Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Vorwort
Die Absicht
dieser Schrift ist weder eine biographische, noch geht sie auf
Deutung und Würdigung der Goetheschen Dichtung.
Sondern ich frage:
was ist der geistige Sinn der Goetheschen Existenz überhaupt? Unter
geistigem Sinn verstehe ich das Verhältnis von Goethes Daseinsart und
Äusserungen zu den grossen Kategorien von Kunst und Intellekt, von
Praxis und Metaphysik, von Natur und Seele — und die Entwicklungen, die
diese Kategorien durch ihn erfahren haben.
Es handelt sich um
die letzten Beschaffenheiten und Beweggründe seiner Geistigkeit, die
seine Dichtung und sein Forschen, sein Handeln und seine Weltanschauung
gestalten — um das »Urphänomen« Goethe, das sich kaum in irgend einer
einzelnen Äusserung ganz rein ausspricht, vielmehr in all seinen
widerspruchsvollen, andeutenden, höchst mannigfaltig distanzierten
Sätzen und Intentionen hundertfach gebrochen ist.
Was er selbst von
seinen Bemühungen der Natur gegenüber sagt: sie gelten dem Gesetz, von
dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind — das bezeichnet
vielleicht auch das Verhältnis der hier gesuchten Bedeutung seiner
Existenz zu deren Phänomenen.
Es ist der völlige
Gegensatz zu einer Darstellung, die den Titel: Goethes Leben und Werke —
führen könnte.
Denn es steht ein
Drittes in Frage: der reine Sinn, die Rhythmik und Bedeutsamkeit des
Wesens, die sich einerseits an dem zeitlich gelebten persönlichen Leben,
andrerseits an den objektiven Leistungen ausformen, wie sich ein Begriff
sowohl in der Seele realisiert, die ihn denkt, wie an dem Ding, dessen
Inhalt er bestimmt.
Wenn irgendwo, so
muss bei ihm dieses Dritte, diese »Idee Goethe« aufzufinden sein, weil
ihre Darstellung in der subjektiven Seelenhaftigkeit und die in dem
geleisteten Werke einander hier in ganz einziger Unmittelbarkeit und
Vollständigkeit entsprechen.
Ich kann meine
Absicht auch damit ausdrücken, dass das Goethesche Leben, diese
Rastlosigkeit von Selbstentwicklung und Produktivität, auf die Ebene des
zeitlos bedeutsamen Gedankens projiziert werden soll.
Dazu müssen
freilich die Linien allenthalben über die Grenzen seines Denkens und
Schaffens selbst hinaus verlängert werden, weil nur so Art und Weite von
dessen Bedeutung ermessen werden kann.
Wie bei jeder
Darstellung einer geistigen Persönlichkeit, für die nicht erst Kenntnis,
sondern Verständnis gesucht wird, d. h. nicht Einzelheiten, sondern ihr
Zusammenhang, steht im Mittelpunkt eine gewisse Anschauung der
Individualität; diese kann, als Anschauung, nicht unmittelbar
ausgesprochen werden, sondern man kann nur zu ihrer Nachbildung durch
eine Summe partieller Bilder auffordern, deren jeweilige Motive durch
die grossen geistesgeschichtlichen Begriffe unserer Welt- und
Lebensdeutung bestimmt sind.
Ich würde es
deshalb für das Gegenteil eines Vorwurfs gegen dies Buch halten, wenn
man in jedem seiner Kapitel eigentlich dasselbe wie in jedem andern zu
lesen meinte.
Worauf es ankommt,
ist, dass diese Aufgabe überhaupt und prinzipiell gestellt werde.
Die inhaltlichen
und fragmentarischen Bestimmungen, die ich hier als ihre Lösung
vorlege, mögen von andern anders gefasst werden; Goethes unaufhörliches
Versuchen und Umformen möglicher Standpunkte, die durch alle Gegensätze
hindurchführende Entwicklung seines langen Lebens geben einer schwer
übersehlichen Zahl von Deutungen jener Einheit und Ganzheit Raum.
Eine von ihnen
dokumentarisch so festgelegt zu meinen, dass sie alle andern
ausschliesst, würde ich nach der Natur der Sache, der Person und der
Beweismöglichkeiten immer für eine Selbsttäuschung halten.
Die fliessende
Einheit des Goetheschen Lebens ist nicht in die logische Einheit
irgendwelcher Inhalte zu bannen.
Darum kann man eine
Auffassung dieses Lebens nicht aus Zitaten (denen sich immer umgekehrt
gerichtete entgegensetzen lassen) »beweisen«.
Die Gesamtdeutung
Goethes, der alles, was er geschaffen hat, als eine grosse Konfession
bezeichnet, wird, zugegeben oder nicht, immer auch eine Konfession des
Deutenden sein.
Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Vorwort
1.
Kapitel: Leben und Schaffen
2.
Kapitel: Wahrheit
3.
Kapitel: Einheit der Weltelemente
4. Kapitel: Getrenntheit der Weltelemente
5. Kapitel: Individualismus
6. Kapitel: Rechenschaft und Überwindung
7. Kapitel: Liebe
8.
Kapitel: Entwicklung
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