den Charakterzug, mehr Natur zu sein, anzuheften und ihm daraufhin Licht- oder Schattenseiten zuzusprechen, die sich aus den Verhältnissen seines Inhalts an und für sich nicht ergeben.

In sehr verschiedener Weise hat der vorgeblich natürliche Charakter des Egoismus seine Beurteilung bestimmt.

Gerade weil er natürlich ist, müsse er überwunden werden; das Frühere sei stets das Unzulänglichere und der rastlose Strom der Weltentwicklung dringe darauf, jeden gegebenen Zustand zu beseitigen und einen vollkommeneren an seine Stelle zu setzen, die Vernunft als die höhere Stufe über die Natur zu erheben.

Umgekehrt zieht der Egoismus doch gerade aus seiner Stellung als frühester und natürlichster Trieb einen Vorteil in der Beurteilung.

Nicht nur die resignierende Überlegung, dass die Natur doch schliesslich die reale Macht ausübt und aller entgegengesetzten Bemühung zum Trotz sich immer wieder geltend macht, lässt uns mit dem, was wir natürlich nennen, als mit einer gegebenen Tatsache rechnen, gegen die es so töricht ist kämpfen zu wollen wie gegen das Kausalgesetz; sondern, auch wertvoller und vorzüglicher erscheint uns dasjenige, dem wir den Namen des Natürlichen geben.

Wenn wir die Wesensart eines Menschen, die wissenschaftliche Erklärung einer Tatsache, die künstlerische Darstellung einer Person natürlich nennen, so sprechen wir damit ein Lob aus; ja in Epochen, wo die Schattenseiten einer falsch gerichteten Kultur sich sehr fühlbar machen, genügt die blosse Vorstellung der Natürlichkeit eines Verhältnisses, um es wertvoll erscheinen zu lassen, wie es bei Rousseau, den Physiokraten und schon wieder in manchen modernen Kreisen der Fall ist.

Darum haben volkswirtschaftliche Schulen, deren Parole die Entfesselung des Egoismus ist, sich auch immer auf (<96) den natürlichen Charakter dieses Triebes berufen und ihr Prinzip schon durch diese seine Eigenschaft für gerechtfertigt erachtet.

Im Ganzen ist das Verhältnis einfach dies, dass dasjenige, was aus gewissen sachlichen Gründen vorgezogen wird und wertvoller erscheint, den Ehrentitel des Natürlichen erhält, der, an sich ganz inhaltlos und unbestimmt, mehr ein Ausdruck für anderweitig festgestellten Wert als der Grund eines solchen ist.

Darum bezeichnet jede Schule ihre Grundsätze in theoretischer, praktischer, ästhetischer Beziehung als die natürlichen, so dass dieser Ausdruck das Schicksal des Vernünftigen, Harmonischen und mancher anderer teilt, die vorgeblich objektive Eigenschaften von Dingen und Gedanken bedeuten, welche dann durch den Besitz eben jener einen bestimmten Wert erhielten, während es tatsächlich nur analytische Bezeichnungen sind, mit denen man den Vorzug ausdrückt, den andere, oft völlig einander entgegengesetzte Motive den Dingen verleihen.

Schon deshalb können wir das Natürliche nicht zugleich als ideale Norm annehmen, weil die Natur, an unseren Ideen gemessen, keineswegs einheitlich und widerspruchslos ist.

Alle Maximen, mit denen man das Naturgeschehen zu charakterisieren glaubt, z. B. dass die Natur stets den kürzesten Weg geht, dass sie keinen Sprung macht u. a., lassen sich ebensogut umkehren.

Sogar im Triebleben der Tiere widerspricht die Natur sich selbst. Neben den mächtigen Trieb der Mutterliebe pflanzt sie den Wandertrieb, der jenen im Konfliktfalle so überwindet, dass die Schwalben oft im späten Herbst ihre zarten jungen verlassen und sie elend in ihren Nestern umkommen lassen.

Die Mannigfaltigkeit der Lebensbedürfnisse und -bedingungen führt sogar in der natürlichen und sexuellen Zuchtwahl dazu, eine zweifellos nutzbare Eigenschaft in ihrer Ausbildung niederzuhalten, weil sie anderweitig schädlich ist; oder diese Ausbildung erfolgt doch, zieht dann aber auch die schädlichen Folgen nach sich.

Auch die Vorteile der Gattung haben oft einen Kampf ums Dasein mit einander zu bestehen, insofern sie nicht neben einander bestehen (<97) können.

Die geschlechtliche Zuchtwahl hat es z. B. bewirkt, dass bei vielen Tieren die Männchen grösser, entwickeltet und variabler sind als die Weibchen; aber dies gerade ist der Grund, weshalb wenigstens beim Menschen so viel mehr männliche als weibliche Kinder bei und kurz nach der Geburt verunglücken.

Die glänzenden Farben vieler Vögel, die sie durch das gleiche Prinzip erlangt haben, machen sie andrerseits ihren Feinden kenntlicher und der Nutzen derselben konkurriert mit dem Nutzen möglichster Unscheinbarkeit.

So nützlich die monogamische Treue in vieler Hinsicht für die Art ist, so ist andrerseits nicht zu leugnen, dass die jährlich erneute Auswahl der schönsten und tüchtigsten Männchen oder Weibchen eine bessere Nachkommenschaft wahrscheinlich macht als das lebenslängliche Zusammenbleiben der Paare, welches auch den im Laufe der Zeit heruntergekommenen Exemplaren die Möglichkeit der Fortpflanzung gewährt.

Nach den Zielen und Prinzipien betrachtet, die wir der Natur unterlegen, sind ihre Wege unzählige Male rückläufig und verneinen dasjenige, was sie eben mit allen Mitteln zu bejahen schienen.

Wenn wir irgend einen bestimmten Zweck, Handlungsweise oder Grundsatz als natürlich bezeichnen, so lösen wir damit einen Faden aus dem unendlichen Gewebe der Wirklichkeit herausl der in dieser von andern, entgegengesetzt gerichteten, durchkreuzt und von seiner ursprünglichen Richtung abgebogen wird.

Einheitliche Ideen und Normen, die den Charakter des Zwecks tragen, sind der Natur gegenüber immer einseitig und halbwahr, weil sie, nicht in ihr selbst liegend, vom anthropomorphen Standpunkt aufgenommene Abstraktionen aus ihr sind; so kann es geschehen, dass uns die Ordnungen der Natur der menschlichen Technik gegenüber einerseits unendlich überlegen erscheinen, andrerseits sehr unvollkommen und ungeschickt - wie in der Vergeudung von Keimen, teilweise in der Einrichtung des Auges, in der Notwendigkeit des Schmerzes zur Lebenserhaltung; und wir kommen deshalb weder dadurch, dass wir das Natürliche zugleich als Moralprinzip (<98) meinen anerkennen zu müssen, noch dadurch, dass wir gerade in dem Gegensatz zum Natürlichen und in seiner Verneinung die eigentlich sittliche Aufgabe erblicken, zu einem widerspruchslosen und einheitlichen Inhalte der letzteren.

Denn das muss hier nochmals hervorgehoben werden, dass der Gegensatz zwischen der Natur und der Vernunft - derart, dass die erstere dem Egoismus, die letztere der Sittlichkeit entspräche - absolut nicht diejenige Aufklärung bringt, die die bisherige Ethik fast durchgehendes von ihm erwartet.

Für vernunftbegabte Wesen ist die Vernünftigkeit eben der natürliche Zustand und das wird auch vom Sprachgebrauch anerkannt, indem Taten eines ungeheuren Egoismus, die einen Rückfall in die vorvernünftige Stufe der Menschheitsentwicklung einschliessen, unnatürlich heissen.

Der obige Gegensatz pflegt genauer als der zwischen Sinnlichkeit und Vernunft bezeichnet zu werden; die Sinnlichkeit ist dabei das psychologische Vehikel egoistischer Unsittlichkeit und die Vernunft das der altruistischen Sittlichkeit.

Nun zeigt aber eine vorurteilslose Überlegung sofort, dass hier zwischen der vorgeblichen Ursache und der Folge gar keine Beziehung besteht.

Bezüglich der Vernunft steht die Sache so.

Die Vernunft in theoretischer Hinsicht ist der Bestimmungsgrund einer gewissen Form des Denkens; geben wir für den Augenblick zu, dass sie ein »Seelenvermögen« ist, so ist sie ein solches, das mit einem gegebenen Material gewisse Umformungen, Steigerungen, Kombinationen vornimmt; sie bildet aus einzelnen Erfahrungen allgemeine Sätze, aus relativen Begriffen absolute Ideale, aus auseinanderliegenden Wahrheiten neue Schlüsse usw. In diesem Sinne hat der sittliche Wille unbedingt nichts mit der Vernunft zu tun und die Kantische Behauptung, dass er praktische Vernunft sei und dass es »schliesslich eine und dieselbe Vernunft« sei, die im Erkennen und im Praktischen wirke, war der Ausdruck und ist noch die Ursache unzähliger Unklarheiten und Irrtümer.

Ich kann absolut nicht einsehen, was die Willenstat, meinen Vorteil für den eines Andern (<99) oder einer Gesamtheit aufzugeben, mit dem Vermögen, aus gewissen Prämissen einen Schluss zu ziehen, gemeinsam hat, es sei denn, dass man den Begriff der ihnen gemeinsamen Vernunft zu dem des Bewusstseins oder der Seele überhaupt erweitere, wobei dann aber jeder spezifische Sinn jener Verbindung fortfällt.

Sie kann also nur in der umgekehrten Richtung zustande kommen: gewisse Willenstaten, deren Ursprung an ganz anderen Punkten zu suchen ist, erhalten nachträglich den Ehrentitel des Vernünftigen.

Dass die Vernunft so zum praktischen Ideal wurde, ist ein typischer Vorgang.

Es ist nämlich häufig, dass das psychologische Vehikel, die psychologische Bedingung der Erkenntnis für den objektiven Inhalt derselben und die mit dieser Erkenntnis verbundene Idealbildung eine unverhältnismässige Bedeutung gewinnt.

Ich wähle zunächst einige Beispiele aus nicht philosophischen Gedankenkreisen.

Man hat bemerkt, das Charakteristische in der Denkart von Adam Smith sei mehr ein gewisses Sich-Überlassen dem Zuge einmal ergriffener Ideen als ein gestaltendes Eingreifen in den Ablauf derselben und zur Beseitigung der hervortretenden Widersprüche; indem er so die Natur seines Vorstellens einfach in sich walten liess, sei er sogar in der wissenschaftlichen Arbeit seinem objektiven Prinzip, dem laisser aller, anheimgefallen.

Für Ibsen ist die Wahrheit formales künstlerisches Prinzip, alleiniges Vehikel der ästhetischen Darstellung, und zugleich nun materiales Prinzip, höchster ethischer Gesichtspunkt, um den sich seine Probleme fast durchgehend drehen.

Eine starke Selbstbeobachtung pflegt auch starke Selbstschätzung mit sich zu führen und wo das subjektive Gefühl auf die Ausbildung der Weltanschauung von wesentlichem Einfluss war, da wird es auch in dem objektiven Weltbild eine wichtige Rolle spielen.

Bei den Philosophen ist es zunächst die Ruhe und die Ungestörtheit den Bewegungen der Welt gegenüber, die die subjektive Bedingung ihrer Denktätigkeit ist und dann so oft zu ihrem objektiven Ideale auswächst.

Die Zurückgezogenheit, die Ataraxie, (<100) die Gleichgültigkeit gegen subjektive Vorgänge gewinnen für den Denkinhalt des Weisen eine erhebliche Bedeutung, weil sie die Voraussetzung seines Denkens als psychischer Tatsache sind.

Und das Gleiche gilt nun von der vernunftmässigen Geistesbetätigung und zwar in doppelter Hinsicht.

Naturen, die sich besonders im reinen, vernunftmässigen Denken bewegen, sind geneigt, einerseits das theoretische Ideal als das höchste Unter allen Idealen überhaupt und sogar als objektives Weltprinzip anzusehen, andrerseits jedes sonst gewonnene Ideal unter den Vernunftbegriff einzureihen und so die psychologische Bedingung der ethischen Reflexion zum objektiven Massstab ihrer Inhalte werden zu lassen.

Indem Sokrates in Übereinstimmung mit den Sophisten davon ausging, dass es zur Tugend eines begrifflichen Wissens als Mittels bedürfe, wird ihm dies unter der Hand zu dem Satz, die Tugend sei selbst ein Wissen.

Das vernunftmässige Erkennen ist für Spinoza das Mittel, das uns zum Höchsten führt; aber dieses Höchste selbst ist nun wieder nichts als eben die vernünftige Erkenntnis selbst.

Weil für Kant die Vernunft es ist, die das Übersinnliche erkennt, darum soll sie selbst ein übersinnliches Objekt sein; ihr erkenntnisstheoretisches Verhältnis zum Dinge an sich lässt sie selbst zu dem metaphysischen Charakter eines solchen aufsteigen.

Der Endzweck der Natur, so drückt er sich einmal aus, kann und muss, weil die Idee davon nur in der Vernunft liegt, selbst seiner objektiven Möglichkeit nach nur in vernünftigen Wesen gefunden werden.

Und so liegt für alle diese Denker das ethische Ideal in der Seelenkraft, welche seine wissenschaftliche Erkenntnis bedingte, in der Vernunft.

Weil diejenigen Menschen, von denen die ethischen Formulierungen, das Zusammenfassen der sittlichen Instinkte in Begriffsnormen ausging, unter ihren geistigen Fähigkeiten wesentlich die sogenannte Vernunft ausgebildet hatten und derselben zu jener ethischen Begriffsbildung bedurften, schien sie auch zu dem Inhalt des Sittlichen eine besondere Beziehung zu haben.

An und für sich (<101) ist, wie gesagt, nicht einzusehen, wieso ein egoistisches Leben unvernünftiger sein soll als ein sittliches.

Das wäre nur der Fall, wenn etwa ein bestimmter Endzweck schon gesetzt wäre und nun der Egoismus ein schlechteres Mittel zu seiner Erreichung wäre als der Altruismus; denn das Ergreifen eines falschen Mittels beweist allerdings einen Mangel an Vernunft als einem formalen Seelenvermögen.

Dass aber überhaupt ein Endzweck gesetzt wird und welcher, hat mit der Vernunft als Denkkraft gar nichts zu tun, wenngleich sie zu seiner begrifflichen Formulierung und zum Finden der Mittel für seine Durchführung gehören mag.

Von seiten der Vernunft als Denkkraft steht es fest, dass der Unsittliche sich zur Durchsetzung seiner Zwecke ganz ebenso vernünftiger Mittel bedient wie der Sittliche.

Statt dass also der Vernunftcharakter eines gewissen praktischen Verhaltens den Ursprung desselben bezeichnete, ist er vielmehr nur ein Wertbegriff, nichts als der Ausdruck einer gewissen Schätzung dieses Verhaltens.

Nachdem man sich schon darüber klar geworden ist, dass die Vernunft als Seelenvermögen eine blosse Hypostasierung, dass nicht erst sie ist und dann die einzelnen Seelenvorgänge aus ihr, sondern dass sie nur gewisse einander ähnliche psychische Prozesse nachträglich unter eine Bezeichnung fasst - nach alledem beharrt doch merkwürdiger Weise noch die ethische Schätzung der Vernunft, als wären die sittlichen Handlungen ihr Produkt: womit denn nicht nur jene alte psychologische Scheinerkenntnis wiederholt, sondern noch der parallele Fehler begangen wird, das Vernunftmässige für die positiv wertgebende Eigenschaft der Handlungen zu halten, während es seinem ursprünglichen Begriffe nach überhaupt weder mit positivem noch mit negativem Werte etwas zu tun hat und so nur der Name und die Hypostasierung von anderweitig empfundenen Werten ist.

Über die Beziehung der Sinnlichkeit zum Egoismus will ich nur folgendes bemerken.

Wenn die Erregung gewisser Sinnesempfindungen in mir den Endzweck meines Handelns bildet, über den ich nicht hinausfrage, so ist wohl kein (<102) Zweifel, dass ein solches Handeln egoistisch heissen darf.

Allein darum ist die Umkehrung noch nicht richtig, dass alles egoistische Handeln den Charakter der Sinnlichkeit trüge.

Kant hat richtig darauf aufmerksam gemacht, dass, wenn man einmal die eigene Lust zum Zweck des Handelns macht, das Mittel für sie an und für sich und abgesehen von seinen sonstigen Wirkungen sittlich gleichgültig wäre.

Ob man also in den groben Empfindungen der Sinne oder in den feineren Genüssen der Vernunft sein Vergnügen finde, mache prinzipiell keinen Unterschied.

Entsprechend könnte man nun sagen, dass, wenn man einmal egoistisch handelt, es gar keinen Unterschied macht, ob es die Sinnenlust oder irgend ein anderer Zustand meines Ich sei, in dem ich die grösste Befriedigung meines Egoismus erblicke.

Das Ich lebt doch in jeder beliebigen von meinen Energien, und es ist deshalb in dem Begriff dieses Ich kein Grund zu entdecken, weshalb das egoistische Handeln sich gerade nur auf den sinnlichen Teil der Seelenenergien beziehen sollte.

Kant hat doch auch in theoretischer Beziehung erkannt, dass die Sinne niemals irren, nicht weil sie immer richtig urteilen, sondern weil sie überhaupt nicht urteilen.

Ganz entsprechend hätte er sagen müssen, dass die Sinnlichkeit nicht unsittlich ist, nicht weil sie immer das Richtige will, sondern weil sie überhaupt nicht will.

Dass diese Erkenntnis hinter der Meinung zurücksteht, die in der Sinnlichkeit als solcher den Verderber der Sittlichkeit erblickt, ist im allgemeinen durch die Neigung veranlasst, die Vorgänge in uns zu substantialisieren und insbesondere das Unterliegen des Sittlichen in uns auf irgend eine überwältigende, relativ äusserliche Macht zu schieben.

Wie die Versuchung im Allgemeinen, so wird die Sinnlichkeit im Besonderen als eine ausserhalb des eigentlichen Ich gelegene Potenz vorgestellt, die sich partikularistisch durchzusetzen sucht und dies in dem Masse erreicht, in dem ihre für sich bestehende Kraft grösser ist als die der vernünftigen Seele; die leichter erkennbaren Beziehungen zum Körper, die die Sinnlichkeit (<103) anderen Seelenfunktionen gegenüber zeigt, erleichtern diese Abtrennung ihrer von dem Ich und ihre Entgegensetzung gegen dieses.

Hier aber tritt die Unsicherheit und Zweideutigkeit dieser allgemeinen Begriffe in ein helles Licht.

Während die Sinnlichkeit sonst in die Kategorie des Egoismus fällt und ein sinnlich bestimmter Mensch im Allgemeinen als unsittlich erscheint, bringt das Bedürfnis, das Unsittliche als eine äussere Macht aus uns herauszuprojizieren, es gerade dahin, die Sinnlichkeit als etwas ausserhalb der Seele Gelegenes und als eine Macht anzusehen, die das Ich angreift.

Das Doppelverhältnis, das der Begriff der Sinnlichkeit zu dem des Ich hat, und nach dem beide einmal völlig identifiziert und dann wieder völlig einander entgegengesetzt werden, bereitet schon die Erkenntnis vor, dass der Ichbegriff überhaupt keinen hinreichenden konkreten Inhalt hat, um dem Egoismusbegriff einen solchen zu verleihen.

Vielmehr unterliegen die einzelnen Handlungen unmittelbaren  Werturteilen, und die sittlich verurteilten werden dann nachträglich unter dem Namen des Egoismus zusammengefasst.

So füllt denn die Sinnlichkeit so wenig wie irgend eine andere psychische Funktion den Begriff der Selbstsucht aus, da auch ihr direktes Gegenteil als das eigentliche Ich des Menschen gilt.

Es liegt in der gleichen irrtümlichen Richtung, wenn man meint, mit der Zurückführung des Handelns auf Egoismus sei ein mechanisches Prinzip gewonnen, das in der praktischen Welt die gleiche Stellung einnehme wie Druck und Stoss in der physischen, während der Altruismus immer etwas von der Wirkung in die Ferne behalte.

Jenen glauben wir zu verstehen, dieser bleibt ein Wunder, ein Rätsel, zu dessen Lösung man die Erscheinungswelt durchbrechen und zu dem unsinnlichen Ding an sich unseres Wesens oder zu der metaphysischen Alleinheit alles Seienden meint greifen zu müssen.

In dem Kapitel über das Sollen ist nun ausgeführt, dass nur die Häufigkeit der in die Augen fallenden Erscheinungen von Druck und Stoss gegenüber denen der Fernwirkung jene (<104) für uns zum Urphänomen macht, welches, selbst keiner Erklärung weiter bedürftig, vielmehr allen anderen Erscheinungen die Möglichkeit der Erklärung durch Zurückführung auf sich gewähre.

So verhält es sich auch mit Egoismus und Altruismus; wäre letzterer so häufig, wie es tatsächlich jener ist, und umgekehrt, so würde der Egoismus eine besondere Erklärung zu fordern und sie gefunden zu haben scheinen, wenn auch er auf Altruismus zurückgeführt wäre.

Die Anpassung an das häufigste Phänomen lässt aus dem Prinzip der Kraftersparniss heraus dieses als das selbstverständliche, keine Erklärung mehr fordernde, erscheinen.

Haben wir aber den Egoismus einmal als fundamentale Tatsache, als einheitlich einziges Prinzip des Praktischen anerkannt, dann muss freilich dasjenige Handeln, das gerade in der Verneinung des Egoismus besteht, als metaphysisches Rätsel angesehen werden.

Steht es fest, dass alles Handeln nur insoweit verständlich erklärt ist, als es auf Egoismus zurückgeführt wird, wie es in der Kantischen Sittenlehre und in der populären Vorstellungsweise liegt, so ist damit die Aufgabe gegeben, allen Altruismus nur als Mittel zu egoistischem Zweck zu verstehen oder die Nötigung, ihn als ein Wunder hinzunehmen, das in den erklärbaren Lauf der Natur unerklärbar und aus einer anderen Ordnung stammend eingreift.

Aber darüber sei man sich klar, dass es nicht innere und sachliche Eigenschaften sind, auf Grund deren der Egoismus als das verständliche, der Altruismus als das wunderbare und transzendente Prinzip erscheint; sondern dass ganz allein, wenn und weil einmal der Egoismus dogmatisch als der allein verständliche Erklärungsgrund hingestellt ist, auf dem Altruismus jener Charakter des Unerklärlichen haften muss, der ihm an sich nicht in höherem Grade als dem Egoismus eignet.

Was die sachlich völlig ungerechtfertigte Vorstellung, der Egoismus sei ein mechanisches Prinzip für die Erklärung des Handelns, zu unterhalten geeignet ist, das ist die Tatsache, dass mechanische Weltanschauungen sich immer dazu neigten, (<105) den Egoismus als alleiniges praktisches Prinzip anzuerkennen.

Der Materialismus, der sich, gleichviel mit welcher Berechtigung, als das exakte Prinzip der Naturerklärung empfindet, hat in der Regel auch den Egoismus adoptiert und auch dadurch ihm den Anschein, als besitze er die Exaktheit eines mechanischen Prinzips, vermehren helfen.

Wieso indes das Handeln in der Richtung der eigenen Interessen diesem Prinzip sachlich mehr entspricht, als das in altruistischer Richtung, ist nicht einzusehen.

Gerade wenn man sich rein auf den Boden der Tatsachen stellt, so hindert nichts, auch den Altruismus als eine Tatsache anzusehen.

Wenn jede über die Wirklichkeit hinausgehende Norm verschmäht wird, so bleibt noch immer zu fragen, was denn in dieser Wirklichkeit sich findet, und die bloss formale und methodische Überzeugung, dass man mit nichts als dem augenblicklichen Belieben, der blossen Wirklichkeit des Wollens zu rechnen hat, gibt noch nicht die geringste Anweisung auf den Inhalt dieser Willkür und lässt dessen Bestimmung als Egoismus oder Altruismus noch völlig frei.

Und endlich kann auch nicht anerkannt werden, dass der Egoismus das »einfachste« Prinzip sei, auf das im methodischen Interesse eben um dieser Eigenschaft willen alle Handlungen zurückgeführt werden müssten.

Es ist ein vollkommener Irrtum, der allerdings durch den Glauben an das einfache Ich oder die einfache Seele nahegelegt wird, dass der Egoismus dem Altruismus gegenüber etwas einfaches sei.

Denn auf jenes metaphysische Wesen in uns richtet sich die Bestrebung des Egoisten keineswegs, vielmehr immer auf konkrete Zustände, Empfindungen, Geschehnisse.

Und nicht nur zeigen die subjektiven Gefühle und Erregungen, denen er nachgeht, so raffinierte Komplikationen, dass die Einheit des Ichbegriffs sie unmöglich decken kann, sondern auch die Technik des Egoismus, die auch ihm oft genug zum Endzweck auswächst, hängt in ihrer Einfachheit oder Nicht-Einfachheit genau wie die des Altruismus von den äusseren Umständen und dem (<106) Intellekt des Handelnden ab.

Wäre der Egoismus aber auch wirklich die einfachste Erklärung des Handelns, so ist damit noch lange nicht bewiesen, dass er auch die richtige sei.

Es ist auch eine von den grundfalschen prästabilierten Harmonien, dass die Wahrheit immer einfach sei.

Weder Newtons Principia, noch Kants Kritiken, noch Gauss' Disquisitiones arithmeticae sind »einfach«.

Dagegen gibt es nichts Einfacheres als die phlogistische Theorie Stahls; oder jene Formen der Entwicklungslehre, die alle Gestaltung der Organismen auf den direkten Einfluss der äusseren physikalisch-chemischen Lebensbedingungen schieben; oder die rohe Teleologie, die alle natürlichen Erscheinungen aus dem Nutzen für den Menschen, alle sozialen durch bewusste Übereinkünfte und Festsetzungen erklärt.

Die subjektive Kategorie Einfach und Kompliziert steht in gar keinem a priori zu fixierenden Verhältnis zu dem objektiven Wesen der Dinge, folgt vielmehr nur aus der Beschaffenheit und Ausbildung unseres Intellekts und dessen zufälligem Verhältnis zu den Dingen.

Man könnte höchstens von der Regel aus: principia praeter necessitatem non sunt augenda, und von der grösseren Häufigkeit und Unbezweifelbarkeit egoistischer Handlungen aus versuchen, den Egoismus als heuristisches Prinzip aufzustellen.

Man würde dann die Zurückführung aller Handlungen auf Egoismus als das vielleicht im Unendlichen liegende Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis ansehen und jede einzelne Handlung soweit wie es unserm Erkennen möglich ist, aus egoistischen Triebfedern herleiten.

Unter der Voraussetzung, dass der Egoismus überhaupt ein klares und konkretes Prinzip sei, wäre gegen diese Tendenz methodisch nichts einzuwenden.

Doch glaube ich, dass sie sachlich einen falschen Weg einschlägt.

Die Erklärung der Handlungen aus dem eigenen Vorteil des Individuums ist so naheliegend und so häufig geübt, dass mir angesichts vielfacher Resultatlosigkeit derselben der umgekehrte Versuch rätlicher erscheint; es ist sehr möglich, dass in vielen unserer Handlungen eine altruistische Zweckmässigkeit (<107) steckt, die dem Individuum nicht bewusst ist, aber erst den Schlüssel der Handlung an die Hand gibt - ungefähr in dem Sinn, den der Pessimismus vielfach ausgeführt hat: dass der Einzelne sehr vieles in Hoffnung auf individuelles Glück tut, das ihm indes nur durch eine List der Natur vorgespiegelt wird, die mit ihm und seinem Tun nur ihre Zwecke, resp. die Zwecke der Gattung erreichen will.

Namentlich die Handlungen, die nicht aus einer entschiedenen Alternative zwischen Egoismus und Altruismus hervorgegangen sind und die sich innerhalb sozial überlieferter Formen bewegen, haben diese ihre Form aus altruistischen, aber allmählich unbewusst gewordenen Zwecken erhalten.

Die Konzentrierung des Bewusstseins auf den engeren, vom Ich umschriebenen Kreis, sowie die Selbstverständlichkeit der sozialen Zweckmässigkeit mögen da, wo nicht stärkere Reibung zwischen Egoismus und Altruismus das Bewusstsein überhaupt schärft, Handlungen geschehen lassen, deren eigentlich altruistischen Charakter erst die wissenschaftliche Analyse zu entdecken vermag.

Die Richtung der psychologisch-historischen Wissenschaft und ihrer Erfolge geht jetzt im Ganzen dahin, im scheinbar Individuellen mehr und mehr den Ursprung aus der Allgemeinheit und die Richtung auf sie zu finden; vielleicht dürfte deshalb gerade die Herleitung des Handelns aus sozial-altruistischen Motiven als heuristisches Prinzip grosseren Erfolg versprechen.

Zum wenigsten muss sie neben der Zurückführung auf den Egoismus ebenso festgehalten werden, wie in der Naturerkenntnis die Maxime, dass zwischen je zwei Erscheinungen immer tiefere Ähnlichkeiten, ins Unendliche hin, zu entdecken sind, neben der, dass zwischen ihnen immer tiefere Unterschiede, bis zu einer nicht angebbaren Grenze, gefunden werden können.

Die Darwinsche Lehre vom Kampf ums Dasein hat zunächst der Vorstellung, dass der Egoismus das einzig Natürliche im Menschen sei, bedeutende Verstärkung gebracht.

Die unmittelbare logische Notwendigkeit des Kampfes zum (<108) Durchsetzen des eigenen Vorteils schien nun vor aller Augen zu liegen.

Allein es wurde so dasjenige, was Darwin als Tatsache voraussetzt, als ein analytischer, logisch erwiesener Satz angenommen.

Weshalb zwischen zwei Hungrigen, wenn nur Nahrung für einen vorhanden ist, ein Kampf eintritt und nicht ein friedliches Teilen oder ein freiwilliger Verzicht des einen, das können wir nicht weiter erklären.

Logisch notwendig ist der Kampf nicht, wie die wenigen Fälle zeigen, wo er unterbleibt.

Wir müssen dies im Auge behalten gegenüber Ansichten, welche den Kampf für selbstverständlich, für eine unmittelbare Folge des Triebes halten; das ist er nicht, sondern er ist die Folge einer besonderen Eigenschaft der tierischen Natur, welche durch Hunger und andere Begierden allerdings erregt wird, aber keineswegs mit ihnen identisch ist, so wenig wie überhaupt irgend ein Mittel zur Befriedigung eines Triebes selbstverständlich, analytisch, »rein logisch« ist, sondern stets erst erlernt, erworben, angezüchtet werden muss.

Abgesehen aber von dieser Frage der logischen Dignität des Egoismus erscheint er vom Darwinismus aus jedenfalls als das einzig exakte Prinzip für die Erklärung des Handelns.

Kommt alle Entwicklung der Arten nur so zustande, dass ein Individuum auf Grund seiner günstigeren Eigenschaften die Mitbewerber von den nicht für alle zureichenden Lebensbedingungen ausschliesst und so eine hervorragende Wirkung auf die nächste Generation gewinnt, indem es eine zahlreichere Nachkommenschaft als andere zu hinterlassen und jene Eigenschaften auf sie zu vererben imstande ist: so ist der Egoismus, das Durchsetzen des eigenen Lebens auf Kosten aller anderen, die rücksichtsloseste Unterdrückung des Konkurrenten, offenbar die Aegide des organischen Lebens überhaupt, und der Verzicht darauf würde es zu einer Entwicklung überhaupt nicht kommen lassen.

Und zwar ist das Bedenkliche nicht nur, dass der Egoismus damit als tatsächliche Triebfeder, sondern auch als Mittel zu demjenigen aufgezeigt wird, was wir als sittlichen Endzweck empfinden: zur Höherbildung der (<109) Gattung und zu ihrer Ausstattung mit immer günstigeren Eigenschaften.

Ist der Kampf der Individuen untereinander der alleinige Hebel organischer Entwicklung, so ist er ein Gesetz in dem doppelten Sinn: dessen, was ist, und dessen, was sein soll; und es erscheint vermessen, wenn der Mensch mit Negierung dieser Triebfeder den Zweck der Erhöhung seiner Gattung auf einem anderen Wege erreichen will, als ihn die Natur mit offenbarem Erfolge eingeschlagen hat.

Nun muss freilich vor allem die Vorstellung abgewehrt werden, als predigte der Darwinismus das Evangelium der rohen Kraft, als sei der unmittelbare Egoismus, der nur auf Steigerung der individuellen Überlegenheit ins Unendliche zielt, für ihn das eigentliche und einzige Mittel der Vervollkommnung der Arten.

Darwin hebt selbst z. B. hervor, dass der Mangel des Menschen an körperlicher Kraft und Grösse ihm vielfach zum Nutzen ausgeschlagen sei, da ein Wesen, welches für sich allein genug Grösse und Kraft besitzt, um im Kampfe ums Dasein gut durchzukommen, wahrscheinlich nicht sozial geworden wäre.

Dass der Mensch darauf angewiesen ist, sich mit seinesgleichen zusammen zu tun, um sich zu behaupten, hat seine intellektuellen und moralischen Eigenschaften so gesteigert und verfeinert, dass er schliesslich jener Schwäche seine alle andern Wesen überragende Machtstellung verdankt.

In gleichem Sinn hat man behauptet, dass die Frauen ihre Macht innerhalb der zivilisierten Gesellschaft gerade ihrer Schwäche verdanken, und dass die Emanzipation, wenn sie ihnen die gleiche Kraft wie den Männern verliebe, sie mit diesen in einen Kampf ums Dasein eintreten liesse, dessen Erfolge wenigstens nach manchen Seiten hin nur sehr unvollkommen der Prärogative gleichkämen, deren sie jetzt gerade durch den Verzicht auf ihn gemessen.

Es gibt überhaupt keinen grösseren Irrtum, als dass die Stärke der Individuen und die mechanische Überwindung der Gegner das allein Entscheidende für die Existenz einer Art sei.

Denn nehmen wir an, eine Art sei so stark und zweckmässig organisiert, dass (<110) ihr ohne Weiteres alle anderen Wesen zum Opfer fallen und sie sich dadurch ins Unermessliche vermehren kann, so wird doch bald ein Punkt erreicht werden, an dem sich ihre Mitglieder untereinander aufessen müssten, um noch Nahrung zu finden, weil eben alles andere vertilgt wäre.

Ein gewisser Mangel an Macht ist die zweifellose Bedingung, unter der das unter den irdischen Verhältnissen mögliche Maximum an Macht ausgeübt werden kann.

Auch der Krieg kann nur solange bestehen, als die Kriegswerkzeuge noch nicht einen gewissen Grad von Vollendung erreicht haben.

Gäbe es Kriegsmaschinen, die ganze Heere und ganze Festungen in einem Augenblick vom Boden rasierten, so wäre der Krieg selbst eine Unmöglichkeit.

Selbst in dem Falle, in dem Darwin das Wachstum einer Eigenschaft ins Unendliche für nützlich erklärt, ist er vielleicht im Irrtum.

Er macht nämlich darauf aufmerksam, dass zwar die Steigerung der meisten Qualitäten durch natürliche Zuchtwahl eine bestimmte Grenze hat, über die hinaus diese nicht mehr wirken kann, weil das weitere Anwachsen jener von keinem Nutzen mehr wäre, dass aber für die fortgesetzte Entwicklung des Gehirns und der geistigen Fähigkeiten keine solche Grenze der Nützlichkeit für die Gattung existiere.

Hat indes der Pessimismus mit seiner Behauptung Recht, dass die steigende Klugheit und Kultur die Menschen unglücklicher macht, so stellt dies die geistige Qualität in eine Reihe mit jenen physischen.

Wie den gigantischen Tieren der Vorwelt gerade ihre Grösse und Stärke zum Verderben gereichen musste, weil sie zu ihrem Unterhalte eine ausserordentliche Nahrungsmenge brauchten und deshalb leichter als kleinere Tiere in tödlichen Nahrungsmangel gerieten, so lässt es sich denken, dass ein entwicklteres Gehirn Ansprüche an die Welt stellt und stellen muss, die in rascherem Verhältnis als ihre Befriedigung wachsen, so dass für die ganze Menschheit eintrete, was man jetzt von einer Einzelpersönlichkeit, wenn auch in mehr scherzhaftem Sinne manchmal sagt, dass sie zu klug wird.

Es ist kein Zweifel, dass (<111) nicht nur Vollkommenheiten des Denkvermögens, sondern auch Unvollkommenheiten desselben, Stumpfheit, Irrtümer und Illusionen, höchst zweckmässig und Resultate hoher Anpassung sein können, und dass intellektuelle Vervollkommnung unter Umständen diese Anpassung zerstören und der Wohlfahrt des Einzelnen wie der Gattung hinderlich sein könnte; so dass es mindestens noch tieferer Untersuchung bedürfte, ob die ungemessene Steigerung und Stärkung auch dieser Eigenschaft vorteilhaft wäre.

Diese Beispiele wehren indes nur die roheste und unmittelbarste Form des Egoismus als einer Waffe im Kampf ums Dasein ab, aber nicht das egoistische Prinzip als solches.

Der Verzicht auf das Anwenden der brutalsten Waffen braucht noch keinen Verzicht auf den Kampf zu bedeuten, und ist sozusagen nur eine Frage der Technik des Egoismus.

Andere Vorkommnisse dagegen leiten uns von dieser nur vorläufigen Einschränkung des Egoismus gerade aus dem Gesichtspunkt in der Entwicklungslehre auf einen gründlicheren Verzicht auf denselben.

Bei den Insekten ist fast durchgehendes das Männchen kleiner als das Weibchen und zwar nach einer sehr wahrscheinlichen Vermutung aus folgendem Grunde.

Da die Insekten sehr vielen Gefahren ausgesetzt sind, so kommt es für die Erhaltung der Art durchaus darauf an, dass die Weibchen, sobald sie zur Erzeugung von Nachkommenschaft bereit sind, sofort geschlechtsreife männliche Individuen vorfinden.

Deshalb werden diejenigen Männchen, welche sich am frühesten entwickeln, die grösste Wahrscheinlichkeit haben, Nachkommenschaft zu hinterlassen.

Dies sind aber die kleineren, denn je kleiner ein Individuum ist, desto früher erlangt es seine Reife.

Der männliche Teil der Nachkommenschaft erbt natürlich die geringe Grösse, die also von wesentlichem Vorteil für die Art ist, während die grösseren Männchen, weil sie später reif wurden, weniger Nachkommenschaft hinterlassen werden.

Es ist kein Zweifel, dass die Kleinheit der Insektenmännchen ihrem Individualegoismus vielfach hinderlich sein (<112) muss.

Sie dient nur der sexuellen Seite desselben und zugleich und vor allem der Erhaltung der Gattung.

Die Zuchtwahl befriedigt das Interesse des Einzelwesens hier in geringem Grade, um auf dessen Kosten die Gesamtheit zu schützen.

Von hier eröffnet sich nun ein Blick auf den Zusammenhang zwischen Zuchtwahl und Egoismus, der jene primäre Beziehung zwischen beiden ganz revolutioniert, welcher zufolge das Individuum für seine Gattung gar nichts Besseres tun könnte, als seine Kräfte und Eigenschaften zu der gesteigertsten und rücksichtslosesten Geltung zu bringen.

Behält man im Auge, dass angesichts der Unzulänglichkeit der Lebensbedingungen diejenigen Organismen sich am sichersten erhalten, die einen Vorteil vor andern gleichgearteten haben, so werden offenbar auch solche Aggregate von Organismen, die anderen ähnlichen gegenüber als Einheit auftreten, unter das gleiche Gesetz fallen.

Ist dies aber der Fall, so ist keineswegs damit gesagt, dass nun innerhalb eines solchen Aggregats jedes einzelne Individuum nach maximaler Befriedigung des Eigeninteresses zu streben hatte, wenn das Interesse des Ganzen maximisiert werden sollte.

Freilich ist es der Kampf und zwar der denkbar energischste und egoistischste, sowohl gegen andere Wesen wie gegen die Ungunst der Natur, der Erhaltung und Förderung der Art bewirkt; aber es braucht keineswegs immer der Kampf der Individuen derselben Gruppe unter einander zu sein, sondern kann auch der der Gruppen unter einander sein, wobei dann der Einzelne sich zu seiner Gruppe verhält wie das Glied zum ganzen Körper.

Auch nach den Prinzipien der Zuchtwahl im individualistischen Sinn wird nicht derjenige Körper den Vorteil im Kampf ums Dasein gewinnen, dessen einzelne Zellen oder Glieder etwa auf Kosten aller andern zur Hypertrophie strebten; sehr oft wird die Entwicklung eines Gliedes, die unter Umständen zu einem gewissen Punkt gelangen könnte, unterhalb desselben abgebrochen, weil die Stärkung und Anpassung des Ganzen diese Unterordnung verlangen und diejenigen Wesen, bei (<113) denen sie stattfindet, einen Vorteil im Kampf ums Dasein voraushaben.

Ob man nun die allgemeine Analogie des gesellschaftlichen Organismus mit dem individuellen für berechtigt halten mag oder nicht: sobald eine gesellschaftliche Gruppe als Einheit wirkt und der Vorteil derselben eben als solcher zum Gegenstand des Daseinskampfes wird, so ist der Individualegoismus als alleiniges Vehikel der Rassenverbesserung entthront.

Neben den Individualegoismus setzt sich der Gruppenegoismus, auf den ich zunächst nur mit dem Hinweise darauf eingehen will, dass er den ersteren in voller Übereinstimmung mit der Zuchtwahllehre in sein Gegenteil umzubiegen vermag.

Der Altruismus bildet also nicht, wie eine rohe und oberflächliche Form jener Lehre meint verkünden zu können, ein Gegenstreben gegen die Wege der Natur, auf denen sie das Wohl und die zweckmässige Gestaltung der organischen Welt zustande bringt, sondern ist gerade eins der Mittel, durch welche eben dasselbe für die höheren organischen Komplexionen erreicht wird.

Die Resultate des Kampfes ums Dasein für die Gesamtheit sind nur dadurch so segensreiche, dass es Waffenstillstände in ihm gibt, nur dadurch, dass die Angehörigen einer Familie, eines Standes, Staats usw. a priori Frieden unter einander halten.

Es scheint mir nicht unmöglich, dass solche Vereinigungen überhaupt Resultate gerade dieser evolutionistischen Notwendigkeit sind, dass jede Gruppe eine Anzahl Kollektivgebilde innerhalb ihrer züchten muss, welche in solchem Masse den Frieden ihrer Mitglieder unter einander fordern, wie das notwendige quantitative Verhältnis von Kampf und Frieden innerhalb des Ganzen als günstig erscheinen lässt.

Man könnte von diesem Gesichtspunkt aus alle Kollektivgebilde in eine Reihe gliedern, je nach dem Mischungsverhältnis von innerem Kampf und innerem Frieden, welches in ihnen evolutionistisch notwendig und durchgeführt ist.

Die ganze Sozialgeschichte kann von dieser Fragestellung aus ihre Entwicklungen zeigen: mit welchem Grade von sozialer Festigkeit ist ein bestimmtes (<114) Mass von individuellem Antagonismus der Gruppenmitglieder verträglich? Welchen Masses individueller Konkurrenz bedarf die Gruppe gerade, um zu einer bestimmten Kulturstufe aufzusteigen? Welchen Einfluss hat die quantitative Erweiterung einer Gruppe auf die Entfesselung oder die Niederhaltung der Konkurrenz ihrer Individuen? Ist etwa eine Differenzierung wahrnehmbar, wonach gewisse Teilgruppen einer grösseren Gruppe immer stärkeren persönlichen Antagonismus ausbilden, während in anderen ein immer stärkerer Verzicht auf denselben gefordert wird? Steht der Egoismus der Gruppe als solcher, andern Gruppen gegenüber, in einem funktionellen Verhältnis, etwa dem der umgekehrten Proportionalität, zu dem Egoismus ihrer Glieder untereinander? 

Wie die künftige Soziologie diese Fragen auch im Einzelnen entscheiden möge, das Folgende steht schon jetzt fest.

So wahr es ist, dass man zum Kriege rüsten soll, wenn man den Frieden wünscht, so gilt doch auch das Umgekehrte: nur wenn der Einzelne und die Allgemeinheit nach gewissen Seiten hin Frieden und Sicherheit besitzt, haben sie gesammelte und geordnete Kräfte zum Kampf nach anderen Seiten hin; wie der Krieg die Bedingung des rechten Friedens, so ist der Frieden die Bedingung des rechten Krieges.

Die Gruppe, innerhalb deren der Egoismus des Individuums auslischt, ist als Ganzes freilich nur in dem Masse altruistisch, als sie wieder eine Einheit innerhalb einer grösseren Gruppe bildet.

Zum Altruismus haben es bis jetzt eigentlich nur Individuen, selten ganz kleine Gruppen - Familien, Arbeiterverbände oder ganz gelegentliche Zusammenschliessungen, wie zu wohltätigen Zwecken - gebracht.

Die eine Familie fühlt sich der andern gegenüber zwar noch zu sittlichem Verhalten, zur Beschränkung des absoluten Egoismus verbunden, aber doch lange nicht so wie die Individuen untereinander; und irgend ein Mitglied der einen Familie ist gegen irgend ein einzelnes Mitglied der andern Familie in viel höherem Masse sittlich gebunden, wie es die Familien als ganze gegen einander (<115) sind.

Die Menschheit als Ganzes würde sich den Einwohnern eines andern Sternes gegenüber, wenn es ihren Interessen gälte, so wenig an ein Moralgesetz gebunden fühlen, wie etwa gegenüber den Pflanzen.

Dies hängt vielleicht mit der Entstehungsweise der Moral durch äussern Zwang zusammen; zuerst war es ein enger Kreis, der nur darauf hielt, dass sich Individuum gegen Individuum sittlich betrug; dann erfolgten Vergrösserungen, welche diese Kreise als Sozialindividuen in sich schlossen und sie einem Zwänge unterstellten, der zu moralischer Gerichtsbarkeit auswuchs usf. 

Und da nun der früheste Zustand der am festesten vererbte ist und zudem die äussere Verpflichtung sich auch jetzt noch in demselben Masse abschwächt, in dem der Kreis, den sie betrifft, grösser ist: so ist es begreiflich, dass das moralisch-altruistische Verhalten in dem Masse schwächer wird, in dem es statt von Einzelnen von Gruppen ausgeht und statt auf Einzelne sich auf grössere Kreise richtet.

Die unbedingte persönliche Hingabe an den grössten Kreis, an das Vaterland, ist kein Gegengrund, weil dieser Altruismus zugunsten der politischen Gruppe gerade schon zu jenen frühsten Zeiten bestand und seinerseits erst das Fundament bildete, auf dem der Altruismus den Einzelnen gegenüber zur sittlichen Forderung wurde.

Die grösste Gruppe als Ganzes ist aber ihrem einzelnen Mitglied gegenüber absolut egoistisch und wenn es scheint, als brächte sie um eines solchen willen altruistische Opfer, so sind dies so gut wie immer nur Umwege zu ihren Zielen der Selbsterhaltung und -steigerung.

Sie verhält sich zum Einzelnen wie der Gott Spinozas, von dem, weil er selbst kein einzelnes Wesen ist, nicht verlangt werden dürfe, dass er unsere Liebe zu ihm erwidere.

Nur dies könne man sagen, dass gerade weil Gott, unendlich und allumfassend, jedes Einzelwesen einschliesst, unsere Liebe zu ihm ein Teil der unendlichen Liebe sei, mit der er sich selbst liebt.

So könnte der Altruismus des Einzelnen seiner Gruppe gegenüber ein Teil des absoluten Egoismus sein, mit dem die Gruppe sich (<116) selbst liebt.

Hätte die Vorstellung der Gesamtheit im absoluten Sinn eine konkrete Berechtigung, so wäre die Gesamtheit gewiss nicht moralisch, weil sie nichts sich gegenüber hat.

Wie beim Individualegoismus sehr wohl ein Trieb, ein Interesse aufgeopfert wird, wenn die Gesamtheit der andern dadurch gewinnt, aber diese Gesamtheit der Triebe und Interessen selbst nicht aufgeopfert werden kann, ohne den vorausgesetzten Begriff des Egoismus und das Wesen, das ihn trägt, zu zerstören, so kann bei Gesamtheit im weitesten Sinn nur von einem Altruismus ihrer Teile untereinander, aber nicht des Ganzen die Rede sein.

Wie man von der Liebe gesagt hat, dass sie ein Egoismus zu zweien wäre, so könnte man vielleicht von der Sittlichkeit als Ganzem sagen, dass sie ein Egoismus zu Allen ist.

Es berührt sich hiermit, wenn eine sozialistische Geschichtsphilosophie die privatwirtschaftliche Gesellschaft sich so entwickeln lässt, dass das Kapital sich in immer weniger und weniger Händen zusammenhäuft und schliesslich einem Einzigen gehören muss, an dessen Stelle dann nur die Gesellschaft zu treten braucht, um ohne gewaltsamen Übergang in der sozialistischen Verfassung darin zu sein.

Dann würde der höchstgesteigerte absolute Egoismus und die ideal sittliche Verfassung der Gesamtheit zusammenfallen.

Wenn also der Egoismus des Einzelnen weder als Erklärung für die tatsächliche Entwicklung der Gattung noch unter den jetzigen Verhältnissen als Norm für sie, wie sie sein soll, zureicht, so müssen wir andrerseits fragen, ob die moralische Kultur in ihrer höchsten Aufgipfelung und der möglichsten Niederhaltung des Kampfes ums Dasein in allen Fällen segensreich wirkt.

Man hat darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Fürsorge für die des Lebens kaum Fähigen, die Vermehrung der sozialen und medizinischen Mittel, sie am Leben zu erhalten, sie auch in höherem Grade befähigt, ihr Geschlecht fortzupflanzen, wodurch eine schwächliche und ungesunde Rasse erzeugt wird.

Ich bin überzeugt, dass die (<117) zunehmende körperliche Schwächlichkeit namentlich unserer höheren Stände sich wenigstens zum Teil daher schreibt, dass wir jetzt elende Kinder, die früher gestorben wären, aufbringen und dadurch sowohl für die jetzige wie für die folgenden Generationen die Rasse herunterbringen.

Es ist interessant, wie die Kultur gerade an diesem Punkt in die Extreme schwingt: die Spartaner töteten die schwächlichen Kinder, während heutige Eltern gerade solchen Kindern gegenüber eine besondere Pflicht und eine besondere Liebe empfinden.

Es lebt indes die entgegengesetzte Strebung doch noch fort.

Der Starke empfindet gegenüber dem Schwachen, der Vollkommenere gegenüber dem Unvollkommeneren eine gewisse Abneigung, die noch über die Verachtung seiner hinausgeht, geradezu einen gelinden Hass.

Vom Standpunkt des Egoismus aus möchte man eher umgekehrt an eine gewisse Zuneigung glauben, weil auf Kosten des Schwächeren sich der Stärkere besonders durchsetzen kann, und in der Tat empfindet auch der Sieger, im Schachspiel wie in Kriege, dem geschlagenen Feind gegenüber eine freundlich versöhnliche Stimmung, und vielfach ist auch eine gewisse Sympathie für den Schwächeren überhaupt bemerkbar, die sich aus jenem Moment, aus einem Hilfleistungstriebe und aus der Freude am Kleinen und Harmlosen zusammensetzen mag.

Wo aber jener antipathische Zug vorkommt, setzt er ein starkes soziologisches Element voraus; der Schwache ist mir widerwärtig, weil er ein schlechtes Exemplar meiner Gattung darstellt, durch welches diese als Ganzes heruntergebracht wird; ein Teil der Verachtung, die dem moralisch zu verurteilenden zukommt, laste auch auf ihm; denn auch den Unsittlichen betrachte ich und verachte ich nur insofern als solchen, als er sozialen Schaden anrichtet.

Unter den Tieren wird es oft beobachtet, wie kranke und schwächliche Exemplare von den Genossen verfolgt und gequält werden, bis sie zu Grunde gehen, ohne dass irgend ein direkter Grund des Daseinskampfes diese Tatsache hervorbrächte.

Die mittelbare Veranlassung (<118) dazu ist bei Herdentieren, Zugvögeln etc. am einleuchtendsten: sie müssen die untüchtigen Individuen zu entfernen mit ihr Zug nicht durch Marode behindert und Raubtiere nicht durch Nachzügler und liegengebliebene Invalide auf ihre Spur geleitet würden.

Bei Kindern ist dieser Instinkt oft noch in reiner Form zu beobachten, indem sie vielfach einen unüberwindlichen Abscheu vor Kranken und irgendwie Deformierten haben und schwächliche Kameraden stets zur Zielscheibe für Spott und Misshandlung machen.

Während also der Individualegoismus, wenn die darwinistischen Voraussetzungen wirklich den Kampf jedes gegen jeden lehrten, zu dem Wunsche führen müsste, von möglichst schwachen Nebenexemplaren der Gattung umgeben zu sein, wirkt der Gattungsegoismus gerade im altruistischen Sinne dahin, dass den Schwachen und Untüchtigen ein Instinkt von Verachtung, Widerwillen, beinahe Hass entgegensteht.

Ist der Egoismus der sozialen Gruppe nach den Prinzipien des Daseinskampfes verständlich und führt er zu einer Aufhebung des Einzelegoismus, so muss diesem letzteren also der angemasste Vorzug, das einzig natürliche Prinzip des Handelns und Sollens zu sein, abgesprochen werden.

Wenn freilich der Sozialismus den Versuch gemacht hat, seine Macht durch ein Bündnis mit der Naturwissenschaft zu vermehren, so ist dies in gleicher Weise falsch, insbesondere wenn es sich um internationalen Sozialismus handelt, der nicht einmal den Gruppenegoismus bestehen lassen will.

Die Herabsetzung der Individualität und des persönlichen Vorzugs zu Gunsten einer allgemeinen Gleichheit findet in der Evolutionslehre gewiss Stützen, aber öfter noch Gegenbeweise.

Die ganze Zuchtwahl wird von dem Gedanken beherrscht: wer hat, dem wird gegeben; die herrschenden Arten haben die Wahrscheinlichkeit immer grösserer Ausbreitung, die schon höher organisierten Gruppen der Art pflegen noch immer in höherem Grade weiter abzuändern als die auf niedriger Stufe stehengebliebenen.

Entsprechend nehmen auch diejenigen wilden (<119) Stämme, welche durch irgend eine Ursache, wenn auch nur unbedeutend geschwächt werden, immer weiter ab, bis sie ausgestorben sind, weil dadurch sofort einem konkurrierenden Nebenstamme ein Übergewicht verschafft wird.

Das natürliche untermenschliche Sein zeigt ebenso eine unbarmherzige Aristokratie und Durchsetzung der individuellen Macht wie in andern Fällen die vollkommenste Aufopferung des Individuums.

Unsere Prinzipien sind immer nur einzelne durch das Denken herausgelöste Fäden aus dem unendlichen Gewebe der Wirklichkeit, in der sie sich tatsächlich unlösbar mit denjenigen verweben, die unser Denken als die entgegengesetzten zeigt.

Wenn aber auch die Betrachtung der Wirklichkeit uns den Egoismus als den einzig durchgehenden und natürlichen Charakter des Wollens zeigte, so würde sich darum diejenige Verwerflichkeit nicht mindern, die man ihm aus ethischen Motiven oder Gefühlen heraus zusprechen mag; sondern wenn sogar noch der Beweis hinzukäme, dass er das geeignetste Mittel für die Wohlfahrt der Gesamtheit sei, so würde weder seine Abweisung als letztes ethisches Prinzip darunter leiden, noch seine Annahme als solches dieser Unterstützung bedürfen.

Das letzte insbesondere ist wichtig einzusehen.

Er ist nämlich gar nicht ethisches Prinzip, wenn er solcher Begründung noch bedarf, weil diese bedeutet, dass er nur Mittel zu irgend einem andern, als unmittelbar wertvoll empfundenen Zweck ist.

Dass er aber selbst als ein letzter und absoluter Zweck vorgestellt werden kann, ist trotz der instinktiven Zurückweisung nicht zweifelhaft, die die ethische Gewöhnung der allermeisten Menschen dem entgegensetzen dürfte.

Die Inhalte des definitiven Wollens sind eben nicht weiter erweisbar oder widerlegbar und wenn jemand behaupten wollte, er empfände die absolute Durchführung des Egoismus als sittliche Pflicht, so müsste man dies genau ebenso als indiskutable Tatsache hinnehmen wie die gleiche Aussage über den Altruismus.

Das Sollen ist ein so rein formaler Begriff, dass es sich keinem Inhalt versagen kann.

Höchstens scheint (<120) man dem entgegenhalten zu können, dass, was sich unmittelbar logisch widerspricht, auch nicht gesollt werden kann, weil es als denkunmöglich auch nicht gewollt werden kann.

Und ein solcher Widerspruch liege hier vor, wenn man sich des Kantischen Ausspruchs erinnere, mit dem er die eudämonistischen Moralprinzipien widerlegt: man Befehle niemandem etwas, was er schon unausweichlich von selbst täte; solle es deshalb eine Pflicht, einen Imperativ geben, so könne er nicht das eigene Glück betreffen, denn für dieses sorge jeder Mensch schon, ohne dass es ihm als Sollen auferlegt werde.

Und eben dies scheint sich allgemein gegen den Egoismus als Moralprinzip anwenden zu lassen.

Da derselbe sich ganz von selbst verstünde und immer wenigstens latent und zur Verwirklichung drängend vorhanden sei, da es nicht zu seiner Durchführung, sondern nur zu seiner Bekämpfung eines besonderen Impulses bedürfe, so könne er nicht der Gegenstand eines besonderen Befehls sein; der Imperativ des Egoismus trage Steine zu einem fertigen Haus und begehe einen unmittelbaren logischen Widerspruch.

Allein es scheint mir, dass dieser Gedankengang selbst unlogisch ist, denn er setzt unbefangen voraus, was die egoistische Ethik gerade ableugnet: dass sich der Mensch von selbst und naturgemäss um sich selbst drehe.

Die Kantische Verengung davon auf die Glückseligkeit als selbstverständliches Willensziel erledigt sich mit dem Hinweis auf die Askese und die Selbstquälerei jeder Art, der gegenüber ein Imperativ, sich des eigenen Glückes mehr anzunehmen, entschieden denkbar ist; denn wenn man auch jene Tendenzen noch als eudämonistische ansieht und behauptet, sie würden verfolgt, weil sie den betreffenden Individuen Lust gewährten, so verwischt man den Unterschied zwischen Lust und Leid überhaupt und macht das Glücksstreben zu einem blossen Synonymum von Wollen überhaupt, hebt damit seinen spezifischen Sinn auf und kommt zu keiner Erkenntnis.

Welchen Inhalt wir aber auch hiervon abgesehen dem Egoismus geben mögen, keiner (<121) ist so durchgehend und selbstverständlich, dass nicht schon das ganz primäre, sittlich unbeeinflusste Wollen ihm entgegen entscheiden und dadurch die Möglichkeit geben könnte, ihn zum Inhalt eines Sollens zu machen.

Wir sind nur allerdings durch die bisherigen sittlichen Anschauungen gewöhnt, Sittlichkeit und Altruismus als gleichwertige Begriffe zu gebrauchen.

Das soziale Endziel der Sittlichkeit erscheint als selbstverständlich und deshalb findet man selbst da, wo der Egoismus gelehrt wird, doch fast immer die Rechtfertigung, dass unter seiner Herrschaft auch die Allgemeinheit am besten fahre.

Wie man das Handeln eines Menschen theoretisch nur dann zu verstehen meint, wenn man es auf Egoismus zurückgeführt hat, so meint man es nur rechtfertigen zu können, wenn man es schliesslich auf Altruismus zurückgeführt hat.

Besonders hervortretend ist dies auf wirtschaftlichem Gebiet.

Die freihändlerische Lehre von der Harmonie der Interessen will nicht nur dem Egoismus freies Feld lassen, sondern hält seine Entfaltung für unbedingtes Erfordernis; das laissez faire bezeichnet ihren Standpunkt doch nur einseitig nach der Seite der Regierenden hin, denen sie damit Passivität auferlegt, aber sie stellt daneben die ganz entschiedene aktive Forderung, dass nun jeder auch diese Freiheit benutze, seinen eigenen Interessen mit möglichster Intensität und Rücksichtslosigkeit nachgehe.

Wenn sie auch glaubt, das geschähe ganz von selbst und mit naturgesetzlicher Notwendigkeit, sobald nur der Zwang und die Einschränkung von oben her wegfielen, so würde sie doch jedenfalls, wenn einmal ein freiwilliger individueller Verzicht auf die Konkurrenz vorkäme, dies als ungehörig brandmarken.

Aber allerdings nur, weil sie glaubt, dass das öffentliche Leben dadurch Schaden nähme, dass der Gesamtheit am besten gedient wird, wenn jeder Einzelne nur für seinen persönlichen Vorteil sorgt.

Wird also der Egoismus hier auch als letzte subjektive Norm hervorgehoben, so ist doch das letzte objektive Ziel die Wohlfahrt (<122) der Gesamtheit und jener nur ein technisches Verfahren für diese.

Völlig anders, wie gesagt, ist die Gesinnung, die den Egoismus als Endzweck anbefiehlt oder wenigstens billigt.

Wir werden zwar immer deutlicher im Laufe unserer Untersuchung zu erkennen haben, dass der Egoismusbegriff noch gar keine Anweisung auf einen bestimmten einzelnen Handlungsinhalt gibt; welche Handlung man aber auch unter diesem an und für sich ganz hohlen Begriff verstehe - es liegt kein zwingender Grund vor, weshalb das sittliche Bewusstsein nicht mit ihr abschliessen könnte.

Es liesse sich prinzipiell in Abrede stellen, dass der Egoismus dasjenige ist, was schlechthin nicht sein soll, der Altruismus das, was sein soll.

Man könnte etwa behaupten, das klassische Altertum sei ganz und gar egoistisch gewesen, es habe den Altruismus als Selbstzweck nicht gekannt, und alle patriotische Hingebung sei entweder ein sozialer Zwang gewesen, der zwar zum selbständigen Triebe geworden sei, aber doch höchstens einen Indifferenzzustand zwischen Egoismus und Altruismus dargestellt habe, während jedenfalls die Gruppe als solche den höchsten Egoismus besessen habe; oder diese Hingabe sei nur ein Umweg des Egoismus gewesen, der bei der Kleinheit der Gruppe und der Unmittelbarkeit, mit der ihre Förderung dem Einzelnen zu gute kam, sich vermöge dieser letzteren selbst am besten gestanden habe.

Demgegenüber habe nun das Christentum einen Altruismus aufgestellt, der nichts anderes sei wie das übertreibende Extrem der in Gegensätzen schwingenden Geistesentwicklung: dass man das Seinsollende mit dem Altruismus identifiziert habe, finde seine Parallele darin, dass nach der verklungenen Lebenslust des Altertums die Askese zum sittlichen Ideal geworden, dass an Stelle seiner Gegenwartsfreude alle Seligkeit in ein spätes jenseits verlegt sei.

Man könnte nun behaupten, dass diese Epoche, in der der Altruismus den Bereich des Sollens ausgefüllt habe, nicht ewig zu beharren brauche; vielleicht sind (<123) der moderne, auf vielen Gebieten hervortretende Individualismus, die Subjektivität der Weltanschauungen, die Theorien des Solipsismus einerseits, der naturalistischen und materialistischen Ethik andrerseits nur tastende Vorempfindungen, dunkle Ahnungen, die an der grossen Hauptsache herumraten, an der Emanzipation des Sollens vom Altruismus, an der Befriedigung des Gewissens mit dem vollen Durchsetzen der eigenen Person.

In der ethischen Empfindung, die sich mit diesem Endzweck zufrieden gibt, ist eine zweifache Nuancierung möglich.

Sie kann eine rein subjektive sein, die die eigene Person zum Mass aller Dinge macht.

Das Sollen ist in das Ich hineinverlegt, ohne doch darum zu verschwinden.

Nur der objektive Massstab, das Ideal, an dem sonst die eigene Leistung als eine nicht von vornherein mit ihm zusammenfallende bewertet wurde, ist in Wegfall gekommen.

Das tel est notre plaisir gilt dem eigenen Innern gegenüber als die höchste Instanz und für die Gesamtheit der Seeleninhalte nehmen die als egoistisch vorgestellten Triebe die Stellung ein, wie der autokratische Fürst oder Gott seinem Gebiet gegenüber: er befiehlt nicht, was recht ist, sondern das und nur das ist recht, was er befiehlt.

Ausserhalb dieser inneren Totalität hat das Sollen keinen Inhalt, das gemütliche Empfinden und Wollen befriedigt sich bei sich selbst, indem es zu einer Spaltung zwischen den allgemein angenommenen, obgleich sehr ungenau so ausgedrückten Gegensätzen: Wollen und Sollen gar nicht kommt.

Die Empfindung, die dem letzteren entspricht, verbindet sich von vornherein mit dem ersteren.

Es ist also nicht der Ruhezustand eines Tierischen Egoismus, der von einem Sollen überhaupt nichts weiss, sondern ein solcher, der das Sollen wohl kennt, aber es praktisch zu einer Spannung zwischen seinen und den übrigen Tendenzen der Seele nicht kommen lässt.

Diese Verfassung zeigen häufig sehr kräftige und trotzige Naturen, bei denen das Gefühl, über allen anderen Subjekten zu stehen, zu einer Erhebung auch über alles Objektive (<124) fortgebildet ist.

Die Übereinstimmung zwischen Egoismus und Sollen kommt hier nicht so zustande, dass eine Gesetzgebung da ist, der sie sich unterwerfen, mit der aber ihr Wollen übereinstimmt, während es wohl denkbar wäre, dass dies nicht der Fall sei; sondern sie kennen überhaupt keine Gesetzgebung für sich als die aus ihrem Willen hervorgehende.

Ihr Wille hat nicht Recht, sondern ist Recht.

Aus einer andern Stimmung heraus empfindet man wohl ein höchstes, seinem Begriffe nach unpersönliches Sollen.

Man erkennt an, dass es eine objektive Norm gibt, die dem subjektiven Handeln den Wert verleiht oder entzieht; allein diese Norm wird durch rein selbstsüchtiges Handeln erfüllt Die Inhalte der sittlich-teleologischen Reihe gipfeln sich nur bis zu diesem auf.

Der Egoismus findet seine ethische Befriedigung nicht unmittelbar bei sich selbst, sondern auf dem Umwege seiner Übereinstimmung mit einem Sollen, das a: priori ausserhalb seiner liegt.

Dies ist ganz und gar von der vorhin gestreiften Lehre zu unterscheiden, nach der das Sollen seinen eigentümlichen Inhalt im Allgemeinwohl findet und der Egoismus nur das beste Mittel zu dessen Verwirklichung ist.

Vielmehr fragen in unserem Falle die einzelnen egoistischen Impulse nicht über sich hinaus, sondern treten nur in die formale Kategorie des sittlichen Ideals, die Pflicht ist ausschliesslich Pflicht gegen sich selbst, aber wirkliche, subjektiv , empfundene Pflicht.

Der Unterschied gegen die vorige, Nuance ist der, dass dort die Pflicht ihrer Form nach nichts, anderes ist als Egoismus, hier ihrem Inhalte nach.

Dort ist die Verbindung zwischen Sittlichkeit und Eigensucht analytisch, hier synthetisch.

So fein und spitz dieser Unterschied in der rein begrifflichen Darlegung scheint, so breit und entschieden sind die psychologischen Gegensätze, für die er der prinzipielle Ausdruck ist.

Das Sollen in den Egoismus zu verlegen, ist Sache einer starken, beherrschenden, auf sich ruhenden Persönlichkeit.

Den Egoismus in das Sollen hineinzulegen, werden schwächliche Naturen geneigt sein, die zu feige sind, um mit (<125) dem inneren Imperativ überhaupt zu brechen und den Halt an einer objektiven idealen Norm entbehren zu können; die aber andrerseits den Zwiespalt des Innern nicht ertragen können, wie er sich so leicht beim Festhalten einer solchen Norm und gleichzeitigen anders gerichteten Trieben ergibt, und die deshalb zu dem Ausweg kommen, die Form des einen mit dem Inhalt des andern zu erfüllen.

Eine annähernd genaue Parallele zu dem Unterschied dieser beiden Richtungen des Egoismusprinzips bietet der Altruismus selbst.

Auch er kann entweder unmittelbar ein Synonymum des Sollens oder eine Erfüllung eines anderweitig empfundenen Sollens sein.

Das erstere ist klar.

Der Altruismus kann mit der sittlichen Verpflichtung schlechthin identifiziert werden, die letzte Quelle Jeder einzelnen Ausgestaltung dieser bilden.

Andrerseits kann man ein Gefühl von Verpflichtung überhaupt empfinden, dessen dunkler Antrieb uns nachher zu altruistischen Handlungen führt, oder kann für die höchste moralische Instanz den göttlichen Befehl als solchen halten, der dann das Gebot des Altruismus zu seinem Inhalte hat.

Auch hier findet in der charakterologischen Ausgestaltung dieser begrifflichen Entgegengesetztheit ein entsprechendes Verhältnis wie oben statt.

Die sittlich kräftigen, in ihrer Sittlichkeit ganz auf sich selbst stehenden Naturen werden dazu neigen, wenn sie überhaupt altruistisch empfinden, darin auch die volle moralische Befriedigung zu finden, die altruistische Handlung als Selbstzweck anzusehen und sich für diese nach nichts anderem als Quelle und als Stütze umzusehen.

Umgekehrt werden die schwächeren und dumpferen Naturen erst anderweitige instinktive, mystische, theologische Antriebe brauchen, um diese dann mit altruistischem Inhalt zu erfüllen.

So sehen wir auch von dieser Seite, wie wenig das Sollen als solches sich dagegen wehrt, dem Egoismus und dem Altruismus gleiche Bedingungen zu gewähren. (<126) Neben den Versuch, die tatsächliche Alleinherrschaft des Egoismus auf naturwissenschaftliche Weise zugebenden, kann man den Gedanken stellen, eben dieselbe auf logisch-erkenntnisstheoretische Art zu erweisen.

Weil die ganze Welt, die Gesamtheit alles dessen, was für mich überhaupt in Betracht kommen kann, nur meine Vorstellung ist, weil ich im Denken nie über mein Ich hinauskommen kann, darum könnte ich es auch nicht im Handeln; alles Vorstellen ist eben mein Vorstellen, und so ist alles Wollen mein Wollen, und ich kann gar nichts anderes als meine Ziele erreichen wollen.

So wenig nach dem Kantischen Ausdruck im Erkennen die Dinge als solche in meinen Geist überwandern, so wenig können im Wollen die Interessen anderer als solche mich bestimmen; wie vielmehr alles Objektive nur insoweit für mich existiert, als es subjektiv und meine Vorstellung wird, so ist auch jeder andere und seine Interessen in praktischer Hinsicht nur durch das Medium meiner Interessen für mich vorhanden, und nur so, dass ich seine Interessen zu den meinigen mache, kann mein Wille altruistischen Inhalt erlangen.

Angenommen, es liesse sich wirklich auf diesem oder einem anderen Wege erweisen, dass alle Handlungen schliesslich auf Eigeninteresse hinauslaufen, so würde damit der Wertunterschied der Handlungen, ihre Qualifikation als gute und böse in keiner Weise berührt.

Es übertragen sich dann nur die Begriffe von Egoismus und Selbstlosigkeit, Sinnlichkeit und Edelmut usw. auf die Differenzierungen des als Ganzes egoistischen Strebens.

Es ist nichts damit gewonnen, wenn man ein ganzes Gebiet gleichsam in eine andere Tonart transponiert, da doch die Intervalle, die die Melodie bestimmen, dieselben bleiben.

Das führte einfach zu der Notwendigkeit, einen Egoismus im weiteren Sinne von einem solchen im engeren Sinn zu unterscheiden.

Wir würden zugeben, dass jeder im letzten Grunde nur seine eigenen Interessen verfolgt, würden nun aber denjenigen auch fernerhin altruistisch (<127) nennen, der seine Interessen eben in der Realisierung der Interessen Anderer sieht.

Was uns, die wir Unterschiedswesen sind, eigentlich interessiert und zum ethischen Urteil anregt: das Verhältnis der Handlungen untereinander, bleibt das gleiche und zeigt phänomenal die Unterschiede zwischen Egoismus und Altruismus wieder auf, auch wenn das ganze Handeln, das beide umfasst, als egoistisch bezeichnet wird.

Da der Begriff des Egoismus überhaupt nur im Gegensatz zu dem des Altruismus einen Sinn hat, so ist er, wo der letztere überhaupt unmöglich ist und logisch ausgeschlossen bleibt, ein leeres Wort, ein blosser Name, ungefähr wie der Begriff Gottes im Pantheismus - denn nur durch den Gegensatz von Gott und Welt kann der erstere Begriff einen spezifischen Sinn erhalten, während es eine blosse Verdoppelung der Bezeichnung ist, wenn man die Gesamtheit möglicher Existenz Gott nennt.

Das ist die Tautologie, auf die jeder Monismus führt und die der theoretische Solipsismus, von dessen Vergleichung mit dem praktischen wir ausgingen, in derselben Weise begeht.

Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven, eingebildeten und realen Vorstellungen bleibt umgeändert bestehen, wenngleich die Gesamtheit des Vorstellens subjektiv genannt werden muss; es handelt sich dann innerhalb desselben nicht mehr um absolut objektive und absolut subjektive Vorstellungen, sondern um beides im relativen Sinn; jedoch ihr Verhältnis untereinander, worauf allein es für alle Zwecke des Erkennens ankommt, bleibt dabei genau das Gleiche.

Es ist gleichsam, als ob das ganze Weltbild an eine andere Stelle des Raumes versetzt würde, was uns vollkommen unmerklich bliebe, da keine von den Relationen, in denen unser Leben und Vorstellen verläuft, dadurch eine Änderung erführe.

Es ist überhaupt ein völlig vergebliches Bemühen, aus dem Begriff des Handelns irgend einen bestimmten Inhalt desselben, ob egoistischer oder anderer Art, herauspressen zu wollen.

So wenig mir der Begriff des Vorstellens eine Anweisung (<128) auf den Inhalt des Vorstellens gibt, so wenig kann aus der Tatsache, dass ich überhaupt zweckmässig will, ein einzelner Zweck egoistischer oder anderer Art deduziert werden.

Die fälschliche Ausdehnung der Tatsache, dass ich das Subjekt meines Wollens bin, dahin, dass ich auch das Objekt desselben sei, dass der Ausgangspunkt des Handelns zugleich auch sein Ziel sein müsse, ist hinreichend durchsichtig, um keiner weiteren Auseinandersetzung zu bedürfen.

Es ist für die Dehnbarkeit logisch-erkenntnisstheoretischer Voraussetzungen, wenn man sie zu realen Erkenntnissen benutzen will, sehr bezeichnend, dass eben derselbe subjektive Idealismus, der den Egoismus als allein mögliche Handlungsweise begründen sollte, auch zur Unterlage der gerade entgegengesetzten Tendenz gemacht worden ist.

Wenn nämlich alle anderen Personen samt ihren Empfindungen und ihren Zwecken nur in meiner Vorstellung existieren, so bilden sie ja einen Teil meines Ich und sind von denen, die ich im engeren Sinn die meinigen nenne, gar nicht absolut unterschieden.

Ihre Empfindungen sind, so weit sie überhaupt für mich in Betracht kommen und Einfluss auf mein Handeln gewinnen können, Empfindungen in mir, die Befriedigung, die aus der Erreichung ihrer Zwecke quillt, lebt in mir.

Anderen Schmerzen zuzufügen, die Erfüllung ihrer Wünsche, so weit sie in meiner Macht liegt, zu verweigern, ist demnach ein Leid, das ich mir selbst antue, und über dessen Bedeutung als solches sich nur ein unklares und befangenes Vorstellen täuschen kann.

Angesichts des Umfangs, den die unter der Vorstellung des Anderen in mir befindlichen Empfindungs- und Zweckkomplexe aufweisen, ist die Befriedigung derselben, die wir Altruismus nennen, die ausgedehnteste Befriedigung des Egoismus.

Während also die frühere Deutung des Idealismus besagt, dass es einen Altruismus im hergebrachten Sinne gar nicht gebe, weil ich über mein Ich nicht hinauskönnte, schliesst diese aus derselben Tatsache, dass es einen Egoismus im hergebrachten Sinne gar nicht gebe, da kein Gegensatz zwischen mir und (<129) den anderen, zwischen meinem Willen und dem ihrigen in Wirklichkeit vorhanden sei, und es nur vollkommener Klarheit hierüber bedürfe, um auch im Handeln keinen Unterschied mehr zwischen den eigenen und den sogenannten fremden Interessen zu machen, die, insoweit sie für mich existieren, d. h. für den Standpunkt des Idealismus überhaupt existieren, ja nur meine eigenen wären.

So haben auf theoretischem Gebiet Descartes und Kant aus der gleichen Tatsache: eine Welt wird vorgestellt, das absolut Entgegengesetzte gefolgert; jener: also existiert der vorstellende Geist, aber über sein Objekt ist dadurch noch nichts ausgemacht; dieser: also existiert diese Welt, aber über den vorstellenden Geist ist dadurch noch nichts ausgemacht.

Wir sehen hier recht, wie wenig monistische Vorstellungen uns zu realen Erkenntnissen verhelfen; es bleibt eben alles beim Alten, wenn ich das in Frage stehende Gebiet in seiner Gesamtheit einheitlich charakterisiere, und es ist nur Sache der Betonung, durch welchen der verschiedenen in dieser Alleinheit inbegriffenen Bestandteile ich ihm eine Färbung nach der einen oder der anderen Seite hin erteilen will.

Ganz entsprechend kann etwa der Pantheismus als Vergottung der Welt oder als Verweltlichung Gottes aufgefasst werden.

Die zuletzt genannte Lehre verkennt, dass es sich in aller Ethik nur um das Verhältnis des empirischen Ich zum empirischen Du handelt, für welches Verhältnis es ganz gleichgültig ist, ob beide in einem absoluten Ich eingeschlossen sind.

Dieses letztere habe ich eigentlich nicht mehr das Recht, als Ich zu bezeichnen, weil dieser Ausdruck nur so lange einen Sinn hat, wie ihm ein Du gegenübersteht.

- Den gleichen Fehler begeht von der entgegengesetzten Seite die Alleinheitslehre, die die Schranke zwischen dem Ich und dem Du durch den Gedanken der Wesenseinheit alles Seienden niederreisst; während jene Theorie lehrt: Du bist ich, sagt diese: tat twam asi; auch für sie ist der Unterschied zwischen dem Ich und dem Du, auf dem alles ethische Problem ruht, nicht vorhanden, (<130) aber nicht, weil das Ich absolut ist, sondern weil es absolut nicht ist, und der metaphysische Urgrund des Seins, in den, sie eins sind, nur von dem trügerischen Wechselspiel der Erscheinungen, das sie zu trennen scheint, überdeckt wird.

Allein eben in dieser getrennten Erscheinung liegt das ganze Problem des Egoismus und Altruismus; alle Bestrebungen, Handlungen, Empfindungen, auf die es in der Praxis ankommt, knüpfen sich an den empirischen Unterschied zwischen dem Ich und dem Du, der dadurch nicht geringer wird, dass in einer Beziehung, die jenseits aller hier in Betracht kommenden liegt, beide eins sind.

Auch an dieser Gleichheit der Folgerungen zeigt es sich, dass die Alleinheitslehre methodisch nichts anderes ist als der Idealismus in objektiver Wendung.

Schopenhauer behauptet, dass, wer einmal den Zusammenhang aller Wesen durchschaut habe, des Egoismus unfähig sei, weil er erkannt habe, dass jedes Leid, das er anderen zufüge, ihn selbst treffe; er könne keinen Unterschied mehr zwischen sich und den anderen machen, deren Förderung ja die eigene sei.

Aber dem kann man entgegenhalten, dass, wenn zwischen meinen Empfindungen und denen der anderen kein Unterschied existiert, ich nicht den geringsten Grund habe, das eigene Glück für andere aufzuopfern; denn wenn ihr Glück das meine ist, so ist doch auch mein Glück das ihre, und wenn alles in einen Topf geworfen wird, so fällt alles Interesse daran fort, an wessen Namen sich die Förderung heftet.

Mit der Aufhebung des Gegensatzes ist der absolute Egoismus ebenso möglich, wie der absolute Altruismus; oder vielmehr beide unmöglich.

Empirisch betrachtet, sind die Beziehungen, die Ausgleichungen und Gegensätze zwischen den Gefühlen, die ich die meinigen nenne, und den fremden, die in meiner Vorstellung leben, sehr mannigfaltig und ihre Wirkungen auf die Herausbildung von Egoismus und Altruismus keineswegs mit einem Wort auszumachen.

Freilich verstehen wir die Empfindungen des anderen nur nach Analogie der eigenen Empfindungen; allein dann hat wieder der Wert, den wir auf (<131) das Sein und Empfinden anderer legen, eine Wirkung auf denjenigen, den wir unserem eigenen Lebensinhalt geben.

Zwischen der Intensität der unmittelbaren und der Mitempfindung findet Wechselwirkung statt: einerseits empfinde ich um so lebhafter mit, je stärker und tiefer der angeschaute Vorfall mich selbst einmal getroffen hat, andrerseits werden eigene Schicksale um so stärkere Empfindungsreaktionen auslösen, je öfter und inniger wir sie schon mit anderen mitempfunden haben.

Dabei ist natürlich die abstumpfende Wirkung der Gewöhnung in Abrechnung zu bringen, wie überhaupt da, wo ein angeschautes Schicksal einen Einfluss auf entsprechende Eigenempfindungen gewinnen soll, immer zwei entgegengesetzte Tendenzen nach Ausgleichung ringen: einmal die Neigung, das abzuspiegeln, was wir vor uns sehen, den Weg mitzugehen, der vor unseren Augen betreten wird, uns in das mit hineinziehen zu lassen, was von anderen geäussert wird; andrerseits aber die Neigung, gerade das Gegenteil zu empfinden, dasjenige Gefühl in uns selbst auslösen zu lassen, das das Komplement des Angeschauten bildet.

Es ist in unsrer Seele die Neigung zu einer Reaktion vorhanden, die man mit den optischen Nachbildern vergleichen könnte: wenn ein gewisser Gesamtzustand der Seele, in dem die Möglichkeit jeglicher Empfindung ruht, vorhanden ist, so wird leicht die stärkere Erschütterung durch einseitigen Reiz die Folge haben, dass nun eine Abstumpfung der Fähigkeit zu diesem eintritt, und, so weit nun überhaupt noch weiter empfunden wird, die entgegengesetzten Energien in Tätigkeit treten.

Daher ist in jeder Seele eine Mischung der Neigungen zur Ergebung in das, was andere tun oder empfinden und der, gerade das entgegengesetzte zu wollen oder zu fühlen.

Auch daraus erhellt es, dass ein eintretender Reiz uns so leicht sowohl nach der Seite des Egoismus wie nach der des Altruismus anregen kann, wie uns eine ausgesprochene Behauptung, noch ganz abgesehen von der sachlichen Dignität ihres Inhaltes, einerseits von vornherein zur Einstimmung, (<132) andrerseits zum Widerspruch zu reizen vermag.

Von grosser Wichtigkeit ist hier die Quantität des Reizes nach der einen oder nach der anderen Seite; sehr oft nimmt uns ein Reiz in seiner ursprünglichen Richtung bis zu einem gewissen Grade mit, und erst von einem gewissen Quantum, einer gewissen Höhe seiner Entwicklung an schlägt die Wirkung direkt in ihr Gegenteil um, so dass die Erfahrung scheinbar die ganz entgegengesetzten Folgen mit dem gleichen Ausgangspunkt verbunden zeigt.

Es ist nicht immer der Fall, was zu denken nahe liegt, dass übermässige Verzärtelung des eigenen Ich mit Gleichgültigkeit gegen Andere verbunden ist; im Gegenteil kommt es auch häufig vor, dass solche Menschen auch die Empfindungen anderer in übertriebener und exzentrischer Weise nachfühlen.

Hier ist das Entwicklungsschicksal des eintretenden Reizes das umgekehrte, wie ich es oben für möglich erklärte.

Schwache Naturen werden durch Empfindungen anderer sehr leicht in die gleiche Richtung mitgerissen, und erst wenn diese Gleichheit einen hohen Grad erreicht hat, derart, dass die eigenen Interessen oder die eingewurzelte Subjektivität des Ich darunter zu leiden beginnen, schlägt der scheinbare Altruismus, die scheinbare Hingabe an die Gefühle des Anderen in ein schroffes Zurückziehen in sich selber um.

Umgekehrt ist die Gleichgültigkeit gegen das Leiden anderer auch eine Ursache, dass der Einzelne nun auch gegen eigenes Leid hart ist.

Bei wilden Völkern wird häufig eine ausserordentliche Leichtigkeit des Selbstmordes beobachtet.

Dazu mag die Gleichgültigkeit beitragen, die sie gegen Schmerzen überhaupt haben, ausserdem aber der Mangel an Teilnahme und Mitgefühl, mit dem sie Leiden und Sterben Anderer mit ansehen; die Härte gegen sich selbst ist nicht nur die Ursache der Härte gegen Andere, sondern steht auch in Wechselwirkung mit dieser, die ihrerseits eine Folge sozialer Notwendigkeiten ist.

Je nach der Verschiedenheit der persönlichen und der äusseren Verhältnisse wird das Empfindungsschicksal einer Seele sie für das gleiche, das sie an anderen (<133) vorstellt, empfänglicher oder gleichgültiger machen; grosses Leid kann das Herz ebenso hart gegen das Leiden Anderer machen, wie es diesem gegenüber mitfühlend und weich machen kann usw.

Die Folgen der Tatsache, dass die Empfindungen des Anderen nur durch das Medium meiner eigenen für mich existieren, sind also keinesfalls mit einem Wort und mit einer einseitigen Theorie zu erschöpfen, am wenigsten aus dem blossen Begriff des Ich und des Anderen zu deduzieren.

Der Ichbegriff ist überhaupt ein ganz formaler, jedes bestimmten Inhalts oder jeder Hinweisung auf einen solchen noch so sehr entbehrender, dass die entgegengesetztesten Strebungen daran geheftet und darin verkörpert werden.

Einerseits ist das Ich das gute Prinzip, die Sittlichkeit in uns.

Wo die Individualität metaphysisch als der tiefste Urgrund des Seienden gefasst wird, da ist es auch der gebotene Zweck des Handelns, eine immer schärfere Ausprägung derselben herbeizuführen, und dies harmoniert mit dem Glauben, dass das Ich das ursprüngliche Gute sei, ja wie man es ausgedrückt findet, dass der Unsittliche gewissermassen keine eigentliche Persönlichkeit, kein rechtes Ich besässe.

Es trägt dazu jene Eitelkeit bei, die sich in der Sprachwendung ausdrückt, dass die Sünde, die Versuchung stärker sei als wir, während wir doch nie sagen, dass die Tugend stärker ist als wir; das Gute erscheint als das eigentliche Ich, dem das Böse als äussere Gewalt eines Nicht-Ich gegenüber steht.

Andrerseits wird aber auch die sittliche Forderung gerade als eine Macht empfunden, die dem eigentlichen Inhalt des Ich entgegentritt, als ein Gesetzgeber, dem vor allen Dingen der »Eigenwille« sich beugen muss und der das Ich in Bahnen zwingt, die es, sich selbst überlassen, nicht gehen würde.

Dies ist ein Punkt, wo eine Verwandtschaft des Monotheismus mit dem Pantheismus hervortritt; wo nur ein täuschender Schein die Individualität als solche aus dem en cai pan auftauchen lässt, oder wo es der Weg der natürlichen Weltentwicklung ist, sie wieder in dieses zurückzuführen, da liegt es auch als ethischer Glaube (<134) nahe, dass das individuelle Prinzip als solches das Böse darstelle.

Diese Zweideutigkeiten und Unsicherheiten stammen zum grossen Teil aus der Unklarheit, die den Begriff des Ich in theoretischer wie in praktischer Hinsicht umgibt.

In ersterer zwar haben Hume und Kant die wesentlichste Förderung gebracht, indem sie nachwiesen, dass das Ich oder die Seele auch nur Vorstellungen sind, aber keine absoluten Substanzen; auch sie sind nur Kollektivnamen, mit denen wir gewisse Erscheinungen zusammenfassen, ohne dass sie ausserhalb dieser etwas Greifbares und Begreifbares vorstellen.

Wenn wir für das Denken, das uns als blosse Funktion erscheint, einen Träger suchen, von der Vorstellung ausgehend, dass, wenn gedacht wird, doch ein Etwas, das denkt, dasein muss, so übertragen wir ein Verhältnis, das innerhalb des Vorstellens gilt, auf das Vorstellen als Ganzes, begehen also den logisch falschen Schluss a dicto secundum quid ad dictum simpliciter, denjenigen Trugschluss, mit dessen Hülfe vielleicht die Mehrzahl metaphysischer Aussagen über das Ganze des Seins und Denkens zustande gekommen ist.

Wir wissen bekanntlich absolut nichts von der Beschaffenheit der sogenannten Seele, sondern alles, was wir von ihr sagen können, löst sich in die einzelnen Vorstellungen auf, die ihren realen Inhalt bilden.

Der Ichbegriff muss aber deshalb so leer sein, weil er den Raum für die divergentesten Einzelheiten gewähren muss.

Der Mensch ist ein so wenig einheitliches Wesen, so viele Triebe, Bedürfnisse, Ideale, erfüllen ihn in jedem Augenblick, dass der Egoismus schlechthin ein ganz hohler Allgemeinbegriff ist.

Wie die Einsicht in jenen Charakter des Ich die theoretische Philosophie zu dem Verzichte darauf geführt hat, aus dem Begriff des Ich irgend eine reale Eigenschaft der denkenden Substanz erschliessen zu wollen, so muss sie uns auch zeigen, dass kein reales Ziel der praktischen Bestrebung aus ihm herauszuerkennen ist.

Wir wissen vielleicht in den täglichen Lebensbeziehungen sehr gut, was wir meinen, wenn wir jemanden einen Egoisten nennen; (<135) allein an wissenschaftlicher Klarheit darüber fehlt vieles.

Wenn wir hören, dass der Unsittliche nur sich selbst, nur das Eigene sucht, nur an sich denkt usw., so taucht auch hier das Bedenken auf, dass mit der blossen Vorstellung Ich, die im Zentrum der Bestrebungen des Egoisten stehen soll, noch gar nichts Bestimmtes gesagt und gegeben ist, noch keine Direktive auf bestimmte Handlungen, keine Anweisung auf einen bestimmten Gedankenkreis.

Dass der Egoist seinen eigenen Interessen nachgeht, heisst im Grunde nur, dass er will, was er will - genau wie die meisten Definitionen des Sittlichen nur eine Umschreibung dafür sind, dass der Mensch soll, was er soll.

Es ist doch tatsächlich nie das leere, formale, ungreifbare Ich, aus dem rein als solchem irgend ein Sinn des Egoismusbegriffes, irgend eine Definition des Egoisten sich ergebe.

Da jeder einzelne Willensakt, aber doch auch jede allgemeinere Gesinnung einen konkreten Inhalt haben muss, das Ich aber an und für sich völlig inhaltslos und nichts als der Kreis ist, den wir der Gesamtheit unserer Vorstellungen umschreiben, so ist es nur die Gewohnheit alter Assoziationen zwischen der Form und ihrem gewöhnlichen Inhalt, wenn wir mit dem Ausdruck, dass jemand sich selbst Zweck ist, nur sich selbst sucht, schon irgend etwas gesagt zu haben glauben.

Es ist die gleiche Leerheit der Bestimmung wie in dem Moralprinzip: man solle den Menschen immer zugleich als Zweck, nie als blosses Mittel betrachten.

Der Mensch kann überhaupt nie Zweck sein, sondern immer nur eine Modifikation, ein Schicksal seiner, auf dessen Bestimmung es eben ankommt; auch wem es Zweck ist, seine Mitmenschen zu quälen, macht sie ebenso zum Zweck, wie wer ihnen wohltun will.

Wo das Gegenstück dieser Pflicht, nämlich die, sich selbst zum Zweck zu machen, die Pflicht der Selbsterhaltung, in Frage steht, da gibt entsprechend die Tatsache, dass das Selbst nicht eine unzweideutig einheitliche Substanz, sondern eine Sammlung der mannigfaltigsten Inhalte ist, der Möglichkeit (<136) Raum, die allerverschiedenartigsten Ansprüche des Individuums mit dieser Flagge zu decken - und oft genug Contrebande.

Ausserdem enthält die Formulierung, der Mensch solle nie bloss als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck angesehen werden, eine Hinweisung auf ein quantitatives Verhältnis, auf ein Kompromiss beider Gesichtspunkte, zu dessen Bestimmung indes nichts getan ist, während es doch gerade auf diese Masse allein ankommt; jener Formel würde man schon genügen, wenn man die Ausbeutung des Menschen als Mittels zu einem ganz ausserordentlich hohen Grade triebe und ihn dabei nur in unendlich geringem Masse als Zweck behandelte.

Die Erbsünde der Ethik, dasjenige stillschweigend vorauszusetzen, worauf es gerade ankommt, tritt auch hier wieder recht hervor; man meint, über den Sinn davon, dass ein Mensch dem anderen Zweck ist, so sicher zu sein, dass man mit dem blossen Aussprechen dieses Satzes das Wesentliche gesagt zu haben glaubt.

Wüsste man nicht aus sittlichen Instinkten, sittlicher Erfahrung und Praxis, welchen ungefähren Inhalt man von vornherein in jeder Moralvorschrift zu suchen hat, so würde die Norm, den Nebenmenschen als Zweck anzusehen, eine unverständliche Redensart sein.

Man könnte versuchen durch den Gegensatz zur Sittlichkeit einen Inhalt für den Egoismus zu gewinnen.

Sittlichkeit bestände darin, dass man den Anderen tut, was man will, dass sie einem tun.

Die entgegengesetzte Handlungsweise sei Egoismus.

Derjenige sei Egoist, der Anderen das antut, wovon er unter keinen Umständen wollen kann, dass sie es ihm tun, der die Anderen zu Handlungen ihm gegenüber bewegt, die er selbst ihnen zu erweisen keineswegs willens ist.

Dies würde vielleicht hinreichen, wenn es sich auf einen allgemeinsten Lebenszweck bezöge, z. B. Glückseligkeit; dann würde derjenige allerdings Egoist sein, der mit völliger Gleichgültigkeit gegen das Glück Anderer dieses nur für sich erstrebt.

Als den Sinn des Egoismus pflegt man freilich nur das Streben nach Lust anzusehen, offenbar indes ohne anderes (<137) Motiv, als dass man der sittlich verwerflichen Selbstsucht auch den sittlich geringwertigsten Inhalt geben wollte.

Wenn wir aber überhaupt annehmen, dass es ausser der Lust noch Werte gibt, so ist es auch ein Fehler, den Egoismus sofort als ein Streben nach eigener Lust anzusehen.

Da die Lust auch nur ein Wert des Lebens ist, bei dem sich nicht weiter fragen lässt: wozu? - so lassen sich noch andere ihr in dieser Hinsicht koordinierte Zustände denken, deren Realisierung in Bezug auf das handelnde Ich ohne Rücksicht auf andere Wesen geschehen kann, etwa Vollkommenheit, ästhetische Qualifizierung, religiöse Vollendung usw. Die ganze Schwierigkeit, die realen menschlichen Zwecke überhaupt auf einen Generalnenner zu bringen, einen allgemeinen Zweck des Lebens zu erkennen, richtet sich auch gegen die inhaltliche Bestimmung des Egoismus und verhindert es, als eine solche Bestimmung die obige, dass man den Anderen tut, was man von ihnen nicht leiden will usw., zu erkennen.

Wir tun vieles rein Sittliche in Bezug auf Andere, wovon wir entschieden nicht möchten, dass es uns geschehe.

Wenn der Richter einen Verbrecher gerecht bestraft, so kann er sich doch dabei denken: Wenn ich das begangen hätte, würde ich davon gelaufen sein; er will also nicht, dass ihm dasjenige geschieht, was er sittlicher Weise Anderen zufügt.

Angenommen aber auch, diese Bestimmung reichte hin, so würde sie dennoch nur für ganz einfache und beschränkte Fälle als Kriterium gelten.

Freilich bin ich egoistisch, wenn ich jemanden betrüge, insofern ich unmöglich wollen kann, dass mir das gleiche von Anderen geschehe.

Man wird aber auch zweifellos eine egoistische Gesinnung an demjenigen erkennen, der um einer Lust willen der öffentlichen Sittlichkeit ins Gesicht schlägt - während hier das Kriterium, dass er nicht wollen kann, dass ihm das gleiche geschehe, offenbar keinen Sinn hätte.

Wer im politischen Leben stehend aus blossem persönlichem Ehrgeiz und mit Gleichgültigkeit gegen die politischen Folgen einer bestimmten Partei mit allen Mitteln (<138) die Herrschaft zu verschaffen sucht, wird dem Vorwurf des Egoismus nicht entgehen, wenngleich man diesen nur sehr gezwungen so ausdeuten könnte, dass er Anderen getan hätte, was er von Anderen zu leiden nicht willens wäre.

Alle Depravirungen sozialer Zustände, der Inhalte des öffentlichen Geistes, die von dem Egoismus der Einzelnen ausgehen, treffen doch nicht andere Einzelne in der Art und in dem Masse, dass man das Verderbliche und Egoistische daran nach jenem persönlichen Kriterium beurteilen könnte.

Und selbst, wo sich der Egoismus gegen einzelne Personen in der Art richtet, dass der Gedanke, von ihnen eventuell leiden zu können, was man ihnen antut, überhaupt möglich ist - selbst da wird manche trotzige Kraftnatur damit einverstanden sein, das Gleiche zu leiden, was ihr Egoismus Anderen antut, wenn ein Stärkerer kommt, der sie unterwirft.

Die Definition des Egoismus also, dass er anderen täte, was er von ihnen zu leiden nicht geneigt wäre, ist zum Teil überhaupt nicht anwendbar, weil sich der Egoismus gegen Interessenkreise richten kann, die in dem Handelnden selbst kein Gegenbild finden, zum Teil einfach psychologisch unwahr.

Christliche Märtyrer, die nur Segen und Gebete für ihre Verfolger hatten, stürzten sich oft mit Leidenschaft in das Martyrium und ermunterten jene zu immer schlimmerer Peinigung; sie taten ihnen also dasjenige, dessen gerades Gegenteil sie sich selbst angetan wünschten.

Gerade die tiefste Sittlichkeit besteht auch sonst oft genug darin, dass man Anderen tut, wovon man unter keinen Umständen wünscht, dass sie es einem wiedergeben.

Auch dieses Kriterium des Egoismus ist also nur insoweit ein solches, als man es auf Handlungsweisen anwendet, die man schon von vornherein als unsittliche vorstellt.

Indes eröffnet sich vielleicht in dieser Richtung die wie immer problematische Möglichkeit, zu einem höchsten Moralprinzip zu gelangen, das dann auch dem Egoismusbegriff eine nähere Bestimmung gestattete.

Man könnte als ein solches Moralprinzip nämlich aussprechen: Du sollst dasjenige (<139) wollen, dessen Erfüllung zugleich die Erfüllung eines maximalen Teiles alles überhaupt vorhandenen Willens ist.

Dies enthält ebenso wenig Empirisches, ist ebenso formal und allgemein wie das Prinzip Kants; es lässt die inhaltliche Bestimmung als Utilitarismus oder Idealismus noch vollkommen frei und enthält das höhere Genus über diesen beiden; wenn jemand etwa das Glück zurückwiese, so würde der Utilitarismus es ihm aufdrängen müssen, um seinem Grundsatz zu genügen, würde damit aber offenbar in Gegensatz zu dem allgemeinen Gefühl des Richtigen geraten.

Mehr kann man nicht tun, als allen Menschen das gewähren wollen, was sie selbst wollen.

Durch das Maximum, das dafür gefordert wird, wird erstens ausgeschlossen, dass man jeden törichten und eigensinnigen Willen jedes Einzelnen zu befriedigen suchen solle, da hierdurch in den meisten Fällen die Befriedigung wesentlicherer und dauernderer Willensinhalte sogar desselben Menschen geschädigt würde.

Zweitens wird dadurch auch jede eigene übertriebene Aufopferung ausgeschlossen, die schliesslich doch eine Beeinträchtigung des Willens der Gesamtheit in sich schliesst, jede Erfüllung eines Einzelwillens, bei der im Grossen und Ganzen die Erfüllung aller anderen Wünsche leiden würde.

Und wenn tatsächlich die jetzt lebende Gesamtheit einen Willen erkennen liesse, gegen dessen Erfüllung sich unsere Sittlichkeit sträubt, so bedeutete dies nur, dass der Gesamtwille der Zukunft unserer Meinung nach ein anderer sein wird.

Es verhält sich dies wie die Ehre, welche die Meinung andrer Menschen von uns bedeutet; man kann die Ehre innerhalb der umgebenden Gesellschaft verloren haben und doch selbst überzeugt sein, dass man nicht ehrlos ist.

Dies hat dann den Sinn, dass in einem andren Kreise, dessen Urteil nicht durch augenblickliche Unvollkommenheit getrübt ist, die Meinung über uns eine andere wäre.

Wir halten es nun zwar oft für unsere Pflicht, das Wollen eines kleinen Kreises von Wollenden zu erfüllen, dem eine überwiegende Zahl anders Wollender gegenübersteht; für (<140) die Thermopylenkämpfer war es sittlich, das Wollen der paar tausend Griechen gegenüber dem der unzähligen Perser zu dem ihrigen zu machen; der Wille von tausend Zulus bringt für mich offenbar nicht dieselbe sittliche Verbindlichkeit mit sich, meinen Willen ihm anzupassen, wie das Wollen eines einzigen mir nahe stehenden Menschen.

Dieser ethische Partikularismus erklärt sich so, dass alle Allgemeinheit, von der man weiss, ursprünglich aus dem Kreise der Stammesgenossen besteht, und dass den Willen dieser selbst im Gegensatz zu dem später bekannten Anderer durchzusetzen, notwendiges Mittel im Kampf ums Dasein ist.

Die Vorstellung, dass Sittlichkeit in der Erfüllung des Willens des zunächst allein bekannten kleinen Kreises besteht, wird so fest, dass die spätere Erweiterung des Allgemeinheitsbegriffes die aus jener hervorgehende Gesinnung nur schwer und langsam umgestalten kann.

Es kommt hinzu, dass dem Willen der grossen Allgemeinheit oft am vollkommensten gedient wird, wenn der Einzelne den Willen einer begrenzten Allgemeinheit zu dem seinigen macht.

Indem die Griechen sich dem für den Augenblick quantitativ überwiegenden Willen der Perser entgegenstellten, förderten sie den Sieg der Kultur über die Barbarei und damit schliesslich doch den Willen der Majorität der Menschheit.

Das Moralprinzip des Willensmaximums bildet gewissermassen die positive Wendung oder auch das Fundament des Satzes: volenti non fit injuria.

Wenn dasjenige, was ich gemäss dem Willen eines Andern tue, auch ihm gegenüber kein Unrecht ist, so kann es doch anderweitig ein schweres Unrecht sein; aber doch nur, insoweit es dann dem Willen dritter Personen zuwiderläuft.

Eine Tat, die gegen Niemandes Willen wäre, könnte nicht unrecht sein.

Untersucht man die sittlich genannten Willensakte, so findet man, dass sie durchgehendes einen dem Willen Andrer parallelen Inhalt haben und in dem Masse als spezifisch sittlich gelten, wie dieser Wille der Andern ihr Motiv bildet.

Nun aber ist jeder auf ein Ziel gerichtete Wille nur dann sittlich, wenn (<141) dieses Ziel selbst sittliche Würde besitzt; die Förderung irgend eines Prozesses innerhalb der Gesamtheit des Geschehens hängt in ihrer ethischen Bedeutung von den Folgen dieses Prozesses, den weiteren Gliedern der kausalen und teleologischen Kette, und diese wieder von den ihnen folgenden ab.

Dass A den Willen von B fördert, ist demnach nur sittlich, wenn der Wille von B selbst sittlich ist; dieser ist aber seinerseits nur sittlich, wenn er den Willen von C fördert, usf. Folglich ist die Sittlichkeit des einzelnen Willensaktes von der Gesamtsumme der Willensförderungen abhängig, in deren Zusammenhänge er wirkt.

Der Nerv dieser Deduktion ist der Gedanke, dass, wenn einmal die Qualität eines Wollens von der Förderung eines andern Wollens abhängig ist - dass dann vermöge der Abhängigkeit jedes ethischen Zieles von einem weiteren schon der erste Wille nicht sittlich wäre, wenn er nicht ausser seiner unmittelbaren Motivierung durch einen andern noch zu der Förderung aller andern beitrüge.

Nun liegt zwar der Einwand sehr nahe, dass es dann nie zu einer wirklich sittlichen Handlung kommen könnte, da doch irgendwo einmal ein absolut Wertvoller Wille dasein müsste, um durch seine Förderung allen davon abhängenden sittliche Bedeutung zu geben - da es einen solchen aber der Voraussetzung nach nicht geben soll, so kommen wir nur auf einen regressus in infinitum.

Allein diese logische Antinomie gilt psychologisch nicht in gleicher Schärfe; hier wie auch sonst häufig wird die logisch unendliche Reihe für das Bewusstsein an einem endlichen Punkt unterbrochen, der meistens durch seine Verschwommenheit und Unbestimmtheit gewissermassen einen psychologischen Ersatz für die logisch geforderte Unendlichkeit bietet.

Wie man etwa die Förderung der Kirche und des Komplexes des hierarchischen Willens als letzte sittliche Pflicht ausgesprochen hat, obgleich doch eigentlich nur der Wille Gottes das letzte Objekt derselben sein kann, den jene ihrerseits zu fördern, angeben - ebenso tritt an die Stelle eines absolut Wertvollen Willens das (<142) Maximum der Willen, die von dem aktuellen Wollen des Individuums zu einem problematischen höchsten führen und jenes individuelle Wollen in weiterem und weiterem Kreise umgeben.

Man kann nun nicht mehr fragen, ob dieser Gesamtwille etwas Gutes wolle, das Erfüllung verdiene; denn das Gute bedeutet eben gar nichts anderes als die höchstmögliche Erfüllung dieses Gesamtwillens, und wir nennen erst diejenigen Handlungsweisen gut, welche ihr dienen.

Und so können wir uns denken, dass das Gute nur ein analytischer Ausdruck wäre für den Willen der Majorität, und dass wir an diesem erst den Massstab hätten, nach dem wir über Gut und Böse urteilen.

Eine nur annähernd genaue Konstatierung dieser Majorität wäre freilich ein lächerliches Verlangen; denn von den auf der Hand liegenden Schwierigkeiten abgesehen, müsste doch auch die Intensität der Willensakte in die Berechnung einbezogen werden; wir dürften einem flüchtig aufblitzenden oberflächlichen Willensakt nicht so viel Einwirkung auf das Fazit einräumen wie einem tief gegründeten und energischen.

Auch das ist zu beachten, dass wir sehr oft Dinge aus der Entfernung wollen, die wir in der Nähe oder im Besitz nicht mehr wollen; und selbst für dasjenige Wollen, das sich nach Erfahrung seiner Verwirklichung nicht in sein Gegenteil verkehrt, ist zu beachten, dass die nachträgliche Täuschung ebenso möglich ist, wie die vorgängige.

Aber das sind Schwierigkeiten, die sich auch gegen jedes andre Moralprinzip richten, das überhaupt eine Beziehung zur Gesamtheit enthält.

Wir haben ebensowenig die Mittel, mit Sicherheit zu bestimmen, dass bei der Durchführung einer Handlungsnorm als allgemeinen Gesetzes, wie Kant es verlangt, nicht irgend ein Widerspruch herauskommt, noch weniger, ob eine bestimmte Handlungsweise bis in ihre fernsten Folgen hinein die Glückssumme auf Erden vermehrt oder nicht.

Nimmt man dieses Moralprinzip an, so würde der Wille sich in demselben Masse von der sittlichen Norm entfernen, in dem sein Inhalt mit einem geringeren Quantum der (<143)überhaupt vorhandenen Willensinhalte parallel geht.

Dann könnte dieser Norm freilich entgegengehandelt werden, ohne dass man in Egoismus zu verfallen brauchte; wenn z. B. selbstsüchtige Interessen zu gunsten eines kleinen Kreises aufgeopfert werden, dessen Willen dem des grössten sozialen Kreises entgegensteht.

Es würde ein allmählicher Übergang von dem das Maximum wirklicher Willensakte in sich herstellenden Einzelwillen zu demjenigen stattfinden, der ein Minimum, d. h. nur sich selbst, aber keinen anderen repräsentiert und der dann der schlechthin egoistische wäre.

Dies findet Fortsetzung und Analogie im Verhältnis des Individuums zu sich selbst.

Vom Gesichtspunkt der egoistischen Lebensweisheit aus sind wir mit dem einzelnen Triebe in dem Mass zufrieden und gönnen ihm freien Lauf, in dem er mit allen übrigen Trieben harmoniert und den Endzweck wie die Mittel der anderen fördert.

Jeder einzelne Willensakt gewinnt unsere Billigung, wenn er ein möglichst grosses Quantum des überhaupt in uns vorhandenen Willens darstellt und verwirklicht.

Ja dies ist ein analytischer und sogar identischer Satz, da das Wir, die billigende Persönlichkeit, nichts anderes ist als die Hauptsumme der vorhandenen Strebungen und Vorstellungen; wie der Wert des Individuums für die Gesamtheit sich nach dem Quantum des in dieser vorhandenen und von ihm realisierten Willens bemisst, so der Wert des einzelnen Willensaktes für das Gesamt-Ich nach der Grösse desjenigen Teiles vom Wollen des Ich, den er in sich repräsentiert.

Häufig genug machen wir die Erfahrung, dass einzelne Strebungen in uns mit dem Charakter des Egoismus auftreten, dass sie, obgleich inhaltlich der Majorität des in unserem Leben entfalteten Willens entgegengesetzt, im Augenblick die hinreichende Intensität gewinnen, um sich durchzusetzen.

Sie finden dann von der Gesamtheit unseres Wesens, nachdem die augenblickliche Störung ausgeglichen und das Durchschnittsniveau des Lebens wiedergefunden ist, die gleiche Beurteilung, wie ein egoistischer Mensch (<144) innerhalb seines Kreises.

Es liegt freilich auf der Hand, dass es nur einer andern grundlegenden Gesinnung bedarf, um das genau entgegengesetzte Moralprinzip ganz ebenso plausibel erscheinen zu las sen.

Der Pessimismus der Willensmetaphysik könnte beweisen, dass der Wille durch seine Befriedigung nicht aufgehoben, sondern umgekehrt gesteigert werde.

Jede Tat, die zu gleich den Willen eines Andern erfüllt, dient nur dazu, in diesem neue und stärkere Ansprüche an das Leben erstehen zu lassen; die entsagenden Seelen, die mit jedem Wollen abgeschlossen haben, pflegen sich nicht unter den Glückskinder zu finden, denen alles nach Wunsch und Willen gegangen ist.

Da nun aber der Wille Leiden ist, da gerade die Auslöschung des Willens den verborgenen Endzweck aller Moral bildet, s ist gerade derjenige Wille der sittliche, der dem Willen möglichst vieler Andrer entgegenarbeitet und ihn bis zur Vernichtung unterdrückt.

Nun wird zwar der Wille durch ein gewisses Mass von Widerstand belebt; allein über dieses hinaus erlahmt er an der Entgegengesetztheit der ihm begegnende Strebungen, wie der Muskel sich durch ein gewisses Mass von Widerstand, das er bei seiner Tätigkeit zu überwinde hat, stärkt, an einem Übermass desselben aber erschlafft Die Verringerung des Willensquantums durch gegenseitig Hemmung der Willensbewegungen würde in der Richtung des Weltprozesses überhaupt liegen, der auf Zerstreuung der Energie, auf Ausgleichung aller bewegenden Kräfte geht.

Jenes secundum naturam vivere der Stoiker als allgemeines Moralprinzip würde zu dem Prinzip des Willensminimums als seiner speziellen Ausgestaltung führen und zwar in dem doppelten Sinne, dass die menschlichen Tendenzen einerseits, als Teil der Weltbewegung, so deren auf Paralysierung der Kräfte gerichteten Weg beschleunigten und sich ihr unmittelbar einfügten; und dass sie andrerseits, mit relativer Selbständigkeit ihr gegenüberstehend, als Mikrokosmos ihr Schicksal in sich, abspiegelten und wiederholten.

Und dann bedarf es nur des mit dem Willenspessimismus ja auch (<145) sonst verbundenen Monismus, um auch den Egoismusbegriff mit entgegengesetztem, Inhalt wie oben zu erfüllen.

Egoistisch wäre dann derjenige Wille, der mit der eigenen Befriedigung zugleich ein Maximum sonst vorhandener Wollungen befriedigte; denn er würde durch die Illusionen und weiteren Willensbewegungen, die ihm folgten, den Weltprozess zu Gunsten eines kurzen Zeitabschnittes desselben verlangsamen und abbiegen.

Dann deckt sich der menschliche Wille schon im Allgemeinen mit dem Egoismusbegriff, denn der Sinn des Egoismus ist doch nur der, dass sich der Teil eines Ganzen dem Wege dieses entgegensetzt.

Der Teilwille, der in der Menschheit objektiviert ist, verfährt nach der Konsequenz dieser Lehre in dem Mass egoistisch, in dem er sich durch innerhalb seiner stattfindende Befriedigungen anregt und so die Erlösung des Ganzen hintanhält.

Wenn wir, von der begrifflichen Unklarheit des Egoismus absehend, auch zugeben wollten, dass er die alleinige Wurzel alles psychischen Lebens, zeitlich und sachlich die Grundlage sei, auf die alles Handeln zurückweist, so wäre es doch ein gründlicher psychologischer Irrtum, im Bewusstsein des Handelnden in jedem Fall irgendwo versteckte egoistische Triebfedern aufsuchen zu wollen.

Denn wenn auch die Sorge für die Interessen des Anderen, die Aufopferung des Ich für andere Ichs und für die Gesamtheit, die Bezähmung der rücksichtslosen Triebe zunächst nur Mittel und Umwege für den Egoismus gewesen sein sollten, so macht sich hier doch jene höchst weitgehende und folgenreiche Eigenschaft des menschlichen Geistes geltend, derzufolge ihm, was ursprünglich nur Mittel war, zum Zweck auswächst.

Dasjenige, was nur mit Rücksicht auf damit zu erreichende Zwecke Sinn und Bedeutung hatte, streift unzählige Male diese Beziehung ab und stellt sich als Ziel dar, das nur um seiner selbst willen erreicht werden soll; alle äussere Sitte z. B. gewinnt allein (<146) durch diesen Prozess die Kraft, an und für sich als sittliche Vorschrift aufzutreten, da sie doch ursprünglich nur das Mittel oder die Bedingung fernerliegender sozialer Zwecke war.

Müssten wir in jedem Augenblick die ganze teleologische Reihe vor Augen haben, die eine bestimmte Handlung rechtfertigt, so würde sich das Bewusstsein in unerträglicher Weise zersplittern.

Um für das zunächst notwendige Durchsetzen des Mittels gesammelte Kraft zu haben, muss dies zunächst für sich allein das Bewusstsein beherrschen und je ausgebildeter und konzentrierter der teleologische Apparat der Menschheit wird, desto häufiger kommt es vor, dass man überhaupt in den Mitteln befangen bleibt und zum Endzweck gar nicht vordringt.

Es ist häufig zu beobachten, wie einzelne Handlungen, um zu ihrem egoistischen Ziel zu gelangen, den Umweg über altruistische nehmen müssen, und wie diese nun selbst zu Zwecken werden, über die nicht weiter hinausgedacht wird.

Humane Behandlung von Untergebenen, wenn auch ursprünglich nur aus naheliegendem eigenem Interesse hervorgegangen, wächst doch zum Bewusstsein einer innerlichen Pflicht, eines sittlichen Selbstzweckes empor; Bemühungen und Aufopferungen im öffentlichen Interesse, ursprünglich aus Eitelkeit und Wichtigtuerei unternommen, werden glücklicher Weise oft genug zu wirklichen persönlichen Interessen, denen der Betreffende mit aufrichtiger Selbstlosigkeit obliegt; Amt und Beruf, die nur die Notwendigkeit der Lebensfristung zu ergreifen gezwungen hat, erlangen eine Kraft über die Seele des Menschen, eine Konzentrierung aller seiner Interessen auf sie, die weit über das zu dem rein egoistischen Zwecke nötige Mass hinausgeht.

Auch an ehelichen Verhältnissen ist es zu beobachten, dass sie, wenngleich nur aus Versorgungs- und anderen Rücksichten eingegangen, schliesslich zu wahrhaft sittlichen und gegenseitig aufopferungsvollen werden, weil das eheliche Leben mit der Fülle und der Eigenart seiner Beziehungen sich aus dem blossen Mittel zu gewissen äusseren Zielen zu innerlichem Selbstzweck entwikkelt, so dass der Satz: die Liebe käme in (<147) der Ehe, auch wo sie bei Eintritt in dieselbe nicht vorhanden sei, eine sehr tiefe Bedeutung besitzt.

Auch im öffentlichen Geiste finden entsprechende Vorgänge statt; die Fürsorge für die Enterbten: Besserungsanstalten, Armensteuern, Findelhäuser, Asyle für Obdachlose - ist freilich aus dem Sozialegoismus herausgewachsen, der aus dem Überhandnehmen des Proletarierelends so viele Schädigungen fürchtete, dass er, um dem vorzubeugen, lieber jene Opfer brachte; aber schliesslich heftet sich das Interesse der Einzelnen und der Gesamtheit an dieses Mittel in so hohem Grade, dass die grössten Spenden für derartige Institute kaum aus dem Bewusstsein sozialer Zweckmässigkeit, sondern aus der Fürsorge für die Armen und Elenden als Selbstzweck hervorgehen.

Gerade der Gesichtspunkt der Prophylaxis, dessen wachsende Betonung auf allen Gebieten eine der glänzendsten Erweiterungen des Menschengeistes, eine in ihren Folgen unübersehbare Vertiefung des kausalen und teleologischen Prozesses darstellt, wird die altruistischen Umwege für egoistische Zwecke immer mehr hervortreten und in demselben Verhältnis auch immer mehr zu Selbstzwecken werden lassen.

Ich bin überzeugt: man wird einst eine neue soziale Ära von dem Auftauchen des Gedankens datieren, dass der Kampf gegen die Armut nicht durch Almosen und der gegen das Verbrechen nicht durch Strafen zu führen ist, sondern durch eine Organisation des öffentlichen Wesens, die Armut und Verbrechen überhaupt nicht entstehen lässt.

In dem Masse nun, in dem die sozialen und egoistischen Zwecke durch altruistische Prophylaxis erreicht werden, werden Jene natürlich für das Bewusstsein um eine Stelle tiefer gerückt, die Vorstufen des schliesslichen Zieles müssen immer mehr das Denken und die Praxis auf sich konzentrieren, und selbst wenn Altruismus nichts anderes sein sollte als Prophylaxis des Egoismus, so muss er, je höher dieser sich aufgipfelt, um so mehr zum psychologischen Selbstzweck auswachsen; und zwar offenbar nicht nur den einzelnen Handlungen nach, sondern, wenn dieser Prozess oft genug (<148) an solchen vorgegangen ist, auch als Prinzip und allgemeine Tendenz.

Dieses Umschlagen des Egoismus in Altruismus, diese aus dem Egoismus selbst hervorwachsende Wertung des sittlich altruistischen Verhaltens lässt sich noch an einem anderen Vorgang beobachten.

Der Mensch beurteilt den Wert des anderen Menschen zunächst nach dem, was dieser hin nützt; wir empfinden ein Leben als Wertvoll nicht nach der Summe von Lust und Unlust, die es selbst enthält, sondern nach den Gütern der Sittlichkeit und Kulturentwicklung, die es produziert, also eigentlich egoistisch, nach dem, was es uns, den Beurteilenden, leistet.

Hier aber macht sich eine merkwürdige Dialektik des Egoismus geltend.

Eben diese Kriterien, die der Einzelne an der Beurteilung Anderer und ihrem Nutzen für ihn ausgebildet hat, wendet er schliesslich auch auf sich selbst, gewissermassen gegen sich selbst an; aus der vielfachen Wertschätzung des Anderen, insofern er mir nützlich ist, erhebt sich, destilliert sich die Nützlichkeit für einen Menschen überhaupt als Kriterium des Wertes, unter welches dann auch ich selbst falle.

Wie wir uns theoretisch doch als ein Produkt der Welt betrachten, die wir selbst vorstellend produzieren, wie wir uns als ein Objekt unter Objekten ansehen, die doch nur für uns als Subjekte existieren, ganz ebenso reihen wir uns schliesslich objektiv in diejenigen Beurteilungskategorien ein, die wir ursprünglich nur für Andere, uns Gegenüberstehende geschaffen haben.

Der Egoismus rächt sich damit an sich selbst, indem wir durch eine Art induktiven Verfahrens uns schliesslich selbst nur so weit für Wertvoll halten, als wir Andere für Wertvoll gehalten haben, nämlich durch das Handeln für altruistische Interessen.

Die Entwicklung wird hier in wunderlicher Weise rückläufig.

Der Wertbegriff, aus dem Egoismus entstanden, füllt sich, auf mich selbst bezogen, mit entgegengesetztem Inhalt.

Die Möglichkeit, uns selbst objektiv gegenüberzustehen, begründet es, dass wir unser Leben auch unter den unglückseligsten (<149) Umständen für Wertvoll halten, wenn es nur sittlich ist.

Wir Beurteilen uns dann so, wie einen Anderen, dessen Leben wir aus rein egoistischen Motiven wünschen, weil es sittlich, d. h. für uns andere Wertvoll ist, gleichviel ob er selbst Leiden oder Freuden davon hat.

Die Geschichte des Judentums zeigt mehrfach solche Fälle, in denen ein egoistisches, Anderen gegenüber sich abschliessendes Verhalten gewisse Normen ausgebildet hat, die sich dann auch auf diejenigen erstrecken, im Gegensatz gegen welche sie ursprünglich geschaffen wurden.

Der Monotheismus der Juden bedeutete zuerst bekanntlich keineswegs, dass ihr Gott der einzige wäre, den es überhaupt gäbe.

Er war nur anders und grösser als die Götter der anderen Völker und war deshalb sowohl Ursache wie Folge ihrer Abscheidung von diesen.

Da nun der Stolz auf diesen Gott die Vorstellung von ihm höher und höher trieb, wuchs sie schliesslich zu der des allein existierenden, allein herrschenden göttlichen Wesens aus; der Trieb und das Bewusstsein, etwas Höheres und Besseres als alle Anderen zu haben, steigerte den Gott, den sie für sich allein hatten, zu einem, der auch über alle anderen Macht besass.

Nun aber wurde gerade diese Vorstellung zu einer Kraft, welche die Schranke zwischen ihnen und der übrigen Welt beseitigen half.

Der eine, allumfassende Gott wirkte schliesslich zu dem christlichen Glauben, dass alle Menschen Brüder seien.

Die Erhebung über die Anderen führte auf diesem Umwege zur Gleichheit mit ihnen.

- Es hat sich ferner unter den Juden ein äusserst reger und weitgehender wohltätigkeitssinn ausgebildet, offenbar daher stammend, dass sie durch den Ausschluss und die Benachteiligung von seiten der Völker, unter denen sie lebten, auf vielfache gegenseitige Unterstützung angewiesen waren und sich um so solidarischer miteinander verbunden fühlen mussten, je strenger ihr Gegensatz gegen die Andersgläubigen war.

Und nun bemerkt man, dass dieser Wohltätigkeitssinn sich vielfach über den Kreis der Stammesgenossen hinaus auch auf die Andersgläubigen erstreckt, also auf diejenigen, durch deren (<150) Gegensätzlichkeit gegen die Juden sich das Wohltätigkeitsmoment so stark in diesen ausgebildet hat.

Schon auf niedrigeren Gebieten kommen mancherlei altruistische und sozusagen ideale Bestrebungen auf diesem egoistischen Wege zustande.

So löst sich der Geiz von dem reinen Egoismus, in dem er wurzelt, und wird zur Abneigung gegen Geldausgeben überhaupt.

Der wahre Geizhals kann es nicht mit ansehen, dass Andere Geld ausgeben, verhindert sie so viel wie möglich daran, auch wenn sein eigenes Interesse nicht ins Spiel kommt.

Durch einen leicht verständlichen Abstraktionsprozess emanzipiert sich eine Handlungsweise, die zunächst aus blosser Selbstsucht befolgt wurde, von dieser Einschränkung und wird zur allgemeinen Norm, zu einem praktischen Ideal, dessen Realisierung objektiv um seiner selbst willen und bei jeder möglichen Gelegenheit gesucht wird.

Der Gegensatz gegen den Egoismus tritt so in doppelter Form auf: als Interesse für andere Personen und als Interesse für eine objektive Norm.

Allein beide sind doch nur verschiedene Stufen des gleichen psychologischen Prozesses.

Nur dadurch erscheinen Interessen und Normen uns als objektiv, dass sie für eine möglichst grosse Zahl von Subjekten gelten.

Auch im Theoretischen gilt uns diejenige Erkenntnis als die objektive, die von, der Gesamtheit der Subjekte anerkannt wird - deren derartiges Anerkanntwerden man wenigstens hofft oder fordert -, und wir haben vom erkenntnisstheoretischen Standpunkt gar kein anderes Kriterium für Wahrheit; innerhalb des einzelnen, Subjektes gilt das gleiche: dass ihm als objektiv wahr und objektiv berechtigt diejenigen Vorstellungen erscheinen, die, mit der Gesamtheit seiner sonstigen Erkenntnisse und Triebe harmonieren; Vorgänge, deren Feststellung in jedem, einzelnen Falle man für subjektiv und zweifelhaft halten mag, erhalten durch Häufigkeit der Beobachtungen den Charakter objektiver Richtigkeit.

Das Subjektive und das Objektive stehen sich psychologisch durchaus nicht als getrennte Genera gegenüber, sondern eine allmähliche Steigerung führt von jenem zu diesem; (<151) was wir in Erkenntnissen, Normen, Interessen Jeder Art objektiv nennen, ist nur eine quantitative Häufung von Einzelnem, das uns, so lange es nur als solches bewusst bleibt, subjektiv erscheint.

Wie dasjenige objektive Wahrheit ist, was Wahrheit für die Gattung ist, im Gegensatz zu der Vorstellung des einzelnen Subjektes, so ist das Interesse für ein objektives Ideal im Gegensatz zum egoistischen Wollen nur dasjenige, was die Interessen des weitesten sozialen Umkreises in sich enthält.

So entsteht das praktische sachliche Interesse am eigenen Schaffen dadurch, dass man für die Gesamtheit schafft.

Wer nur für sich arbeitet, wird immer mehr an den Erfolg und Preis der Arbeit denken, sie wird ihm das Mittel zu einem ausser ihrem sachlichen Inhalt liegenden Zwecke sein.

Wenn wir aber statt an uns selbst an eine Gesamtheit von Subjekten denken, deren Interessen und Individualitäten sich für unsere Vorstellung in ihrer Einzelheit gegenseitig paralysieren, wenn wir kein einzelnes Subjekt mehr haben, an das als Spezialzweck sich unsere Arbeit richten soll, so wird das Bewusstsein frei für das Interesse an der Sache selbst.

Es ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass es zuerst zur Zeit der italienischen Renaissance eine Wissenschaft und Kunst des Kriegswesens gab; das neutrale, sozusagen künstlerische Interesse an der korrekten Kriegführung entstand durch das Condottierentum, das allen Parteien abwechselnd zu Diensten stand, und so unter Aufhebung einseitiger partikularistischer Zwecke sein Interesse ausschliesslich der Sache selbst zuwenden konnte.

Durch das Mittelglied hindurch, dass Sittlichkeit eine Form des Interesses für das Allgemeine ist, steht mit der Objektivierung unserer Interessen bei dem Arbeiten für Andere die Erscheinung in Verbindung, dass die Freude am eigenen moralischen Handeln als solchem um so geringer wird, je höher die Moralität selbst steigt; nicht nur, weil unsere Pflichten in schnellerer Progression wachsen als unsere Leistungen, sondern weil, je reiner und tiefer die Sittlichkeit wird, um so mehr (<152) das Interesse an ihrem Objekt jede subjektive persönliche Regung unterdrückt.

Auf der höchsten Stufe tröstet man sich beim Misslingen einer guten Tat nicht mit der guten Absicht, die man gehabt habe; wo das Moralische als solches sich von selbst versteht, da mischt sich kein subjektives tröstendes Moment in das Bedauern um das Objektive, auf das ganz allein es uns ankommt.

Wenn das Charakteristische der Idee die Zeitlosigkeit ist, die Gleichgültigkeit gegen ihre Realisierung im jetzt und Hier, so entspricht dem im sittlichen Idealismus das Tun absolut um der Sache willen, wobei die Opfer, die vorher gebracht werden, und die positiven und negativen Folgen für das Individuum gleichgültig sind.

Dem Idealisten in der Wissenschaft ist es gleichviel, wer die wichtige Entdeckung macht, ob er selbst oder ein anderer, wenn sie nur überhaupt gemacht wird.

Die Loslösung des Interesses an der Sache von dem an der Person, um derentwillen jenes ursprünglich entstand, ist einer der wichtigsten Vorgänge im ethischen Leben.

Indem er sowohl an dem egoistischen wie an dem altruistischen Interesse als Ausgangspunkt beginnen kann, ist er eines der stärksten Bindeglieder zwischen beiden und zeigt, wie falsch es ist, den Charakter eines Willensaktes immer als egoistisch oder altruistisch ansprechen zu wollen, da eben das sachliche Interesse zu einer Triebfeder werden kann, die über das eine wie über das andere gleichmässig hinausführt.

Wie die Trennung der Menschen in Schafe und Böcke falsch ist, so ist es auch die der einzelnen Handlungen in egoistische und altruistische - nicht nur, weil beide Elemente in unzähligen Taten untrennbar durcheinander gehen, sondern weil unzählige, psychologisch angesehen, ganz jenseits dieses Gegensatzes stehen.

Allerdings liegt die Alternative nahe genug: mit jeder Handlung, die man unternimmt, müsse man entweder das eigene Interesse fördern, oder wenn nicht dieses, so das eines Anderen, sonst wäre kein Motiv zu dieser Handlung aufzufinden.

Unser Wille bindet sich an solche logische Distinktionen nicht, und findet kein Hindernis, an (<153) gewissen objektiven Geschehnissen als letzten Zielen Halt zu machen, auch wenn dieselben gar keine bewusste Beziehung zu Egoismus oder Altruismus haben.

Die Vorstellung Fichtes, dass wir in uns die Nötigung finden, einiges zu tun, bloss und lediglich, damit es geschähe, ist in viel weiterem Sinn richtig als er meinte.

Es gilt nicht nur für die sittlichen Handlungen; ja für diese gilt es sogar vielfach nicht, wenigstens z. B. nicht für die Kantische Auffassung vom Sittlichen, denn das Motiv ihres Vollbrachtwerdens ist doch nicht die Realisierung ihres sachlichen Inhaltes, sondern das allgemeine Gesetz oder die allgemeine Glückseligkeit, der sie dienen, oder Ähnliches.

Aber gerade unter Abweisung jedes über die Tat selbst hinausgehenden Endzweckes wird diese selbst rein objektiv zum Gegenstand des Willens.

Dieser hat viel zu sehr rein funktionellen Charakter, bestimmt aus seinem Begriff heraus viel zu wenig die Zwecke, auf die er sich richten kann, als dass man ihn von vornherein in die Alternative egoistischen oder altruistischen Inhalts einsperren könnte.

Gerade ethische Anforderungen, deren psychologische Kraft wenigstens unbezweifelbar ist, haben oft genug ein objektives Ideal als Strebensziel aufgestellt, bei dem gerade nicht mehr gefragt werden sollte, wer denn den Nutzen davon hätte.

Es war die bahnbrechende Tat Platos, das Objektiv-Gute im Umkreis des menschlichen Verhaltens zu entdecken.

Hatte der Kreis der sokratischen Interessen sein Zentrum ausschliesslich im Menschen gefunden und sollte alles Sittliche geschehen, weil es für den Menschen gut war, so stellte nun Plato dieses bloss Menschliche in den Dienst einer allumfassenden Idee.

Wie die Naturzwecke sich für ihn aus der Beschränktheit auf das menschliche Wohl, die Sokrates gelehrt hatte, emanzipieren und der objektiven Vollendung des Weltganzen dienen, so stellen sich auch die sittlichen Zwecke des Menschen für ihn auf eine höhere Warte, indem sie Glied und Mittel zu einer allgemeinen Weltordnung werden.

Er kennt ein objektives Gutes, bei dem nicht weiter gefragt werden kann, (<154) wozu es denn gut sei, und das, weit entfernt von unserem Nutzen oder Schaden seinen Massstab zu entlehnen, vielmehr selbst den Massstab für unseren wahrhaften Nutzen oder Schaden bildet.

Es gibt für Plato gar keinen subjektiven Grund und kein persönliches Verhältnis, aus dem das recht würde, was objektiv und ideell nun einmal unrecht ist; so dass er streng verbietet, erlittenes Unrecht zu vergelten.

Denn jemandem Böses zuzufügen ist eben unsittlich und von dieser sachlichen Bestimmung kann die persönliche Zufälligkeit, dass man selbst vorher Böses erlitten, keine Ausnahme rechtfertigen.

Zum ersten Mal war hier dargelegt, dass eine gewisse Gestaltung der Dinge an und für sich gut, schön und wünschenswert sei; dass die Ausprägung eines objektiven Ideals sittliche Notwendigkeit besitze; und dass der Endzweck unseres Handelns von einem ausser uns gelegenen absoluten Prinzip gesetzt sei.

Wenn die Stoiker später als ethisches Ziel die Übereinstimmung mit der allgemeinen Weltvernunft forderten, wenn die christliche Ethik dasselbe darstellte als Realisierung des Reiches Gottes auf Erden, so haben wir den Gründer dieser objektiven Moralprinzipien in Plato zu suchen, der zum ersten Mal das absolut Gute von der Verschlingung mit der menschlichen Subjektivität, mag sie egoistisch oder altruistisch sein, loslöste und jene höchste objektive Idee in das Zentrum des Weltkreises stellte.

Vielleicht ist der Gang der menschlichen Erkenntnis notwendig der, dass dem vollkommenen Befangensein in dem Hier und jetzt der Bestrebung, dem schlechthin persönlichen und subjektiven Wollen die Vorstellung eines absoluten objektiven Ideals folge, dass, was ursprünglich nur in uns lebt, in der Form einer über alles Persönliche hinausliegenden Forderung sich verkörpere und dass dann erst spät folgenden Perioden die Erkenntnis auch dieses scheinbar Festen als eines schlechthin Menschlichen vorbehalten bleibt.

Jene scheinbare Objektivität mag einen Zirkel enthalten, indem sie das menschliche Gute zu einem absoluten erhebt und nun wieder das menschliche von diesem ableitet; aber (<155) weder leidet ihre, historische Wichtigkeit, noch hat ihre psychologische Kraft darunter gelitten.

Den Irrtum, dass es in jedem interessierten Handeln nur eine Wahl zwischen Egoismus und Altruismus gäbe, hat ferner die Neigung zur Personifikation begünstigt.

Wie man das objektive Geschehen vielfach nur so verstehen zu können meinte, dass man ihm menschlich seelenhafte Motive unterschob, so scheint das Wollen keinen Sinn zu haben, wenn es nicht schliesslich den Zustand menschlicher Wesen zum Zweck hat; der psychologische Irrtum dieser Anthropomorphisierung ist hierbei ebenso sicher, wenn auch nicht so augenfällig wie jener physikalische.

Andrerseits wirkt die Tendenz der Parteiung mit, die überhaupt unser Weltbild formen hilft und zweifellos zu den Kategorien gehört, in die wir die Erscheinungen aufnehmen, um eine Verstandeswelt aus ihnen zu, machen.

Unser praktisches Leben steht ganz im Bann der Partei - eine Folge der sozialen Zweckmässigkeit des Parteilebens, das durch einseitige Konzentration eine Unzahl von Kräften wirksam werden lässt, die ohne den Anhalt an einer Partei latent bleiben.

Dazu kommen die persönlichen Gegensätze in den realen und idealen Interessen, die jedes bestimmte Denken oder Tun von dem entgegengesetzten eines Anderen: sich abheben lassen; wie wir uns im Ganzen und Allgemeinen des Ich erst am Du bewusst werden und erst in der Spannung zwischen beiden jedes seinen Sinn bekommt, so gilt das Gleiche von den einzelnen Inhalten der Seele.

Die Notwendigkeit eines Unterschiedes, damit eine spezifische Empfindung zustande komme, und die grössere Leichtigkeit des Denkens, das seine Gegenstände in wenigen, energisch entgegengesetzten Färbungen erblickt, wirken ferner zusammen, um unser Weltbild allenthalben unter das Zeichen der Parteiung zu stellen.

So gewinnt denn jene primäre Parteiung zwischen dem Ich und dem Du eine solche Macht über unser Denken, dass wir bei der Frage nach den Endzielen unseres Wollens erst dann am Ende zu sein glauben, wenn wir bei dem egoistischen oder dem altruistischen Interesse (<156) angekommen sind.

Dieser Einschränkung gegenüber müssen wir auf der empirischen Freiheit des Willens in dem Sinne bestehen, dass es gar keinen Gegenstand geben kann, auf den er sich nicht richten könnte.

so gut wie man alles zu denken vermag, es sei denn, dass es sich logisch widerspreche, so gut kann man alles wollen; und so wenig der Begriff des Seins aus sich heraus auf einen bestimmten Inhalt hinweist, aber auch keinen ausschliesst, genau so verhält es sich mit dem Begriff des Wollens.

Jede beliebige Sachvorstellung kann unter der Kategorie und dem eigentümlichen Realitätsgrade des Wollens, ebensogut wie unter denen des Sollens, des Seins, des Könnens etc. bewusst werden.

Neben den rein objektiven Strebungen, die jenseits von Egoismus und Altruismus stehen, beobachten wir unzählige Fälle einer Mischung, eines allmählichen Übergangs zwischen beiden, so dass es schon deshalb prinzipiell falsch ist, in jeder Handlung die egoistischen von den altruistischen Triebfedern scharf sondern zu wollen.

Freilich scheint es, als ob ein tieferes Eindringen zu diesem Ergebnis führen müsste.

An der Oberfläche der Erscheinungen liegt Egoistisches und Altruistisches unentwirrbar durcheinander; die Durchkreuzung des individuellen Wollens mit sozialen Strebungen, die Umkleidung des selbstischen Verlangens mit dem Schein der Aufopferung für Andere lassen, sobald man sich sozusagen an die erste Instanz der Handlungen hält, die Grenzen von beiden fortwährend ineinander laufen und sogar nicht nur für die Beurteilung durch den Dritten, sondern auch durch das eigene ungeschulte Bewusstsein.

Bei tieferem Eindringen sondern sich die Triebfedern entschiedener.

Die letzten Absichten enthüllen sich, das Mannigfaltige des ersten Anblicks zerlegt sich in seine ursprünglichen Tendenzen, vor der ausschlaggebenden Kraft verschwinden die Unehrlichkeiten und Selbsttäuschungen, die den Beisatz scheinbar anders gerichteter Eigenschaften hervorriefen.

Allein über diese zweite Instanz der Erkenntnis erhebt sich noch eine dritte, die das(<157) Erkenntnis der zweiten reformiert.

Die tiefste Einsicht ist doch wohl die, die den Zusammenhang der einzelnen Tat mit dem Ganzen der Persönlichkeit zeigt.

Und gerade dieses Ganze der psychologischen Zusammenhänge, aus dem der Willensakt hervorgeht, enthält offenbar überall eine Mischung ganz entgegengesetzter Tendenzen.

Obgleich die Seele keine einheitliche Substanz ist, die als Schnittpunkt aller ihrer einzelnen Äusserungen diese in gegenseitige Verbindung setzte, so stehen diese Äusserungen doch zum wesentlichsten Teile miteinander in empirischen, assoziativen und apperzeptionellen Beziehungen und Wechselwirkungen, so dass jeder spätere Akt auf den früheren ruht, jede einzelne Seelenäusserung auf der Summe der gleichzeitig vorhandenen, wenn auch in verschiedener Stärke sich geltend machenden Energien.

Und weil die Seele keine einheitliche Substanz ist und deshalb auch keine absolut einheitliche Qualifizierung gemäss den menschlichen Kategorien besitzt, ist eben ihr Gesammtinhalt, über den sich die einzelne Äusserung erhebt, sehr mannigfaltig und zeigt diese Mannigfaltigkeit, diese Unmöglichkeit der Charakterisierung mit einem einzigen Worte, gerade je tiefer und feiner man eindringt.

Die Erkenntnis nimmt hier also die häufige Entwicklung, dass ihre letzte Stufe morphologische Gleichheit mit ihrer ersten besitzt; die Mischung egoistischer und altruistischer Motive, die sich beim ersten Hinsehen aus der Unsicherheit der Beobachtung und Deutung ergab, scheint bei näherem Eingehen einer entschiedenen Trennung der Motive der einzelnen Handlungen Platz zu machen, und erst wenn man auf die letzten Gründe des Handelns zurückgeht, erkennt man nun sicherer und schärfer, wie kein einzelner Willensakt ganz von der Gesamtheit der Persönlichkeit zu lösen ist, in der sich jedenfalls Egoismus und Altruismus mischen.

Die logische Entgegensetzung beider verhindert eben nicht den praktischen und psychologischen Übergang zwischen ihnen.

So haben wir z. B. eine unentwirrbare Vermengung von Egoismus und (<158) Altruismus, von Ehrsucht und Fürsorge in dem allgemein menschlichen Zuge, die eigenen Meinungen über das theoretisch und praktisch Richtige allen Anderen aufzudrängen und das Leben derselben nach jenen zu gestalten.

Vielleicht am klarsten tritt diese Mischung der Motive bei religiöser Unduldsamkeit und Bekehrungssucht hervor; das reinste Interesse für das Seelenheil der Mitmenschen, die heiligste und selbstloseste Liebe zu ihnen kann dazu ganz ebenso mitwirken wie die teuflischste Herrschsucht, die unerträglichste Anmassung, die bornierteste Unfähigkeit, irgend einen Widerspruch zu ertragen.

Darum befindet sich die moralische Kritik dieser Unduldsamkeit und mancher anderen gegenüber in einer gewissen Verlegenheit: manche Überzeugungen können eben nicht tolerant sein, wenn sie stark, aufrichtig, subjektiv sittlich sein sollen.

Darum wird ganz konsequent schon in der früheren Zeit der christlichen Kirche die Duldung der Irrlehren als eine Schuld angesehen, die Staat und Kirche um des Seelenheils zahlreicher Menschen willen nicht auf sich laden dürften; Augustin bezeichnet deshalb die Toleranz als eine Grausamkeit.

Selbstsüchtige und selbstlose Momente vermischen sich in der Intoleranz oft in so ununterscheidbarer Weise, dass nicht nur die quantitative, sondern auch die qualitative Analyse völlig versagt ist; es sind sehr häufig gar nicht zwei ursprüngliche Motive, die sich mischen, sondern ein einziges, das psychologisch zwischen beiden steht und die logische Ausdeutung sowohl nach der einen wie nach der anderen Seite wie als Mischung beider verträgt.

Es gibt sogar Mischungen egoistischer Triebe und objektiver Ideale, die eigentlich alle Requisite eines ausschliessenden Egoismus tragen und doch wegen des Beisatzes der letzteren als gerechtfertigt erscheinen; z. B. dass man Schönes an sich und um sich pflege, selbst mit Opfern und in den Seiten der Existenz, zu denen kein Blick eines Anderen dringt; oder dass man ebenso Erkenntnissinteressen befriedige, ganz ohne Rücksicht darauf, ob Anderen davon mitgeteilt wird oder nicht, (<159) und Ähnl.

Man sieht daran recht, wie der ganze Hass, der den Egoismus als formales Prinzip des Handelns überhaupt trifft, nur in seinen einzelnen und fühlbaren Inhalten wurzelt.

Wo diese Inhalte feiner und vergeistigter sind, wenn auch so raffiniert wie möglich und in Prinzip und Gesinnung gar nichts anderes als Egoismus; wo Dritte durch sie vielleicht nur auf weiten und schwer erkennbaren Umwegen beeinträchtigt werden, da hebt sich die Handlung für den Dritten und auch für das eigene Bewusstsein leicht über den Gegensatz von Egoismus und Altruismus in die Sphäre des objektiven Interesses, dem man positiven sittlichen Wert zuschreibt - in den obigen', Fällen vielleicht nicht nur, weil diese objektiven Inhalte an, und für sich eine gewisse Verdichtung der sittlich sozialen Interessen enthalten, sondern auch wegen der Unschädlichkeit und Harmlosigkeit, mit der der ihnen Hingegebene sich wenigstens von dem gröberen und unmittelbaren Interessenkampf gegen Andere fernzuhalten pflegt.

An dem Anfang der sozialen Entwicklung, an dem das Individuum sich noch nicht als fest umschriebene Persönlichkeit.' innerhalb seiner Gruppe gefunden hat, wird die Zweideutigkeit zwischen Egoismus und Altruismus besonders stark sein;' wo der Interessenkreis des Ich sich von dem seiner Umgebung, auf die die altruistische Tätigkeit sich zu richten hätte, noch nicht scharf sondert, wird entweder mit einer und derselben Handlung leicht beiden Ansprüchen genügt, oder die häufige Aufopferung des Einzelnen bei dem geringen Wert des Individuums noch nicht scharf empfunden.

Andrerseits, bietet wieder die entwickeltere Kultur gerade durch die Differenzierung der Persönlichkeit manche Mittel zur Vereinigung beider Tendenzen.

Die Differenzierung der Wesen untereinander stellt nämlich deshalb eine höhere Entwicklungsstufe dar, weil das einzelne Wesen um so mehr Aussicht haben wird, sich zu erhalten, je verschiedener seine Lebensbedingungen von denen seiner Nachbarn sind, d. h. je weniger es um dieselben Dinge mit ihnen zu konkurrieren braucht; ein Maximum (<160) von Bevölkerung findet sich auf einem Terrain von gegebener Ausdehnung, wenn ein Maximum von Verschiedenheit in der Organisation der Bevölkernden stattfindet.

Dem entspricht es auch, dass die niederen Geschöpfe in der Natur einen Verhältnismässig grösseren Raum und die niedrigen Gesellschaften ein verhältnismässig höchst umfangreiches Gebiet brauchen.

Demnach vereinigt die Differenzierung und Individualisierung in schöner Weise das Interesse des Ich mit dem der Anderen: sie gibt jenem ein relativ unbestrittenes Gebiet, eine Möglichkeit der Lebensführung, der nur eine geringe Konkurrenz droht, während sie andrerseits das Feld für Andere frei macht.

Der Mangel eines absoluten Unterschiedes zwischen individuellem und Allgemeinheitsinteresse ist nun besonders für die Epoche klar, in der die Familie bezw. die Gens die soziale Einheit bildet, sei es, dass sie ohne höheren staatlichen Zusammenhang für sich lebte, sei es, dass sie in einem solchen einbegriffen war, aber doch noch so scharf gegen jede andere Familie sich als Ganzes abgrenzte, dass sie ganz für jede Tat des Einzelnen verantwortlich gemacht wurde.

Hier kann es vielfach zu einem Bewusstsein der Interessenspaltung zwischen dem Ich und den Anderen gar nicht gekommen sein.

Die Familie bietet einen sozial-einheitlichen Zustand dar, aus dem die Differenzierung einerseits zum Individuum, andrerseits zur erweiterten sozialen Gruppe führt.

Wir dürfen uns aber den Zustand der Familiengruppe nicht als eine »Mischung« von Egoismus und Altruismus, Individualismus und Kollektivismus denken; vielmehr war er etwas ganz Einheitliches, Ungemischtes, aus dem erst die spätere Entwicklung zu diesen einseitigen Standpunkten führt, die er vollkommen ungeschieden in sich enthält, und von denen wir uns erst nachträglich vorstellen, dass sie jenen Zustand zusammensetzen.

Um so häufiger wird der zusammengesetzte Charakter einer Handlung nur für die subjektive Betrachtung bestehen, als die gleiche Tat je nach dem Standpunkt des Urteilenden sowohl egoistisch wie altruistisch sein kann.

Von welchem Grundsatz aus ich dies verstehe, (<161) wird die Analogie mit dem Begriff der allgemeinen Menschenliebe ergeben.

Untersuchen wir im einzelnen, welche Forderungen man damit zu decken pflegt, so finden wir, dass es immer nur relative Allgemeinheiten sind, um die es sich handelt.

Der weitere Kreis von Pflichten wird dem engeren gegenüber als der der allgemeinen Menschenliebe bezeichnet, ohne dass er selbst ein absolut weiter wäre.

Wenn es also z. B. spezifische Pflicht ist, für meine Familie zu sorgen, so erscheint es dagegen als ein Resultat der allgemeinen Menschenliebe, wenn ich für einen kranken Reisegefährten, den ich nicht weiter kenne, sorge.

Nun kann man aber auch dies als eine engere Pflicht ansehen, dass ich für einen solchen unglücklichen Menschen, der etwa niemand anderen hat, etwas tue und dem gegenüber ist es allgemeine Menschenliebe, wenn ich einen Beitrag für ein Krankenhaus gebe, dessen Insassen mir völlig unbekannt sind.

Und wenn dies etwa ein Krankenhaus in einer anderen Stadt meines Vaterlandes ist, so erscheint dies als spezifische Liebespflicht gegenüber der, für ein Krankenhaus im fremden Lande etwas zu geben, als allgemeine gegenüber der, es für ein Krankenhaus in meiner Vaterstadt zu tun.

Dass wir dies aber als Liebe und nicht direkt als: Pflicht bezeichnen, liegt daran, dass das Pflichtbewusstsein unseren Geist noch nicht tief genug durchdrungen hat, um auch unser Verhältnis zu den ferner Stehenden unter dem Gesichtspunkt der Pflicht erscheinen zu lassen; so dass, was wir für sie tun, als ein opus supererogationis erscheint, als etwas, was nur noch Sache der über die Pflicht hinausgehenden Liebe ist.

Die Pflicht beschränkt sich ursprünglich auf den engen sozialen Kreis und dieser erweitert sich doch nur so langsam, dass für das nur Gefühlsmässige noch immer ein grosser Spielraum bleibt.

Wie hier also die gleiche Tat je nach der Grösse des Kreises, von dem aus man sie betrachtet, sowohl als spezifische Pflicht wie als Folge allgemeiner Menschenliebe erscheinen kann, so kann die entsprechende Doppelheit der Ausdeutung auch in Bezug auf Egoismus und Altruismus (<162) eintreten.

Wenn ich z. B. in hingebender Weise für meine Familie sorgend dazu Mittel anwende, die dritte Personen beschädigen, so ist diese Handlungsweise von dem blossen Ich aus gesehen altruistisch, von dem weiteren sozialen Kreise aus aber egoistisch; denn für diese bilde ich in der in Betracht kommenden Hinsicht mit meiner Familie zusammen ein einziges Subjekt.

Allgemeiner ausgedrückt: die Interessiertheit für einen bestimmten sozialen Kreis ist für diesen Altruismus, für den darüber hinausliegenden jedoch Egoismus.

Insoweit ich mich als Glied dieser Gruppe fühle oder als solches betrachtet werde, ist die Handlung, die sie fördert, egoistisch; insoweit ich mich aber ihr noch gegenüber stelle, sei es als blosses Individuum, sei es als Mitglied einer anderen Gruppe, ist ebendieselbe altruistisch.

Dieser Umstand, dass der gleiche soziale Kreis, nämlich der, engere, einerseits Objekt meines Altruismus, andrerseits meines Egoismus ist, bewirkt natürlich die mannigfaltigsten Kreuzungen und Ungleichmässigkeiten des sittlichen Empfindens.

Bei unentwickelter Kultur bildet der engere Kreis, an den der Einzelne gewiesen ist, das alleinige Material seiner Sittlichkeit.

Nur das Verschulden gegen die eigene Gruppe wird rechtlich geahndet, während der fremden gegenüber Gesetzlosigkeit herrscht, und das innerliche sittliche Bewusstsein entspricht dem, indem es offenbar eine strafende Reaktion des Gewissens nur an die Sünden gegen den unmittelbaren Stammeskreis, nicht oder viel weniger an solche gegen die fremde Gruppe knüpft.

Dies wird in erhöhten Verhältnissen anders empfunden.

Das Vergehen gegen den eigenen engeren Kreis ist hier oft das als weniger unmoralisch beurteilte, da es mehr als Verletzung des Eigeninteresses erscheint; indem die gesteigerte Kultur eine grosse Anzahl von Gruppen unter gemeinsamen ethischen Gesichtspunkten befasst, wird die Solidarität der einzelnen Gruppe in sich erst als eigentlicher Egoismus bewusst.

Die ethische Berührung und sozusagen Reibung der Gruppen aneinander bewirkt, dass der naive (<163) Egoismus der Gruppe, welche ihren ganzen Gesichtskreis allein ausfüllte, zu einem eben durch den Gegensatz bewussten wird.

Die Zusammengehörigkeit der egoistischen Zwecke mit denen einer Gruppe kann also genau die entgegengesetzten ethischen Folgen haben, je nachdem diese Gruppe die einzige ist, gegen die man Pflichten hat, oder von einer weiteren umgeben ist.

In höheren Verhältnissen sind beide Gesichtspunkte nur in der theoretischen Analyse trennbar, während die Praxis ihre Mischung zeigt: so ahndet z. B. die moderne Gesetzgebung einerseits Vergehungen innerhalb der eigenen Familie weniger scharf, andrerseits schärfer als die gegen Fremde.

Dieses Doppelverhältnis zum engeren Kreise wird sittlich und rechtlich sehr schwierig, wo Mischverhältnisse in bezug auf ein Eigentum vorliegen, so dass unsicher ist, ob es Gemeingut in dem Sinne ist, dass der Einzelne ihm als einem Besitz einer juristischen Person gegenübersteht, oder im Sinne des Condominium, an dem jeder realen Anteil hat, so dass das Ganze aus den Anteilen der Einzelnen zusammengesetzt ist.

Im letzteren Fall ist das Vergehen weniger sittlich strafbar, weil der Sünder sich damit mehr ins eigene Fleisch schneidet.

Das Glarner Gesetzbuch straft den im fremden Walde Frevelnden als Dieb, den aber, der es im Walde der eigenen Gemeinde tut, nur als FrevIer - in direkter Umkehrung also des Verfahrens primitiver Gruppen.

Im Ganzen lässt der Glaube an das absolute Ich, an die einheitliche substantielle Seele auch im Ethischen den Gegensatz des Eigeninteresses gegen das altruistische schroffer erscheinen, als er tatsächlich ist.

Wenn jene metaphysische Idee der Seele sich für eine vorgeschrittene Erkenntnis in die Einzelvorstellungen auflöst, deren Summe die Seele bildet, so ist der weitere Schritt nun der, dass das Ich auch in dieser Form als der Schnittpunkt sozialer Kreise, als das Resultat sozialer Bewegungen erkannt wird.

Nicht nur in unserem Besitz an Wissen ist nur ein verschwindendes Minimum völlig originell und fast alles Erbschaft der Gattung, sondern auch unsere Triebe, Neigungen und Interessen sind viel häufiger,(<164) als es dem naiven Selbstbewusstsein scheinen mag, aus sozialen Fäden gesponnen.

Mein Glück ist identisch mit dem meiner Familie, meine Ehre mit der meines Standes, meine geistige Förderung mit der von gleichen Interessen bewegter Kreise, meine religiöse Erhebung mit der meiner Gemeinde etc.

Es ist freilich sehr billig, diesen Ausdruck für einen ungenauen und bildlichen zu erklären, da nur eine geringe Analyse dazu gehöre, um darzutun, dass der Zusammenhang meines Empfindungsniveaus mit dem der erwähnten Kreise auf einfacher Kausalität, aber nicht auf unmittelbarem Zusammenfallen beruhe.

Demgegenüber scheint mir die folgende Betrachtung berechtigt und für alle Ethik wichtig.

Wo man von der Einheit eines Gebildes irgend welcher Art spricht, da meint man - da uns die absolute metaphysische Einheit unzugänglich ist - die Wechselwirkung der Teile.

Der Zusammenhang derselben, der sie als Teile eines Wesens erscheinen lässt, ist die Folge der wechselseitig ausgeübten Anziehungs- oder sonstigen Kräfte.

Und da wir eben keinen anderen Begriff von Einheit haben, so dürfen wir überall da von ihr sprechen, wo ein bestimmtes Mass gegenseitig wirkender Kräfte sichtbar wird.

Und zwar gibt sich dieses Mass in der Bildung dessen zu erkennen, was man einerseits den objektiven Geist, andrerseits die Gesellschaftsseele genannt hat.

Bei dauernderen Beziehungen von Individuen untereinander gestaltet sich zwischen ihnen ein gemeinsames Niveau, das dann in relativer Unabhängigkeit von jedem einzelnen Mitgliede besteht.

Wo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder ausscheiden und neue eintreten; wo ein gemeinsamer äusserer Besitz existiert, dessen Erwerb und über den die Verfügung nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von Erkenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die durch die Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch vermindert werden, die, gewissermassen substantiell geworden, für jeden bereit liegen, der daran teilhaben will; wo Recht, Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, (<165) denen jeder sich fügt und fügen muss, der in ein gewisses räumliches Zusammensein mit Anderen eintritt -da überall ist Gesellschaft, da hat die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet, der sie eben als gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem augenblicklichen Verhalten verschwindet.

Hier hat die Wechselwirkung denjenigen Grad von Innigkeit erreicht, der die Individuen, in ihrer Gesamtheit als eine Einheit erscheinen lässt und in der fraglichen Beziehung das Individuum als solches aufhebt.

Der Anteil des Einzelnen im Geben und Empfangen ist nicht mehr herauszusondern.

Dieses Verhältnis mag viele erkenntnisstheoretische Schwierigkeiten haben, für das unmittelbare und namentlich das naivere Bewusstsein stellt es sich jedenfalls so dar, dass die eigene Ehre, das eigene Glück etc. gewissermassen Teile eines sozialen - standesmässigen, familienhaften etc. - Besitzes an diesen Gütern sind; sie gehen gleichsam aus der einheitlichen Quelle des sozialen Besitzes an den Einzelnen über, weil sie auf alle Anderen übergehen.

Mit der Zerfällung des absoluten einheitlichen Ich in die Summe der wirklichen Vorstellungen, welche die historische Entwicklung der Persönlichkeit entstehen lässt, harmoniert es, dass auch unsere egoistischen Handlungen nicht alle Teile und Beziehungskreise unseres Ich zu fördern pflegen, sondern nur bestimmte derselben, während andere davon unberührt bleiben und häufiger noch gewisse Opfer bringen müssen.

Selten durchsetzt ein neu auftretender Wille die bestehenden Verhältnisse unseres eigenen Ich und unserer Interessen so, dass er sich überall an sie vollkommen anschmiegte, dass das neue Verlangen von vornherein nur zusammenstimmende und kommensurable Beziehungen zu unseren sonstigen aufwiese und genau eine Stelle einnähme, welche noch von nichts anderem, erst zu verdrängendem besetzt wäre; sondern sogar der egoistischste, in Bezug auf Andere rücksichtsloseste, ja verbrecherische Wille (<166) wird zu seiner Durchführung Opfer an Kraft, Zeit, Bemühungen, sittlichem Widerstreben, Besorgnis vor äusseren Folgen usw. fordern.

Weil wir keine aus einem Einheitspunkt heraus harmonisch entwickelten Wesen sind, sondern einen Teil unseres Ich dem anderen angegliedert haben, wie die Zufälligkeit unserer äusseren und inneren Lebensgeschichte es mit sich brachte, und deshalb höchst verschiedenartige und oft entgegengesetzte Interessen in uns vereinigen, wird die Wirkung unserer Taten sich meistens auch in Bezug auf uns selbst spalten und ein Teil unseres Ich muss Opfer bringen, sozusagen altruistisch verfahren, damit ein anderer Teil sich egoistisch fördern könne.

Lehrt uns nun aber ein weiterer Blick, dass diese verschiedenen Interessen aus sozialen Entwicklungen herstammen und von der Nabelschnur, die sie mit diesen verband, nur teilweise gelöst, unzählige Beziehungen und Wirkungen zu ihnen hin besitzen, welche gleichfalls die mannigfaltigsten Komplikationen und Gegensätzlichkeiten untereinander aufweisen: so ist klar, dass die Folgen unserer Handlungen sie sehr selten als entschieden egoistische oder altruistische, weder der Gesinnung noch der äusseren Erscheinung nach, werden auftreten lassen.

Die Namen Egoistisch und Altruistisch sind oft nur Bezeichnungen a potiori, indem sie die überwiegende Tendenz und Folge einer Handlung aussprechen, die sich tatsächlich in eine Reihe von keineswegs harmonischen, kausalen und teleologischen Momenten spaltet.

Die rücksichtsloseste Habgier schliesst doch in vielen Fällen wenigstens die über den nackten Egoismus hinausgehende Fürsorge für die Familie ein, die Eitelkeit ist eine nur auf Grund sozialer Beziehungen entstehende Eigenschaft, Rauflust und Gewalttätigkeit sind Erbschaften einer Zeit, wo diese Eigenschaften für das Bestehen der Gruppe höchst notwendig waren; die unerhörte und zum Teil verbrecherische Selbstsucht und Habgier von Kapitalisten, die z. B. einige der grossen Eisenbahnnetze Nordamerikas bauten, haben dadurch doch Millionen von Menschen (<166) die Bedingungen für fruchtbare Tätigkeit und Wohlhabenheit geschaffen usw.

Ich erwähnte schon die Notwendigkeit altruistischer Umwege zur Erreichung egoistischer Ziele, welche gleichfalls zur Vermischung und Verwischung beider Prinzipien leitet: Eduard I. brauchte Geld und Soldaten und dies war der Ursprung der Freiheiten der englischen Verfassung, indem es ihn nötigte, zur Erreichung seiner egoistischen Zwecke dem Volksinteresse Konzessionen zu machen; die ewig geldbedürftigen Bourbonen greifen dazu, alle Ämter zu verkaufen, aber eben dadurch eröffnen sie dem Bürgerstand den Weg zur Staatsverwaltung.

Lehrreich ist auch der folgende Vorgang.

Das irische Parlament war bis zum Jahre 1768 ein reiner Popanz, durch alle Mittel der Gewalt und der Korruption von England beherrscht und jeder Spur von Selbständigkeit entkleidet.

Ausser der kleinen Patriotenpartei, welche sich um Henry Flood schaarte, bewahrten nur noch die grossen adligen Familien eine gewisse Unabhängigkeit, die aber von vornherein einen ganz andern Charakter als die in dem Programm der Patrioten trug, eine Unabhängigkeit, die von ihrer Habgier, ihrer Gesetzlosigkeit, ihrem Egoismus getragen wurde.

Da nun aber die englische Regierung während der Verwaltung von Lord Townshend ihre Unabhängigkeit zu brechen wünschte, um das Parlament noch unterwürfiger zu machen, trieb sie jene den Patrioten in die Arme und liess sie mit diesen zu einer Partei verschmelzen, die dann die Unabhängigkeit des Parlaments durchsetzte.

Um die Freiheit im egoistischen Sinne zu wahren, machte es der Adel möglich, dass sie im patriotischen Sinn gewonnen wurde.

Eine naheliegende Vorstellung ist hier abzuwehren.

Vielfach schon hat man dem Egoismus das Verdienst zugeschoben, zur besseren Erreichung seiner Zwecke den Altruismus ins Leben gerufen zu haben.

So ist gelegentlich der Versklavung - statt der ursprünglichen Tötung des überwundenen Feindes - gesagt worden: wenn auch das Motiv ein rein egoistisches war, einerlei, gesegnet sei der Egoismus, der den Wert des Menschenlebens (<168) erkannte und anstatt dasselbe in wilder Wut zu zerstören, Selbstbeherrschung genug besass, es sich und damit der Menschheit zu erhalten.

Ein vollkommener Irrtum! Nicht der Egoismus als solcher, nicht die selbstsüchtige Gesinnung führt zur Schonung des Überwundenen, sondern die Verhältnisse, welche jetzt seine Verwertung als Arbeitstier möglich und nützlicher machen als seine Vernichtung und die gewachsene Einsicht in diese Verhältnisse.

Auch macht der Egoismus damit ja nur ein Teilchen von dem gut, was er selber Böses angerichtet hat, da er doch den ganzen Kampf und die Überwindung des einen durch den andern heraufbeschwor.

Die Argumentation ist ungefähr die: gesegnet sei der Dieb, dass er, von der Furcht vor der Strafe ergriffen, das Gestohlene wiedererstattete und damit das Recht des Eigentums anerkannte.

Der Tat, um derentwillen der Egoismus gesegnet wird, hätte es überhaupt nicht bedurft, wenn er von vornherein nicht existiert hätte.

Nur höherer Intellekt, allenfalls noch höhere Selbstbeherrschung, nicht höherer Egoismus hat in jenem Falle entschieden.

Und abgesehen von der Frage nach der Gesinnung darf auch in Bezug auf den äussern Erfolg in keiner Weise etwa gesagt werden, dass die Kräfte, die das Böse wollen, schliesslich immer das Gute schaffen müssen; die Zufälligkeit der geschichtlichen Entwicklung, die Interessen und Triebe des Einzelnen und der Gesamtheit so regellos durcheinander wachsen liess, hat ebenso oft unversöhnlichen Gegensatz zwischen ihnen gestiftet, wie sie sie von seiten der Ursache wie von seiten des Zwecks her zusammengehen liess; der Gegensatz wie die Solidarität der Interessen quellen oft aus der identischen Wurzel, z. B. im Kaufmannsstand, wo die Gleichheit der Branche einerseits eine unerbittliche Konkurrenz, andrerseits einen zur Verbindung und gemeinsamem Vorgehen nötigenden Parallelismus der Interessen bewirkt.

Nach beiden Seiten hin neigt das populäre Bewusstsein zu Irrtümern.

Den Gegensatz des altruistisch-sozialen gegen das egoistische (<169) Interesse stellt man sich gern als einen nur an der Oberfläche liegenden, der tieferen Wahrheit nach aber als eine schliessliche Einheitlichkeit vor; wir werden Gelegenheit haben, diesen metaphysischen Optimismus in seiner ganzen Grundlosigkeit darzustellen.

Andrerseits aber wirkt der Zug unseres Geistes, eher den Unterschied als die Gleichheit zu bemerken, dahin, vor dem egoistischen Teile unserer Strebungen die sozialen Fäden zu übersehen, die sich überall hineinspinnen.

Es kommt hinzu, dass diese auch durch die Länge der Vererbung selbstverständlich geworden sind, während die egoistischen Interessen mehr am Augenblick haften.

Und dieser Mangel an Erkenntnis hat wieder manche ethische Unzulänglichkeit zur Folge.

Unser praktisches Bewusstsein würde sich eher und öfter den sozialen Interessen hingeben, wenn es sich klar darüber wäre, wie vielfach es dasselbe schon so wie so tut.

Und die Auflehnung gegen die Gesellschaft ist vielfach deshalb so ungerecht, weil derjenige, der sie begeht, dabei doch alle Vorteile behalten will und behält, die er aus der Angehörigkeit an die Gesellschaft zieht, freilich unzählige Male, ohne sich über den Umfang der Schuld gegen die Gesellschaft klar zu sein.

Selbst das unbeschränkte Recht am eigenen Erwerb, das aus logisch-sittlichen Grundsätzen scheinbar selbstverständlich folgt, wird dadurch begrenzt, dass diejenige persönliche Handlung, welche zum Erwerb der Sache gehört, nur einen Teil der Umstände bildet, welche ihren Besitz bedingen.

Tätigkeiten und Verhältnisse Anderer und der Gesellschaft, sowohl vergangene als gegenwärtige, gehören dazu, um die Sache herzustellen und die Bedingungen zu schaffen, unter denen sie mein Eigentum werden und bleiben kann; was ich dann noch dazu tue, ist allerdings die notwendige, aber nicht die ausschliesslich wirkende Bedingung meines Besitzes.

Nun scheint man freilich sagen zu können: da dieser Anteil, diese Mitwirkung der Gesellschaft jeden Einzelbesitz affiziert, da er die gemeinsame Grundlage ist, welche ausnahmslos jedem Besitzenden zu Gute kommt, so werde kein einzelner Besitz (<170) dadurch berührt; der Einzelbesitz charakterisiere sich durch das Verhältnis des einen besitzenden Individuums zum andern resp. zum Objekt und nicht durch ein für Alle gleiches Verhältnis zu einer gemeinsamen Grundbedingung; die begriffliche Bestimmung des Privaterwerbes sei eben die, dass der unbeschränkte Besitz der Sache die Folge der individuellen Tätigkeit sei.

Dies wäre auch annehmbar, wenn jene Vorbedingung wirklich allem Privateigentum in gleicher Weise zu Grunde läge; allein dies ist nicht der Fall, sondern das Verhältnis zwischen der individuellen Tätigkeit und dem, was die Allgemeinheit daran vorgearbeitet hat und mitwirkt, gestaltet sich für jeden Fall quantitativ und qualitativ anders.

Dies begründet auch die Verschiedenheit der Besteuerung für verschiedene Arten des Erwerbs und Besitzes, z. B. die progressive Einkommensteuer, die Kapitalrentensteuer, die variierende Höhe der Erbschaftssteuer usw. Mit Recht kann man annehmen, dass der Erwerb eines kleinen Einkommens eine relativ grössere persönliche Anstrengung kostet als der eines grossen; unsere ökonomischen Einrichtungen sorgen dafür, dass das Kapital von einer gewissen Grösse ab sich wie von selbst vermehrt, ohne durch nennenswerte persönliche Tätigkeit des Besitzers befruchtet zu werden; er verdankt also den öffentlichen Einrichtungen relativ mehr als der weniger Besitzende, und es ist deshalb in der Ordnung, dass die Gesamtheit sich ihren Anteil an seinem Vermögen auch entsprechend verzinsen lässt.

Ganz ebenso wie in sozialisierten und namentlich industriellen Verhältnissen der Erwerb und Gebrauch einer Sache, so egoistisch er zu sein scheint, doch immer eine Reihe sozialer und Verkehrsinteressen zu fördern pflegt, ebenso war umgekehrt zum Zustandekommen des Erwerbsobjekts, der Transaktion damit, seiner Ausnutzung usw. eine grosse, aber in jedem Falle variierende Anzahl sozialer Faktoren nötig.

Dass aber das Bewusstsein über das, was wir der Gesellschaft schulden, so häufig fehlt, verursacht einen Mangel an Dankbarkeit; es gilt von ihr, was Calvin von Gott (<171) sagt: weil wir ihn nur unvollständig kennen, sind wir ihn auch nur unvollkommen zu lieben im Stande.

Die Erkenntnis von dem, was wir der Gesellschaft verdanken, ist vielleicht in ihrer ganzen gerechtfertigten Fülle der Zukunft vorbehalten und ihr wird vielleicht auch einst ein ganz anderes soziales Verhalten der Individuen entspriessen.

Die ganze Unbestimmtheit des Ich-Begriffes zeigt sich an dieser Unstetigkeit des Verhältnisses, in dem das eigentliche ich an seinen einzelnen Inhalten beteiligt ist, während man zugleich auf den Grund gehend findet, dass das Ich gar nichts anderes ist als die Summe dieser Inhalte.

Was über die Vieldeutigkeit der realen Teile des Ich in ihrem Verhältnis zu diesem leicht hinwegtäuscht, ist die Gleichheit des Possessivpronomens, welches für ganz verschiedenartige Beziehungen des Subjekts zum Objekt angewendet wird.

In ganz anderem Sinn ist ein Haus mein, als ein Freund mein ist, in anderem Sinn nenne ich meinen Körper mein, als ich ein Recht mein nenne; fast nirgends darf und kann das Meinsein einer Sache jenes absolute Schalten mit ihr nach meinem Willen bedeuten, welches logisch aus dem Begriff des Besitzes zu folgen scheint; überall wirkt zu dem Zustande des Dinges, in dem und durch den es mein ist, noch eine Anzahl anderer Faktoren mit und zwar immer in ungleicher Weise; das Mein ist nur eine Bezeichnung a potiori.

Z. B. war der ländliche Grund und Boden in Preussen vom 15. Jahrhundert an eigentlich gar nicht als Eigentum irgend jemandes zu bezeichnen.

Der Markgraf war wohl Herr des Landes im Ganzen, aber keineswegs Eigentümer des einzelnen Stückes, so weit es nicht unmittelbar Krongut war.

Der Adel trug das Land zu Lehen und belehnte seinerseits den Bauern damit, so dass auch von diesen beiden keiner eigentlich Eigentümer war; und doch sprach offenbar jeder dieser Drei von dem Boden als »mein«.

Es gibt offenbar einen allmählichen Übergang von dem oberflächlichsten Teilbesitz und einseitigen Recht an einer Sache bis zu dem vollen Besitz ihrer, bei dem ich sie als mein Eigentum bezeichne.

Wenn ich eine Sache abtrete und mir dabei noch ein gewisses Recht an ihr vorbehalte, z. B. ein Durchgangsrecht an einem verkauften Grund und Boden, so bin ich, wenn auch nicht der üblichen juristischen Definition nach, so doch tatsächlich noch teilweiser Besitzer des Objekts; denn auch der jetzige und eigentliche Eigentümer kann nicht mehr, als eine Reihe einzelner Nutzniessungen aus dem Gegenstände ziehen, sein Besitz desselben besteht nur aus Beziehungen zu ihm, die ich in gleicher Art, nur in geringerer Anzahl und Umfang besitze.

Jede einzelne Kompetenz der besitzenden Persönlichkeit weist über sie hinaus, die Umkreislinie, die sie, bestimmt, schneidet alle Gegenstände ihres Besitzes, ohne einen davon absolut einzuschliessen. Und indem dieser Gegenstand mein ist, ist er doch nicht nur mein, sondern er ist auch noch dieser für sich seiende Gegenstand mit bestimmten Eigenschaften, aus denen ihm Verhältnisse zu anderen Individuen erwachsen.

Und sogar wenn ich von meinem Leib und meiner Seele sage, ich hätte beides - wo ist denn das Ich, das beides hat? Der Leib kann eine Seele sein nennen, und die Seele einen Leib; und wenn ich die Seele mit dem Ich identifiziere, so hat das Ich doch nicht die Seele, sondern ist sie.

Bedeutet das Mein jene Herrschaft des Willens, dem sich der, Gegenstand konform zu verhalten hat, so ist doch weder der Körper vollkommen mein, da ich Bewegungen und Leistungen von ihm verlangen kann, die er verweigert, noch die entsprechend sich verhaltende Seele.

Nur der Wille ist mein, insofern er hier mit dem Ich zusammenfällt.

Ich habe wirklich nur das, was ich bin.

Nicht nur meiner Vorstellung, insofern sie ein bestimmtes Nicht-Ich zum Inhalt hat, steht mein Ich als das Subjekt, als eine einheitliche Totalität gegenüber, sondern auch, wenn ich den tiefsten Urgrund der Persönlichkeit im Gefühl zu erfassen suche, so steht auch er mir wieder als von mir getrennt gegenüber, wenn ich ihn als mein bezeichne.

Das Ich schwebt gleichsam in der Mitte zwischen dem dunklen Urgrund der Seele und den einzelnen (<173) Vorstellungen.

Auch wenn ich von meiner Tätigkeit spreche, ist das Ich von der Tätigkeit abgesondert; und sie erscheint als ein objektiv aus mir herausgetretenes Gebilde, das nur noch mit einer Nabelschnur mit mir zusammenhängt.

Wenn bei dem Mein des Besitzes ein an sich fremdes Objekt in die Sphäre des Ich eintaucht, so hat das Mein der Tätigkeit einen Übergang aus der Sphäre des Ich in die des objektiven Äusseren zum Inhalt.

In keinem Fall bedeutet das Mein, dass der damit bezeichnete Gegenstand nun eben dadurch das Fürsichsein seiner Existenz und Qualität verlöre; vielmehr darin verharrend, gewinnt er nur eine bestimmte und umgrenzte Beziehung zu mir und ich zu ihm.

Zu den Vorstellungen, die gleichzeitig auf das selbstische Interesse des Handelnden wie auf eine sittliche Beziehung zu seinem sozialen Kreise hinweisen, gehört der ethisch sehr wichtige Begriff der Pflicht gegen sich selbst.

Obgleich schon oft genug auf den Widerspruch aufmerksam gemacht ist, der in diesem Begriffe liegt, so scheint mir doch die Tiefe des Gefühls, für das er der Ausdruck ist, und der Umfang der Gebiete, die er beherrscht, gross genug, um seiner Bedeutung, namentlich in psychologischer Hinsicht, noch einmal nachzugehen.

Da scheint es denn zunächst klar, dass die Pflichten gegen sich selbst sekundäre Gebilde sind.

Das Gefühl verpflichtet zu sein, entsteht zweifellos zu allererst aus dem Zwänge, den ein Einzelner oder eine Gesamtheit auf das Individuum ausübt.

Wenn die Menschen nicht sozial lebten, wenn nicht eine Macht da wäre, die den Willen des Einzelnen umböge, und den Dualismus selbstischen und altruistischen Interesses in ihn pflanzte, so würde es zu einem Bewusstsein von Pflicht überhaupt nicht kommen.

Dass wir uns gegen uns selbst verpflichten, dass wir das Gefühl haben, uns selbst eine bestimmte Handlungsweise schuldig zu sein, ist erst eine Erscheinung (<174) der höheren Kultur.

Wie alles Denken des Menschen zunächst auf die Aussenwelt gerichtet ist und die Vorgänge des eigenen Innern zu allerletzt zu Gegenständen seiner Reflexion werden - weshalb wir denn auch für die Bezeichnung jener immer an Bilder gewiesen bleiben, die der Aussenwelt entnommen sind, weil in der Zeit der Sprachschöpfung nur diese das Objekt des Bewusstseins bildete - so hat auch das ethische Bewusstsein zunächst nur die Anderen zum Inhalt und kommt erst zuletzt dazu, was ihnen gegenüber gilt, auf das Subjekt selbst zu übertragen.

Und hier ist gleich die Zweifachheit des Sinnes der Pflicht gegen sich selbst ins Auge zu fassen, die zu manchen Unklarheiten Veranlassung gibt.

Eine Form der Pflicht gegen sich selbst entsteht so, dass die Allgemeinheit in ihrem Interesse Handlungen von uns verlangt, deren unmittelbares Objekt wir selbst sind, die Bearbeitung unserer körperlichen und geistigen Persönlichkeit, die Bewahrung unserer Ehre usw. Hierauf passt die obige Charakteristik noch nicht; dies braucht noch kein auf uns selbst zurückgewendetes sittliches, Bewusstsein, keine gegenüber der eigenen Persönlichkeit eingegangene Pflicht zu sein.

Vielmehr ist es ganz und gar Pflicht gegen Andere, die nur zum zufälligen Objekt das eigene Ich, des Handelnden hat; wie die Allgemeinheit von uns verlangt, Anderen gewisse Förderung zu Teil werden zu lassen, weil der Vorteil des Ganzen es erheischt, so kann sie auch dasselbe aus eben demselben Gesichtspunkt in Hinsicht auf den Handelnden selbst verlangen.

Wie sie Aufopferung seines eigenen Wohles von ihm fordert, kann sie je nach Lage der Umstände auch Erhöhung desselben von ihm fordern.

Diese Verpflichtungen, die unter den Begriff der Pflicht gegen sich selbst gerechnet zu werden pflegen, unterscheiden sich doch durch das verpflichtende Moment wesentlich von den tieferen und eigentlichen Formen der Selbstpflichten, in die sie psychologisch allerdings häufig genug übergehen.

Während jene nämlich prinzipiell Pflicht gegen Andere sind und nur inhaltlich, (<175) dem Objekte nach, Pflicht gegen uns selbst, sind diese dem Inhalt nach Pflicht gegen Andere, werden aber prinzipiell als Pflicht gegen uns selbst empfunden.

Je mehr wir einerseits die Allgemeinheit in unsere Vorstellung aufnehmen und uns mit ihr solidarisch verbunden fühlen, je mehr andrerseits das Gefühl der Persönlichkeit tiefer und weiter wird, desto weniger bedarf es der Verpflichtung durch äussere Momente, desto mehr repräsentiert sich die soziale Gruppe in unserem eigenen Bewusstsein und lässt die Pflicht, die sie uns auferlegt, als solche erscheinen, deren Erfüllung wir uns selbst schuldig sind.

Wie neben und über den äusseren Lohn und die äussere Strafe Lohn und Strafe im eigenen Gewissen tritt, so wird auch das verpflichtende Moment aus dem Äusseren in das Innere hineinprojiziert und das Vergehen verletzter Pflicht erscheint als eine gegen uns selbst begangene Sünde.

In welchem Masse diese Metempsychose des sittlichen Inhaltes für die Entwicklung der Menschheit nützlich ist, bedarf kaum der Hervorhebung.

Sie ist eine wesentliche Garantie dafür, dass wir vor gewissen Handlungen, Versuchungen, Gedanken selbst da sicher sind, wo die Wahrscheinlichkeit einer unmittelbaren sozialen Wirkung oder Entdeckung eine sehr geringe ist.

Wir können den Grad sittlicher Kultur an dem Masse bestimmen, in dem die äusseren Verpflichtungen die psychologische Form einer Pflicht gegen uns selbst annehmen, so dass wir dem Wert und der Würde unserer eigenen Person das schuldig zu sein glauben, was ursprünglich nur sozialer Zwang und dann soziale Verpflichtung war.

Hier haben wir nun wieder eine tiefe Beziehung und Analogie des sozialen Verhaltens zum religiösen.

Mit wachsender Veredlung des geistigen Lebens wandelt sich die rohe Vorstellung eines willkürlich befehlenden Gottes, der uns gegenübersteht, wie der Herr dem Sklaven, in die Idee eines höchsten geistigen Prinzips, dem wir unmittelbar zugehören.

Die reinere Vorstellung Gottes stellt ihn als den Allumfasser dar, der die Welt und uns selbst mit seinem Odem durchdringt, (<176) so dass es ein Abfall von dem Besten in unserem Wesen, von unserer eigentlichsten und edelsten Substanz wäre, seinem Gebote nicht zu gehorchen.

Diesen Wendepunkt der religiösen Ethik, in dem Gott aus der Wesensfremdheit uns gegenüber in eine Art Identität mit uns tritt, bezeichnet die Vorstellung, dass wir aus Liebe zu Gott seine Gebote erfüllen sollen.

Denn die Liebe ist immer sowohl Ursache wie Folge davon, dass die Stellung der Isoliertheit aufgegeben ist, dass eine gewisse Wesensidentität mit dem Geliebten eingetreten ist.

Mit der Idee der Liebe zu Gott ist die Vorstellung entthront, dass wir ihm um seiner Macht willen gehorchen.

Wir lieben ihn, weil er die Eigenschaften besitzt, die uns in uns selbst als die edelsten und besten erscheinen.

So stellt sich der Gehorsam Gott gegenüber mehr und mehr als Pflicht gegen uns selbst heraus; ja es scheint, als ob die ethische Gottesvorstellung vielfach überhaupt nur ein Übergang zwischen der sozialen und der Selbstverpflichtung wäre.

Es ist schon eine Verinnerlichung, wenn die Pflichten, deren Erfüllung die soziale Gruppe äusserlich erzwingt, religiöse Form gewinnen, d. h. von einem Wesen ausgehend gedacht werden, das der Mensch nach seinem Bilde geschaffen hat und das immerhin idealen und geistigen Charakter trägt.

Eine ganz eigentümliche Selbsttäuschung findet hier statt.

Während der Mensch im Allgemeinen geneigt ist, seine Leistungen und Verdienste zu übertreiben; indem er auf seine eigene Rechnung schreibt, was von der Gunst äusserer Verhältnisse bewirkt wird, werden umgekehrt unendlich oft Handlungen aus rein sittlichen Motiven vollbracht, von denen der Handelnde selbst aber glaubt, er täte sie nur, weil Gott sie befohlen hat.

Den Prozess des eigenen Pflichtbewusstseins hypostasiert er zu der Stimme eines göttlichen Machthabers, genau wie sonst wohl die inneren Versuchungen zu Einflüsterungen des Teufels.

Ohne Versucher keine Versuchung, keine sittliche Pflicht ohne Jemanden, der sie uns auferlegte; und wie man dort die Schuld der Übertretung von sich (<177) weg auf die Macht des bösen Feindes schob, so sprechen die frommen Seelen sich selbst alles Verdienst am Guten ab, indem sie nicht nur den Ursprung des Gesetzes, sondern auch die zu seiner Erfüllung nötige Kraft von Gott herleiten.

Dies ist schon eine sehr hohe Stufe des Sittlichen, auf der die Gottesvorstellung nur noch die Form ist, in der dem Individuum seine eigene Sittlichkeit erscheint.

Keinesfalls darf man der Behauptung der Rigoristen zustimmen: Sittlichkeit fände da überhaupt nicht statt, wo der Handelnde nicht seinem eigenen Pflichtbewusstsein, sondern einem göttlichen Befehl zu gehorchen meinte.

Es liegt darin die psychologische Unkenntnis, durch welche sich rein abstrakte und absolutistische Standpunkte auszuzeichnen pflegen; es wird eben nicht die Selbsttäuschung berücksichtigt, infolge deren wir unserem sittlichsten Handeln oft, durch die Macht angeerbter Vorstellungen betrogen, viel weniger sittliche Motive unterschieben.

Eine analoge Selbsttäuschung liegt nun vielleicht in dem Begriff der Pflicht gegen sich selbst.

Wie sich die Verpflichtung, die von der Gesamtheit ausgeht, auf die Vorstellung eines göttlichen Prinzips projiziert, dem man schuldig zu sein glaubt, wozu Zwang und sittliches Gefühl uns treiben, so leiten wir dasselbe von einem Ich her, dem wir handelnd gegenüberstehen, und dem gegenüber dieses Handeln ebenso an Normen gebunden ist, wie Gott und anderen Personen gegenüber.

Indessen gibt der folgende Gesichtspunkt dem Begriff der Pflicht gegen sich selbst vielleicht eine andere Wendung.

Wie wir rein intellektuell das Ich, das Ganze der Persönlichkeit noch von den einzelnen Vorstellungen unterscheiden, die aus jenem hervorgehen und sich zu ihm verhalten, wie die Wellen zum Meer: so hebt sich auch die einzelne Handlung von dem Gesamtcharakter, von dem praktischen Ich ab.

Nun ist aber dieses scheinbar substantielle und mit einem einheitlich bestimmten Charakter begabte Ich in Wirklichkeit doch nichts anderes als die Hauptsumme der einzelnen Vorstellungen, die jeweilige Majorität, die der einzelnen gegenüber (<178) als geschlossene Einheit auftritt.

Diese Trennung des Ich in einen relativ bleibenden und substantiellen, und einen ephemeren und funktionellen Teil ermöglicht nun auch einen Begriff der Pflicht gegen sich selbst.

Wie die soziale Gesamtheit von dem einzelnen Mitglied ein Handeln fordert, das sich in bestimmter Weise zu ihr verhält und in sie einordnet, so unterliegt auch die einzelne Vorstellung einem Sollen, das ihr ein bestimmtes Verhältnis zu der Gesamtheit der übrigen, zu dem Ganzen der Persönlichkeit vorschreibt.

Der Begriff der Würde ist es, der dies vor allem stützt; ihre Erhaltung erscheint durchaus als Pflicht gegen sich selbst; und sie bedeutet, dass die einzelne Vorstellung, die theoretische wie die praktische, ein Mass und eine Richtung haben, die durch den gesamten Inhalt der Persönlichkeit angegeben und ihm angemessen sind und an deren Stelle ganz abweichende als würdige gefordert werden, wenn die übrige Persönlichkeit eine andere ist; die Würde des Bürgers bedeutet inhaltlich etwas ganz Anderes, als die des Königs, die Würde des Mannes etwas Anderes als die der Frau etc.

Deshalb ist aber auch der Begriff der Würde der Menschheit ein unklarer und leerer.

Würde hat ein Wesen nur dann, wenn es sich von anderen unterscheidet, wenn ein umfassendes Ganzes vorhanden ist, gegen das es sich durch seine Eigenschaften derart abhebt, dass sich daraufhin ein bestimmtes Verhalten als das richtige für jede Äusserung dieses Wesens ergibt.

Die Würde der Menschheit überträgt fälschlicher Weise etwas, was nur für die Teile eines Ganzen vermöge ihres Verhältnisses untereinander gilt, auf das Ganze.

Sagt man aber, das Verhältnis, auf dem die Würde der Menschheit beruht, sei das zu unter ihr

stehenden Wesen, so vergisst man, dass dieser auch Punkte betrifft, in denen man gerade das Gegenteil der Würde erblickt, z. B. das Raffinement, die Bosheit, die Unsittlichkeit überhaupt.

Es bedarf also noch eines besonderen Kriteriums, um unter den überhaupt vorhandenen Unterschieden zwischen Menschen und Tieren diejenigen auszuwählen, deren Ausbildung von (<179) der Würde gefordert wird.

Aus dem Begriff des Menschen ergeben sich diese keinesfalls.

Und ebenso ist das Ich für sich allein betrachtet eine völlig leere Form, aus der unmöglich eine Pflicht hervorgehen kann.

Aber die Gesamtheit seiner Inhalte trägt beim Individuum einen bestimmten Charakter, der für das einzelne Vorstellen und Tun eine gebieterische Norm mit sich bringt.

Wie die kleinere Gruppe, die als Einheit, als Sozialatom in einer grösseren einbegriffen ist, sich dieser unterordnen muss, wie weiterhin das Individuum seiner Gruppe, so muss innerhalb des Individuums die einzelne Vorstellung sich zum Ganzen seines Wesens verhalten, indem auch hier jenes eigentümliche Doppelverhältnis stattfindet, das für alles Ethische die tiefste Voraussetzung und Grundlage bildet: dass der Einzelne einerseits einem Ganzen zugehört und Teil desselben ist, andrerseits aber doch selbständig ihm gegenübersteht.

Daraus würde sich eine bedeutsame Verbreiterung des Sollens ergeben; die Beschaffenheit und die Ziele jeglicher Gesamtheit würden demnach ein unter die Kategorie des Sollens fallendes Verhalten für das Individuum normieren, gleichviel ob dieses Individuum schon aus vielerlei Personen besteht, die nur als Einheit innerhalb eines grösseren Kreises wirken, oder ob es ein einzelner Mensch innerhalb einer Gruppe, oder ein Vorstellungskomplex gegenüber der Gesamtheit des Vorstellens, oder eine einzelne praktische Vorstellung gegenüber einer Vorstellungsgruppe ist.

Wird etwa als materialer Inhalt der Sittlichkeit die Beförderung fremden Glückes anerkannt, so würde sich dies für jeden Teil des Ich dem andern gegenüber wiederholen; und wenn bei höherer Kultur die verschiedenen Triebe und Interessen eine gewisse Selbständigkeit erlangt haben, so dass Depression und Unbefriedigung in einer Beziehung sehr wohl mit Freude und Förderung in der andern zusammen bestehen kann, so macht sich zunächst ein Anspruch entschiedener, dahingehender Verpflichtung geltend, dass der einzelne Trieb sich nur so weit betätigen darf, als er die Gesamtheit der anderen fördert (<180) oder wenigstens nicht schädigt.

Aber auch ohne Rücksicht auf das Gesamtresultat empfinden wir eine der ethischen verwandte Befriedigung, wenn überhaupt nur eines unserer Interessen sich dem andern dienstbar gemacht hat, wenn die Glückseligkeit, die das eine erstrebt, durch Leisten oder Verzichten eines anderen gefördert wird.

Die selbstverständliche Beschränkung ist hier dieselbe, die auch im ethischen Verhältnis der Individuen untereinander gilt: dass das Opfer nicht grösser als der Gewinn sei, und die Folgen zweiter Ordnung die wegen ihres Altruismus formal sittliche Tat nicht in ein materiell unsittliches Resultat auslaufen lassen.

Haben wir oben die vollkommene Sittlichkeit als einen Egoismus zu Allen erkannt, so könnte man nun den vollkommenen Egoismus als eine Sittlichkeit zu Einem ansehen; die einzelne Handlung oder Vorstellung wäre dann ebenso gehalten, die Ziele des Ganzen zu fördern, wie der einzelne Mensch es den Zielen seiner sozialen Gruppe schuldet.

In der Tat lässt sich auch beobachten, wie die Verhältnisse der einzelnen Strebungen und Vorstellungen zu den grösseren psychischen Komplexen sich derartig verhalten: das Gefühl des Zwanges, sich nach der Norm dieser zu gestalten, die Aufopferung, das Widerstreben etc., alles dieses spiegelt im Individuum die Beziehung seiner Totalität zu dem Kreise ab, den man als normgebend für sein sittliches Verhalten ansieht.

Auch das Nacheinander der Willensakte, die verschiedenen Epochen des Lebens, zeigen das gleiche Verhältnis wie ihr Nebeneinander; ja, hier ist es noch deutlicher, wie ein Teil der Ich-Entwicklung sich in ein zurücktretendes und verzichtendes Verhältnis, als blosses Mittel, zu ihrer Gesamtheit zu stellen hat und wie die Rücksichtslosigkeit und Anmassung der einzelnen Periode, absoluter Selbstzweck zu sein, vom Standpunkt dieser Gesamtheit aus beurteilt werden muss.

Der Egoist, auf das immanente Verhältnis seiner Willensakte unter einander angesehen, ist eine sittliche Gemeinschaft im Kleinen, die sittliche Gemeinschaft ein Egoist im Grossen.

Das ist nicht ein Zirkel der (<181) Definition, wie er sich sonst leicht in solche Analogien einschleicht, sondern nur der Ausdruck dafür, dass überall, wo ein Einzelner einer Gesamtheit gegenübersteht, diese Form zu einer gewissen gleichmässigen Idealbildung drängt; der gewöhnliche Sinn des Sittlichen, der nur den Einzelmenschen in seinem Verhältnis zur Gruppe, berücksichtigt, stellte dann nur einen speziellen Fall eines viel allgemeineren Prinzips dar.

Noch von einer anderen als dieser metaethischen Seite scheint der Begriff der Pflicht gegen sich selbst einen ganz , direkten, dem Worte entsprechenden Sinn zu erhalten.

Die, Fähigkeit des Ich, sich gleichsam in verschiedene Parteien zu spalten, hat die weitere zur Folge, dass wir uns selbst objektiv gegenübertreten können, so dass wir uns ansehen und Beurteilen, wie wir dritte Personen ansehen und Beurteilen würden.

Stehen wir uns selbst aber erst einmal in einer Linie mit allen anderen gegenüber, so scheint zu folgen, dass dieselben Rechte und Pflichten, die uns mit allen anderen Wesen verbinden, auch uns selber gegenüber gelten müssten - jedem das Seine, also doch auch mir das Meine.

Gibt es überhaupt ein objektives Moralprinzip, eine Eigenschaft, deren Maximierung, einen Zustand, dessen allgemeine Verwirklichung unsere Pflicht ist, so kommt ein Teil der sittlichen Tätigkeit auch uns selbst zu, die wir doch einen Teil, allen anderen koordiniert, des Ganzen bilden, dem sie gilt.

Wenn also z. B. allgemeine Glückseligkeit als sittlicher Endzweck anerkannt wird, so ist für mich als handelndes Wesen die Verwirklichung des Teiles derselben, der an mir als empfindendem Wesen realisierbar ist, ebenso Pflicht, wie die der auf Andere kommenden Teile.

Dies könnte man sich gefallen lassen; es wäre zu wünschen, dass die Ich-Interessen des Menschen sich quantitativ zu seinen gesamten Interessen verhielten, wie er selbst als bloss vorgestelltes Wesen sich zu der Gesamtsumme der übrigen Wesen seines Weltbildes verhält.

Täte nicht jeder Einzelne mehr für sich, als seiner objektiven Bedeutung als Teilchen der Welt zukommt, so würde (<182) die sittliche Welt wenig mehr zu wünschen übrig lassen.

Trotzdem muss die ideale Forderung doch darüber hinausgehen; denn sei ein gewisser Zustand der Gesamtheit sittliches Ziel, so gibt es jedenfalls in diesem Ganzen unzählige Mitglieder, deren Leistung für das Ganze weit hinter dem zurückbleibt, was nach jenem Prinzip von ihnen zu fordern wäre; daraus folgt, dass bei der unbedingten sittlichen Notwendigkeit jenes idealen Zustandes und bei der solidarischen Haftbarkeit, die wir für die Realisierung eines objektiven sittlichen Endzweckes empfinden, der sittliche Mensch mehr dafür tun muss als auf sein Teil käme, wenn alle Anderen das ihrige leisteten.

Es müssen immer so viel Schädigungen des Allgemeinwohles wieder gut gemacht werden, dass unsere Pflicht, uns selbst etwas Gutes anzutun, eine Pflicht in partibus infidelium bleibt.

Wie sich alles dies aber auch verhalte: tatsächlich ist die Macht, welche die soziale Gruppe über den Einzelnen ausübt, so überwältigend, dass die Pflicht gegen sich selbst immer nur als sachlicher oder psychologischer Umweg der Pflicht gegen die Gesamtheit erscheint.

Die Betrachtung einiger als Pflicht gegen sich selbst geltender Normen wird darüber weitere Klarheit geben.

Allen voran steht die Pflicht der Selbsterhaltung.

Wie sehr diese aus dem rein sozialen Interesse an der Existenz der Individuen zu verstehen ist, liegt auf der Hand.

Aber eben dasselbe Interesse fordert auch die Einschränkung der Selbsterhaltung, und zwar nicht nur in den Augenblicken öffentlicher Gefahr, wo der Einzelne sein, Leben in die Schanze schlagen muss, sondern auch in jeglichem Falle der Aufopferung und sittlichen Hingebung von Kräften, Interessen, selbstischen Empfindungen.

Zwischen dieser und der Hingabe des ganzen Lebens ist nur ein gradueller Unterschied, und der Sinn der Selbsterhaltung ist offenbar nicht der, dass das blosse Leben, diese leere, allen Wert gebenden Inhalt erst erwartende Form, erhalten werde, sondern dass es erhalten werde, weil und insoweit es Eigenschaften und Kräfte besitzt, die es mit Bedeutung (<183) erfüllen.

So wenig der Andere, für den die Sittlichkeit zu sorgen befiehlt, eine blosse Existenz als Objekt dieser Fürsorge darbietet, sondern eine Reihe von Eigenschaften, die über Vorhandensein, Art und Grad dieser Verpflichtung entscheiden, so wenig kann die Erhaltung eines Selbst, eines Ich, von dem man nur die Existenz aussagen kann, eine Pflicht sein.

Besteht das Ich nur aus der Summe seiner einzelnen, Inhalte, so ist diese ganze Summe das Objekt der Erhaltung des Selbst und jede Schädigung und Aufopferung eines Teiles, unseres Ich ist ein partieller Verzicht auf Selbsterhaltung, die Verpflichtung dazu eine Einschränkung der Pflicht der Selbsterhaltung.

Die Tatsache, dass solche teilweisen Aufopferungen, gleichzeitig mit teilweisen Selbsterhaltungen fortwährend von uns gefordert werden, beweist wieder, wie wenig einheitlich und unteilbar das sittliche Ich ist, wie wenig in ihm als absolutem und einfachem Wesen ein Moralprinzip zu suchen ist.

Und nun kommt es darauf an, was für ein Selbst erhalten werden soll und erst das relative Mass seines Wertes ergibt das Mass der an seine Erhaltung geknüpften Verpflichtung.

Da dieser Wert aber abhängig ist von dem Endzweck des Sittlichen überhaupt, so zeigt sich hier auch wieder die Naivität, mit der sittliche Vorschriften die Hauptsache voraussetzen und den Gesichtspunkt, der ihrem Inhalt erst die sittliche Bedeutung gibt, gar nicht ins Bewusstsein heben; woher denn Verpflichtungen, die nur Mittel zu einem weiteren Zweck und deshalb relativen Charakters sind, wegen des Unbewusstseins dieser Tatsache den Schein der Absolutheit annehmen - ein formaler Irrtum, der sich in dem vorliegenden Fall noch inhaltlich an dem Aberglauben des absoluten Ich stärkt.

Man könnte freilich die Behauptung, dass das Leben seinen Wert erst aus seinen qualitativen Inhalten empfinge, vielleicht umkehren und als höchstes Moralprinzip die Erhaltung und Steigerung der Lebenssumme rein als solcher aussprechen, was mancherlei für sich hätte.

Alle einzelnen (<184) Moralvorschriften lassen sich allenfalls so deuten, dass ihre Verwirklichung der Lebensmehrung dient, während alles Böse sich im letzten Grunde als lebenmindernd auslegen lässt.

Und man könnte nicht einwenden, dass es doch nicht darauf ankäme, wie viel quantitativ, sondern wie qualitativ gelebt wird, dass doch neben der Existenz überhaupt gefragt werden müsse, welchen Wert diese Existenz besitze.

Denn dieser Einwurf würde gerade das dogmatisch behaupten, was eben jetzt in Frage steht; man könnte sich denken, dass an denjenigen Eigenschaften und Vorgängen, die wir als Wertvolle bezeichnen, der Wert dies sei, dass sie erfahrungsgemäss der Vermehrung des Lebens überhaupt dienen.

Dies gilt vor allem für die Lust, die wir vielleicht überhaupt nur deshalb suchen, weil sie ein Mittel zur Erhaltung und Erhöhung des Lebens ist; der schnelle Fluss der Vorstellungen in der Freude, das frühe Altern von Genussmenschen und Phantasten, weil sie in derselben Zeit unvergleichlich mehr leben als Andere, spricht dafür.

Durch das Mittelglied hindurch, dass der Pessimismus ein verkappter Eudämonismus ist und nur durch die Schätzung der - freilich versagten - Lust als höchsten Lebenswertes entsteht, ordnen sich auch die lebensfeindlichen Moralprinzipien desselben dem hier angegebenen höchsten Zwecke unter.

Sie wären dann, wie jeder Eudämonismus, durch die psychologisch wohl begreifliche Umkehrung zustandegekommen, in der die Lust aus einem Mittel des Lebens zu seinem Zweck geworden ist.

Es wäre ein kindischer Einwurf gegen dies Prinzip, wenn man danach die unbegrenzte Kinderzeugung unter allen Umständen für sittlich gerechtfertigt hielte; denn es ist sehr leicht möglich, dass eine grosse Fülle von Leben an einem Punkte doch im Grossen und Ganzen eine Herabdrückung des Lebensquantums zur Folge hätte, gerade wie die Hypertrophie eines Gliedes eine Schädigung und Herabdrückung des Lebens des ganzen Körpers mit sich bringt.

Man kann auch nicht etwa sagen, nach diesem Prinzip sei es gleichgültig, welche Art von Leben gefördert würde, und die Begünstigung (<185) der Mehrung niedrigster Organismen sei ebenso sittlich wie die des Lebens höchster Organismen; denn höchste Organismen sind danach eben solche, die eine grössere Intensität und Fülle des Lebens in sich bergen und anderen ermöglichen; wie sich wenigstens innerhalb des Menschengeschlechts daraus ergibt, dass niedrige Gruppen Verhältnismässig viel grösseren Raum brauchen, als kultivierte.

Es wäre dies eine Erweiterung der Überzeugung, nach welcher die Erhaltung und Mehrung der eigenen Art Moralprinzip ist.

Müssen wir doch auch die sonst so beliebte Vorstellung aufgeben, dass der Natur nichts am Individuum, aber alles an der Gattung gelegen sei.

Erkennen wir überhaupt eine bestimmte Tendenz der natürlichen Entwicklung an, die wir der Kürze halber und gleichnissweise Naturzweck nennen wollen, so muss für diese auch die einzelne Gattung als blosses Individuum höherer Art dem allgemeinen Lebensprinzip gegenüber gleichgültig werden.

Zuchtwahl und Anpassung sind fortwährend nur an der Maximalaufgabe beschäftigt, auf gegebenem Raum ein Maximum von Leben zu ermöglichen; die Paläontologie zeigt, dass die Natur mit nicht geringerer Gleichgültigkeit über Gattungen wie über Individuen fortschreitet.

Vor allem muss man sich deshalb hüten, aus dem Anpassungsprinzip die Steigerung und Lebensmehrung einer bestimmten Art vorauszusagen.

Denn die Anpassung der einen erfolgt sehr oft auf Kosten der andern; die fortschreitende Anpassung von Schmarotzern, die auf einem viel höher organisierten Tiere leben, wird in der Verbesserung ihrer Organe zum Zweck immer gründlicherer Ausnutzung ihres Wirtes bestehen; vielfach wird deshalb dieser in demselben Verhältnis leiden und verkümmern, in dem die Anpassung jener fortschreitet.

Man kann also von vornherein höchstens behaupten, dass das Anpassungsprinzip eine Steigerung der Gesamtlebenssumme herbeiführt, aber nicht, dass es zur Erhöhung und Erhaltung irgend einer bestimmten Art führen müsse.

Dass die Lebensmehrung Naturzweck ist, liesse sich auch daraus entnehmen, dass immer mehr unorganische (<186) Materie in die organische Formung hineingezogen wird.

Bedenkt man, dass mit der energischen Vollziehung und Steigerung der Lebensprozesse Lust, mit ihrer Verlangsamung und Minderung Unbehagen verbünden ist, und dass im Grossen und Ganzen nur die den Endzwecken der Gattung dienenden Vorgänge am Körper Lustgefühle erwecken, so wird auch von daher das Leben als solches sich als objektiver Höhe- und Zielpunkt unserer Entwicklung darstellen.

Wenn uns das Seelenleben so unvergleichlich wertvoll gegenüber jeder unbeseelten Organisation erscheint, so mag dies daran liegen, dass sich in ihm die stärkste Verdichtung der Lebensprozesse darstellt; im Gehirn ist offenbar eine ungeheure Menge von Spannkräften aufgespeichert, was sich sowohl aus der Kraft ergibt, welche unser Körper, auf Grund einer Vorstellung von ihm aus innerviert, in so staunenswertem Grade entfaltet, wie aus der Ermüdung und Abspannung unserer gesamten körperlichen Energie nach lebhaften seelischen Vorgängen.

Die entgegengesetzten Erscheinungen: dass psychische Alteration einerseits starke Atomen und Lähmungen des Körpers hervorbringen, andrerseits aber solche auch gerade beseitigen kann, weisen doch gleichmässig auf die Fülle der in der Gehirntätigkeit entwickelten Energie hin.

Wäre aber hiernach auch die blosse formale Tatsache des Lebens sittlicher Endzweck und alle sittliche Qualität als solche nur ein zu gewisser Selbständigkeit ausgewachsenes Mittel für jene, so geht auch daraus noch nicht die Verpflichtung der Selbsterhaltung für den Einzelnen hervor, weil, wenn wir auch von allen Fragen nach dem Werte des Lebens absehen, auch seine Quantitätssteigerung im Ganzen durch eine Verminderung an einer einzelnen Stelle gewinnen könnte.

Fordert das Gebot der Selbsterhaltung, wenn es überhaupt zugegeben ist, durch die Auflösung des Ich in die Summe seiner Inhalte nicht nur die Erhaltung des nackten Lebens, sondern alles dessen, was dem Leben überhaupt qualitative Bestimmung gibt, so hat die Aufhebung des absoluten (<187) Ich noch eine anders gerichtete Beziehung zu der gleichen Pflicht.

Als erste und unbedingte Folge derselben pflegt nämlich das Verbot des Selbstmordes zu gelten.

Machen wir uns aber von dem Aberglauben an den absoluten Charakter und den absoluten Wert der individuellen Seele frei und erkennen wir, dass, wie sie ihre Inhalte aus dem Leben in der Gesellschaft zieht, auch ihre Verpflichtungen nur dieser zu gelten haben: so folgt einerseits allerdings ein strenges Gebot der Selbsterhaltung als eine für den Bestand der Gesellschaft erforderliche Norm, andrerseits aber auch die Möglichkeit von Lagen, in denen der Selbstmord eines Einzelnen von Nutzen für die Gesamtheit sein kann.

Wenn die unberechenbare Verschiebung und Verwicklung der Wirklichkeit die unerhörteste und verpönteste Tat dennoch unter Umständen zu einer sittlichen adeln kann, so ist nicht einzusehen, weshalb diese Möglichkeit gerade vom Selbstmord ausgeschlossen sein soll.

Übrigens hat unter den verschiedenen Motiven seines Verbotes wahrscheinlich das Verbot, Andere zu töten, die sittliche Perhorreszierung des Tötens überhaupt hervorgebracht, die sich dann auch auf das Töten der eigenen Person erstreckte; wir haben auch sonst schon gesehen, dass sittliche Allgemeinbegriffe, die zunächst nur durch die Beziehung zu dem Andern entstanden sind, dann von dieser Wurzel losgelöst und als für sich bestehende Begriffe mit absoluter begrifflicher Geltung konstituiert, häufig auch für die Handlungen gegenüber dem eigenen Ich eine sittliche Vorschrift feststellten, welche ursprünglich für diese Beziehung gar nicht gilt.

Nun aber kann es sittlich geboten sein, andere Menschen zu töten, sogar innerhalb des eigenen sozialen Kreises; denn auch das Urteil über die Todesstrafe wird ein ganz besonderes für denjenigen Standpunkt, der den Menschen seines absoluten Fürsichseins entkleidet und ihn ganz und gar nur als Glied einer Gesamtheit begreift.

Da ist denn sein Tod überhaupt nichts Absolutes mehr, sondern nur die Amputation eines Gliedes, um das Ganze zu retten.

Diese Auflösung des absoluten Ich lässt (<188) auch den Selbstmord anders erscheinen; auch er ist dann nur ein Punkt in der Kette allmählich ineinander übergehender Relationen.

Es ist nur der Seelenwahn, der ihm den absoluten Charakter einer von allen anderen sich generell unterscheidenden Handlung verliehen hat.

Gerade wie es sittlich geboten sein kann, keine Kinder in die Welt zu setzen, so kann es unter Umständen auch sittlich sein, schon vorhandene Existenzen zu vertilgen.

Zwischen beidem ist nur ein relativer Unterschied.

Der gewöhnliche Sinn der Frage betrifft indes nicht die seltenen Fälle, in denen Selbstmord sittlich notwendig sein kann, sondern bedeutet, ob er unter gewissen Umständen erlaubt ist.

Für den Utilitarismus genügt die Tatsache, dass ein Leben mehr Leid enthält als es Freuden empfinden oder bereiten kann, zur Rechtfertigung des Selbstmordes.

Auch kann er prinzipiell sich hiermit nicht so abfinden, dass es unmöglich wäre, diese Bilance namentlich in Hinsicht auf die Zukunft mit vollkommener Sicherheit zu ziehen.

Denn die Unsicherheit darüber ist nicht grösser als die jeder andern seiner Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die die Sittlichkeit oder Unsittlichkeit einer Tat aus der Aufrechnung ihrer sämtlichen eudämonistischen Folgen für alle Zukunft erkennen wollen.

Ich meine, dass die ethische Berechtigung des Selbstmordes überhaupt nicht aus der Leidenssumme des Subjekts zu schöpfen ist, sondern nur aus dessen absoluter Pflichtlosigkeit gegenüber andern Subjekten.

Wie es zu der Zeit, als Menschen für vogelfrei erklärt wurden, nicht als Schuld galt, einen solchen Menschen zu töten, weil er eben von allen Rechten und pflichten der menschlichen Gesellschaft gelöst war, so ist es auch keine Schuld mehr, wenn jemand sich tötet, an dem das Schicksal diese Loslösung vollzogen hat.

Denn nur die Pflichten innerhalb der Gesellschaft geben dem Leben denjenigen ethischen Wert, um dessentwillen es Pflicht ist es zu erhalten, den es aber als blosse leere Form nicht besitzt.

Darum ist es überhaupt ein falsches Verfahren, wenn man die Grösse eines Leidensquantums daraufhin untersucht, (<189) ob es den Selbstmord rechtfertigt.

Gemäss der ganzen Unbarmherzigkeit der Gesellschaft gegen den Einzelnen, aus der überhaupt der Pflichtbegriff entspringt, rechtfertigt auch ein Maximum von individuellen Leiden den Selbstmord nicht, wenn er die Erfüllung irgend welcher Pflichten unterbricht; tut er das nicht, so genügt schon ein Minimum von Leiden, um ihn zu rechtfertigen, weil er dann einer Rechtfertigung überhaupt nicht mehr bedarf.

Von einem sozial gleichgültigen Leben ist Fortbestand oder Vernichtung sittlich irrelevant.

Nur der religiöse Gedankenkreis scheint ein ethisches Moment gegen den Selbstmord überhaupt beizubringen.

Ist das Leben wirklich ein von Gott uns anvertrautes Gut, so ist es gewissermassen eine Untreue und Usurpation, seinem Beschluss darüber vorzugreifen.

Steht dies einmal dogmatisch fest, so ist darüber natürlich nichts mehr zu sagen; andernfalls aber Folgendes.

Wird die Welt so aufgefasst, wie der religiöse Standpunkt es muss: dass sie nämlich im Allgemeinen zwar vom Willen Gottes unmittelbar bestimmt wird, dass indes für einen gewissen Ausschnitt aus dem Weltsystem dieser Wille nicht unmittelbar Massgebend ist, sondern der Wille des Menschen eintritt, in dessen Freiheit es liegt, gewisse Handlungen gemäss dem Wunsch Gottes oder ihm entgegen zu bestimmen: so liegt auf der Hand, dass es keiner Handlung an und für sich angesehen werden kann, ob sie dem göttlichen Willen gemass ist oder nicht, sondern dass es dazu für jede einzelne einer besonderen Offenbarung bedarf.

Denn der göttliche Weltplan ist uns verborgen, und es wäre durchaus nicht unmöglich, dass der Selbstmord einer gewissen Anzahl von Individuen durchaus in dessen Tendenz läge.

Warten wir unter allen sonstigen Fällen des Lebens nicht den Beschluss Gottes ab, sondern tun, was unserer Freiheit möglich ist und richtig scheint; und haben wir dabei überhaupt die Möglichkeit, dass, was wir tun, dem Willen Gottes gemäss sei: so liegt kein Grund vor, weshalb wir gerade bei dem einen, der Bestimmung über unser Leben, den Beschluss Gottes passiv (<190) abwarten müssten.

Es wurde sogar den Christen der ersten Jahrhunderte die Frage entgegengehalten, weshalb sie sich nicht alle das Leben nähmen, wenn doch das Gelangen zu Gott den einzigen Wert des Seins ausmache.

Das religiöse Verbot des Selbstmordes gleicht dem der Ehescheidung auf den Ausspruch hin: was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.

Woher weiss man, dass nicht etwa in dem gerade vorliegenden Falle die Zusammenfügung von den Menschen und die Scheidung von Gott ausgeht? Wie unterscheidet sich dieses Zusammenfügen und Scheiden von den unzähligen ähnlichen Prozessen im physischen und psychischen Leben, bei denen wir gar nicht darauf kommen, eine besondere Mitwirkung Gottes für die eine Seite der Vorgänge in Anspruch zu nehmen? Aus dem blossen Begriffe des Lebens als einer göttlichen Gabe lässt sich durchaus nicht ableiten, dass wir es nicht freiwillig enden dürften; man könnte ebenso gut schliessen, dass, da doch auch unsere Zähne uns von Gott gegeben sind, wir nicht selbst einen kranken Zahn ausziehen dürften, sondern seinen Beschluss über sein Geschenk abwarten müssten.

Es geht auch hier der Prozess vor sich, dass Handlungen aus Gründen der blossen Sittlichkeit gepriesen oder verworfen werden, und nun, weil man die Sittlichkeit analytisch als den Willen Gottes bezeichnet, als Gebote oder Verbote Gottes angesehen werden.

Der Pflicht der Selbsterhaltung kann man nun die der Erhaltung der Ehre entweder koordinieren oder subordiniren.

Die persönliche Ehre zu bewahren, erscheint uns zunächst als Pflicht gegen uns selbst in dem Mass, dass wir uns berechtigt glauben, alle sonst Wertvollen Güter, ja das Leben aller Menschen, die sie antasten, dafür aufzuopfern.

Wir würden nicht glauben, zu so extremen Opfern das Recht zu haben, wenn es nicht eine Pflicht wäre, die uns beföhle, allen möglichen anderen Empfindungen entgegen, dieses eine vor allem zu wahren.

Was dagegen zu sprechen scheint, dass auch die Bewahrung der eigenen Ehre als Pflicht schliesslich (<191) nur eine Pflicht gegen Andere sei, das ist der etwas offensive Charakter, den das Bewahren der Ehre trägt, auch wenn es ganz fern von Ehrsucht ist, und in dem es liegt, dass man einen Menschen, gegen den man sonst vielleicht allerlei Verpflichtungen hat, kaltblütig über den Haufen schiesst, sobald er unserer Ehre zu nahe getreten ist - und dies sogar als eine Pflicht empfindet.

Die Ehre weist immer auf einen gewissen Zustand der Isolierung hin; sie ist es, die mich als eine bestimmt umgrenzte Persönlichkeit hinstellt und mich verhindert, mich, wie der Sprachgebrauch fein sagt, mit Anderen gemein zu machen, die mich mit einer Sphäre umgibt, in die niemand ungestraft eindringen darf.

Dieser Anstrich von Offensive und Isolierung scheint durchaus zu sagen, dass wir unsere Ehre, ganz anders als die altruistischen Interessen, nur uns selbst schulden, und ihre Bewahrung Pflicht gegen uns selbst im eigentlichen Sinn des Wortes ist.

Und doch scheint andrerseits die Analyse des Ehrgefühles zu ergeben, dass die Bewahrung der Ehre nur da wirklich Pflicht ist, wo wir mit unserer eigenen Ehre zugleich die einer grösseren Gemeinschaft oder deren Interessen überhaupt bewahren und verteidigen.

Auf der Hand liegt dies bei der Standesehre; ein Offizier muss seine Ehre in einer nach Art und Umfang vorgeschriebenen Weise verteidigen, weil die des ganzen Offizierskorps dabei beteiligt ist; der wissenschaftliche Forscher darf es nicht dulden, dass seine Ehrlichkeit verdächtigt wird, weil damit die Wahrheit seiner Forschung von vornherein der Bezweiflung unterläge und es zu seiner Pflicht gehört, das, was er als Wahrheit erkennt, auch möglichst zur Anerkennung zu bringen; wir verlangen als Pflicht von jedem Menschen, dass er eine ihm widerfahrene Beleidigung abwehrt - denn lässt er sie auf sich sitzen, so erkennt er sie als wahr an und verringert damit den Wert der Menschheitsgesellschaft, der er als Teil angehört.

Die Solidarität zunächst engerer Kreise, dann aber der Menschheit überhaupt bringt die sittliche Forderung mit sich, dass der (<192) Einzelne denjenigen, die ganze Person betreffenden Wert dessen Ausdruck die Ehre ist, bewahre und vermehre.

Eine Gesellschaft, in der der Ehrbegriff verschwände, würde damit ihren sittlichen Verfall bekunden und ihren äusserlichen einleiten.

Die Ehre sichert der Gesellschaft das zweckmässige Verhalten ihrer Mitglieder in den Fällen, in denen es durch äusserliche Gesetzgebung nicht erreicht werden kann; der Ehrenkodex ist eine aus Zweckmässigkeitsgründen geforderte Ergänzung des Kriminalkodex.

Nur wegen des grossen Vorteils, den die Gesellschaft aus der Ehre ihres einzelnen Mitgliedes zieht, gibt sie ihm das Recht, zur Verteidigung derselben Dinge zu tun, die sonst moralisch und juristisch verboten sind.

Der Charakter der Isolierung, den die Ehre trägt, spricht insofern nicht gegen ihren sozialen Charakter, als die Gesellschaft es mit Recht in ihrem Interesse findet, ihre Mitglieder in der durch den Ehrbegriff geforderten Absonderung von einander zu halten.

Keineswegs ist dasjenige Gemeinwesen das beste, dessen Teile in einander verschwimmen, und in dem jeder von jedem alles duldet; vielmehr muss jeder Teil auch für sich etwas bedeuten und eine allerpersönlichste Sphäre besitzen, aus der jeder darin Eindringende repelliert wird.

Der ganz eigenartige, mit nichts anderem vergleichbare Charakter der Ehre stammt aus der in ihr untrennbar und enger als irgendwo stattfindenden Verschmelzung von Sozialinteresse und Personalinteresse.

Dass der Kodex der Ehre kein fixierter und immer in gleicher Weise gültiger ist, auch im allgemeinen keine besonderen Organe zu seiner Exekutive besitzt, wie das alles beim juristischen Kodex der Fall ist - dies hat zur Folge, dass man zur Ausgleichung von Ehrenhändeln eine so unvollkommene Form wie das Duell gewählt hat.

Über die blinde Ungerechtigkeit derselben, wenn man sie nicht als ein Gottesgericht ansieht, andrerseits über ihre relative Zweckmässigkeit, insofern sie den Rückfall in das Faustrecht verhindert, welches vielleicht in einem einzelnen Fall der Gerechtigkeit viel mehr entsprechen (<193) mag, im ganzen aber die Gesellschaft viel mehr schädigt als es der ungerechte Ausgang mancher Duelle tut -bedarf es keiner Verständigung mehr.

Hervorgehoben sei nur, dass dem Duell unmöglich der Gedanke zu Grunde liegen kann, der Beleidiger habe schlechthin ein Unrecht begangen, der Beleidigte sei schlechthin im Recht; denn dann wäre der Kampf mit gleichen Waffen doch allzu ungerecht.

Vielmehr muss die Vorstellung die sein, dass das Recht möglicherweise auch auf Seiten des Beleidigers ist; indem auch dieser zur Waffe greift, verteidigt er sein Recht zu dem, was er getan hat.

Wenn A den B einen Schurken nennt und B ihn deshalb fordert, so erhält A mit der Waffe in der Hand diese Behauptung aufrecht.

Eben deshalb wird das Duell auch hinfällig, wenn A revoziert, weil er damit das Recht als nicht vorhanden erklärt, das er sonst mit der Waffe verteidigen würde.

Indem die Gesellschaft von dem Beleidigten verlangt, dass er seinen Beleidiger fordert, gibt sie diesem zu, dass auch er möglicherweise im Recht ist und kann nur daraufhin den Boden gleichen Kampfes für beide vorschreiben.

Dieses günstige Vorurteil hegt aber natürlich jeder Stand nur von seinen eigenen Mitgliedern und daraus erklärt es sich, dass Personen eines unteren Standes und notorisch unehrenhafte des eigenen nicht satisfaktionsfähig sind.

Sogar wer die Frau eines Anderen verführt und von diesem gefordert wird, muss sich noch eine Spur von Recht vindizieren, sonst könnte er, wenn er nur sonst ein ehrenhafter Mann ist, was sich ja mit dieser Schuld Oft vereinigt, nicht auf den Gekränkten anlegen.

Er muss mit wie immer dunklem Bewusstsein behaupten, dass seine Liebe zu der Frau und die ihrige zu ihm, ihm das Recht zu diesem Verhältnis gebe, und dieses innerliche Recht verteidigt er gegen das legale des Gatten.

- Es ist übrigens ein sehr unvollkommener Ausdruck, dass man denjenigen, der Einem eine tödliche Kränkung zugefügt, strafen will, und zwar selbst mit Gefahr des eigenen Lebens.

Gerade bei den schlimmsten und tiefsten gehenden Fällen handelt es sich (<194) psychologisch nicht um eine Strafe, sondern um das Gefühl, dass der Andere, nicht leben dürfe, und dass, so lange er lebt, der Wert der eigenen Existenz unter Null steht.

Wenn also behufs Abschaffung des Duells eine Verschärfung der Strafgesetze über Ehrenkränkung, Ehebruch usw. empfohlen wird, so dass die Anrufung des Strafrichters dem Gekränkten die hinreichende, Genugtuung gewährte, so mag dies da, wo sozusagen nur die Oberfläche des Ichgefühls verletzt worden ist, wohl ausreichen; aber nicht für die Fälle, wo die gesamte Existenz des einen der Gegner durch die des andern in ihrem Kern und Werte bedroht ist - und zwar gegenseitig.

Wie man das eigene Leben, trotzdem es nur eine Summe einzelner psychischer Vorgänge ist, schließlich doch als Einheit empfindet und mit der Existenz überhaupt Vorstellungen und Gefühle verbindet, die von jedem einzelnen Inhalt abgetrennt und unabhängig sind, so kann man auch das Leben eines Andern in Liebe und Hass schliesslich unabhängig von allen besonderen Eigenschaften und Handlungen desselben vorstellen, seine blosse Existenz kann in einer Weise auf uns wirken, die sich von ihren besonderen Veranlassungen, den einzelnen Betätigungen des Betreffenden ganz losgelöst hat.

Wie die Liebe die Existenz des Andern überhaupt als etwas so Wertvolles empfinden kann, dass man, um sie zu retten, gern das eigene Leben hingibt; wie die Liebe diese blosse Existenz selbst dann mit voller Leidenschaft wünscht, wenn Krankheit, Alter oder Unglück alle die einzelnen Momente vernichtet haben, auf die hin sie einst entstand: so hat für den Hass die blosse Nichtexistenz des Andern absoluten Wert, hinreichend, um das eigene Leben dafür aufs Spiel zu setzen.

Liegt nun eine solche Hassempfindung vor, die beiderseitig auf das Ganze der Persönlichkeit geht, wird durch die Existenz des Andern der psychologische Zustand geschaffen, der wie bei dem Vorstadium des Selbstmordes das Ganze der eigenen Existenz annulliert, so ist es ein ganz vergeblicher Versuch, durch ein soziales Eingreifen, das immer nur auf Einzelheiten (<195) des Handelns gerichtet sein kann, die Beruhigung dieses Gefühls erzielen zu wollen.

Hier liegt etwas Absolutes vor, dem mit relativen Mitteln nicht beizukommen ist; und das Duell ist dann gewissermassen ein gütliches Übereinkommen zwischen beiden, dass einer von ihnen den Platz räume.

Das sogenannte amerikanische Duell, gleichviel ob es überhaupt in Wirklichkeit vorkommt oder nicht, ist für einen solchen Fall der völlig zutreffende Ausgang.

Man muss aus sehr naheliegenden ethischen Gründen, die sich auf die anderweitigen Verhältnisse der Duellanten beziehen, es durchaus verurteilen, dass es zu derartigen Empfindungen und dann zu dieser Konsequenz derselben kommt; aber man soll nicht glauben, dass, wenn einmal ein absoluter Antagonismus zweier Personen gegeben ist, ein anderer Ausgang zu vollkommener logischer und psychologischer Lösung des Konflikts führen kann.

ich knüpfe hieran eine Erörterung dessen, was man bei Frauen die Ehre im engeren Sinn nennt - ein Sprachgebrauch, ganz dem entsprechend, nach welchem man das Sexualgebiet als das der Sittlichkeit im engeren Sinne bezeichnet.

Eine ausserordentlich grosse Anzahl von Motiven kreuzen sich an diesem für die Ethik höchst wichtigen Punkt.

In welchem Masse die Allgemeinheit in höheren Kulturverhältnissen daran interessiert ist, dass der Frau die Bewahrung ihrer Ehre als unbedingte Pflicht erscheine, ist durch den einfachen Hinweis darauf klar, dass die Familie und die Sicherheit ihrer inneren Verhältnisse bis jetzt das unentbehrliche Fundament des höheren staatlichen Lebens bildet und bedarf im übrigen weiter keiner Ausführung.

Der Wert der Keuschheit mag sich auch z. T. daher schreiben, dass die Frauen, in primitiveren Zuständen die Kinder länger stillen als jetzt, und dass dies für deren Gedeihen beim Mangel anderer rationeller Ernährung durchaus erforderlich war.

Erneuter Beischlaf nahm ihnen die Fähigkeit dazu, so dass während der Stillungszeit dieser selbst bei den wildesten Völkern aufs schärfste verboten ist.

Dem Keuschheitsinteresse entgegen finden wir auch den Standpunkt (<196) vertreten, dass die Hingabe der Mädchen eine Art sozialer Pflicht derselben sei, die die Frau, die in der Ehe mit einem Manne lebt, gewissermassen unterschlägt; dies dürfe sie aber nur tun, wenn sie jener Verpflichtung genügt habe, der wir denn auch in der Form der Kultprostitution und der offiziellen Zügellosigkeit der jungen Mädchen bei vielen Völkern begegnen.

Wie sehr es die Nützlichkeit ist, die auch hier die sittliche Qualität zu Wege bringt, kann man in gewissen Bezirken nahe den Grossstädten sehen, wo die Mädchen geradezu zur Unkeuschheit erzogen werden und ein nicht verführtes Mädchen beinahe als nicht moralisch angesehen wird, weil die Mädchen, wenn sie ein Kind haben, als sehr gesuchte, Ammen nach den Städten gehen, von dort mit vielem Gelde zurückkommen und so eine unentbehrliche Quelle des Wohlstandes für die Gegend werden.

Das Gegenstück dazu bilden jene Künstlermodelle, die ihre Keuschheit streng bewahren, aber nur, um sich nicht durch die Folgen des Gegenteils für, ihren Beruf untauglich zu machen.

Dass im übrigen die Forderung der weiblichen Tugend vom Egoismus der Männer ausging, scheint ebenso zweifellos, wie dass überhaupt der Wille des Stärkeren unzählige Male zur sittlichen, schliesslich auch innerlich empfundenen Pflicht für den Schwächeren geworden ist.

Es ist behauptet, dass nachdem die Ehe, sei es als Polygamie oder Monogamie, gebräuchlich geworden, die Eifersucht zur Einprägung der weiblichen Tugend geführt habe und von der Ehre, die dieser deshalb erwiesen sei, ihr Wert auch bei unverheirateten Frauen ausgegangen sei.

Es liesse sich indessen noch fragen, ob nicht umgekehrt die Ehe vielmehr ein Resultat der Eifersucht sei.

Auch was die Jungfrauen betrifft, ist der Ursprung des Keuschheitsgebotes aus dem Egoismus der Männer wahrscheinlich, insofern es eben dasselbe Moment als Fürsorge für die Zukunft bedeutet; dies wird um so wahrscheinlicher in Rücksicht auf die häufige Infibulation bei Naturvölkern.

Da das Interesse an der Keuschheit der unverheirateten Frauen (<197)eben deshalb ein Zukunftsinteresse ist gegenüber dem an der Keuschheit der verheirateten, so ist es verständlich, dass bei manchen Naturvölkern, deren Geist noch nicht zu weiterem Vordenken entwickelt ist, das sexuelle Leben der Mädchen gar keiner sittlichen Beurteilung unterliegt, während das der Frauen auf das Strengste gehütet und beurteilt wird.

An diesem Punkt, wo die Pflicht gegen die Gesellschaft am striktesten die Form einer Pflicht gegen sich selbst annimmt, sehen wir den Einzelnen zu Gunsten der Gesamtheit eine Ungerechtigkeit leiden, die ihren Ausdruck schon im Doppelsinn des Wortes Ehre findet.

Wir sagen von einem verführten Mädchen, dass sie ihre Ehre, ihre Unschuld verloren hat; und doch kann eben diese in jeder anderen Hinsicht die ehrenhafteste, unschuldigste und tugendreichste Person sein.

Die Sprache und die gewöhnliche Denkweise ist zu oberflächlich, zu sehr beherrscht sie noch der Wahn von der Einheitlichkeit der Seele, um in Betracht zu ziehen, dass man eine Qualität, die ein Mensch in gewisser Hinsicht verloren hat, ihm noch nicht überhaupt und in jeder Hinsicht absprechen darf; mit vollem Recht bestraft es ja das Gesetz als Beleidigung, wenn man jemanden öffentlich einen Betrüger nennt, selbst wenn man den Beweis führen kann, dass der Betreffende einmal betrogen hat; denn die absolute Qualifikation des ganzen Menschen, die in diesem Wort liegt, ist noch dadurch nicht gerechtfertigt, dass er einmal oder sogar mehrere Male betrogen hat.

Die Ehre wird in Bezug auf die Frau in einem engeren Sinne genommen, als ihn das Wort sonst hat; und die Tatsache, dass sie in diesem engeren Sinn verloren gegangen, führt über die Brücke der Wortgleichheit zu der Vorstellung, dass sie auch im weiteren und weitesten Sinn verloren sei, aus dem Verlieren dieser »Unschuld« wird eine »Schuld« gemacht, die zur Verurteilung der ganzen Persönlichkeit hinreicht.

Hierdurch aber gerade, dass die Gesellschaft ein gefallenes Mädchen ausstösst und sie oft gegen alle Gerechtigkeit und Billigkeit dem Verderben (<198) überliefert, dass sie selbst vor so grausamen Mitteln wie dem Verbot der recherche de la paternité nicht zurückschreckt, schafft sie jenen heilsamen Schrecken vor der Verführung, der sie in der Tat oft verhindert und dadurch der Gesellschaft auf Kosten jener einzelnen Opfer zum grössten Nutzen gereicht.

Dennoch lässt sich ein sehr tiefliegendes Moment auffinden, das jener Ungerechtigkeit eine innere Berechtigung verschafft.

So vorsichtig man nämlich auch mit den Urteilen über die Frauen im Plural sein muss, so scheint doch eines unzweifelbar: dass das Wesen der Frau ein viel einheitlicheres ist als das des Mannes; in jedem ihrer Gefühle und ihrer Gedanken steckt viel mehr die ganze Person, sie lässt viel häufiger von einem Punkte aus die Gesamtheit ihres Seelenlebens aufregen, jeder inneren und äusseren Situation gibt sie sich viel ungeteilter hin als der Mann, der durch seine grössere Objektivität und den grösseren Reichtum an verschiedenartigen Interessen im allgemeinen verhindert ist, sich einem einzelnen Affekt oder Interesse so unbedingt hinzugeben.

Wie die Frauen als Ganzes angesehen einander ähnlicher sind als die Männer, was sich schon körperlich dadurch ausdrückt, dass die Messungen verschiedener Körperteile bei verschiedenen Rassen ergeben haben, dass die Männer weit mehr von einander verschieden sind als die Frauen: so ist auch die einzelne Frau in sich ungeschiedener und die Teile ihres Wesens bilden eine ungebrochenere Einheit.

Aus dieser folgt es allerdings, dass bei der Hingabe in auch nur einer Beziehung ihr ganzes Wesen in viel höherem Masse beteiligt sein muss, als es bei dem Manne der Fall ist.

Hieraus erklärt sich zunächst, weshalb man einer Frau den Ehebruch viel schwerer anrechnet als einem Manne; denn beim Manne führen die verschiedenen Triebe und Interessen weit mehr getrennte Rechnung, und die Möglichkeit, dass er trotz einer ausserehelichen, aber rein sinnlichen Befriedigung dennoch seiner Frau die innerlichste seelische (<199) Treue bewahre, liegt für ihn wenigstens problematisch näher als bei der Frau, die sich dem Gattungstypus nach nur ganz oder gar nicht hingeben kann.

Dass es sich hier nur um graduelle Unterschiede handelt, liegt auf der Hand.

So vollkommen kann auch beim Manne die Abtrennung der sinnlichen Funktion von den übrigen Seeleninhalten nicht geschehen, dass nicht die Schicksale der ersteren irgendwie auch die Beschaffenheiten und Verhältnisse der letzteren alterierten; und noch um so weniger, als gerade ein rein sinnlicher Treuebruch nur bei erheblicher Stärke der Sinnlichkeit vorkommen wird, welche letztere also gerade in solchen Fällen eine dominierende und mannigfaltige Verflechtung mit den anderweitigen Interessen der Seele aufweisen dürfte.

Angenommen aber auch, die Differenzierung würde so vollkommen, dass die sinnlichen Elemente des Wesens gleichsam ein Sonderleben führten und ihre Modifikationen ohne Einfluss auf die übrige seelische Beschaffenheit blieben: so würde doch bei dem sinnlichen Treuebruch die Seele als Ganzes nicht schuldlos bleiben, da jedenfalls jener Teil von ihr korrumpiert wird.

Dies scheint so selbstverständlich, dass es keiner Erwähnung brauchte, wenn sich nicht in der Praxis an dies Verhalten eine häufige Unklarheit knüpfte.

Man hört sittliche Unzulänglichkeiten oft damit entschuldigen, dass sie »mit der Hauptsache nichts zu tun hätten«; das Bewusstsein, im Grossen und Ganzen und der durchgehenden Tendenz nach sittlich zu sein, hebt uns leicht über das Bedenkliche eines einzelnen Tuns hinweg, gleichsam als stände dies ausserhalb der zentralen Beschaffenheit der Seele, auf die es eigentlich und allein ankommt.

Prinzipiell gewandt weist dies auf das absolute Ich zurück, das eine Sonderexistenz der einzelnen Vorstellung gegenüber besässe.

Wenn auch nach dieser Denkweise unsre Vorstellungen schliesslich aus der substantiellen Seele hervorgehen, so besitzt diese doch eine Qualität für sich, die von der einzelnen Handlung so wenig bestimmt wird, wie etwa die Qualität Gottes von dem Tun der Menschen, die doch auch aus ihm hervorgehen und von (<200) ihm getragen werden.

So wird manche an sich unmoralische Tat als nicht recht zurechenbar oder als sittlich gleichgültig empfunden, weil die Seele als Ganzes sich von der Färbung frei weiss, die jene charakterisiert, und weil nur eine Seele als Ganzes, nur ein metaphysisch absolutes Ich das Verantwortliche, weil allein Freie, in uns sein kann.

Dass die Majorität der Seeleninhalte und ihr Charakter, der einzelnen psychischen Äusserung gegenüber, als das absolute Ich konstatiert und so ein quantitativer Unterschied zu einem generellen gemacht ist, spiegelt sich in dem Leichtsinn, mit dem eine isolierte Schuld getragen oder vielmehr abgeworfen wird, deren Verbindung mit dem Charakter des übrigen Ich nicht durchsichtig ist.

Hier liegt einmal ein Zusammenhang des theoretischen Fortschritts mit dem praktisch-sittlichen auf der Hand.

Die Erkenntnis, dass die Seele nichts ausser den einzelnen psychischen Äusserungen ist, dass sie in der Summe und dem Zusammenhänge dieser besteht, bietet eine genaue Analogie zu dem Bewusstsein, der sittliche Charakter könne nicht ausserhalb der einzelnen Handlungen derart bestehen, dass eine solche nicht verantwortbar sei, weil ihre Eigenschaften unserem Wesen gegenüber isoliert seien und dieses in der Hauptsache trotz jener intakt bleibe.

Gewiss gehen im Geiste Differenzirungsprozesse vor sich, welche seinen einzelnen Gebieten eine relative Unabhängigkeit von einander geben; allein dies bedeutet doch nur, dass diese Gebiete einander koordiniert sind.

Gerade weil nicht ein einheitliches Wesen in uns ist, das die Verantwortlichkeit für Alles trüge, haftet eine Verantwortlichkeit an jedem Gebiete für sich und kann nicht von, dem einen abgeschoben werden, weil ein andres sich davon frei weiss, wenn auch dieses letztere ein zentraleres und bedeutsameres ist.

Die Schuld kann durch solche Differenzierung verringert, aber nie aufgehoben werden.

In dem vorliegenden Fall gilt jedenfalls die Frau, als das, weniger differenzierte Wesen, als zu einheitlich, um das bloss Sinnliche von den übrigen Seeleninhalten scharf sondern zu können, (<201) und so nimmt man an, dass sie auch in jeglicher tieferen Hinsicht die Treue dem Manne gebrochen habe, dem sie die geschlechtliche Treue gebrochen hat.

Mit Bezug auf die Häufigkeit des Ehebruchs in der Renaissancezeit ist hervorgehoben worden, wie die volle individuelle Entwicklung der Frau, die sie mit dem Manne auf gleiche Stufe stellte, damals entschieden auf ihn hingewirkt habe.

Er erscheine namentlich dann gleichsam berechtigt, wenn Untreue des Mannes hinzukommt.

Das individuell entwickelte Weib empfinde eine solche bei Weitem nicht bloss als einen Schmerz, sondern als Hohn und Demütigung, und nun übe sie oft mit ziemlich kaltem Bewusstsein die Rache, welche der Gemahl verdient hat.

Wo also die Frau eine vielseitigere Entwicklung geniesst und sich damit dem männlichen Typus mehr nähert, da ist der Ehebruch nicht so schuldvoll, weil er nicht die ganze Persönlichkeit betrifft.

Aus diesem Zusammenhänge erklärt es sich, dass die Frau, deren Halbsklaverei in Korrelation mit dem ehelichen Verhältnis steht, überall da, wo sie sich zur Forderung grösserer Rechte erhebt, mit der Forderung der freien Liebe beginnt; so war es zur Zeit der griechischen Hetären, so im Frankreich des vorigen Jahrhunderts, so geschah es durch den Mund der Georges Sand, so im russischen Nihilismus.

Eines der stärksten Beispiele für diese Zerteilung der Persönlichkeit, bei der »die Linke nicht weiss was die Rechte tut« und das ethische Schicksal des Ganzen völlig von dem des Teiles gesondert erscheint, finde ich bei Boccaccio (Dekam. giorn. VI, nov. VII ): eine Frau, von ihrem Gatten wegen Ehebruchs gerichtlich angeklagt, fragt denselben in der Verhandlung, ob sie sich ihm je entzogen und ihr Verhältnis mit ihrem Liebhaber je ihre eheliche Pflichterfüllung vermindert oder verkümmert hätte.

Und wie er dies verneinen muss, fährt sie fort: Adunque domando io, messer podestà, se egli ha sempre di me preso quello che gli è bisognato e piaciuto, io che doveva fare o debbo di quel che gli avanza? debbolo io gettare ai cani? non é egli molto meglio servirne un gentile (<202) uomo che Più che sé m'ama che lasciarlo perdere o guastare? -worauf sie vom versammelten Volk freigesprochen wird.

Hier ist der Mangel jener Einheitlichkeit des Wesens, die mit der sexuellen Hingabe an Einen ihm auch die ganze und volle Persönlichkeit gibt und die daraus folgende ethische Entlastung scharf ausgesprochen - eine Entlastung, die, für ein roheres Bewusstsein eine vollständige, für ein feineres wenigstens jene Lokalisierung der Schuld auf das periphere Gebiet ausspricht; die aus der Differenzierung der Seelenenergien hervorgeht.

Nun aber wird diese Differenzierung im Ganzen den Frauen nicht zugesprochen; man nimmt an, dass die Hingabe auch eines Mädchens ausserhalb der Ehe keine partielle ist, sondern die absolute von Geist und Körper, Sein und Haben anzeigt.

Was hieran in der Tat die persönliche Ehre im weitesten Sinne herunterzusetzen geeignet ist, das ist, dass sie dieses Ganze ohne ein entsprechendes Äquivalent fortgibt; denn ihr Verführer denkt in der Regel gar nicht daran, ihr entsprechend seine ganze Persönlichkeit hinzugeben, wie es in den Worten Gretchens angedeutet wird: »Denkt Ihr an mich ein Augenblicklichen nur, Ich werde Zeit genug an Euch zu denken haben«.

Wer sein Ganzes hingibt, um von dem Andern nur ein Teilchen seines Ich zu erhalten, der zeigt, dass seine Persönlichkeit ihm keinen hohen Wert hat und verzichtet damit selbst auf die volle Ehre, die den Wert eines Menschen dem des andern gleichstellt.

Man nimmt deshalb im allgemeinen mit Recht an, dass diese Hingabe nur in der Ehe die persönliche Ehre nicht herabsetzt, weil sie in dieser in d Tat eine beiderseitige ist, so dass die Frau für das Ganze ihrer Person auch das Ganze d.h. die lebenslängliche Treue und Fürsorge des Mannes erhält; völlig gleich steht die Rechnung vielleicht auch hier nicht, weil der Mann wegen seiner nach mehreren Seiten zugleich gerichteten Interessen – mindestens doch neben den Familien- noch die Berufsinteressen - sich der Frau nicht so absolut geben kann wie sie ihm.

(203) Indessen für die gewissenhafteste ethische Analyse ist die Sache hiermit noch nicht abgetan.

Ein so grosser Wert des Lebens auch die Ehre sei, so ist sie doch nicht der einzige, und man kann auch keineswegs sagen, dass sie unbedingt der höchste ist; gerade weil sie, so sehr sie auch ursprünglich aus dem Interesse der Gesamtheit geschöpft ist, doch schliesslich mit dem eigenen Interesse völlig verwächst, so wird die Sittlichkeit ein Überwinden derselben im Dienste höherer Interessen manchmal fordern.

Es sind uns in Geschichte und Dichtung genug Fälle überliefert, wo Frauen ihre Ehre hingegeben haben, um mit diesem Preis die Rettung ihrer Angehörigen oder ihres Vaterlandes zu erkaufen: es kann also hier ein sittliches Gebot geradezu fordern, die persönliche Ehre aufzugeben, die demnach kein absolutes Gut ist, sondern auch nur ein relatives, in die Abwägung gegen andere Güter eintretendes; die Ausnahmestellung, die sie in der Reihe der sittlichen Werte als etwas ganz Unvergleichbares einzunehmen scheint, verdankt sie nur der eigentümlichen Mischung von Interesse der Gesamtheit und Eigeninteresse, die ihren psychologischen Charakter bildet und sie schlechthin als die Pflicht gegen uns selbst hinstellt; und vor allem dem Umstand, dass sie zwar als ein Eigeninteresse, aber doch als ein ideales erscheint; sie ist von allem Eigennutz entfernt, ein reines Sittlichkeitsinteresse und doch mit dem Allerpersönlichsten solidarisch.

Wenden wir dies auf den obigen Fall an, so muss ich sagen: ich kann eine eigentliche Herabwürdigung der sittlichen Persönlichkeit nicht darin finden, wenn ein Mädchen sich einem Manne in solcher Demut hingibt, dass sie gar keine adäquate Erwiderung verlangt; dies war es allerdings, worin wir die Herabsetzung Ihrer Ehre erblickt hatten, allein sie erkennt hier die Idee der Liebe, der sich selbst aufopfernden Hingabe als das Höhere an.

In dem vorhin angeführten Ausspruch Gretchens liegt symbolisch das Bewusstsein, dass bei dem unendlich höheren Werte und Bedeutung, den die Existenz eines Mannes wie Faust der ihrigen kleinen,(204) bescheidenen gegenüber besitzt, es nur angemessen ist, wenn sie ihr ganzes Leben gegen einen Teil des seinigen in die Waagschale wirft.

Man hört, dass die Mädchen, die sich verführen lassen, sich vielfach bewusst sind, dem Mann ein Opfer zu bringen, von dem sie selbst nichts haben.

Liegt der Fall ganz rein so, so mag man diese Hingabe der Ehre durchaus falsch und unverhältnismässig finden - man kann sie nicht eigentlich unsittlich nennen, besonders wenn wir bedenken, dass für ein Mädchen sich in dem geliebten Mann das verkörpert, was den Mann zu den höchsten objektiven und idealen Strebungen treibt, und dass das Aufgeben der persönlichen Ehre um dieser willen oft das Zeichen einer erhöhten und nicht einer erniedrigten Sittlichkeit und Selbstlosigkeit ist.

Frauen und grosse Massen pflegen sich nur durch eine Person hindurch für Unpersönliches zu begeistern - wie ihnen auch die Idee des Patriotismus häufig genug zu der Person des Herrschers, die- der Religion zu der des Priesters kristallisiert.

Die Frage der weiblichen Ehre hat so viele individuelle und soziale Beziehungen - derart, dass gerade der allertiefste Grund der Persönlichkeit und das allerbreiteste Interesse der Allgemeinheit dabei ins Spiel kommt - dass das ethische Urteil über ihren Verlust den zahlreichen Momenten für dessen Verurteilung zahlreiche zu seiner Entschuldigung gegenüberstellen kann.

In dem ganzen Bereich individueller Sittlichkeit gibt es vielleicht kein Problem, bei dem sich die Leichtigkeit, mit der die Masse und die dogmatische Sittenlehre urteilt, so weit von der Schwierigkeit abhebt, die eine tieferdringende und vorurteilslose Analyse darin findet.

Es kommt eben auch hier darauf an, uns von der Herrschaft allgemeiner und deshalb oberflächlicher Begriffe zu befreien und auf die letzten Elemente der einzelnen Vorkommnisse

zurückzugehen, gerade wie man in der Wissenschaft des Körperlichen nur durch Zurückgehen auf die letzten einfachen Teile zu einer wahrhaften Erkenntnis kommt.

Und gerade wo so viele (<205) Urteilselemente mitwirken, wird die Verschiedenheit ihrer Stärke die einzelnen Fälle einander ganz unähnlich machen.

Es bleibt freilich eine Schwierigkeit, wie in allen Fällen, die man nicht nach Prinzipien, sondern von Fall zu Fall meint entscheiden zu sollen.

Jede Beurteilung, die nicht bloss eine subjektive Aussage über Gefallen und Missfallen sein will, sondern den Anspruch objektiver Begründetheit erhebt, kann dies doch nur so, dass ein allgemeiner Satz, eine allgemeine Urteilsnorm vorausgesetzt wird, deren Bedingungen an dem einzelnen Fall aufgezeigt und damit dessen ethische Qualifikation erwiesen wird.

So sehr man sich auch dagegen wehren mag, nach Prinzipien zu urteilen und statt dessen von Fall zu Fall urteilen will, so ist dies doch dem Begriff des Urteils zufolge eine Selbsttäuschung.

Es ist die gleiche metaphysische Schwierigkeit, wie die Auflösung der Substanzen in Kräfte und Bewegungen sie unserm Denken darbietet.

Man mag diese noch so weit treiben, noch so viel scheinbar Festes in blosse Funktion auflösen, so mündet dieser Prozess doch irgendwo an einer wie weit auch immer zurückliegenden Substanz, die die Funktion trägt; er bewirkt nur, dass der Fall nicht in Bausch und Bogen, in der ganzen Komplikation seiner Erscheinung unter ein Prinzip gebracht wird.

Allein die Individualität des so gefällten Urteils wird doch nur durch eine Kreuzung mannigfaltiger Prinzipien zustande gebracht, in deren Schnittpunkt der fragliche Fall steht, gerade wie die Individualität eines Gegenstandes seinem Allgemeinbegriff gegenüber darin besteht, dass er noch an anderen Allgemeinbegriffen Teil hat und seine Einzigkeit in der Vereinigung dieser besitzt.

Das Urteilen von Fall zu Fall bedeutet also nur, dass wir jeden Fall in seine verschiedenen möglichst elementaren Faktoren zerlegen und aus den verschiedenen prinzipiellen Beurteilungen, die jeder derselben findet, das Gesamturteil zusammensetzen; es verhindert nur, dass ein unterhalb der höchsten Prinzipien gelegenes Prinzip für Fälle geschaffen werde, denen die Zusammensetzung ihrer Elemente eine äussere (<206) morphologische Gleichheit verliehen hat; es ist nur ein Urteilen nach richtigeren und angemesseneren Prinzipien, aber nicht ohne Prinzipien.

In der theoretischen Erklärung der Dinge lassen wir uns die angedeutete Analogie hierzu ohne Weiteres gefallen; wie absonderlich und einzigartig auch ein Geschehnis sei, so sind wir doch ihm gegenüber völlig befriedigt, wenn wir die vielfachen, einander modifizieren Naturkräfte und Gesetze erkannt haben, die sein Zustandekommen bewirkt haben; es braucht kein dunkler Rest mehr zu bleiben, sondern für jede Abweichung von derjenigen Richtung, die es einem Naturgesetz gemäss einschlagen müsste, lässt sich ein anderes finden, dem es in diesem Augenblick die Bedingungen der Anwendung bot und das die Wirkung jenes zu einer Resultante umbog.

Alles Individuellste wird so als blosse Verflechtung allgemeinster Gesichtspunkte erkannt, in denen es völlig aufgeht und die unsere theoretische Frage völlig beantworten.

Die genaue Analogie, die dies in der Beurteilung innerlicher Vorgänge zu finden scheint, gewährt doch unserem Gefühl nicht die gleiche Befriedigung.

So sehr wir eine oberflächliche Prinzipienmässigkeit fliehen und jedes Element unseres Handelns herauslösen und auf ein besonderes letztes Prinzip zurückführen mögen, so ist eben nicht zu vermeiden, dass schliesslich allgemeine Prinzipien, in wie besonderer Komplikation immer, den Ausschlag der Beurteilung geben.

Das Individuelle wird also doch als Fall allgemeiner Normen betrachtet und dagegen sträubt sich eben ein stolzeres und sehr persönliches Empfinden; es mag nicht als Richter über sich ein allgemeines Gesetz anerkennen, das ihm doch immer als etwas Fremdes gegenübersteht.

Das Verlangen, nur von seinen Pairs beurteilt zu werden, verengt sich hier zu dem Gefühl, dass die Tat überhaupt nicht ausserhalb ihrer selbst den Massstab ihres Wertes finde, dass keine Zusammensetzung allgemeiner Prinzipien gerade das Eigenartige und Charakteristische an ihr treffe.

Solche Prinzipien erscheinen dann als eine Gesetzgebung, zu der die individuelle (<207) Persönlichkeit nicht mitgewirkt hat, bei der sie nicht befragt worden ist, und die sie deshalb nicht als für sich verbindlich anerkennt - nicht ihres speziellen Inhaltes wegen, sondern weil es ein Unpersönliches ist, das sich zum Massstab des Persönlichen machen will.

Die begriffliche Konsequenz, dass, wenn überhaupt beurteilt wird, doch ein Allgemeines da sein muss, das für das Einzelne die Norm bildet, wird von dem, subjektiven Gefühl oft genug einfach verneint.

Je mehr das, Gefühl der Persönlichkeit und ihres Wertes sich hebt, desto, ablehnender verhält sie sich nach zwei scheinbar entgegengesetzten Seiten: sie sträubt sich dagegen, nach ihren einzelnen Inhalten bewertet zu werden, empfindet sich als eine umfassende Einheit, deren Bedeutung über die Einzelheit ihrer Gedanken oder Strebungen erhaben sei, und andrerseits wehrt sie das über ihr gelegene Allgemeine als Wertungsgrund ab, empfindet sich als absolute Individualität, die mit nichts anderem zu vergleichen und deshalb nicht unter einen allgemeinen Begriff zu bringen ist, dessen Wesen ja in der gleichmässigen Gleichgültigkeit für vieles besteht.

Sie nimmt für das subjektive Empfinden eine Stellung ein, die jenseits des Einzelnen wie jenseits des Allgemeinen steht.

Wenn wir hier keinem Mystizismus Raum geben wollen, zu dem freilich der schwierige Begriff der Individualität besonders leicht verführt, sondern den Fall nach den gewöhnlichen psychologischen Prinzipien beurteilen, so ist offenbar für diese beiden Erscheinungen der Grund derselbe: dass nämlich die Fülle der einzelnen in Betracht kommenden Momente eine gegenseitige Verdunklung derselben für das Bewusstsein bewirkt und dass sich für dasselbe als absolute und unvergleichbare Einheit darstellt, was einerseits aus unzählig vielen und entgegengesetzten Elementen besteht, und andrerseits ebendeshalb an unzählig viele und entgegengesetzte allgemeine Normen und Prinzipien appelliert.

Was aber so für das Ganze der Persönlichkeit gilt, das überträgt sich mit den nötigen Einschränkungen auf gewisse Kreise und Teile ihrer.

Auch (<208) die einzelne Tat geht einerseits aus einer solchen Fülle von Motiven und historischen Bedingungen hervor, erzeugt andrerseits eine solche Mannigfaltigkeit von Folgen und an diese geknüpfter moralischer Urteilsgründe, dass auch sie den Charakter völliger Individualität trägt und jede Beurteilung nach einem feststehenden Prinzip als ungerecht und unzutreffend von sich abweist.

Und wenn die absolute Ablehnung aller Prinzipien der Beurteilung auch logisch widersprechend ist, so ist doch wenigstens jene relative im Recht, welche verlangt: jede Handlung müsse in ihre letzten einfachen Elemente zurückverfolgt und aus dem Sonderurteil über jedes derselben das Gesamturteil gefunden werden.

Nicht aber dürfe die Tat in der Kompliziertheit ihrer Erscheinung ein solches, bereits fertiges, vorfinden, da eben dasselbe Tatphänomen aus dem Zusammentreffen der allerverschiedensten einfachen Strebungen hervorgegangen sein kann.

ich kehre von diesem Exkurs noch einmal zu dem Problem der weiblichen Ehre zurück, auf das er allenthalben Anwendung findet, und erwähne nur noch den Fall, der der allgemeinen Empfindung nach am wenigsten Raum für eine Kasuistik gibt: die Hingabe der weiblichen Ehre für Geld.

Die Gründe für die Niedrigkeit und Widrigkeit, die der Prostitution anhaftet, sind sehr mannigfaltiger Natur.

Zunächst muss dabei das Gefühl einer völligen Unverhältnismässigkeit zwischen Ware und Preis wirken.

Das Geld ist das unpersönlichste, qualitätloseste Ding im ganzen Bereich unserer praktischen Interessen; indem es das Äquivalent für die allerverschiedensten und entgegengesetztesten Dinge ist, verliert es selbst jeden spezifischen Charakter; es ist ein Durchgangspunkt, der keinem wie immer beschaffenen Werte den Durchgang verweigern und deshalb keine eigene Individualität besitzen darf, und, im Gegensatz zum Sachbesitz, nicht einmal die Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zu den Individuen aufweist, von denen es kommt und zu denen es geht.

Angesichts dieses Wesens des Geldes ist es das denkbar unangemessenste (<209) Äquivalent für die Hingabe eines Weibes, die gerade das Persönlichste ist, was sich denken läßt.

Unter kultivierten und differenzierten Menschen ist die Liebe zwischen Mann und Weib das individuellste, exklusivste Verhältnis, das sie überhaupt eingehen können, und selbst auf der Karikatur der Liebe, der Hingabe an den ersten Besten, haftet dieser Charakter noch hinreichend, um die völlige Disharmonie zwischen Leistung und Gegenleistung, Ursache und Erfolg, fühlen zu lassen.

Die Herabsetzung der weiblichen Ehre, die wir , oben in der Mehrzahl der Verführungsfälle erkennen konnten - dass das Mädchen ihr Alles opfert, während der Verführer nur ein Teilchen seiner Persönlichkeit gibt - wird in der Prostitution potenziert: die Frau gibt das Persönlichste, was jemand geben kann, der Mann das Unpersönlichste, was jemand geben kann; dieser das in höherem Sinne Wertloseste, jene das Wertvollste; eben dadurch setzt sie dieses auf die Rangstufe jenes herab.

Vielleicht trägt diese in beiden Fällen stattfindende Unverhältnismässigkeit von Leistung und Gegenleistung dazu bei, dass die öffentliche Meinung so wenig geneigt ist, die Grenze zwischen der Hingabe aus Liebe und der Prostitution anzuerkennen.

Es ist sogar bei den Naturvölkern bemerkt worden, dass die Frauen die niedrigste Stellung da einnehmen, wo sie gekauft werden, z. B. bei den Kaffern, bei manchen Indianern im alten Yukatan, in Ostafrika etc. und dass eine etwas bessere Behandlung und eine etwas höhere Wertung der Frauen dort stattfindet, wo sie statt durch bestimmte Bezahlung durch persönliche Dienstleistungen des , Werbers für die Eltern der Braut erworben werden.

Andrerseits aber ist es erklärlich, dass gerade in unkultivierteren Zuständen die Prostitution eine mildere Beurteilung findet und verdient; denn in ihnen ist einerseits die Persönlichkeit noch, nicht mit solcher Entschiedenheit aus dem allgemeinen Gattungstypus herausdifferenziert, andrerseits hat das Geld noch nicht den farblosen Charakter angenommen, wie in hohen Kulturen, wo die Tatsache seiner unendlich viel grösseren Verbreitung und (<210) Verwertung es als das absolut Indifferente über alle individuellen Werte gestellt hat.

In roheren Verhältnissen erscheint deshalb die sexuelle Hingabe noch nicht als etwas so Persönliches, das Geld noch nicht als etwas so Unpersönliches, und ihre Äquivalenz wird dadurch von beiden Seiten her etwas angemessener.

Eine weitere Irrationalität kommt hinzu, um das widerstrebende Gefühl der Prostitution gegenüber zu begründen.

Das durchgehende Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist bei uns dies, dass der Mann der werbende, die Frau der auswählende Teil ist, dass jener sucht, diese sich suchen lässt.

Man kann zwar nicht behaupten, dass dieses Verhältnis das allein naturgemässe ist, denn es finden sich einige Tierspezies -eine indische Wachtel, mehrere Straussarten und englische Schmetterlinge - die die Rollen bei der Bewerbung vertauscht haben, sei es, weil eine überwiegende Anzahl von Weibchen geboren sind, sei es, weil die Männchen etwas von ihrer Begierde verloren haben, so dass nun eine Rivalität unter den Weibchen um die Männchen eingetreten ist.

So richtig deshalb auch die häufig ausgesprochene Vorstellung sein mag, dass wenn die Männer einmal einen allgemeinen Liebesstreik ins Werk setzten, nach kurzer Zeit die Frauen nachgeben und ihnen so nachlaufen würden, wie jene jetzt diesen, so empfinden wir doch vorläufig das jetzige Verhältnis als das einzig angemessene und zweckmässige und so empfinden wir es selbst da und ganz besonders da, wo die Versorgungsschwierigkeit für die Mädchen nur noch den notdürftigen Schein dieses Verhältnisses aufrechterhalten kann.

Nun erscheint uns das Abnorme als solches widerwärtig, vielfach direkt ekelhaft - z. B. Missgeburten, wie ein Mensch mit sechs Fingern, werden den meisten Menschen das Gefühl des Ekels erregen -und zwar insbesondere, wenn die Norm, von der es abweicht, durch viele Generationen hindurch als die sozial-zweckmässige gegolten hat.

Die Prostitution ist eine derartige Umkehrung der eben genannten Norm für das (<211) Verhältnis der Geschlechter.

Denn überall ist im Geldverkehr derjenige der Suchende, der die Ware bietet, derjenige der Gesuchte und Auswählende, der das Geld gibt.

Aus dem genau entsprechenden Grunde ist uns ein koketter Mann widrig: weil die Koketterie, als ein zwischen Versagen und Gewähren schwebendes Verhalten, nur demjenigen zukommt, in dessen Hand Gewähren und Versagen liegt, d. h. in unsrer jetzigen sozialen Verfassung den Frauen; die Koketterie des Mannes verkehrt ebenso wie die Prostitution der Frauen dasjenige Verhältnis der Geschlechter in sein Gegenteil, das uns bis jetzt als das allein richtige erscheint, und darum haben beide den Charakter des Abnormen und Widerwärtigen.

Die Verachtung, die Gesellschaft auf solche Gründe hin den Prostituierten zeigt, führt zu dem tragischen Zirkel, aus dem sich der aus der Gesellschaft Ausgewiesene überhaupt kaum befreien kann: weil er unsittlich ist, wird er ausgestossen und weil er ausgestossen ist, wird er immer unsittlicher.

Dass die böse Tat fortzeugend Böses gebiert, hat in Hinsicht auf das Subjekt diese soziale Vermittlung, und die Verachtung der Gesellschaft macht das Individuum, das von ihr getroffen wird, mehr und mehr gegen die von der Gesellschaft geprägten Normen gleichgültig, ja, setzt es oft in einen bewussten trotzigen Gegensatz zu ihnen; der Unsittliche findet in dieser Opposition ebenso einen Halt gegen innere Selbstvernichtung, wie äusserlich oft nur noch auf verbotenen Wegen die Möglichkeit der Lebensfristung, zu der ihm die Gesellschaft alle andern verlegt hat, nachdem sie ihn einmal auf einem falschen betroffen hat.

Die eigentlich sozialen, nicht kriminalrechtlichen Strafen - die also mehr von der Gesellschaft als Ganzem als von einem einzelnen Organ derselben auferlegt werden - haben eine bessernde, versittlichende Wirkung nur als Abschreckungsmittel vor begangener Tat; das Individuum selbst aber, an dem sie vollzogen sind, pflegen sie nicht zu bessern, weil die Besserung in der Regel nicht die äussere restitutio in integrum herbeiführt und also äusserlich (<212) genommen zwecklos ist.

An dem Ausgestossenen bleibt die Ächtung haften, und sei er später noch so sittlich, da dies sich nicht so sicher und sichtbar erweist, wie die unsittliche Tat.

Die kriminelle Strafe kann auch den Betroffenen einfach dadurch bessern, dass er bei künftigem Wohlverhalten ihre Wiederholung vermeidet, während die gesellschaftliche Ächtung auf Lebenszeit zu gelten pflegt und die Besserung sozusagen hoffnungslos ist.

Bei der Prostitution ist diese Wechselwirkung zwischen Unsittlichkeit und gesellschaftlicher Reaktion besonders stark.

Die Prostituierten haben eine ausserordentlich ungünstige Kriminalstatistik und ihr sittliches Bewusstsein pflegt in jeder Hinsicht das denkbar niedrigste und abgestumpfteste zu sein.

Es scheint mir, dass diese moralische Verderbnis der Prostituierten wenigstens zum Teil die Folge der Behandlung ist, die die Gesellschaft auf Grund ihrer primären Unsittlichkeit ihnen zu Teil werden lässt und die es ihnen so gut wie unmöglich macht, zu einem ehrenhaften Lebensberuf zurückzukehren.

Dies ist wohl auch der Grund der Erfahrung, dass man den Kampf gegen die Prostitution höchstens durch Prophylaxis, durch Fürsorge für die Gefährdeten, aber nicht durch Hebung schon Prostituierter mit Erfolg führen kann.

Für den prinzipiellen Zweck, um den es sich hier handelt, genügt diese Andeutung, um zu zeigen, dass die Schichtung der beschuldigenden und der entlastenden Momente noch bis zu dieser tiefsten Stufe des Ehrverlustes hinabreicht.

 

Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe

Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93

Vorworte

Band 1:
1. Kapitel: Das Sollen
2. Kapitel: Egoismus und Altruismus
3. Kapitel: Sittliches Verdienst und sittliche Schuld
4. Kapitel: Die Glückseligkeit

Band 2:
5. Kapitel: Der kategorische Imperativ
6. Kapitel: Die Freiheit
7. Kapitel: Einheit und Widerstreit der Zwecke

 


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
Andreasstr. 15 
8050 Zürich 
Tel. ++41 55 2444012