Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Viertes Kapitel: Getrenntheit der Weltelemente
Die grosse Synthese der Goetheschen Weltanschauung kann man
damit charakterisieren: dass die Werte, die das Kunstwerk als
solches konstituieren, mit der Welt des Wirklichen durchgehende,
formale und metaphysische Gleichheiten und Einheitlichkeiten
besitzen.
Ich hatte als die fundamentale Überzeugung dieser Weltanschauung
die Ungetrenntheit von Wirklichkeit und Wert bezeichnet, und
dies als die Voraussetzung des Künstlertums überhaupt.
Ein Künstler mag die Welt als noch so kontraideal ansehen, seine
Phantasie mag sich noch so gleichgültig oder abstossend gegen
alle Wirklichkeit verhalten; seine Weltanschauung ist dann
pessimistisch, chaotisch, mechanistisch und wird nicht von
seinem Künstlertum gestaltet.
Wenn sie aber im positiven Sinne künstlerisch ist, so kann dies
nur besagen, dass die Reize und Bedeutsamkeiten der künstlerisch
geformten Erscheinung in irgendeiner Art, nach irgendeiner
Dimension hin schon in der naturhaft dargebotenen Erscheinung
bestehen.
Es scheint doch auch, als ob alle Künstler Naturanbeter wären —
in so partieller, auf einzelne Gebiete beschränkter, durch
wunderliche Vorzeichen bestimmter Form dies sich auch offenbare,
und obgleich manche Erscheinungen der Gegenwart eine Wendung
hierin vorzubereiten scheinen, die aber auch, wenn sie sich
durchsetzte, die radikalste je dagewesene Revolution des
Kunstwollens bedeuten würde.
Goethe indes hat jedenfalls jenes Verhältnis in der
umfassendsten und reinsten Konsequenz entwickelt, indem ihm die
Schönheit zum Kennzeichen der Wahrheit wird, die Idee in der
Erscheinung anschaulich, ein Letztes und Absolutes, das hinter
der Kunst liegt, auch das Letzte und Absolute der Wirklichkeit
ist.
Vielleicht ist dies das entscheidende Motiv für ihn, sich einen
»dezidierten Nicht-Christen« zu nennen.
Denn das Christentum hat, mindestens in seinen asketisierenden
Richtungen, Wirklichkeit und Wert aufs weiteste
auseinandergerissen, mehr selbst als die indische
Weltanschauung.
Denn so radikal diese auch die Wirklichkeit von jeglichem Wert
entblösst, so wird dies, für unsern Zusammenhang, dadurch wieder
aufgehoben, dass der Wirklichkeit hier gar keine konkrete
Daseinsbedeutung zuerkannt wird: wo alle Wirklichkeit nur Traum
und Schein, also eigentlich Unwirklichkeit ist, da fehlt genau
genommen das Subjekt, dem der Wert abgesprochen werden könnte.
Erst die härtere Denkart des Christentums hat die Welt gleichsam
in ihrer vollen Dreidimensionalität und Substanz bestehen lassen
und ihr dennoch jeden Eigenbestand an Wert genommen: sei sie nun
Jammertal und Teufelsdomäne, seien ihr ihre Werte durch Gnade
vom Jenseits her verliehen, sei sie der Ort der Sehnsucht und
der Vorbereitung für das Überirdische, den Ort der Werte.
Alle drei Formen des christlichen Verhältnisses zur natürlichen
Wirklichkeit müssen Goethe gleichmässig widerstehen — ihm, dem
die Natur »die gute Mutter« ist, der zwar oft genug von
göttlicher Gnade spricht, aber immer im Sinne eines der
Wirklichkeit immanenten Gottes, ja, der die Gottseligkeit
frommer Menschen als »eine Gnade der Natur«, die sie »mit einer
solchen Zufriedenheit versorgt« habe, betrachtet.
In einem Grunde der Dinge, zu dem von ihrer Oberfläche her
mindestens ein kontinuierlicher Weg führt, ist ihm, im Gegensatz
gerade zu allem christlichen Dualismus, Wirklichkeit und Wert
identisch.
Ist dies nun der metaphysische Ausdruck seines Künstlertums
(oder vielleicht: der Ausdruck einer letzten Beschaffenheit
seines Daseins, die durch sein Künstlertum hindurch wirkte), so
ist damit von der zeitlichen Entwicklung, den Abweichungen und
dem labilen Spiel der Elemente abgesehen, durch all welches
diese zeitlose Formel getragen und verwirklicht wird.
Denn diese Verwirklichung, als eine historisch- psychologische,
ist immer nur relativ und besitzt in den Schicksalen der Zeit
nicht die Reinheit und Einheit der »Idee«, als welche ich sie
bisher hinstellte — wofür sein kühnes, immer zu wiederholendes
Wort von dem Gesetze gilt, von dem die Erscheinung nur Ausnahmen
zeigt.
Diese Doppelheit des kategorialen Vorstellens fordert jedes
grosse Leben: die durchgehende oder darüberstehende Idee, die
gewissermassen ein Drittes jenseits des Gegensatzes von
abstraktem Begriff und dynamischer Realität darstellt, — und das
in mannigfaltigem Abstand davon, in unendlicher Annäherung daran
sich zeitlich vollziehende Leben und Wirken.
Vielleicht gehört jedes Leben unter diese zwei Gesichtspunkte;
aber als ein grosses bezeichnen wir eben das, dessen Betrachtung
sie unvermeidlich und entschieden gegeneinander spannt, in dem
seine Idee und deren seelisch-lebendige Realisierung je ein
Ganzes sind.
Vielleicht ist diese notwendige methodische Sonderung des
Betrachtens das Symbol für die zeitlose, metaphysische Tragödie
der Grösse, von der all ihre zeitlichen Tragödien nur
Spiegelungen in der Form des Schicksals sind.
Ich wende mich nun jenem zweiten Aspekt seines geistigen
Weltbildnertums zu: den variierenden Synthesen, den hin- und
herspielenden Relationen und Abständen der Elemente, in deren
Einheit uns bisher die sozusagen absolute Idee seines
Weltdenkens bestand.
Fragt man so nach der näheren Formel, in der jenes schliesslich
einheitliche ideelle Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit
sich bei ihm vollzieht, so zeigt sich sogleich, dass darauf
keine eindeutige Antwort möglich ist.
Nicht nur in seinen verschiedenen Epochen, sondern in einer und
derselben begegnen ganz unvereinbare Äusserungen über jenes
Verhältnis; ja dass es seinen prinzipiellsten und letzten
Überzeugungen nach ein unbedingt enges, in irgend einer Wurzel
vereinheitlichtes war — das ist vielleicht, so paradox es
klingt, der Grund für die Divergenz seiner Deutungen.
Denn wie eine höchst enge Beziehung zwischen zwei Menschen einen
Wechsel von Innigkeit und Verstimmung, Verlegungen des
Schwerpunktes, ja die Chance von Bruch und Versöhnung eher mit
sich bringen wird, als ein fremderes, das sich viel leichter in
dem einmal gegebenen Charakter und Temperatur halten lässt — so
werden in einem Geist gerade zwei unbedingt aufeinander
angewiesene Begriffe besonders dazu neigen, eine Fülle
divergenter Beziehungsschicksale zu durchleben.
Drei prinzipielle Verhältnisse zwischen Natur und Kunst scheinen
mir in Goethes Äusserungen abzuwechseln, und zwar so, dass in
jeder der drei Lebensepochen: der Jugend, der von der
italienischen Reise dominierten mittleren Zeit und dem Alter je
eines hervortrat.
Es wird sich zeigen, dass seine jeweilige Kunsttheorie zu den
sonstigen Charakterzügen der betreffenden Epoche durchaus
harmonisch ist; dennoch gebe ich dies Entwicklungsgeschichtliche
ausdrücklich als Hypothese, um so mehr, als gerade in dieser
Frage Goethe gewisse Erkenntnisse, die einer späten und reifen
Zeit angehören, in einer viel früheren, mit dieser fast
zusammenhangslos, aufleuchten lässt — mit derselben
Unbegreiflichkeit und, sozusagen, Zeitlosigkeit des Genies, wie
das gleiche bei Rembrandt und bei Beethoven geschieht.
Über sein jugendliches Verhältnis zu Kunstwerken — in der
Leipziger Zeit — berichtet er später: »Was ich nicht als Natur
ansehn, an die Stelle der Natur setzen, mit einem bekannten
Gegenstande vergleichen konnte, war auf mich nicht wirksam.« Die
natürliche Wirklichkeit und der künstlerische Wert bestehen hier
für ihn in einer naiv undifferenzierten Einheit, die er
ausschliesslich von der Seite der ersteren her sieht.
In den Briefen aus der Schweiz von 1775 gesteht er, an einem
wundervollen Aktbild weder Freude noch eigentliches Interesse
fühlen zu können, da er von der Wirklichkeit des menschlichen
Körpers kein rechtes anschauliches Bild habe.
Die geistesgeschichtlichen Motive, die ihn auch einem
dichterischen Naturalismus zutrieben, sind bekannt genug.
Die seelische Lage aber, die diese ganze Tendenz unterbaute,
scheint mir durch seine Charakterisierung seiner Jugendepoche
als eines »liebevollen Zustandes« angedeutet.
Das überquellende Herz des Jünglings, wie jede seiner
Äusserungen es verrät, wollte die ganze Welt in sich einziehen
und sich der ganzen Welt hingeben.
Es gab keine Wirklichkeit, die er nicht mit Leidenschaft
umfasste, mit einer Leidenschaft, die sozusagen nicht vom
Gegenstand entzündet wurde, sondern wie spontan aus seiner
Lebensfülle hervorbrach und sich auf den Gegenstand stürzte,
sozusagen bloss weil er da war.
In seinem 26. Jahre schreibt er, dass der Künstler nur die
Schönheiten, »die sich in der ganzen Natur zeigen«, »die Gewalt
dieser Zauberei«, die um Wirklichkeit und Leben weht, besonders
kräftig und wirksam spüre und ausdrücke.
»Die Welt liegt vor ihm wie vor ihrem Schöpfer, der in dem
Augenblick, wo er sich des Geschaffenen freut, noch alle die
Harmonien geniesst, durch die er sie hervorbrachte und in denen
sie besteht.« Es scheint mir unzweifelhaft: in dieser Epoche
liebt er die Wirklichkeit nicht, weil sie ihm Idee und Wert
entgegenträgt, sondern er sieht dies in ihr, weil er sie liebt.
Dies typische Verhalten des Jünglings gegenüber der geliebten
Frau wird von seinem Lebensüberschuss zu einer Welterotik
gesteigert.
Weil aber diese erste Form der Ungetrenntheit von Wirklichkeit
und künstlerischem Wert — er sagt später, dass seine Gedichte
vom Anfang der zwanziger Jahre »die Kunstnatur und die
Naturkunst enthusiastisch verkünden« — noch keine feste Synthese
bedeutete, sondern nur vom Subjekt herkam, das sehnsüchtig war,
einen ungeheuren Reichtum zu verschenken, so können die Akzente
gelegentlich auch ganz anders fallen.
Zwei Jahre vor der letztangeführten Äusserung liegt die ganz
abweichende: »Wenn die Kunst auch wirklich die Dinge
verschönerte, so tue sie das doch nicht nach dem Beispiel der
Natur.
Denn diese ist Kraft, die Kraft verschlingt; tausend Keime
zertreten; schön und hässlich, gut und bös, alles mit gleichem
Rechte nebeneinander existierend.
Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den
Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des
Ganzen zu erhalten.
Der Mensch befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfachen
Übel zu vermeiden und nur das Mass von Gutem zu geniessen, bis
es ihm endlich gelingt, die Zirkulation aller seiner Bedürfnisse
in einen Palast einzuschliessen, sofern es möglich ist, alle
zerstreute (!) Schönheit und Glückseligkeit in seine gläsernen
Mauern zu bannen.« Aber mit einer wunderbaren Antizipation
erhebt er sich noch in demselben Jahre über den ganzen
Gegensatz: ob in der Kunst nur die natürliche Wirklichkeit, die
überall schön sei, bestehe und wirke, oder ob sie eine
Schönheit, die die Natur nicht gegeben habe, sich aus eignem
Recht zum Zweck setze: »Sie wollen euch glauben machen, die
schönen Künste seien entstanden aus dem Hang, den wir haben
sollen, die Dinge rings um uns zu verschönern.
Das ist nicht wahr! — Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön
ist, und doch so wahre, grosse Kunst, ja, oft wahrer und grösser
als die schöne selbst.
Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich
tätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist.
Und lass diese Bildnerei aus den willkürlichsten Formen
bestehen, sie wird ohne Gestaltsverhältnisse zusammenstimmen,
denn eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen.«
Dies ist wohl eines der tiefsten Erkenntnisse über die Kunst:
dass sie nicht einem eudämonistischen Triebe zur Schönheit
entspringe, sondern dem Schaffensdrange, der »bildenden Natur«
in uns, die gestalten will; verwandt der platonischen Diotima,
die den Eros, ganz jenseits aller Begierde des Geniessens, auf
unsern Wesenstrieb stellt: zu erschaffen und in Gebilden
ausserhalb unser selbst, körperlichen und seelischen, unser Sein
zeugend zu erhalten.
Es findet seine Ergänzung in der Vorstellung, die sich in den
Gedichten dieser Jahre — wenn auch nicht mit der gleichen
Deutlichkeit — empordrängt: dass es die Kraft der Natur und
ihres »Urquells« sei, die in den »Fingerspitzen« des Künstlers —
gerade diesen Ausdruck liebt er jetzt — schöpferisch
hervorbricht.
Freilich ist die »Natur« in dieser frühen Periode noch im rein
dynamischen Sinne verstanden, als ein Drängendes, Quellendes —
aber noch nicht als die Einheit der Gestaltungen, noch nicht als
Ort der »Idee«; Leben und Wirklichkeit musste sich erst stärker
gegeneinander spannen, damit unter dem Einfluss Italiens und der
Klassik ein vertiefter Begriff von der Natur, als dem eigentlich
Formenden auftrete und auf dieser Voraussetzung die Schönheit
des Kunstwerks sowohl die Vollendung des Menschen wie die der
Wirklichkeit ausser ihm offenbare.
Sein jugendlicher Naturalismus entsprang dem Gefühl einer Kraft,
die etwas Subjektives war, in das Gefühl ihres ungebrochenen
Könnens Natur und Kunst einschloss und damit die Welt ergriff.
Diesem Stande seines Künstlertums entspricht die Briefstelle:
»Sieh, Lieber, was doch alles Schreibens Anfang und Ende ist:
die Reproduktion der Welt um mich, durch die innere Welt, die
alles packt, verbindet, neu- schafft, knetet und in eigener
Form, Manier wieder hinstellt.« Nirgends erscheint hier die
Schönheit, der spezifisch ästhetische Wert, als der für sich
bestimmende, entscheidende Leitbegriff.
Und dies würde der inneren Attitüde seiner Jugend auch ganz
widersprechen.
Nicht, weil diese Kategorie etwas zu Zartes und Stilles wäre, um
dem stürmischen Draufgängertum dieser Periode genugzutun; dies
wäre gar zu äusserlich.
Sondern weil seine Jugend — ein späteres Kapitel wird dies ganz
ausführlich darstellen — von einem Ideal des persönlichen Seins
als ganzen, der menschlichen Totalität als Einheit erfüllt war.
Hier war die Schönheit etwas Einseitiges, Differenziertes, sie
konnte nicht Führerin und letzte Instanz für die unmittelbare
Ganzheit dieser Existenz und dieser Idealbildung sein, die
sozusagen vor aller Synthese lag, weil die Elemente, in deren
Synthese sein späteres Leben verfloss, überhaupt noch nicht
auseinandergetreten waren.
Es war das Stadium der sozusagen unkritischen, subjektiven
Einheit von Wirklichkeit und Wert; denn die Strömung dieses
Lebens riss das in ihr geformte künstlerische Ideal ohne
weiteres in ihre Einheit mit, und indem sie sich selbst als
stärkste, unmittelbarste Wirklichkeit fühlte, erfüllte sie
dieses Ideal ganz mit Wirklichkeitsgehalt.
Gerade darum konnte die Idee der Schönheit, die der Wirklichkeit
gegenüberstände, zwar aufkommen, aber nicht als
gleichberechtigte Partei mit jener ein ernsthaftes Gegnertum
bilden.
In den Weimarer Jahren bis zur italienischen Reise verschiebt
sich dieses Grundverhältnis, seine Elemente werden gegeneinander
problematisch und drängen nach einer neuen, prinzipielleren,
fundierteren Einheit.
In spätem Rückblick bezeichnet er die entscheidende
Voraussetzung der ganzen Neubildung des Verhältnisses: er habe
eine Reihe unvollendeter poetischer Arbeiten nach Weimar
mitgebracht, ohne an ihnen fortfahren zu können; »denn da der
Dichter durch Antizipation die Welt vorwegnimmt, so ist ihm die
auf ihn losdringende wirkliche Welt unbequem und störend; sie
will ihm geben, was er schon hat, aber anders, dass er sichs zum
zweiten Mal zueignen muss.« Man weiss, welche ungeheuren
Forderungen, nur durch das selbstloseste Aufgebot all seiner
Kräfte zu erfüllen, durch die weimarischen Zustände an ihn
gestellt wurden.
Man kann wohl sagen, dass ihm erst hier die Wirklichkeit in
ihrer ganzen Substanzialität, ihrer Härte, ihrer
Eigengesetzlichkeit entgegentrat, die Wirklichheit sowohl des
menschlichen Daseins und seiner Relationen, wie die der Natur;
denn jetzt setzen auch gleich die naturwissenschaftlichen
Interessen, zum Teil durch amtliche Pflichten provoziert, bei
ihm ein.
Die Gestaltungskraft seines Geistes, bisher ausreichend, seine
Welt zu schaffen und deshalb einem Antagonismus ihrer Elemente
keinen Raum gebend (trotz aller subjektiven Leiden und
Ungenügsamkeiten), fand jetzt erst die Welt als eigentliche
Realität vor und zunächst ganz unvermeidlich als »unbequeme und
störende«.
Dass die Dinge, deren Gehalt und Bedeutsamkeit der Dichter
freilich »durch Antizipation« in sich trägt, nun in der Form der
Realität dastanden, das eben stellte an ihn jene Forderung einer
ganz neuen Aneignung.
Die Lebensstruktur, die sich daraufhin zunächst ausbildete, war:
dass seine innerste Persönlichkeit, dasjenige, was er als den
Träger der eigentlichsten Werte empfand, sich ganz in sich
selbst zurückzog.
Die Tagebücher vom Ende der siebziger und Anfang der achtziger
Jahre sprechen das auffallend oft aus, z. B.: »Das Beste ist die
tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse und
gewinne —.War zugefroren gegen alle Menschen.« Dazu die häufige
Betonung des »Reinen« als seines Ideals, offenbar in dem Sinn,
dass gegenüber der konfusen Wirklichkeit um ihn herum die
inneren Werte abgesondert und unvermischt bestehen sollten.
Die Beziehung zu Frau von Stein spricht nicht dagegen; denn er
sagt dauernd, sie sei eben der einzige Mensch, gegen den er ganz
offen sein könne, er hat sie gewissermassen in den Kreis seines
Ich mit hineingezogen.
Natürlich hielt sich diese Lebenstendenz nicht ohne Schwankungen
(wie eben überhaupt keine seiner Epochen in
begrifflich-einheitlichem Charakter verläuft); er spricht
gelegentlich von »einer Liebe und Vertrauen ohne Grenzen, die
ihm zur Gewohnheit geworden sind« — aber er schreibt doch:
»Gleichmut und Reinheit erhalten mir die Götter aufs schönste,
aber dagegen welkt die Blüte des Vertrauens, der Offenheit, der
hingebenden Liebe täglich mehr.« Es kann kein Zweifel sein, dass
der wesentlichen Lebensstimmung nach Wirklichkeit und Wert sich
ihm allmählich immer weiter gegeneinander spannten.
Das Versagen der poetischen Produktion war hiervon ebenso eine
Wirkung wie eine Ursache.
Denn so lange jene bestand und dominierte, war er von einer ihm
sicheren Welt umgeben, die von den inneren und künstlerischen
Werten geformt war; sobald sie stockte, schob sich sogleich die
Wirklichkeit vor und offenbarte ihre Fremdheit gegen diese
Werte.
Indem beides immer weiter auseinander trat, indem ihm die
Möglichkeit, die tiefsten Bedürfnisse seiner Natur an irgend
einem Geschauten, einem Wirklichen, befriedigt zu finden, immer
hoffnungsloser fernrückte — entstand jene fürchterliche Spannung
seines ganzen Wesens, zu deren Lösung ihm sein glücklicher
Instinkt die italienische, die klassische Welt anbot; diese
Sehnsucht war ihm, wie er aus Rom schreibt, »die letzten Jahre
eine Art Krankheit, von der mich nur der Anblick und die
Gegenwart heilen konnte«.
Nichts anderes als diese Zerrissenheit der Wesenselemente, auf
deren Einheit der letzte Sinn seiner Existenz gestellt war, kann
er meinen, wenn er dem Herzog in dem entscheidenden Briefe über
seine Reiseabsicht nur das eine begründende Motiv mitteilt: er
wünsche, »seine Existenz ganzer zu machen«.
Und dann, aus der Erfüllung, dreiviertel Jahre später: »Ich habe
glückliche Menschen kennen lernen, die es nur sind, weil sie
ganz sind — das will und muss ich nun auch erlangen, und ich
kann's.« Von anderer Seite gesehen, war jener Lebenssinn, war
das Glück seines Daseins dies, dass sein innerlichst Erzeugtes,
aus dem Eigensten seines Lebens Hervordrängendes und Notwendiges
sein Gegenbild und seine Bestätigung in der Objektivität von
Idee, Anschauung, Wirklichkeit fand — zum mindesten so, dass
seine künstlerische Schöpferkraft eine Welt, die dies leistete,
vor ihn, um ihn herstellte.
Diese vitale Harmonie hatten die Weimarer Jahre mit ihrem
verworrenen Kleinkram, ihren nordischen Hässlichkeiten, ihrer
dichterischen Sterilität zerrissen; indem Italien sie
wiederherstellen sollte, stellte es ihn wieder her.
Eine Notiz aus sehr viel späterer Zeit lautet: »Suchet in euch,
so werdet ihr alles finden, und erfreuet euch, wenn da draussen,
wie ihr es immer heissen möget, eine Natur liegt, die Ja und
Amen zu allem sagt, was ihr in euch selbst gefunden habt.« Dies
war die »Natur«, die er in Italien suchte, die ihm die
beruhigende Gewissheit gab, dass sein innerstes Wesen kein vom
Weltwesen losgerissenes, auf metaphysische Einsamkeit
angewiesenes Atom war.
Und sie konnte ihm das leisten, weil er in ihr die Versöhnung
auch des objektiven Risses: zwischen der Wirklichkeit und der
Idee, zwischen dem Dasein und dem Werte, als eine anschauliche,
künstlerisch vollbrachte wieder- fand.
Goethe ist damit die reinste und wirkungsvollste Darstellung
eines Phänomens geworden, das in der ganzen Kulturgeschichte der
Menschheit einzig und unvergleichbar ist: des Nordländers in
Italien.
Der nordische Mensch, der seine Existenz in Italien nicht auf
die dort für die Fremden zurechtgemachte Welt beschränkt,
sondern durch das internationale Nivellement der grossen Strasse
hindurch zu dem wirklichen italienischen Lebensboden dringt,
fühlt eine Lockerung der festen Kategorien, der Schachtelungen
und Abgestempeltheiten, aus denen unsrem Leben so viel Härte und
Zwang kommt; aber nicht im Sinne blosser Befreiung, wie jede
Reise sie gibt, sondern das wunderbare Geflecht von Geschichte,
Landschaft und Kunst, sowie die Mischung von Lässigkeit und
Temperament im italienischen Volk bieten ein ebenso reiches wie
nachgiebiges Material für jegliche individuelle Gestaltung des
Tages und des Lebens.
Die Äusserung Feuerbachs: Rom weist jedem diejenige Stelle an,
für die er berufen ist — drückt dies nur in positiver, sozusagen
etwas gewalttätigerer Art aus.
Diese eigentümliche Befreiung, die sogleich an gegebenen Werten
aktiv werden kann und die naturgemäss nicht der Italiener
selbst, sondern nur der Fremde in Italien gewinnt, hat durch
Goethe ihre klassische Prägung gefunden.
Jetzt belehrt ihn eine erfahrene Wirklichkeit und eine zur Kunst
erhobene Wahrheit, dass die ideellen Werte des Lebens nicht
ausserhalb des Lebens selbst zu stehen brauchen, wie »der
grauliche Tag hinten im Norden« sie ihm schliesslich zu zeigen
schien und wie es in der Philosophie Kants gewissermassen
monumentalisiert wurde.
Denn nicht nur von einer künstlerischen und allgemein
existenziellen, sondern insbesondre noch von einer »sittlichen
Wiedergeburt«, die Goethe in Italien erlebt hätte, ist die Rede.
Dies an andrer Stelle behandelte Lebensideal, das in der
Vollendung der naturgegebenen Individualität als solcher
besteht, erhaben über die begrifflich fixierbaren Gegensätze von
Gut und Böse und die ganze Lebensspannung zwischen ihnen
einschliessend — dieses Ideal ist von vornherein in Goethes
Attitüde zum Dasein angelegt und hat sicher in Italien nur
Klarheit und Festigkeit gewonnen; denn auch hierin liegt ein
»Ganzer- werden« des Menschen.
Allein die spezifische Leistung Italiens für seine moralischen
Anschauungen kann ich darin nicht sehen und möchte diese eher —
um mehr als eine hypothetische Deutung kann es sich hier nicht
handeln — in die ethische Wertung verlegen, die das Sinnliche
bei ihm gewonnen hat.
Gerade die für Goethes Lebensanschauung charakteristische
Bedeutung des Sinnlichen überhaupt ist eine Schwierigkeit für
ihre Deutung; denn der zweifältige Sinn, in dem wir das Wort zu
nehmen pflegen: einmal als eine Rezeptivität, der Welt als
Vorstellung angehörig, eine den Dingen anhaftende oder auf sie
übertragene Qualität, ein andermal als eine Impulsivität, der
Welt als Wille angehörig, ein Begehrliches, das sich am Genuss
der Dinge befriedigen will — diese beiden Wortsinne hält Goethe
nicht getrennt.
Wie ihm Einatmen und Ausatmen das Symbol der Einheit von
Entgegengerichtetheiten ist, so scheint er die Einheit des
Wortes Sinnlichkeit zu benutzen, um die innige
Zusammengehörigkeit von Anschauen und Begehren, von Objektivem
und Subjektivem in unserem Verhältnis zum Dasein auszudrücken.
Wie ihm nun die so verstandene Sinnlichkeit keinen Gegensatz
gegen die »theoretische Vernunft« bildete, wie er vielmehr
diesen rationalistischen Wertunterschied leidenschaftlich
bekämpfte, so konnte sie ihm, nach der andern Seite, sich nicht
prinzipiell feindlich gegen die »praktische Vernunft« stellen.
Es entwickelt sich daraus auf der andern Seite ein Begriff des
Sittlichen, der das Moralische im engeren Sinne umfasst.
Man könnte es etwa die im Gefühl, seinem Bleibenden und seinem
Wechselnden, zum Bewusstsein kommende Zuständlichkeit des ganzen
inneren Menschen nennen.
Indem hier die Beschränkung des Begriffs auf jenes nur
Praktisch-Moralische aufgehoben ist, vielmehr das auch aus sich
nicht heraustretende Sein die Kategorie des Sittlichen erfüllt,
gewinnt diese Platz für den Begriff der Sinnlichkeit; jene
eigentümliche, so bezeichnete Einheit, die für Goethe die
gemeinsame Wurzel oder Substanz der objektiv wahrnehmenden und
der subjektiv begehrenden »Sinnlichkeit« ist, wird von dem
weiten Sinne des Sittlichen umfasst; dafür ist das Kapitel der
Farbenlehre: »Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe« — durchaus
geschieden von dem andern: »Ästhetische Wirkung« — ein
unvergleichlicher Beleg.
Aber dieses generelle Verhältnis zeigt in Goethes
Lebensanschauung noch eine gewisse Zuspitzung, die für das
Auseinander und Ineinander von Wirklichkeiten und Werten sehr
bedeutsam ist; entscheidend ist dafür eine Stelle im Meister:
»Man tut nicht wohl, der sittlichen Bildung einsam, in sich
selbst verschlossen, nachzuhängen; vielmehr wird man finden,
dass derjenige, dessen Geist nach einer moralischen Kultur
strebt, alle Ursache hat, seine feinere Sinnlichkeit mit
auszubilden, damit er nicht in Gefahr komme, von seiner
moralischen Höhe herabzugleiten, indem er sich den Lockungen
einer regellosen Phantasie übergibt.« Anderswo meint er sogar,
zu den »drei erhabnen Ideen: Gott, Tugend und Unsterblichkeit«
gäbe es »offenbar drei ihnen entsprechende Forderungen der
höheren Sinnlichkeit: Gold, Gesundheit und langes Leben«.
In Dichtung und Wahrheit tadelt er »die Absonderung des
Sinnlichen vom Sittlichen, die die liebenden und begehrenden
Empfindungen spaltet«.
Mit alledem ist also die grosse Idee einer Steigerung und
Vollendung des Sinnlichen in sich selbst angedeutet (offenbar
immer in jenem Einheitssinne seiner beiden Bedeutungen), die
ethischen Wertes ist; sie gipfelt in dem späten Satze: »Nur das
Sinnlich- Höchste ist das Element, worin sich das
Sittlich-Höchste verkörpern kann.« Und es widerspricht dieser
Idee nicht, sondern bekräftigt sie, wenn er für manche Fälle das
Sinnliche den Herrschaftsanspruch des Sittlichen entschieden
ablehnen lässt — denn wenn die Sinnlichkeit schon durch Formung
und Erhebung ihrer selbst dem weitesten Sinn des Sittlichen
zugehört, so kann sie diesem nicht noch einmal untergeordnet
werden.
Den sinnlichen Charakter der Künste allenthalben hervorhebend,
spricht er es der Musik und allen Künsten überhaupt ab, »auf
Moralität zu wirken«, und besonders über die Bühne sei es ein
grosser Irrtum, »diese der höheren Sinnlichkeit eigentlich nur
gewidmete Anstalt für eine sittliche auszugeben — die lehren und
bessern könnte«.
Das ist das Originelle und Tiefe dieses Standpunktes: dass es
dem Sinnlichen durch seine sittliche Selbständigkeit verboten
oder erlassen ist, zum blossen Mittel für das Sittliche zu
werden.
Wie ihm im Objektiv- Metaphysischen die naturgegebene
Wirklichkeit (im Gegensatz zum Christentum) nicht als das an
sich Wertlose erscheint, das allenfalls vom Werte her zu dessen
Vorstufe und Mittel gemacht werden könnte, sondern wie sie in
sich, von sich aus, das Wertvolle ist, so ist ihr subjektives
Gegenbild, die Sinnlichkeit, nicht von der Sittlichkeit her, die
ihr an sich fremd sei, mit deren Werte zu erfüllen, sondern sie
enthält an und für sich und von dem gleichen Urquell her diesen
Wert.
Und die Reinheit dieses Erkenntnisses scheint mir in den Kreis
seiner italienischen Errungenschaften zu gehören.
So wenig er ja, wie ich schon sagte, einen prinzipiellen
Dualismus zugegeben hätte, so scheinen doch die letzten Jahre
vor Italien die sinnlich-sittliche Ganzheit seines Wesens mit
mehr als einer Spaltung durch- schattet zu haben.
Vor allem wohl durch das Verhältnis zu der verheirateten Frau,
in dem, wie es sich auch gestalte, immer nur eine Seite des
Dualismus zu ihrem Rechte kommen konnte und das sich in den
letzten Jahren durch die Eifersucht Charlottes sozusagen noch
einmal für ihn in der gleichen Richtung spaltete.
In Italien scheint sich dies alles nun geklärt und zum erstenmal
prinzipiell zurechtgerückt zu haben; nach wenigen Monaten
schreibt er: »Wie moralisch heilsam ist mir es dann auch, unter
einem ganz sinnlichen Volke zu leben.« Der Konflikt löste sich
wie alle inneren Gegnerschaften dieses Lebens: nicht durch
Unterdrückung einer Partei oder Kompromiss zwischen beiden,
sondern durch das Zurückgreifen auf die Grundeinheit seines
Wesens, deren Wert ihm der Wert schlechthin war und die diesen
in alle noch so auseinander strebenden Zweige seines
Weltverhältnisses einströmen liess.
Die Kantische Moral hat wohl das Schicksal der meisten Menschen
ausgesprochen, wenn sie das Sinnliche und Leidenschaftliche
gegen die Forderung der Pflicht kämpfen lässt (»Zwischen
Sinnenglück und Seelenfrieden Bleibt dem Menschen nur die bange
Wahl«), was denn schliesslich entweder einen unbefriedigten
Dualismus oder eine Verarmung hinterlässt.
In Goethe aber kämpfte es gegen die Forderung der Harmonie, der
ausgeglichenen Totalität des Lebens — wie er sich ja auch nicht
scheut, von einer Übertriebenheit des Moralischen zu sprechen,
eine für Kant völlig unausdenkbare Vorstellung — und darum
konnte der Sieg hier ein vollkommener sein, weil der Feind
selbst in die Einheit der schliesslich gewonnenen Form
einbegriffen ist; was sich denn auch als der Sinn all seiner
Entsagungen und Selbstüberwindungen zeigen wird.
Vielleicht gehört es zu dem Providenziellen dieses Schicksals,
dass ihm Sinnlichkeit und Sittlichkeit einmal auseinander zu
brechen drohten — damit ihm Italien seine Ganzheit, aber nun auf
höherer, bewussterer, differenzierterer Stufe wiedergeben
konnte, das heisst: dass er im Sinnlichen dieselbe Wertströmung
der Lebenseinheit fliessen fühlte, die das Sittliche trug.
Ein Satz vom März 88 fasst es zusammen: »In Rom hab ich mich
selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir
selbst, glücklich und vernünftig geworden.«
Für die Entwicklung des Verhältnisses aber zwischen dem
ästhetisch geformten Wert und der Wirklichkeit, die in Italien
ihre zweite entschiedene Periode erfuhr, ist nun vor allem die
griechische Kunst und nächst ihr die der Hochrenaissance
bestimmend gewesen.
Goethes allgemeines Verhältnis zur Antike bedarf, als jedermann
bekannt, hier keiner Darstellung; wenn uns heute die klassische
Welt weniger als die durchgehende Verwirklichung eines
einheitlichen Ideales erscheint, dieses Ideal selbst nicht mehr
als absolutes, sondern als historisch eingegrenztes, neben das
andere Zeiten ihre abweichenden Bedürfnisse gleichberechtigt
stellen, wenn wir der griechischen Kunst Mannigfaltigeres und
wohl auch Tieferes entnehmen, als Goethe, der von Originalen der
wirklich hohen Kunstepoche so gut wie nichts kannte — so sei
darüber die ungeheure Kulturleistung seines »Klassizismus« nicht
vergessen.
Dass er der deutschen Bildung diese Vorstellung vom Griechentum
als einen fast ein Jahrhundert lang unbestrittenen und innerlich
wirksamen idealischen Besitz einprägte (und das geht auf ihn,
nicht auf Lessing und Winckelmann zurück) — das bleibt eine der
erstaunlichsten kulturellen Kraftleistungen, auch wenn, und
vielleicht gerade wenn diese Vorstellung historisch irrig und
ästhetisch einseitig war.
Die Leistung der Antike aber für jenes
Wert—Wirklichkeits-Problem war, dass er in ihr eine
Naturwahrheit im höchsten Sinne fand, die die künstlerischen
Werte unmittelbar einschloss; dass die Natur, in ihrer vollen
Wahrheit — also jenseits aller zufälligen Einzelheiten und
einseitigen Äusserlichkeiten — erfasst, schöne Natur sei; dass
also in der Schönheit Wirklichkeit und Kunst ihren realen
Konvergenzpunkt besässen.
Von einer »Nachahmung« der Natur durch die Kunst, die nur von
Oberfläche zu Oberfläche führt, ist jetzt nicht mehr die Rede;
ausdrücklich wird das Kunstverständnis, das ihm durch die
Griechen gekommen sei, der Nachahmung auch der »schönen« Natur
entgegengesetzt.
Er sieht ein, dass jene künstlerischen Genien aus dem Grunde der
Natur heraus schaffen, d. h. aus einer Wesenstotalität, die
dieselbe ist, wie der »Kern der Natur«, der ja doch »Menschen im
Herzen« ist.
Die Technik, durch die dies sozusagen aktualisiert wird, ist
natürlich ein unermüdliches Studium der gegebenen Natur in ihren
Erscheinungen; und in dem Masse, in dem es gelingt, ist das Werk
»schön«: »Der bildende Künstler«, so schreibt er ganz spät,
»muss sich zuerst an der kräftigen Wirklichkeit vollkommen
durchüben, um das Ideale daraus (!) zu entwickeln, ja zum
Religiösen endlich aufzusteigen.« Denn das Schönheitsideal wohnt
weder einem Transzendenten hinter der Natur ein, noch einem
Singulären in Isoliertheit gegen das ganze Sein, sondern
derjenigen Erscheinung, in der die einheitliche Ganzheit des
natürlichen Seins zum Ausdruck kommt.
Wie im psychologischen Symbol drückt Goethe diese tiefste
Bedeutung des Schönen in dem Satze aus: »Wer die Schönheit
erblickt, fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in
Übereinstimmung.«
Die drei Elemente also: Natur, Kunst, Schönheit wurden ihm durch
die Erfahrung von der Klassik auf eine neue Weise
zusammengebracht.
»Indem der Mensch«, schreibt er später in der reifsten
Zusammenfassung seiner klassisch-künstlerischen Bildung, »auf
den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als
eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel
hervorzubringen hat.« Zuhöchst sei das Kunstwerk ein solcher.
»Indem es aus den gesamten Kräften sich entwickelt, so nimmt es
alles Herrliche — in sich auf.« Und dies geschehe vor allem bei
den Griechen.
Hiermit und sonst oft bezeichnet er den zentralen Punkt: dass
bei den Griechen sich »sämtliche Eigenschaften gleichmässig
vereinigten«.
Der Grieche erschien ihm als der ganze Mensch, als die in sich
ungebrochene Natur — worüber wir freilich heute vielfach anderer
Meinung sind; aber die Idee der Ganzheit, deren Ersehnung ihn
nach Italien trieb, ist ihm sozusagen zum Apriori geworden, nach
dem er die ihn beeindruckendste und beglückendste Erscheinung
deuten musste.
Eben diese harmonische Totalität, mit der das Dasein sich
abrundet und Schönheit erzeugt, weil jene eben selbst Schönheit
ist — war es, was ihn an Rafael entzückte.
Er drückt diesen in Italien gewonnenen Eindruck später so aus,
dass bei Rafael Gemüts- und Tatkraft in entschiedenem
Gleichgewicht stünden, die glücklichsten inneren und äusseren
Umstände in Harmonie mit dem unmittelbaren Talent.
»Er gräzisiert nirgends, fühlt, denkt, handelt aber wie ein
Grieche.« Die Griechen bringen ihm den Gesichtspunkt der
Totalität — des Menschen in sich und seiner Beziehung zur Natur
— an das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst heran und damit
die Schönheit, die von dieser Wurzel her beiden gemeinsam ist.
Er spricht öfters von dem Nutzen seiner anatomischen Studien für
das Verständnis der Kunst; indes käme man so doch nur dazu, den
Teil zu kennen.
»In Rom aber wollen die Teile nichts heissen, wenn sie nicht
zugleich eine edle, schöne Form [d. h. ein Ganzes] darbieten.«
Die Ganzheit, die er für sein Leben und sein Weltbild suchte,
war ja die von Wirklichkeit und Wert.
Und nun trat ihm eine Kunst entgegen, die ihm, angesichts all
der Barockformen und der leeren Schnörkel, die ihn bis dahin als
das Ästhetisch-Anschauliche des täglichen Lebens umgeben hatten,
als wahre, echte Natur erscheinen musste und die die Schönheit
nicht als etwas sozusagen Aufgeklebtes, Hinzugefügtes besass,
sondern von derselben Wurzeltiefe her ihr zu eigen, in der ihre
Naturhaftigkeit erwuchs.
So gering die objektive Stilgleichheit des aktuellen
italienischen Lebens und der griechischen Kunst sein mochte —
für die innere Lage und ihre Bedürfnisse, die Goethe nach
Italien mitbrachte, leisteten sie ihm die gleiche Synthese
seiner auseinandergetriebenen Lebenselemente.
Goethes Kunstbegriff wird durch dieselbe »mittlere« Stellung
charakterisiert, die seinen geistigen Weltbegriff überhaupt
bestimmt: das Einzelne, in seiner sinnlich-zufälligen
Unmittelbarkeit, das nur Gelegenheit zur Kopie, zu mechanischer
Ähnlichkeit gibt, ist ihm kein Gegenstand der Kunst; ebenso
wenig aber die abstrakte geistige Form, die dem natürlichen
Leben prinzipiell fremde Idee.
Zwischen beiden steht der allmählich sich entwickelnde Begriff
der »Natur« als des zugleich Wirklichen und Übereinzelnen,
zugleich Konkreten und Ideellen.
Man kann freilich seine frühe Periode als Naturalismus
bezeichnen, wobei aber Natur einen ganz andern Sinn hat, als in
der gewöhnlichen realistischen Kunsttendenz.
Es ist nämlich seine eigene Natur, die Natur im subjektiven
Sinne, die sich, die realen und die ideellen Formen manchmal
gleichmässig vergewaltigend, in Produktivität ausströmt: die
Schöpfungen bilden nicht die Natur der Gegenstände nach, sondern
die Natur des Schöpfers bildet sich in sie ein, und wenn auch
jenes erstere stattfindet, so ist es, weil die leidenschaftliche
Weltaneignung der Jugend in ihren Äusserungen wieder zum
Vorschein kommt.
Er objektivierte das, indem ihm die Natur die grosse zeugende
Einheit war, die Mutter zu allen Kindern, die Kraft in seiner
eigenen Kraft; so dass er am Schluss des Hymnus an die Natur (c.
1781) sagt: »Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und
was falsch ist, alles hat sie gesprochen.« Hier ist also Natur,
die vor allem Einzelnen steht und den Akzent des Künstlertums
deshalb von aller realistischen »Nachbildung« wegrückt.
Und eben dies letztere geschieht nun, von dem Eindruck der
Griechen aus, durch einen Naturbegriff, der gleichsam hinter dem
Einzelnen steht.
Jetzt handelt es sich um das Herausarbeiten einer Schönheit, die
zwar eine wirkliche und lebendige ist — aber diese Wirklichkeit
und Lebendigkeit ihrer ist nicht mit dem sinnlichen Dasein eines
singulären, empirischen Stückes Welt identisch, sondern
offenbart sich erst in der Form der Kunst.
»Aus den Werken der klassischen Kunst«, sagt er, »lernen wir die
Schönheit erst kennen, um sie an den Gebilden der lebendigen
Natur gewahr zu werden und zu schätzen.« Diese Äusserung stammt
aus einer Zeit, in der er die Ergebnisse Italiens in gesammelter
Reflexion und neuem Hineinversenken überschaute.
Seit jener Äusserung von 1775, nach der er ein Kunstwerk nicht
geniessen könnte, wenn er nicht durch die Kenntnis der
entsprechenden Natur dazu angeleitet würde, hat sich also eine
vollkommene Drehung vollzogen: jetzt wird ihm die Natur erst
durch die Kunst zur Geniessbarkeit interpretiert.
Und was er uns im Werther heftig vorwirft: dass wir Kunst
brauchen, um Natur als vollendet zu fühlen (»Muss es denn immer
gebosselt sein, wenn wir Teil an einer Naturanschauung nehmen
sollen?«) — gerade das also preist er jetzt als die höchste
Leistung der Kunst.
Und nun schreibt er über die griechischen Plastiker: »Ich habe
eine Vermutung, dass sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach
welchen die Natur verfährt.
Nur ist noch etwas anderes dabei, das ich nicht auszusprechen
wüsste.« Die Nachahmungstheorie ist hier überwunden, indem der
Künstler sozusagen nicht nach dem fertigen Naturbild schafft,
nicht einfach Äusseres in Äusseres überträgt, sondern wirklich
schöpferisch, und nur nach den Gesetzen, die auch jenes
Naturbild erwachsen liessen.
Das »andere« aber, das noch »dabei« ist, scheint mir jene
spätere Äusserung herausgebracht zu haben: zum Kunstwerk wirken
jene Gesetze in solcher Reinheit und solcher Richtung, dass sie
ausschliesslich Schönheit erzeugen — sei es, dass sie diese
innerhalb der Wirklichkeitsform nur verstreut und zufällig, sei
es, dass sie sie in ihr nur verborgen, dem nicht-künstlerischen
Auge unauffindbar, produziert haben.
Dass die Natur rein als solche sozusagen mehr ist als Natur,
dass die Gesetze der realen Erzeugungen wie durch rein immanente
Steigerung zugleich die der Schönheit sind — das ist das tiefste
Fundament seiner späteren Äusserung: »Der Sinn und das Bestreben
der Griechen (in der Kunst) ist, den Menschen zu vergöttern,
nicht die Gottheit zu vermenschlichen.
Hier ist ein Theomorphism, kein Anthropomorphism! Und noch
einmal bricht eben diesem Sinne, in einem zwischen der
italienischen Reise und diesem Worte gelegenen Ausspruch die
tiefe Fremdheit gegen alle christliche, dualistische
Transzendenz heraus: »Antike Tempel konzentrieren den Gott im
Menschen; des Mittelalters Kirchen streben nach dem Gott in der
Höhe.« Die Schönheit, die er jetzt auf eine neue Weise in der
Natur sehen lernte, weil sie ihm, wie in einer Sublimierung, in
der klassischen Kunst entgegentrat, rückte den jetzt gewonnenen
Naturbegriff von dem früheren ab.
Dies besagt — eigentlich noch aus der Vorahnung heraus — die
Briefstelle vom Anfang der italienischen Reise: »Die Revolution,
die ich voraussah und die jetzt in mir vorgeht, ist die in jedem
Künstler entstand, der lange emsig der Natur treu gewesen und
nun die Überbleibsel des alten grossen Geistes erblickt, die
Seele quoll auf und er fühlte eine innere Art von Verklärung
sein selbst, ein Gefühl von freierem Leben, höherer Existenz,
Leichtigkeit und Grazie.« Und dann kann er, wo der Prozess
beinahe abgeschlossen ist, bei dem zweiten Aufenthalt in Rom
schreiben: »Die Kunst wird mir wie eine zweite Natur.« Sie war
ihm früher wie die erste gewesen.
Und als das Auseinanderbrechen von Wert und Wirklichkeit ihm
offenbar auch das Verhältnis von Natur und Kunst problematisch
gemacht hatte, bedurfte er der Leitung und Erleuchtung durch die
Klassik, die die Natur als Schönheit zu deuten wusste: er
meinte, die »Ganzheit« des griechischen Wesens zu spüren, durch
diese mächtige Synthese offenbart und ihm zugeleitet, an der er
nun die Ganzheit seines eigenen Wesens wieder aufbaute.
Damit ist erst sein Kunst- und Schönheitsbegriff zu einer Höhe
und Einheit gelangt, die alle Einzelheiten als solche dominiert,
ihnen die Form gibt und damit alle Nachahmung erst prinzipiell
überwindet — gerade wie sein persönliches Bewusstsein über das
Chaos neben- und gegeneinanderstehender Einzelheiten, das ihm
schliesslich unerträglich geworden war, jetzt seine
beherrschende Einheit gewann.
Wenige Jahre nachher wendet er dies auch auf das Theater an und
sagt gegen den naturalistischen Individualismus (der auch ein
Einzelnes in seiner besonderen Wirklichkeit vorträgt, also dem
Prinzip nach dasselbe ist wie die blosse Nachahmung eines
Gegebenen): der Naturton auf der Bühne »ist zwar höchst
erfreulich, wenn er als vollendete Kunst, als eine zweite Natur
hervortritt, nicht aber wenn ein jeder glaubt, nur sein eigenes
nacktes Wesen bringen zu dürfen«.
Das dritte Stadium, in dem sich das Verhältnis zur Natur und
Kunst, weiter gefasst: von Wirklichkeit und Wert darstellt, ist
nicht mit derselben Schärfe abzugrenzen und festzulegen,
insbesondere nicht, weil die in Italien gewonnene Attitüde ja
nie ausdrücklich verleugnet wird, auch nie verschwindet.
Aber es scheint mir unverkennbar: der selbständige Wert der
Kunstform, der sich, seiner ersten Epoche gegenüber, in Italien
aufarbeitet, und der ihm hier zu einer neuen Deutung der Natur
wird, an den Diskrepanzen des Daseins die Versöhnungsfunktion
übt, eben damit in innigster Einheit mit der Natur selbst, in
organischer, solidarischer Beziehung mit dem Wirklichen und
seiner Gesetzlichkeit steht — dieser Wert wächst über die so
bestehende Verwebung mit den Wirklichkeitsinhalten in gewissem
Masse hinaus! Goethe hat, wie ich zeigte, in Italien mit voller
Klarheit das Unkünstlerische der einfachen Abschrift des
Wirklichen durchschaut, erkannt, dass die Kunst sozusagen das
Gesetz der Dinge, aber nicht die Singularität des Dinges zum
Gegenstand habe.
In zwei Äusserungen, die etwa zehn Jahre nach der Rückkehr aus
Italien liegen, ist scheinbar nur dies ausgesprochen, und doch
spürt man darin, wie ihm das Kunstprinzip noch weiter von der
naturhaften Unmittelbarkeit abgerückt ist: »Die Kunst übernimmt
nicht mit der Natur, in ihrer Breite und Tiefe zu wetteifern,
sie hält sich an die Oberfläche der natürlichen Erscheinungen;
aber sie hat ihre eigne Tiefe, ihre eigne Gewalt: sie fixiert
die höchsten Momente dieser oberflächlichen Erscheinungen, indem
sie das Gesetzliche darin anerkennt, die Vollkommenheit der
zweckmässigen Proportion, den Gipfel der Schönheit, die Würde
der Bedeutung, die Höhe der Leidenschaft.« Der marmorne Fuss
»verlangt nicht zu gehn; und so ist der Körper auch, er verlangt
nicht zu leben. — Die törichte Forderung des Künstlers, seinen
Fuss neben einen organischen zu stellen« usw.
Und ein wenig früher sogar noch entschiedener: »Ich habe mehr
als einen Wagenlenker alte Gemmen tadeln hören, worauf die
Pferde ohne Geschirr dennoch den Wagen ziehen sollten.
Freilich hatte der Wagenlenker recht, weil er das ganz
unnatürlich fand; aber der Künstler hatte auch recht, die schöne
Form seines Pferdekörpers nicht durch einen unglücklichen Faden
zu unterbrechen: diese Fiktionen, diese Hieroglyphen, deren jede
Kunst bedarf, werden so übel von allen denen verstanden, welche
alles Wesen natürlich haben wollen und dadurch die Kunst aus
ihrer Sphäre reissen.« Und abermals zwanzig Jahre später: »Das
Richtige — in der Kunst — ist nicht sechs Pfennige wert, wenn es
weiter nichts ist.« Er wird gegen die Unlauterkeit des
Wettbewerbes zwischen Kunst und Wirklichkeit immer
empfindlicher. 1825 spricht er von einer in einer Aula
auszuführenden malerischen Allegorie und fragt: Ist sie farbig,
d. h. mit dem Schein des wirklichen Lebens dargestellt? Als dies
bejaht wird, fährt er fort: »Das würde mich stören.
Eine Marmorgruppe an diesem Platze würde den Gedanken
aussprechen, ohne in Konflikt zu geraten mit der Gesellschaft
wirklicher Personen, die sie umgeben.« Ich sprach oben von zwei
ganz verschiednen Bedeutungen des Naturalismus.
Der subjektive, vom Schöpfer her gemeinte, ist das unmittelbare
Hervorsprudeln des persönlichen Zustandes, der persönlichen
Erregung und Impulsivität, ohne dass ihr von einer Idee Formung
käme; der objektive dagegen möchte die Kunsterscheinung zu
möglichst ungeänderter Kopie der Wirklichkeitserscheinung
machen.
Nun gibt es aber noch eine dritte Tendenz, die man als
naturalistische zu bezeichnen berechtigt ist: die den Zweck und
Wert des Kunstwerks in den Effekt legt, den es im Aufnehmenden
auslöst.
Denn auch hier wird, wie in den beiden andern Fällen, eine
Realität zum Massstab und zur Quelle des Sinnes für das
Kunstwerk — der rein tatsächliche, als natürliches Ereignis
geschehende Eindruck auf den Beschauer.
Hat Goethe nun auf Grund der Klassik die beiden ersten Formen
des Naturalismus überwunden, so wendet er sich später mit
leidenschaftlicher Entschiedenheit auch gegen die dritte.
Gegen Ende der Lehrjahre heisst es: »Wie schwer ist es, was so
natürlich scheint, eine gute Statue, ein treffliches Gemälde an
und für sich zu beschauen, den Gesang um des Gesanges willen zu
vernehmen, den Schauspieler im Schauspieler zu bewundern, sich
eines Gebäudes um seiner eignen Harmonie und seiner Dauer willen
zu erfreuen.
Nun sieht man aber meist die Menschen entschiedne Werke der
Kunst geradezu behandeln, als ob es ein weicher Ton wäre.
Nach ihren Neigungen, Meinungen und Grillen soll sich der
gebildete Marmor gleich wieder ummodeln, das festgemauerte
Gebäude sich ausdehnen oder zusammenziehen, ein Gemälde soll
lehren, ein Schauspiel bessern.
Die meisten Menschen — reduzieren alles zuletzt auf den
sogenannten Effekt.« Auf dieser Basis steht die ausserordentlich
tiefe Kritik des Dilettanten vom Jahr 99: »Weil der Dilettant
seinen Beruf zum Selbstproduzieren erst aus den Wirkungen der
Kunstwerke auf sich empfängt, so verwechselt er diese Wirkungen
mit den objektiven Ursachen und meint nun den
Empfindungszustand, in den er versetzt ist, auch produktiv zu
machen; wie wenn man mit dem Geruch der Blume die Blume selbst
hervorzubringen dächte.
Das an das Gefühl Sprechende, die letzte Wirkung aller
poetischen Organisationen, welche aber den Aufwand der ganzen
Kunst selbst voraussetzt, sieht der Dilettant als das Wesen
derselben an und will damit selbst hervorbringen.« Und noch
später schreibt er ganz prinzipiell: »Die Vollendung des
Kunstwerks in sich selbst ist die ewige unerlässliche Forderung.
Aristoteles, der das Vollkommenste vor sich hatte, soll an den
Effekt gedacht haben! Welch ein Jammer!« Hat er die Kunst zuerst
von jedem terminus a quo unabhängig gemacht, sowohl von dem
subjektiven wie von dem objektiven, um sie ganz auf sich selbst
zu stellen, so vollendet sich dies also nun durch ihre
Unabhängigkeit von dem terminus ad quem.
Sie steht gleichmässig jenseits des einen wie des andern in der
vollen Selbstgenugsamkeit ihrer Formen, ihrer Idee.
Am Anfang dieser Entwicklung war ihm die Natur die Bedingung und
sozusagen das Medium des künstlerischen Fühlens gewesen, dann
hatte umgekehrt die Kunst den Sinn und den ideellen Wert der
Natur gedeutet — jetzt ist die Kunst autonom geworden; aber weil
sie durch diese Stadien der Einheit durchgegangen waren, weil
jenes innigste organische Verhältnis, das ihm nach der drohenden
Zerreissung der voritalienischen Weimarer Jahre die Klassik
gebracht hatte, nicht mehr zu trennen war, sondern in tiefster
Wurzelung weiterlebte — darum liess das »Artistentum« seiner
späteren Jahre die Natur nicht etwa als neuen Feind hinter sich;
die Kunst trug nun die Versöhnung mit der Natur in sich, ihr
Begriff war ihm so gross und hoch geworden, dass ihre
Selbständigkeit nicht mehr, — was sonst so oft die Bedingung,
aber deshalb auch die Schranke der Selbständigkeit ist — eines
Gegenüber und Gegensatzes bedurfte.
Das ist es, was er als Achtzigjähriger ausspricht: die höchsten
Kunstwerke seien solche, die »die höchste Wahrheit, aber keine
Spur von Wirklichkeit« hätten.
Und darum stehen in seinem Nachlass die beiden Aphorismen
hintereinander, die sich zu widersprechen scheinen könnten, aber
sich in Wirklichkeit bedingen: »Natur und Idee lässt sich nicht
trennen, ohne dass die Kunst sowie das Leben gestört werde« —
und: »Wenn Künstler von Natur sprechen, subintelligieren sie
immer die Idee, ohne sich's deutlich bewusst zu sein.« So ganz
also hat die Kunst ihre Existenz in der »Idee«, dass diese in
dem, was der Künstler Natur nennt, die Substanz, das eigentlich
Gemeinte ist; aber sie kann das, weil sie von vornherein mit der
Natur Eines ist, weil sie die Natur sozusagen aufgesogen hat und
weil das Leben, das der Schicksalsgenosse der Kunst ist, in
dieser Assimiliertheit von Idee und Natur besteht.
Damit ist aber auch die Gefahr vermieden, die die
Selbstherrlichkeit der Kunst in dem, was wir jetzt eben
Artistentum nennen, leicht mit sich bringt: dass ihre Autonomie
sich zu einer Despotie übersteigert, dass der Hochmut eines
isolierten Kunstbegriffes alle Wirklichkeit und Natur sozusagen
zu einer Existenz zweiter Klasse herabdrückt.
Jener Begriff mag bei Goethe zu noch so grosser Souveränität
aufwachsen, er kann das immer nur in der Richtung jenes
ursprünglichen Wachstums aus der einheitlichen Verwurzelung mit
der Natur heraus.
Ja, weil die Kunst, bei aller absoluten Selbständigkeit ihrer
Form, ihren Sinn aus dem anschaulichen und geistigen Wesen der
Natur bezieht, weil sie zu der Höhe, in der sie jenseits der
Natur steht, nur aus der Natur heraus und deren tiefere Wahrheit
als ihre eigne bewahrend gelangt ist — darum lässt Goethe ihr
eine wundervolle Bescheidenheit, ein starkes Bewusstsein ihrer
angemessenen Stellung in dem alles übergreifenden Dasein
überhaupt: »Der Mensch«, sagt er zehn Jahre nach Italien,
»verlange nicht Gott gleich zu sein, aber er strebe, sich als
Mensch zu vollenden.
Der Künstler strebe, nicht ein Naturwerk, aber ein vollendetes
Kunstwerk hervorzubringen.« Die Parallele spricht deutlich
genug: das Naturwerk bleibt das unerreichbar Höchste, aber indem
die Kunst mit ihm nicht konkurriert, weder im Sinn des
Naturalismus noch des stolz abstrakten Artistentums, kann sie in
sich eine absolute, durch jene Absolutheit der Natur nicht
herabgedrückte Vollendung haben.
Dies steht nun in einer leicht fühlbaren Beziehung zu einer noch
weitergreifenden Spannung der Grundelemente, die in seinen
späteren Jahren hervortritt.
Dass die Idee der Erscheinung innewohnt und in ihr anschaulich
ist, dass die Natur ihre Geheimnisse hier und da dem Beschauer
nackt vor Augen stellt, dass nichts hinter den Phänomenen liegt,
sondern sie selbst »die Lehre« sind — das ist das zeitlos
Prinzipielle der Goetheschen Weltanschauung, ihre »Idee« selbst.
Nun aber begegnen, insbesondere in höherem Alter, zunächst
Äusserungen wie die: »Kein organisches Wesen ist ganz der Idee,
die zugrunde liegt, entsprechend.« Ganz spät sagt er, dass er
die Natur keineswegs »in allen ihren Äusserungen schön« finde:
sie habe eben nicht immer die Bedingungen, ihre »Intentionen«
vollkommen zur Erscheinung zu bringen; wofür er die
mannigfaltigen Verkrüppelungen anführt, die ein Baum durch
Ungunst des Standortes erfahren kann.
Die Natur ist zwar in Gott gehegt, aber dennoch ist das
göttliche Prinzip in der Erscheinung »bedrängt«, dennoch können
Taten »ohne Gott« geschehen; und die Idee »tritt immer als ein
fremder Gast in die Erscheinung«.
»Die Idee ist in der Erfahrung nicht darzustellen, kaum
nachzuweisen; wer sie nicht besitzt, wird sie in der Erscheinung
nirgends gewahr.« »Zwischen Idee und Erfahrung scheint eine
gewisse Kluft befestigt, die zu überschreiten unsere ganze Kraft
sich vergeblich bemüht.
Dessenungeachtet bleibt unser ewiges Bestreben, diesen Hiatus
mit Vernunft, Verstand, Einbildungskraft, Glauben, Gefühl, Wahn,
und, wenn wir sonst nichts vermögen, mit Albernheit zu
überwinden.« Und dies wendet sich schliesslich auch ins
Ethische, wenn er, 75 Jahre alt, über Byrons griechisches
Unternehmen und seinen Tod sagt: »Es ist aber das Unglück, dass
so ideenreiche Geister ihr Ideal durchaus verwirklichen wollen.
Das geht nun einmal nicht, das Ideal und die gemeine
Wirklichkeit müssen streng geschieden bleiben.« Neben dem
letzten und eigentlich absoluten Prinzip des Goetheschen
Weltbildes: der Einheit der Pole, des »ewig Einen, das sich
vielfach offenbart«, der »Ruh' in Gott dem Herrn«, die alles
Drängen, Irren, Spalten zusammenschliesst, der »göttlichen
Kraft, die überall entwickelt, der ewigen Liebe, die überall
wirksam« ist — neben diesem steht ein dualistisches Prinzip, das
jenem gegenüber einigermassen im Dunkeln bleibt und sich nur in
solchen einzelnen Äusserungen über die Unstimmigkeit zwischen
Idee und erfahrbarer Wirklichkeit verrät.
Die Empfindung dieses dumpfen Widerstandes der realen Welt, der
wir selbst zugehören, gegen das Höhere und Absolute, von dem sie
selbst doch ihren ganzen Inhalt und Wert zu Lehen trägt,
reflektiert sich wohl in einem Gefühl, das er öfters, z.B. in
folgendem Satz ausspricht: »Die Idee, wenn sie in die
Erscheinung tritt, es sei auf welche Art es auch wolle, erregt
immer Apprehension, eine Art Scheu, Verlegenheit, Widerwillen,
wogegen der Mensch in irgendeiner Weise sich in Positur setzt.«
Auch über die Urphänomene, deren Auffindung ihn doch
ursprünglich beseligte — wie er denn überhaupt von seinen
naturwissenschaftlichen Entdeckungen mit einem so freudigen
Stolze spricht, wie nie von seinen Dichtwerken — äussert er sich
später in dem gleichen Sinn: dass ihre Wahrnehmung mit einem
gewissen Schrecken und Angstgefühl verbunden sei.
Ich wüsste zwar den Zusammenhang beider Phänomene des
Goetheschen Geistes durch kein Zitat zu belegen.
Aber dies eigentümliche Gefühl des Schreckens beim Hervortreten
der Idee, als überwältigte uns dabei etwas, was mit
unbegreiflicher Kraft aus einer uns fremden Welt kommt, scheint
mir nur auf jene Konstellation begründbar: dass dasjenige, was
erscheinen zu lassen sich die Wirklichkeit sträubt, was sie nur
wie in Andeutungen und aus der Ferne zeigt, nun dennoch auf
einmal anschaulich wird; jederzeit ist es eines der tiefsten
Schrecknisse der menschlichen Seele, wenn sie das verwirklicht
erblickt, was sie als logischen Widerspruch denken muss.
Hier liegt eine der dunkelsten, am wenigsten auf einen
einheitlichen Grund und einen durchsichtigen Ausdruck gebrachten
Seiten Goethescher Weltanschauung vor.
Es ist offenbar im Metaphysisch-Wertmässigen die Schwierigkeit
an ihn herangetreten, die ganz prinzipiell jeden Monismus
bedroht: dass es unsern Denkkategorien versagt ist, die
differente Ausgedehntheit und Vielheit des Daseins aus dem
»Einen«, dem schlechthin einheitlichen Prinzip zu entwickeln.
Wie unser Geist nun einmal angelegt ist, bedarf es mindestens
einer Zweiheit ursprünglicher Elemente, damit es zu einer
Zeugung komme, damit, real wie logisch, ein Mehrfaches, Anderes,
Gewordenes begreiflich sei.
Die absolute Einheit ist unfruchtbar, wir können nicht einsehen,
warum dieses Eine, wenn ausser ihm nichts ist, ein Zweites und
Drittes, und gerade dieses und gerade in diesem Zeitmomente,
hervorbringen sollte.
Soweit nur das Sein in Frage kommt, entgeht der Goethesche
Pantheismus dieser Ratlosigkeit, indem er die göttliche Einheit
als eine lebendige vorstellt.
Das Leben, als Ganzes gefasst, ist freilich das aus sich selbst
zeugende Prinzip, der Organismus, einmal entstanden, wächst,
formt und entfaltet sich aus rein innerem Gesetz, aus einer
Triebeinheit, die eines andern höchstens als Materiales bedarf.
Weil Goethe die Welt als einen Organismus verstand, überwand er
die Klippe des früheren Pantheismus: dass die absolute Einheit
ja etwas schlechthin Undifferenziertes, Formloses, ewig
Unänderbares ist; wie die Organvielheit, die auseinander
zweigende Entwicklung des Lebewesens seiner Einheit nicht
widerspricht, sondern dieser gerade entspriesst, so kann eine
lebendige Welt eine vielheitlich geformte, unendlich
differenzierte und doch eine, in sich ungeteilte und unteilbare
sein.
Auf eine Kritik dieser Vorstellung gehe ich nicht ein; für
Goethe jedenfalls scheint sie ausgereicht zu haben, um seinen
Pantheismus der Fragwürdigkeit des starren έν καἰ πάν zu
entreissen.
Wo aber statt der Einheit des Seins die Einheit des Sinnes in
Frage steht, hat er keine entsprechende Bestimmung der
»Gott-Natur« zur Verfügung, und ihre Einheit versagt an der
Unzulänglichkeit, Dumpfheit, Ideenfremdheit der tatsächlichen
Phänomene.
Ich kenne keine Äusserung Goethes, die es unternähme, die
göttliche Einheit, die die Natur und jede ihrer Einzelheiten
widerstandslos durchdringt — und die Unfindbarkeit des
Göttlichen oder der Idee in der Erscheinung, den Widerstand, den
die wirkliche Natur, all jenen Aussprüchen gemäss, diesem
Absoluten und Ideellen leistet — auf einen Begriff zu bringen,
aus einem tieferen Motiv abzuleiten.
Beides vielmehr steht wie unvermittelte Tatsachen nebeneinander
— während doch die gleichsam zeitlose Substanz seiner
Weltanschauung, die Idee, die diese historisch zu verwirklichen
berufen war, in dem sichtbaren Einwohnen des Ideellen in der
»Gestalt«, in dem, wenn nicht unmittelbaren, so doch mittelbaren
und innerlichen Sinnlich-Sein des Übersinnlichen beruhte! Zu
einem prinzipiellen Dualismus, wie ihn manche religiöse und in
gewissem Sinn auch die Kantische Weltanschauung zeigt, kommt es
zwar nicht.
Ich wüsste nicht, dass für jene Behinderung der Idee, sich in
der Erscheinung zu zeigen, irgendein positives metaphysisches
Prinzip haftbar gemacht wird; ich kann mich nicht entschliessen,
das Symbol eines solchen in Mephistopheles zu sehen — auch wenn
es ihm »Ehrenpunkt« ist, »dabei« gewesen zu sein, als die Natur
entstand.
Denn Mephisto tritt — was etwas Frappierendes hat — eigentlich
nicht als kosmische Potenz hervor.
Er geht ganz in dem singulären Unternehmen auf, Fausts Seele zu
gewinnen, ohne dass dies aus einer metaphysisch breiten,
jenseits des individuellen Falles sich erstreckenden Basis
hervorginge.
Trotz der paar allgemeinen nihilistischen Äusserungen im ersten
Teil ist seine Tendenz hier nicht entschieden antikosmisch,
antiideell, sondern nur antiethisch.
Er ist viel mehr der böse Zauberer, der eine Seele verderben
will, als das Symbol jener unheimlichen, die Welt als Gegengott
durchwaltenden Tendenz, die in den grossen dualistischen
Weltbildern jeden Punkt des Seins zum Kampfplatz zwischen Licht
und Finsternis, Ormuzd und Ahriman macht.
Es ist doch nicht bedeutungslos, wenn Goethe im Jahre 1820 von
einer Fortsetzung des Faust spricht, »wo der Teufel selbst Gnade
und Erbarmen vor Gott findet« — und noch weniger, dass dies nach
dem »Prolog im Himmel« nicht einmal inkonsequent ist.
Im zweiten Teil verschwindet überhaupt alles Prinzipielle aus
seiner Rolle, er ist nur noch ein sozusagen technisch, aber
nicht mehr innerlich notwendiges Glied der Ereignisse.
Die tiefe Überzeugtheit von der Göttlichkeit und Einheit der
Welt hat Goethe eben doch zurückhalten müssen, dem teuflischen
Prinzip eine metaphysische Absolutheit, eine Wurzelung im
letzten Grunde der Dinge zu geben; darum also war der oben
gebrauchte Begriff des Dualismus nur ein vorläufiger.
Genau ausgedrückt liegt es so, dass die grossen ideellen
Weltpotenzen, die prinzipiell die Erscheinung restlos gestalten,
schliesslich nur eine nicht näher bestimmte Grenze ihrer
Wirksamkeit finden — nicht näher bestimmt, weil sie nicht aus
einem einheitlichen Gegenprinzip stammt, aus der positiven
Hemmung durch eine feindliche Kraft, sondern eher aus einer
inneren Schwäche, aus einem Versagen von innen her.
Die Undeutlichkeit, die für Goethe selbst hier vorzuliegen
scheint, ist wohl die Veranlassung für die Vielfachheit, das
Tastende, ja auch Widerspruchsvolle, das in seinen Ausdrücken
auftritt, sobald er den Standpunkt der einheitlichen, in ihren
Gestaltungen die Idee offenbarenden Natur verlässt.
Er ist einesteils der radikalste Feind alles Anthropomorphismus.
Nicht nur »unfühlend ist die Natur«, sondern auch alle
Naturzwecke sind ihm vollkommene Absurdität, die fortschreitende
Lebensreife erscheint ihm als fortschreitende Reinigung des
Naturbildes von subjektiven Zutaten und Hervorstellen ihres
Bildes als einer reinen Objektivität, eines Kosmos
ausnahmsloser, ewiger Gesetze.
Andrerseits aber begegnen nun Äusserungen, die die Natur völlig
zu vermenschlichen scheinen.
Zunächst das häufig Wiederholte: dass die Natur immer recht
habe, dass sie sich niemals irrte, dass sie sich selbst treu
bliebe usw. Alles dies hat aber doch nur einen Sinn, wo ein Sein
und ein davon möglicherweise unterschiedenes Sollen vorliegt;
ein Wesen, als schlechthin gesetzmässige Natur angesehen, steht
jenseits von Recht und Unrecht, von Wahrheit und Irrtum.
Nur für den menschlichen Geist können diese Kategorien gelten,
da nur er ein ideales oder reales Objekt sich gegenüber hat, mit
dem er übereinstimmen oder das er verfehlen kann.
Auf die Natur, die nur ist und weiter nichts, ist dies gar nicht
anwendbar.
Die für uns hier wichtigste Wendung davon ist, dass Goethe der
Natur Bestrebungen unterlegt, die sie nicht zu verwirklichen
vermag, also jenes eigene Hinausgreifen über ihre eigene
Wirklichkeit, das als spezifisch menschlich und gerade der Natur
völlig fremd gilt.
Dass die Natur ihre Intentionen nicht erreicht (ersichtlich
dasselbe, wie das Zurückbleiben der Erscheinung hinter der
Idee), scheint in einer wirklich objektiven Vorstellungsart
keinen Platz zu finden; und ebenso wenig, dass die Natur zwar
»sich von ihren Grundgesetzen nicht entfernen kann« und man
deshalb »sich so spät als möglich negativer Ausdrücke bedienen
soll« (wie Missbildung, Entartung usw.) — und dass er dennoch
Missbildungen gelegentlich anerkennt: »missgebildet«, sagt er,
»ist die durchgewachsene Rose, weil die schöne Rosengestalt
aufgehoben und die gesetzliche Beschränktheit ins Weite gelassen
ist.«
Goethe hat, wie gesagt, diese für uns unversöhnlichen
Widersprüche offenbar nicht als solche empfunden und deshalb
auch kein Lösungswort zu finden versucht.
Mir aber erscheint dies und die ganze Situation durch das
Grundmotiv Goethe- scher Weltanschauung bedingt, das sie von dem
als eigentlich wissenschaftlich geltenden Prinzip im Tiefsten
trennt: dass die hervorzubringende Gestalt, die typisch
bestimmte morphologische Erscheinung der Dinge die wirksame
Potenz in allem Geschehen ist.
Als Teleologie darf das zwar nicht angesehen werden, und alle
bei ihm dazu verführenden Ausdrücke sind entweder metaphorisch
oder lässig; die schaffende oder — wie man mit Übertragung des
hervorstechendsten Falles auf die Gesamtheit sagen kann — die
organisierende Kraft enthält das Gestaltbildende,
Formbegrenzende von vornherein in sich, sie ist vielmehr ganz
und gar dieses und bedarf zu ihrer Dirigierung keines, dem
menschlichen analogen Zweckes, dem sie sich als blosses Mittel
zur Verfügung stellte.
Die moderne Naturwissenschaft nun konstruiert das Geschehen
ausschliesslich aus den den Teilen der Dinge einwohnenden
Energien und deren Wechselspiel, das sich unmittelbar zwischen
ihnen entspinnt; sie ist insofern im Prinzip atomistisch, auch
wenn sie in ihrer Vorstellung von der Materie nicht Atomismus,
auch wenn sie nicht Mechanismus, sondern Energetik, ja
vielleicht Vitalismus ist.
Die Gestalt des Ganzen, die Idee der Form, die sie sich aus den
einzelnen Teilen erst zusammenbaut, als unmittelbar treibende
Kraft in diesen Teilen anzusetzen, liegt der Naturwissenschaft
fern — oder lag ihr wenigstens bis zu einigen Theorien der
allerjüngsten Zeit fern.
Indem für Goethe aber das »Gesetz« des Geschehens nicht die
Formel für die in den isoliert gedachten Teilen wohnenden
Eigenschaften und Kräfte und deren blosse Relationen ist,
sondern in der Gestalt des Ganzen besteht, die als reale Kraft —
oder realer Kraft analog — jene Teile ihrer Realisierung
zutreibt, liegt die Möglichkeit prinzipiell nahe, dass
Hemmungen, Schwächen, Durchkreuzungen dies Gesetz nicht zu
seiner vollen Wirksamkeit kommen lassen.
Dadurch wird überhaupt die Vorstellung über die Pflanzenwelt
denkbar, dass »in diesem Reiche die Natur, zwar mit höchster
Freiheit wirkend, sich doch von ihren Grundgesetzen nicht
entfernen kann«.
»Grundgesetze« und um sie ein Spielraum der Freiheit ist eine
der exakten Wissenschaft fremde Vorstellung.
Naturgesetz ist Naturgesetz, und jede Gestalt, die überhaupt
wirklich ist, mag sie noch so untypisch und für uns erstaunlich
sein, ist nach Gesetzen erzeugt, die in genau demselben Range
stehen, wie die an der normalsten Erscheinung bewährten.
Nur wo das Gesetz die Formel für die auf eine bestimmte, und
zwar typische Gestalt drängende Energie ist, kann seine zentrale
Gerichtetheit gewissermassen nach rechts und links in
abgelenkte, schwächere, mit anderen Motiven vermischte
Erscheinungen abklingen.
Bei gewissen Blüten, sagt er, z. B. bei den Zentifolien,
ȟberschreitet die Natur die Grenze, die sie sich selbst gesetzt
hat«, womit sie freilich gelegentlich »eine andere
Vollkommenheit erreicht«, gelegentlich aber auch ins schlechthin
Missbildete ausschlagt — während für die exakte Anschauung eine
solche, eine bestimmte Form bezeichnende »Grenze« nicht
existiert, sondern diese immer nur das (genau gesprochen)
zufällige Ergebnis elementarer Kraftwirkungen ist.
Es ist klar, dass, wie schon angedeutet, diese Attitüde Goethes
zu den kosmischen Gestaltungen überhaupt durch die Betrachtung
der Organismen bestimmt ist.
Denn in ihnen allein scheinen Kräfte und Kraftrichtungen der
Teile von der Form des Ganzen bestimmt zu sein und diese Form
scheint in jedem einzelnen Fall ein Verhältnis zu einem » Typus«
zu haben — einem Typus, der nicht nur ein durch ein
betrachtendes Subjekt nachträglich gewonnener Durchschnitt,
sondern eine objektiv gültige Norm ist; so dass das Normale und
das Abnorme, der reine Fall und die ausnahmsweise Missbildung
als solche einen sachlichen, nicht nur einen Reflexionssinn
haben.
Weil Goethe die Welt organisch verstanden hat, weil er den eben
bezeichneten Charakter des Organismus an jedem Punkt der Welt
empfand, darum erschien dessen Werden ihm von einem, den Teilen
einwohnenden Formgesetz des Ganzen bestimmt.
Dieses Formgesetz hat seine Achse in dem Typus der Art, um den
die einzelnen Erscheinungen mit grösserem oder geringerem
Abstand pendeln.
Hier zeigt sich eine tiefe Beziehung der Goetheschem
Naturanschauung zu seinem Klassizismus.
Die antike Geistesart, soweit sie auf Goethe wirkte, fand das
Wesen jedes Stückes des Daseins in dem plastisch festgeformten
Allgemeinbegriff.
Wie die griechische Kunst auf Typen ausging, um die die
einzelnen Gestaltungen sich mit gewissem Spielraum bewegten, in
der Reinheit ihres Typus das Mass ihrer Vollendung findend, so
schienen die Dinge in Klassen zu gehören, die für ein jedes die
Vorzeichnung bildeten, und jedes Ding war es selbst, indem es
seinen Typus darstellte — was es oft oder immer nur in
Unvollkommenheit und Trübung konnte.
In der Goetheschen Vorstellung des »Gesetzes« der natürlichen
Dinge trafen, indem die Gestalt Gesetz ist, die beiden Momente
zusammen: die »Gestalt« als das treibende, alles Werden
erklärende Movens in allen Elementen, wie es dem organischen
Weltbegriff entspricht — und diese Gestalt als Verwirklichung
eines Typus, der sic zwar nie ganz aus sich entlässt, von dem
sie sich aber mit unabsehbaren Modifikationen, Hypertrophien und
Atrophien entfernen kann: das »Gesetz, von dem in der
Erscheinung nur Ausnahmen anzutreffen sind«.
Auf diese Weise also möchten jene dualistischen, mit Goethes
Grundprinzipien anscheinend unverträglichen Äusserungen
erklärlich werden, die mit steigendem Alter die Diskrepanz
zwischen dem Göttlichen und dem Wirklichen, zwischen Idee und
Erfahrung immer schärfer herausstellen — vielleicht, weil sich
das klassische Ideal einigermassen aus seiner Unbedingtheit
zurückbildete; so dass er, 28 Jahre nach der italienischen
Reise, erklärt, das griechische Wesen zöge ihn doch nicht so an,
wie das römische mit seinem «grossen Verstande«, also mit seinem
scharfen Realitätssinn.
Freilich, wie die Einheitlichkeit seines Wesens und seines
Weltanschauens, die er in Italien gewann, sich als eine
begründetere, prinzipiellere, positiver errungene von der naiven
seiner frühen Jugend unterscheidet — genau so unterscheidet sich
dies späte Auseinander- treten des Ideellen und des Realen von
demjenigen, sozusagen bloss empirisch-schicksalsmässigen, das
uns in der Zeit kurz vor Italien entgegentrat.
So klar diese Standpunkte im sachlich- zeitlosen oder
geistesgeschichtlichen Sinne sind, so verwirrend gehen sie im
rein goethe-biographischen durcheinander; denn in jeder Periode,
deren zentrale Tendenz ganz unzweideutig durch je einen von
ihnen charakterisiert ist, klingen auch die andern noch nach
oder vor.
Es lag in Goethes Geisteswesen, die Färbung auch momentaner
Erfahrungen oder Stimmungen gleich in sentenziöser,
verallgemeinerter Form auszusprechen.
Mehrfache Äusserungen zeigen, dass er über die so entstehenden
Widersprüche ganz klar, aber auch ganz beruhigt war; denn er
wusste, dass sich in ihnen nur die nach verschiedenen Seiten hin
ausschlagenden Pendelungen eines einheitlichen Lebens
aussprachen.
Es ist nun höchst merkwürdig, zu verfolgen, durch welche Mittel
er sich mit jenem späteren Auseinandertreten der Elemente seines
prinzipiell einheitlichen Weltbildes abfindet.
Hier wird zunächst der Begriff des »symbolischen Falles«
wichtig.
Er geht, in einer entscheidenden Erklärung vom Jahre 97, davon
aus, die »unmittelbare Verbindung des Idealen mit dem Gemeinen«
wäre unerträglich.
Nun gebe es aber einzelne Erscheinungen (als solche doch dem
Gebiet des »Gemeinen« angehörend), die einen besonders tiefen
Eindruck auf ihn machten und von denen er dann feststellte, dass
sie viele andere repräsentieren.
Indem sie für all diese symbolisch wären, schlössen sie »eine
gewisse Totalität in sich«.
Das Wesentliche ist hier also, dass eine einzelne Gestaltung
nicht mehr in ihrem unmittelbaren Fürsichsein die Idee offenbart
(was sie eben auch nicht kann), sondern durch die Vermittlung
hindurch: dass sie die Gesamtheit der Fälle in sich schliesst,
die das Erscheinungsgebiet der Idee ausmacht.
Daraufhin sagt er von dieser Kategorie des »symbolischen«,
»eminenten«, »bedeutenden« Falles, sie »hebe den Widerspruch,
der zwischen meiner Natur und der unmittelbaren Erfahrung lag,
den in früherer Zeit ich niemals Lösen konnte, sogleich auf«.
Von nun an hält er mit grosser Betontheit fest, dass »ein Fall
tausend Fälle wert« sein kann.
Damit hat sich ihm eine Lösungsformel für eine Aufgabe geboten,
die zu den allgemeinsten und tiefsten der Menschheit gehört: das
Unendliche in der Ebene des Endlichen zu finden.
Zwischen Oberwelt und Welt, der Idee und der Erfahrung, dem
Absoluten und dem Relativen, dem Allgemeinen und dem Einzelnen
spielen sich die Probleme der Weltanschauungen ab, auch wenn
ihre Lösung in der völligen Negation je einer Partei gesehen
wird.
Und es ist nun der eine grosse Lösungstypus, dass alle Werte und
Bedeutungen, die man von vornherein nur an dem einen Pol
lokalisiert hat, unter völliger Bewahrung ihres Inhaltes und
Sinnes an dein andern entdeckt werden, dass gewisse
Erstreckungen und Betonungen des Endlichen, Welthaften,
Einzelnen alles das gültig vertreten, zu dessen Sitz man das
Absolute, Überwirkliche, Ideelle meinte kreieren zu müssen.
Die knappen Äusserungen Goethes über die symbolischen Fälle
zeigen, wie er den ihm bewusst gewordenen Riss zwischen jenen
Polen in der Richtung dieses weltgeschichtlichen Motives zu
versöhnen sachte: das Wirkliche scheint ihm eine Struktur zu
haben, die einen einzelnen Teil seiner sieh zum Vertreter einer
Gesamtheit qualifizieren und ihn damit die Beschränkung auf
seine Singularität überschreiten lässt.
Er bleibt darum seinem Sein nach nicht weniger in den
Dimensionen des Endlichen, Realen, Empirischen; aber indem seine
Bedeutung die von unendlich vielen Einzelnen zu vertreten
vermag, ist das Zufällige, Relative, individuell Unzulängliche
jedes einzeln Erfahrbaren in ihm paralysiert; das empirisch
schlechthin Allgemeingültige ist zugleich das gültige Gegenbild
des Überempirischen, der Idee, des Absoluten, und wenn ein
einzelnes Anschaulich-Wirkliches jene Allgemeingültigkeit
konkret zu machen weiss, so ist damit die Fremdheit der beiden
Welten versöhnt, die Wirklichkeit zerfällt nicht in definitiv
isolierte, der Idee gegenüber hoffnungslose Stücke, sondern in
der Form gewisser einzelner dieser Stücke bietet sich die
Totalität, der Sinn, das Gesetz dar, das sonst allein im
Überwirklichen zu wohnen schien.
Dadurch ist »das Ideale mit dein Gemeinen« mittelbar verbunden,
was es unmittelbar nicht sein kann; und dies ist es, was Goethe
ermöglicht, Realist zu sein, ohne darum Empirist sein zu müssen.
Von der spezieller subjektiven Seite her sucht er durch einen
andern Begriff, der uns schon im vorigen Kapitel fruchtbar
wurde, jene Gespaltenheit des Seins zu besänftigen: durch den
Begriff des »Mittelzustandes«, den die kosmische Ordnung dem
Menschen zugewiesen habe.
»Der Mensch«, sagt er, »ist in einen Mittelzustand gesetzt und
es ist ihm nur erlaubt, das Mittlere zu erkennen und zu
ergreifen«; und im Zusammenhange damit: »Die Idee kann man
keineswegs ins Enge bringen.« Das heisst also: das Absolute,
Ideelle ist an und für sich nicht in die Form der Erfahrung, des
einzeln Wirklichen überzuführen, von ihm nicht abzulesen.
Aber der Mensch steht zwischen beiden, jetzt nicht eigentlich
als ein Bürger beider Welten oder ein Mischgebilde aus ihnen,
sondern in einer eigenen, einheitlichen Stellung; er ist in
dieser ein Gegenbild der kosmischen Totalität (indem er ihr
zugleich angehört), ein Mikrokosmos, der in seiner Geistigkeit
den Sinn jener Totalitat wiederholt und gerade deshalb keiner
der einzelnen Parteien des Ganzen, weder der Idee noch dem
Empirisch-Realen, ganz zugehören kann.
»Im Verfolg wissenschaftlichen Bestrebens«, sagt er ungefähr
1817, »ist es gleich schädlich, ausschliesslich der Erfahrung,
wie unbedingt der Idee zu gehorchen.« Und einige Jahre später:
»Es möchte doch immer gleich schädlich sein, sich von dem
Unerforschlichen ganz abzusondern, oder mit demselben eine
allzuenge Verbindung sich anzumassen.« Schon die negative,
prohibitive Form dieser und ähnlicher Ausserungen zeigt, dass es
sich nicht um eine Mischung beider Polaritäten handelt, sondern
um ein Drittes, um unsere Stellung zwischen den »Grenzen der
Menschheit«.
Zwischen Welt und Überwelt, zwischen blosser Erfahrung und
blosser Idee haben wir ein Leben, dessen Selbständigkeit, in
sich zentrierendes Sein uns davor schützt, uns zwischen dem
Gegensatz jener beiden zu zerreiben oder haltlos in ihm zu
pendeln.
Wie der Künstler nicht »mit der Natur wetteifern« soll, wie er
weder die singuläre Wirklichkeit nachbilden noch sich in die
anschauungslose Idee verlieren, sondern »sich als Künstler
vollenden« soll, so strebe der Mensch schlechthin nur »sich als
Mensch zu vollenden«! Hier kommt, wie ich überzeugt bin, einer
jener tiefsten und kühnsten Grundbegriffe seines Alters auf,
über die er sich sozusagen nur gelegentlich eine fragmentarische
Andeutung entschlüpfen liess.
Der Dualismus von Idee und Erfahrung, von Göttlichem und
Singulär-Wirklichem ist jetzt sein dauerndes Problem; und dessen
anthropologische Lösung ist nicht, den Menschen aus beiden
Parteien zusammenzusetzen oder ihn einfach in dein Schnittpunkt
beider Gebiete zu beheimaten, sondern ihm eine Stelle
anzuweisen, zwar gewissermassen zwischen ihnen beiden, in
gleicher Distanz von beiden, aber doch eine
menschheitlich-eigene, menschheitlich-einheitliche — den
Gegensatz jener nicht objektiv versöhnend, aber unsere kosmische
Stellung vor ihm und seinen dualistischen Folgen rettend.
Erst indem der Mensch so als eine selbständige, sozusagen nicht
weiter herleitbare »Schöpfungsidee« jenen Polaritäten des Seins
gegenübersteht, kann er — ich deutete dies an — sich
gewissermassen als der Pair eben dieses Gesamtseins wissen, kann
für sich und in sieh denselben Gesetzen untertan sein, die
dieses als Ganzes bewegen.
— Und von hier lässt freilich die subjektiv-anthropologische
Art, sich jenseits jenes Konfliktes auf die Selbständigkeit
unserer Natur zu stellen, auch über seinen objektiven Bestand
die Ahnung seines Sich-Versöhnens gleiten: »Wir sind«, so lautet
eine Notiz aus dem Nachlass, »nicht mehr in dem Falle, bei
Behandlung der Naturwissenschaften die Idee der Erfahrung
entgegenzusetzen, wir gewöhnen uns vielmehr, die Idee in der
Erfahrung aufzusuchen, überzeugt, dass die Natur nach Ideen
verfahre, imgleichen dass der Mensch in allem, was er beginnt,
eine Idee verfolge.« Durch die kategoriale Form: ein
»Mittelpunkt«, in dem wir Stellung nehmen und eine gleichsam
symmetrisch distante Anordnung der Erscheinungen von diesem her—
gewinnen wir die Möglichkeit, uns das Chaos der Dinge zu
organisieren.
Jedes einzelne, so sagt er einmal, das wir in der Natur sehen,
ist immer von so vielem andern begleitet und durchdrungen, an
jedem Punkt wirkt so vieles durcheinander, dass daraus für alle
Theorie die grosse Schwierigkeit entsteht, Ursache und Wirkung,
Krankheit und Symptom auseinander zu kennen; »da bleibt nun für
den ernst Betrachtenden nichts übrig, als irgendwo den
Mittelpunkt hinzusetzen, und alsdann zu suchen, wie er das
übrige peripherisch behandle.« Die Technik also, mit der wir uns
in der Welt zurechtfinden und ihre Unterschiedlichkeiten in der
Einheit des Erkennens zusammenbringen, zeigt sich als die
theoretische Ausstrahlung unserer metaphysischen Weltstellung,
des seins- haften »Mittelzustandes«, in dem wir den
Gegensatzseiten des Daseins in jeweils gleicher Distanz
gegenüberstehen.
Vielleicht ist eine dritte Art, über die an den Polen der
geistigen Welt fixierten Gegensätze doch die Intention der
Einheit durchzuführen, nur eine Modifikation dieses letzten
Motivs.
»Wenn man mich fragt: wie ist Idee und Erfahrung am besten zu
verbinden, so antworte ich: praktisch« — d. h. durch
weiterschreitende, zweckmässige Forschung.
Im Goetheschen Alter begegnet durchgehends der Hinweis auf das
praktische Verhalten, auf die Tätigkeit, die uns von Punkt zu
Punkt führt — wenn die seelischen und metaphysischen
Widersprüche keine rein geistige Lösung zuzulassen scheinen.
Mit der Schlussrede Fausts und der Gesamttendenz der Wanderjahre
hat diese Wendung ihren monumentalen Ausdruck erhalten.
— Von welcher Kraft und welchem ethischen Werte dies nun auch
sei — man kann sich zunächst dem Eindruck kaum entziehen, als
wäre damit den eigentlich schweren und tiefen Problemen nur
ausgewichen.
Es wäre ja möglich, diese Probleme in die Provinz des
Praktischen zu übertragen, weil man hier eine Lösung für sie
findet, die zu entwickeln gleichsam die Bodenbeschaffenheit
andrer Provinzen nicht gestattet: so hat Kant den grossen
Prozess zwischen der reinen Vernunft und der Sinnlichkeit des
Menschen, die auf dem theoretischen Gebiet im Dualismus befangen
blieben, in das praktische verfolgt und ihn hier, wenn auch
nicht zur Einheit, so doch zu einer möglichen Entscheidung
gebracht.
So aber meint es Goethe nicht.
Sondern das Handeln als solches, das Tun und Wirken an der
unmittelbaren Aufgabe des praktischen Tages weist er dem
Menschen zu, an Stelle der Unlösbarkeiten prinzipieller Welt-
und Lebensfragen, an Stelle der Problematik bloss gedanklicher
Entscheidungen.
Die Auswanderung nach Amerika am Schluss der Wanderjahre ist
schliesslich nur hierfür das Symbol.
Dies kann, wie gesagt, als ein Waffenstrecken vor den letzten
Forderungen des Geistes erscheinen, als eine Rückkehr der
seelischen Energien zu der naiven Praxis, von der aus ihr
Entwicklungsweg ja gerade zu jenen Bedürfnissen, sich mit dem
Leben in seinen tieferen Schichten abzufinden, emporgeführt hat.
Die Aufforderung zu unmittelbarem, »nützlichem« Wirken ruht auf
einer grossen Anzahl dunkler, ungeprüfter Wertungen all dessen,
wozu es eben nützlich ist; denn woraufhin verdiente das Wirken
den legitimierenden Namen des Nützlichen, es sei denn um des
Wertes seiner Ziele willen, der doch seinerseits nicht wieder
durch das Wirken selbst begründet werden kann? Der Wert des
Wirkens, das ein blosses formales Mittel ist, bedarf also immer
des Wertes von Zwecken, der entweder instinktiv-trivial gesetzt
wird oder nun doch nach tieferen Gründen drängt.
Wenn Goethe als das Definitivum unserer praktischen Werte »die
Forderung des Tages« bezeichnet, so muss unvermeidlich nach
einem Kriterium gefragt werden, das die echte und wesenhafte von
den unzähligen gleichgültigen und verwerflichen unterscheiden
lässt, die der Tag mit nicht geringerer Intensität an uns
stellt.
Und dieses Kriterium kann ersichtlich nicht wieder aus dem
»Tage« und ebenso wenig aus dem Begriff des Wirkens und der
Tätigkeit entlehnt werden, durch die sich ja die gerechtfertigte
und die rechtlose Forderung ganz gleichmässig realisieren.
Ungeachtet solcher Bedenken gegen die Wertung der sozusagen
undifferenzierten Tätigkeit, für die der nächstliegende, in den
Wandlungen des Tages sich darbietende Gegenstand gerade gut ist,
scheint sie mir für Goethe zunächst aus dem folgenden,
tiefergründigen Motiv hervorzugehen.
Wie viele Äusserungen zeigen, ist ihm Tätigkeit nicht ein Inhalt
oder Bewährung des Lebens neben andern, sondern sie ist ihm das
Leben selbst, die spezifische Energie des menschlichen Daseins.
Und es ist in seiner Überzeugung von der naturhaften Harmonie
dieses Daseins begründet, dass das Leben nur sich selbst
überlassen zu werden braucht, d. h. dass die Tätigkeit in jedem
Augenblicke ein nächstes Ziel vor sich habe, in dem alles für
jetzt Notwendige beschlossen liegt, während vor dem nächsten
Augenblick wieder seine Notwendigkeit steht.
Dies tiefe Vertrauen auf das Leben und seine von Moment zu
Moment fortrückende Zweckmässigkeit — anders ausgedrückt: auf
die Tätigkeit, in deren Pulsschlag ihr jeweilig nächstes Ziel
vorgezeichnet ist oder dem die allgemeinen Daseinszusammenhänge
es unmittelbar bieten — scheint mir der eigentliche Sinn davon
zu sein, dass »die Forderung des Tages« unsere Pflicht ist.
Es ist nicht nötig, dass Ziele von weiter Ferne her das Sollen
des einzelnen Augenblicks bestimmten.
Sondern das Leben entwickelt sich Schritt für Schritt, seine
Wertdirektive nicht erst von einem Gott weiss wie entfernten
Ziele erwartend (eines der entschiedenen Gegenmotive Goethes
gegen das Christentum), und so hat die mit ihm synonyme
Tätigkeit, rein empfunden, ihren geforderten Inhalt unmittelbar
vor sich, das Wissen um den nächsten Schritt (objektiv: die
Forderung des Tages) ist sozusagen ihre eingeborene Form.
Das ist nichts anderes, als der Triumph des Lebens als Kraft,
als Prozess, über alle einzelnen Inhalte, die man ihm aus
anderen Ordnungen heraus setzen könnte; denn diese Ordnungen
sind gegen die Zeitordnung des Lebens gleichgültig, auf die es
hier ankommt.
Wenn er uns an das Einfachste, Nächstliegende, an die für den
Moment richtige Praxis, an die Forderung des Tages ohne
Charakterisierung bestimmter Inhalte weist — so ist das nur ein
Symbol dafür, dass die praktischen Werte in der Richtung
erstehen, in der die Lebensquelle fliesst, und dieser nicht von
einer anderen erst entgegenkommen; nur ein Symbol für Macht und
Wert des Lebensvorganges als solchen, der allem, was wir
Tätigkeit nennen, deren Inhalte in seiner eigenen Form, d. h. in
dem fortschreitenden, sprunglosen Erzeugen von Augenblick zu
Augenblick, infundiert.
Dass er die Praxis sozusagen auf das Minimum von Inhalten
beschränkt, da ihm schon die Tätigkeit als solche der
eigentliche Wert ist — das ist der Erfolg davon, dass ihm
Tätigkeit die Art ist, wie der Mensch lebt, und das Leben selbst
der definitive Wert des Lebens.*
* Die Bedeutung der reinen Lebensbewegtheit als solcher wird das
Kapitel über seinen Individualismus noch einmal und von andrer
Seite erörtern.
Dies ist hier indes nur beiläufig bemerkt. Die Goethesche
Wertung der Tätigkeit hat für unser Problem, die Überwindung des
Zwiespaltes zwischen Idee und empirischer Realität, eine andere
Bedeutung.
Als das Höchste bezeichnet er einmal »das Anschauen des
Verschiedenen als identisch«; und dem setzt er »die Tat« zur
Seite, »das aktive Verbinden des Getrennten zur Identität«; hier
wie dort treffe Erscheinung und Leben zusammen, die sich »auf
allen mittleren Stufen trennen«, d. h. überall, wo weder reine,
kosmisch-metaphysische Schauung, noch reine Tätigkeit herrscht.
Die Tätigkeit ist ihm also das reale Mittel, von der einen Seite
jenes Dualismus zu der andern zu gelangen! Wie das frühere Zitat
lehrte, ist es auch in der bloss theoretischen Bemühung das
praktische Moment, das fortschreitende Tun, das »Idee und
Erfahrung verbindet«.
Die Inhalte, die die ideelle Reihe des Kosmos bilden, liegen als
solche noch isoliert nebeneinander; erst die hindurchflutende
Tätigkeit führt wirklich von einem zum andern, stellt auch im
Denken die reale Kontinuität zwischen den Polen her, wie die
Bewegung, die eine Linie durch Punkte zieht, deren gegenseitige
Abgeschlossenheit in stetige Verbindung überführt.
Die wirkliche forschende Arbeit macht das Einzelne und die
Totalität, die Erfahrung und die Idee erst zu Polen einer
ununterbrochenen Linie.
Und dies erweitert sich nun auf alle, auch nicht-theoretische
Gebiete.
Könnte man selbst die Inhalte in allmählig aufsteigender Reihe
zwischen der Wirklichkeit und dem Absoluten, der Empirie und dem
Überempirischen ideell konstatieren, so würde das noch nicht
ausreichen.
Erst das Handeln bringt sie in Fluss, erst die praktisch-stetige
Bewegtheit macht sie zu wirklichen Vermittlungen, führt das
empirisch Getrennte in die Idealität der Idee über.
Natürlich gibt es — Goethe brauchte das gar nicht zu erwähnen —
noch Tätigkeiten anderer Richtung, antiideelle, gottlose,
zerfahrene.
Aber er würde diese nicht Tätigkeiten im vollkommenen Sinne des
Wortes nennen.
Wenn er so oft von »reiner« Tätigkeit spricht, so spielt hier
sicher die doppelte Bedeutung des »Reinen« hinein: dass es
einmal das sittlich Tadellose, von unedlen Motiven Freie meint,
dann aber auch das dem Begriff vollkommen und ungemischt
Entsprechende, wie wir auch von »reinem Vorwand«, »reinem
Unsinn« reden, als von dem, was absolut nichts weiter als ein
Vorwand, als ein Unsinn ist.
Die reine Tätigkeit ist diejenige, in welche nichts anderes als
der Trieb und Sinn des Tätigseins als solchen, d. h. der
zentralen, unabgelenkten Bewegung des spezifisch menschlichen
Lebens eintritt.
In wunderbarem, eben diese Reinheit der Tätigkeit völlig
symbolisierendem Ausdruck lässt er das Bewegtsein der »Monas«,
das deren letzte Lebensform und -grundlage bildet, das »Rotieren
um sich selbst« sein.
Und dies ist nun zugleich »reine« Tätigkeit im sittlichen Sinne,
d. h. solche, die das Einzelne, Zersplitterte des empirisch
gegebenen Daseins zur Idee emporführt.
Die Praxis wird damit aus der etwas unklaren Stellung gerettet,
die sie in weltanschauungsmässiger Hinsicht selbst in den
ethisch zentrierten Geistern einnimmt.
Wenn man hört: schliesslich käme doch alles auf das Praktische
an, der moralische Wert sei jedem andern überlegen usw., so muss
man dabei nach dem Werte der Inhalte dieser Praxis fragen, ohne
doch ein Prinzip der Wahl unter den vielen, sich anbietenden zu
erhalten; diese ganz allgemeine Prärogative des Praktischen ist
nicht durch eine bestimmte Stellung im Gesamtzusammenhange der
Weltfaktoren begründet.
Dies ist aber sogleich ins Sichere gestellt, wenn es einerseits
für den Wert des Handelns und Wirkens genügt, dass es »reine«
Tätigkeit sei, dass wirklich nichts anderes als die innerste,
eigenste Natur der Menschen, deren Wesen eben Tätigkeit ist,
darin zu Äusserung und Erfolg kommt; und wenn andrerseits diese
Tätigkeit als solche der Weg vom Gegebenen, Singulären zur Idee,
zum Sinn des Daseins ist.
Die Praxis ist für all jene anderen Wertungen ihrer doch nur ein
im letzten Grunde zufälliges Mittel, die Idee zu realisieren,
und die Behauptung dieser Leistung ist deshalb für sie ein
synthetischer Satz; für Goethes Auffassung ist es ein
analytischer, die Vermittlung zwischen Erscheinung oder
Einzeltatsache und Idee ist die Definition des Handelns und
Wirkens: Tätigkeit, so darf man in Goethes Sinne sagen, ist der
Name für dasjenige Verhalten des Menschen, durch das er seine
kosmisch-metaphysische »Mittelstellung« zwischen jenen
auseinandergetretenen Weltprinzipien darlebt.
So wenig für Goethes Anschauungsweise der Begriff der Systematik
angebracht ist, so muss man hier doch sagen, dass der Sinn und
die Wertung der Tätigkeit auf diese Weise eine systematisch
begründetere, in die Totalität der grossen Weltkategorien
organischer eingefügte Stellung gewonnen haben, als in der
Mehrzahl der sonstigen Inthronisierungen der Praxis.
Über all diese Überbrückungen des Spaltes, den Goethe in seinen
späteren Lehren zwischen den mannigfach benannten Polen des
Daseins sich auftun sah: zwischen der Welt und dem Göttlichen,
der Idee und der Erfahrung, dem Wert und der Wirklichkeit —
schwingt sich noch einmal ein höchster Gedanke hin.
Etwa aus seinem 58. Jahr stammt der Satz: »Dass das, was der
Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder als gleich oder
ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich erscheinen
kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur.«
Hier wird also die Abweichung von der ideellen Norm, das von ihr
unabhängige freie Spiel der Wirklichkeit sozusagen selbst zu
einer Idee.
Es ist die Gedankenbildung, die wir schon mehr als einmal als
eine seiner grossartigsten kennen gelernt haben: dass der
Gegensatz zu einer eigentlich absoluten Forderung, die Ausnahme
von einem eigentlich allgemeinen Gesetz nun doch wieder mit
diesem zusammen von einer höchsten Norm umgriffen wird.
Er warnt davor, das Negative endgültig als Negatives bestehen zu
lassen, man müsse es vielmehr als ein Positives anderer Art
ansehen, Gesetz und Ausnahmen stünden sich nicht unversöhnt
gegenüber, sondern Sowenig innerhalb ihrer Schicht ein flauer
Kompromiss ihre Schärfe abstumpfen dürfe, so stünde doch ein
Gesetz höherer Schicht über ihnen beiden.
Darum kann er, krass, aber nun doch nicht widerspruchsvoll, die
»Natur« sich selbst gegenübersetzen, weil sie engeren und
weiteren Sinn hat: »Die Knabenliebe«, sagt er in seinem höchsten
Alter, »ist so alt wie die Menschheit, und man kann daher sagen,
sie liege in der Natur, ob sie gleich gegen die Natur ist.« In
unserm, dem prinzipiellsten Falle wird der Begriff des
»beweglichen Lebens« der Diskrepanz zwischen Idee und
Wirklichkeit überbaut: die Beweglichkeit tritt als das so
absolut Bestimmende auf, dass sogar das völlig irreguläre Spiel,
mit der die Erfahrung sich bald der Idee nähert, bald von ihr
entfernt, eben wegen der darin Offenbarten Beweglichkeit
durchaus in dem letzten Sinne der Natur begründet ist.
Ja, er spricht einmal aus, dass das Leben der Natur sich »Nach
ewigen beweglichen Gesetzen« vollzöge.
Das Gesetz ist doch sonst das Zeitlose, Unbewegte, da ja erst
der Bewegung ihre Norm vorschreibt, und so tröstet er sich auch
einmal über das Unsichere und Irritierende der Erscheinungen:
»Getrost, das Unvergängliche — Es ist das ewige Gesetz — nach
dem die Ros' und Lilie blüht.« Nun aber soll das Gesetz selbst
beweglich sein! Diese Beweglichkeit bedeutet nichts anderes als
das Paradoxe und unermesslich Tiefsinnige, dass die Abweichungen
der Erscheinungen von ihrem Gesetz in diesem Gesetz selbst
inbegriffen sind.
Die missbrauchteste aller Banalitäten: dass die Ausnahme die
Regel bestätigt — kommt hier zu einer wunderbaren Richtigkeit;
und was er einmal als »die grösste Schwierigkeit« bezeichnet:
dass man im Erkennen »etwas als still und feststehend behandeln
soll, was in der Natur immer in Bewegung ist«, löst sich hier:
das eigentliche Ziel des Erkennens, in dem dieses zum
»Feststehen« gelangt, das Gesetz, ist in die dauernde Bewegtheit
seines Gegenstandes, der Natur, eingegangen und damit ist die
Fremdheit zwischen ihnen gehoben, die sich dort noch als
»grösste Schwierigkeit« erhebt.
Hier klären sich noch einmal und nun von dem, so weit ich sehen
kann, tiefsten Grunde her jene uns früher frappierenden
Äusserungen über den Spielraum, die Freiheit, die
Gesetzlosigkeit, die Ausnahmehaftigkeit der Erscheinungen: das
Gesetz selbst ist »beweglich«, und jener Begriff seiner, nach
dem es selbst starr und nur die ideelle Norm für das Fliessende
und Flexible der Erscheinungen sei, enthüllt sich als eine
vorläufige Scheidung, die von einer letzten kategorialen Einheit
überschmolzen wird.
Da die Natur ein »bewegliches Leben« hat und nie aus ihren
Gesetzen heraustritt, so sind eben die Gesetze selbst beweglich!
Hier ist erst die eigentliche Konsequenz jener problematisch
erscheinenden Bilder von der Bewegungsfreiheit erreicht, die die
Natur innerhalb ihrer Gesetze besässe.
Die Natur, so drückt er es einmal aus, hat »einen grossen
Spielraum, in welchem sie sich bewegen kann, ohne aus den
Schranken ihres Gesetzes herauszutreten«.
Ist das Gesetz hier noch eigentlich eine bloss grenzbestimmende
Umfassungsmauer, unter deren Respektierung die individuellen
Phänomene ihr willkürliches Spiel, die Einzelheit als solche
gesetzlos lassend, aufführen — so hat das Gesetz als bewegliches
die Starrheit durchbrochen, die ihm die Macht über das ganz
Einzelne entzog: das bewegliche Gesetz ist die Synthese von
»Schranke« und »Spielraum«.
Vielleicht ist für unsere, an der mechanistischen Weltanschauung
orientierte Logik dieser Begriff des zwar ewigen, aber dabei
beweglichen Gesetzes nicht mit detaillierender Klarheit
auszudenken.
Aber er weist, wenn auch aus der Ferne und einem noch nicht zu
zerstreuenden Nebel heraus, auf die Art hin, in der jene uns
anthropomorph erscheinende Scheidung zwischen Gesetz und
Ausnahme, Typus und Freiheit sich zu dem modernen Begriff des
Naturgesetzes hinbrückt, der auf keine bestimmte Gestalt und
Ergebnis losgeht und der deshalb der »Ausnahme« keinen Sinn
lässt.
Goethes »Gesetze« sind nicht die der kleinsten Teile, sondern
enthalten, als ihr eigentliches Movens, die »Gestalt«, den
»Typus« in sich.
Aber indem dieser nun sich tatsächlich nicht immer, ja
vielleicht niemals realisiert und dadurch der Erscheinung nach
die »Ausnahme« entsteht, kommt das Gesetz, als bewegliches
gedacht, dem nach, holt das Phänomen, das sich ihm zu entziehen
schien, gleichsam wieder ein und beides schmiegt sich, in
wiedergewonnener Einheit von Idee und Wirklichkeit, aneinander.
Ich möchte es für dieselbe letzte Gedankenabsicht halten, wenn
schliesslich die Festigkeit des Typus, der als die
Anschaulichkeitsseite des Gesetzes gelten kann, gleichfalls in
eine Art Bewegung gerät.
In dieser Schicht seiner tiefsten Weltdeutungen lautet eine
Äusserung: »Alles Vollkommene in seiner Art muss über seine Art
hinausgehen, es muss etwas anderes, unvergleichbares werden.
In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie
über ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten
zu wollen, was eigentlich Singen heisse.
— Wer weiss, ob nicht der ganze Mensch wieder nur ein Wurf nach
einem höheren Ziele ist?« Hier ist also die Bewegung, mindestens
nach einer Seite hin, in den Typus selbst hineingelegt: indem er
in sich vollendet ist, geht er selbst über sich hinaus, die
höchste Stufe innerhalb seiner ist zugleich die Stufe jenseits
seiner.
Wie die Beweglichkeit des Gesetzes auf eine metaphysische
Einheit zwischen dem Goetheschen Gestaltmotiv und dem
Naturgesetz des Mechanismus hinweist, so diese Beweglichkeit des
Typus zwischen dem gleichen Motiv und der modernen
Entwicklungslehre.
Und wie mit dem wunderbaren Gedanken, dass das Vollkommene der
Art mehr ist als die Art, der Typusbegriff die Überwindung
seiner Starrheit in sich selbst aufgenommen hat, so ist in das
Gesetz, das seine eigene Flexibilität, das »Gestalten und
Umgestalten«, die Freiheit von jeder aktuellen Verfestigung nun
sub specie aeternitatis enthält, der freie, die Starre Norm
umspielende Charakter der natürlichen Erscheinung restlos
aufgenommen; und es scheint mir, als ob alle anderen Begriffe,
mit denen Goethe die Diskrepanz von Idee und Wirklichkeit zu
versöhnen versucht, zu eben diesem als zu ihrem Schlussstein
aufstrebten.
Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Vorwort
1.
Kapitel: Leben und Schaffen
2.
Kapitel: Wahrheit
3.
Kapitel: Einheit der Weltelemente
4. Kapitel: Getrenntheit der Weltelemente
5. Kapitel: Individualismus
6. Kapitel: Rechenschaft und Überwindung
7. Kapitel: Liebe
8.
Kapitel: Entwicklung
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