Online Publications 

Towards Cybersociety and "Vireal" Social Relations


 

Bibliographische Zitation:
Geser Hans:
Über die wachsende Rückständigkeit der Massenmedien im Internet-Zeitalter In: Sociology in Switzerland: Towards Cybersociety and Vireal Social Relations. Online Publikationen. Zuerich, Mai 2000 (Release 1.1). http://socio.ch/intcom/t_hgeser09.htm

 

 

Über die wachsende Rückständigkeit der Massenmedien im Internet-Zeitalter

Hans Geser 
Release 1.1 (Mai 2000)

                                                                                                                                                                                                        pdf-Version

 

Nur ältere Leser erinnern sich vielleicht noch an die 50er Jahre, wo noch so Vieles in der Welt in Ordnung war: als die Lehrer in der Schule noch eine uneingeschränkte Autorität genossen und die Turnstunden dem Drill der ersten RS-Wochen nahekamen; als die Patienten ihrem Arzt noch ungefragt Gehorsam leisteten, anstatt ihn mit ihren eigenen angelesenen medizinischen Halbweisheiten zu konfrontieren; als die Schweizer Bevölkerung von der Grossmutter bis zum Enkelkind sich Mittwochabends fast vollzählig vor dem Radio versammelte, um Schaggi Streulis „Oberstadtgass" anzuhören; und als die Zeitungsleser ihre Lektüre noch strikt auf ihr parteigebundenes (z. B. sozialdemokratisches oder katholisch-konservatives) Leibblatt beschränkten, in der von hoher Führungswarte aus autoritative Meinungen zu politischen Tagesereignissen verbreitet wurden.

Der Philosoph Jürgen Habermas hat damals in seinem ersten grossen Buch („Strukturwandel der Öffentlichkeit") darauf hingewiesen, wie sehr vor allem dieses routinehaft-berechenbare, unterwürfig an Autoritäten orientierte Medienverhalten des Durchschnittsbürgers den freiheitlich-demokratischen Prinzipien unserer Gesellschaft widerspricht.  Im Zeitalter der Aufklärung, stellt er fest, ist die Utopie einer freien politischen Öffentlichkeit entstanden, in der alle Bürger die gleichen Chancen haben, frei von Zwängen und Drohungen ihre Ansichten und politischen Forderungen zu äussern. Seither aber habe das Aufkommen organisierter Parteien und Grossverbände sowie die Zentralisierungsprozesse in Presse, Radio und Fernsehen dazu geführt, dass nur noch eine kleine Elite vom Grundrecht der freien Meinungsäusserung faktischen Gebrauch machen könne, und dass an die Stelle des offenen Raisonnements immer mehr die in propagandistischer Absicht "veröffentlichte Meinung" getreten sei, die den normalen Bürger nur noch als passiven, hin und wieder zur "Akklamation" aufgerufenen Rezipienten ins Kalkül einbeziehe (Habermas 1962; 1990).

"Mit der Kommerzialisierung und der Verdichtung des Kommunikationsnetzes, mit dem wachsenden Kapitalaufwand für und dem steigenden Organisationsgrad von publizistischen Einrichtungen wurden die Kommunikationswege stärker kanalisiert und die Zugangschancen zur öffentlichen Kommunikation immer stärkerem Selektionsdruck ausgesetzt. Damit entstand eine neue Kategorie von Einfluss, nämlich eine Medienmacht, die, manipulativ eingesetzt, dem Prinzip der Publizität seine Unschuld raubte. Die durch Massenmedien zugleich vorstrukturierte und beherrschte Öffentlichkeit wuchs sich zu einer vermachteten Armee aus, in der mit Themen und Beiträgen nicht nur um Einfluss, sondern um eine in ihren strategischen Intentionen möglichst verborgene Steuerung verhaltenswirksamer Kommunikationsflüsse gerungen wird" (Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt 1961 (2. Aufl.) S.28).

In fast allen Institutionen unserer Gesellschaft haben sich in den letzten 40 Jahren nun aber gewisse Prozesse der Dezentralisierung und „Individualisierung" vollzogen: mit der Folge, dass vertikale, einseitig-autoritäre Anweisungskommunikationen vielerorts durch eher horizontale, wechselseitig-dialogische Verständigungskommunikationen ersetzt worden sind.

So ist in den Schulen der traditionelle Frontalunterricht teilweise dem offeneren Gruppen- und Teamunterricht gewichen, in Unternehmungen werden Mitarbeiter im Rahmen der „lean production" stärker in die betriebliche Verantwortung integriert; in Kliniken hat die Mitsprache des Patienten und seiner Angehörigen grösseres Gewicht erhalten, und in der Kirche werden die Gläubigen aktiver in die Gottesdienstgestaltung einbezogen. In der Politik ist der die Tradition des Grossvaters fortführende Stammwähler dem unberechenbaren Wechselwähler gewichen, der sich seine eigene unabhängige Meinung über Parteien, Kandidaten und Sachfragen bildet und vor jeder Abstimmung neu überzeugt werden will. Und vor allem sind seit den 70er-Jahren „Neue Soziale Bewegungen" entstanden, die sich nicht mehr auf charismatische Führerschaft und monopolistisch verwaltete Ideologien abstützen und deshalb auch kein "Zentralorgan" mehr benötigen; Sie alle sind charakteristisch für eine Gesellschaft mit einem ständig anwachsenden Segment gut ausgebildeter Bürger(innen), die motiviert und befähigt sind, sich aus autonom ausgewählten Informationsquellen selber eine Meinung zu bilden und in der öffentlichen Diskussion eine aktive Rolle zu übernehmen.

Auch im Medienbereich ist viel Vergleichbares geschehen: Tageszeitungen haben sich zu Forumsblättern mit einem reich diversifizierten Menu an Themen und Meinungen verwandelt; und typische Fernsehzuschauer machen von der Möglichkeit Gebrauch, sich durch häufiges „Zapping" ein auf ihre eigenen subjektiven Bedürfnisse zugeschnittenes Abendprogramm zusammenzustellen – und sich gegenüber gezielter „Push-Werbung" zunehmend abzuschirmen.  Dennoch muss man paradoxerweise zum Schluss kommen, dass ausgerechnet das Mediensystem, das historisch betrachtet viel moderner ist als z. B. das die Politik, Religion, Wirtschaft oder das Bildungswesen, mit den genannten emanzipativen und demokratisierenden Entwicklungen in diesen andern Institutionen nicht Schritt gehalten hat: ja noch schlimmer: aus fundamentalen technisch-organisatorischen Gründen nicht hat Schritt halten können.  Presse, Film, Radio und Fernsehen haben nämlich gemeinsam, dass sie nur für radiale Einwegkommunikation (von einem Sender zu vielen passiven Empfängern) geeignet sind und deshalb in fataler Weise dazu tendieren, durch Werbung, Propaganda (oder einfach durch selektive Auswahl des Dargebotenen) den Einfluss von Eliten und die Autorität zentralistischer Machtstrukturen zu unterstützen. Demgegenüber sind die technischen Möglichkeiten, um von Vielen zu Einem (oder von Vielen zu Vielen) zu senden, auf einem viel primitiveren technischen Niveau stehengeblieben.

So lassen sich monopolistische Pressemedien und Fernsehanstalten spannungsfrei in diktatorische Regimes oder in die amtscharismatische Hierarchie der katholischen Kirche integrieren, nicht aber in demokratische Rechtsstaaten, wo - wie z.B. bei der BBC oder der ARD - komplizierte öffentlich-rechtliche Konstruktionen nötig sind, um den Dauerkonflikt mit dem liberal-demokratischen Umfeld zu reduzieren. Selbst konkurrierende privatwirtschaftliche Medien zeigen Medien eine fatale Tendenz, sich distanzlos mit den jeweils dominierenden politischen Mächten zu verbünden. Wenn wir beispielsweise nach einem Jahr erfahren, dass im Kosovokrieg nur 26 (!) serbische Panzer zerstört worden seien, fragen wir uns fassungslos, warum sich ausgerechnet die grössten Medienanstalten von globaler Reichweite derart bereitwillig in die triumphalistische Propagandamaschinerie der NATO haben einspannen lassen.  Mit ihrer rigiden Trennung zwischen kleinen Sendeeliten und passivem Publikum haben die Massenmedien Elemente paternalistischer Elitenherrschaft konserviert und erscheinen immer mehr als Relikte aus autoritär-kollektivistischen Gesellschaftsformationen und politischen Regimes, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jh. vielerorts vorherrschend waren.  Sie passen immer weniger in eine Zeit, wo immer mehr Menschen genügend Bildung haben, um aktiv an der öffentlichen Meinungsbildung teilzunehmen und in der die öffentliche Verwaltung sich Mühe nimmt, die Bürger als mündige und kommunikationsfähige "Kunden" (statt als machtunterworfene Subjekte) zu behandeln.

Aus dem ökonomischen Zwang, ihre immensen Fixkosten möglichst breit zu verteilen, entsteht überdies ein immanenter Trend zur Konzentration, der sich momentan in einer raschen Dezimierung kleinerer Regionalzeitungen, im Wandel von ideologisch profilierten Pressemedien zu konturlosen "Forumszeitungen" und im unaufhaltsamen Vordringen globaler Medienangebote manifestiert.  Dementsprechend werden Sendeangebote immer ausschliesslicher an quantitativen Quotengesichtspunkten orientiert und auf stereotyp definierte Mainstreamgruppen ausgerichtet, so dass nicht nur die Bedürfnisse minoritärer Randgruppen, sondern auch diejenigen wichtiger Bevölkerungssegmente (z. B. Fernsehzuschauer über 50 Jahren) immer weniger Berücksichtigung finden.

Der Zugang zur Medienöffentlichkeit ist heutzutage ungleicher als die meisten andern Güter dieser Erde verteilt. Das de jure für alle verbürgte Grundrecht der "Pressefreiheit" beinhaltet für ganz wenige grosse Kapitaleigner, die Möglichkeit, weltweite Satellitenprogramme zu betreiben und auf die redaktionelle Linie grosser Zeitungen Einfluss zu nehmen; für die meisten von uns aber nicht einmal das Recht, einmal im Leben einen Leserbrief gedruckt zu sehen.  Wenn man von der NZZ absieht, hängt es in der Schweiz von wenigen Verlegerfamilien ab, welche Tages- und Wochenblätter überhaupt noch erscheinen und wer die Chance erhält, als bezahlter Redaktor oder Journalist auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen. Insofern noch Meinungsvielfalt besteht, handelt es sich immer häufiger um einen unternehmensintern erlaubten (bzw. aus opportunistischen Gründen veranstalteten) Pluralismus, der nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass für die autoritäre Durchsetzung von Zensurstandards, ja eine weitgehende Gleichschaltung der Medien heute optimalere objektive Voraussetzungen bestehen würden, als sie früher jemals bestanden haben. In dieser Situation werden auch Redaktoren und Journalisten in zweierlei Hinsicht in eine exponierte öffentliche Führungsrolle gedrängt, die in einer Zeit, wo das Vertrauen in Eliten generell schwindet, immer weniger legitimierbar erscheint. 

 

1. Festlegung des täglichen „Einheitsmenus" an publikationswürdigen Informationen

Erstens fällt den Medienjournalisten die zunehmend schwierigere Funktion des „gate-keeping" zu: die Aufgabe, aus der Fülle ständig anfallender Informationen jenes „Einheitsmenu" an Tagesnachrichten zusammenzustellen, das den jeweiligen Formaten der Sendegefässe entspricht. Dabei müssen sie notwendigerweise unterstellen,

a) dass es einen gewissermassen absoluten, für die gesamte Bevölkerung geltenden Massstab dafür gibt, was berichtenswert ist und was nicht; was auf die Frontseite und auf die hinteren Seiten gehört, und was eine ausführliche oder bloss eine knappe Darstellung verdient.

b) dass sie als Journalisten fähig sind, diese Wertungen richtig einzuschätzen, bzw. sogar befugt sind, sie stellvertretend für das Publikum autoritativ zu dekretieren.

Mit diesem Führungsanspruch wird in fast tragikomischer Weise ignoriert, wie unterschiedlich die Präferenzen und Nachrichtenbedürfnisse verschiedener Gruppen und Einzelindividuen heute sind: z. B. dass als Überrest früherer Umweltbewegungen noch so viele alternde Grüne in unserer Gesellschaft leben, die in den aktuellen Zeitungen schmerzlich die Diskussion von ökologischen Fragen vermissen; oder dass ich so einseitig mit überlokaler Information eingedeckt werde, das ich als Einwohner Hombrechtikons leichter in der Lage wäre, mich an der Wahl der deutschen Bundesregierung als an der Bestellung meines örtlichen Gemeinderats mitzubeteiligen. Unfähig, auf spezifische Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, müssen Massenmedien den „Newswert" von Informationen logischerweise an „kulturfreien" Kriterien allgemeinmenschlicher Art festmachen: z. B. an unserer elementaren Neigung, über Unglücksfälle mit zahlreichen Toten zu erschrecken, oder uns über die Verletzung moralischer Grundnormen (vor allem sexueller Art) zu echauffieren.  Daraus ergibt sich eine ständige Suche nach Ereignissen, die sich irgendwie durch ihre Abweichung vom normalen Alltag profilieren: so dass jede kleinste Protestgruppe die Aufmerksamkeit der Weltmedien auf sich lenken kann, wenn sie eine lächerlich unbedeutende, aber für originelle Fernsehbilder geeignete Strassenaktion oder Geländebesetzung inszeniert.

Politiker werden nur interessant, wenn sie – wie Kohl oder Clinton – gegen irgendwelche trivialen Regeln verstossen haben, nicht wenn sie Probleme ungelöst lassen oder ihre Ziele verfehlen – einfach deshalb weil Normverstösse viel leichter als Zielverfehlungen erkennbar und für ein breites Publikum „skandalisierbar" sind.  Vor allem in ihrer alltäglichen Berichterstattung tragen Zeitungen, Fernsehen und Radio kaum etwas zu unserem wirklichen Wissen bei. Vielmehr bombardieren sie uns mit kleinen Informationshäppchen, die bloss an unsere diffuse Neugier appellieren – oder an unsere wahrlich nicht rühmliche Neigung, aus Fährunglücken in Indien oder Terroranschlägen auf Sri Lanka einen subjektiven Unterhaltungswert zu ziehen.

Wenn die Informationsbedürfnisse vielfältiger und individualisierter werden, können konventionelle Medien nicht mit einer entsprechenden Differenzierung und Vertiefung des Angebots darauf reagieren, sondern bloss damit, dass sie ihr knappes Angebot in immer kleinere, nichtssagendere und unzusammen-hängendere Teilstücke fragmentieren. Wenn früher der Fritzli fragte: „Warum passiert immer gerade so viel, wie in einer Zeitung Platz hat"; so wird er neuerdings vom kleinen Hansli überboten der fragt: Warum ist alles, was passiert, so einfach, dass die Gratis-Pendlerzeitung in sechs Zeilen darüber berichten kann?

So leben wir alle mit dem doppelten Frust, dass sich unser Gehirn zunehmend zu einer Schrotttablagerungsstätte für unzusammenhängende Einzelinformationen zurückbildet, die mit unseren realen Lebensproblemen in keinem funktionalen Zusammenhang stehen, und dass wir andererseits mit unseren spezifischen, aktuellen Wissensbedürfnissen alleingelassen werden: z. B. wenn uns daran liegt, uns über die Arbeit der lokalen Schulpflege oder Fürsorgekommission auf dem Laufenden zu halten, den optimalen Arzt für unsere Krankheit zu finden, mit Streitigkeiten am Arbeitsplatz fertig zu werden oder auf die Berufswahl unserer Kinder Einfluss zu nehmen.  Vor allem ergibt sich die Paradoxie, dass die Menschen gerade ihren kleinräumigeren Kollektiven, denen sie angehören, oft relativ uninformiert gegenüberstehen: vor allem dann, wenn sie – wie z.B. Neuzuzüger - nicht in jene informellen Kommunikationsnetzwerke integriert sind, die den Mangel an technischen Medien für einen (meist elitären) Teil der Bevölkerung kompensieren.

 

2. Anmassung moralischer Führungsautorität

Bis in die 60er Jahre haben vor allem die Pressemedien eine anerkannte Führungsrolle in politischen (und teilweise auch moralischen) Fragen ausgeübt, weil sie damals noch an grosse Parteien und Verbände gebunden und in ideologische Milieus (konservativer, sozialistischer oder liberalfreisinniger Art) eingebettet waren.  Bei der Lektüre dieser alten Zeitungen ist man immer wieder davon beeindruckt, mit welch sorgfältiger intellektueller Arbeit Journalisten sich damals der Aufgabe angenommen haben, Tagesereignisse und aktuelle Entwicklungen im Koordinationssystem dieser Weltanschauungen zu deuten und ihren Lesern oft in propagandistischer Absicht, manchmal aber auch im Sinne echter Aufklärung grössere Zusammenhänge sichtbar zu machen.

Heute, wo diese Einbindungen dahingefallen sind, sind die Redaktoren und Journalisten zu im Grunde heimatlosen, „freischwebenden Intellektuellen" geworden, die nur noch sich selber repräsentieren und ihren privilegierten beruflichen Zugang zur Öffentlichkeit allzu häufig immer dazu nutzen, um ihre eigenen subjektiven Meinungen zum Ausdruck bringen.  Schlimmer noch; die frühere, noch den Idealen echter, (wenn auch parteigebundener) Aufklärung verpflichtete intellektuelle Analysetätigkeit ist vielfach einem flachen, oft kindlich-gemütvollen Gesinnungsmoralismus gewichen, der sich eher an spontanen Gefühlsregungen als an verstandesmässigen Reflexionen orientiert.

Oft scheint das Motto: „Wenn ich schon kein guter Journalist sein kann, bin ich wenigstens ein guter Mensch"; leitgebend zu sein: ein Mensch, der nichts Negatives über Juden, Frauen oder Ausländer und nichts Positives über die SVP zum Ausdruck bringt und ohne dessen ständige moralische Anmahnungen das Volk in den Morast des Rassismus und Rechtsextremismus versinken würde.  So hat sich in den letzten Jahren im Namen der „political correctness" fast unmerklich eine kollektive Form der Selbstzensur herausgebildet, der sich momentan alle Zeitungen – vom Blick bis zur NZZ – freiwillig unterwerfen. Im Vergleich zu einer formellen Staatszensur gehen von der "political correctness" zumindest in dem Sinne grössere Gefahren aus als sie aus einer unüberblickbaren, ständig anwachsenden Vielfalt von Sprachregelungen, Denk- und Schreibverboten und Desinformationspflichten besteht, die wegen ihrer Informalität oft kaum bewusst werden und für die keine greifbare Autorität, die man kritisieren oder beseitigen könnte, explizit verantwortlich zeichnet.

Dazu gehört beispielsweise das Gebot, bei Meinungskolumnen peinlichst jeden Anflug von schweizerischem Patriotismus zu vermeiden, und dem Volk bei unterschiedlichster Gelegenheit einzuschärfen, dass im Interesse der „Solidarität" irgendwelche Einschränkungen unserer nationalen Unabhängigkeit notwendig seien.

Als von der Bevölkerung relativ isolierte, zum andauernden Monolog verurteilte Berufsgruppen haben Journalisten und Redaktoren zum Beispiel bei Wahlen und Abstimmungskampagnen besonders Mühe, sich produktiv an der öffentlichen Diskussion mitzubeteiligen.  Auf ihrem isolierten Hochsitz bleibt ihnen nur die Wahl, sich entweder in edler Selbstbescheidung auf farblos-objektive Berichterstattungen zu beschränken, oder aber ungefragt ins Gewand eines Predigers zu schlüpfen, der vor der Abstimmung Propaganda verbreitet, – oder am Montag darnach abschätzig-tadelnde Kommentare, falls der Souverän sich in seiner Entscheidung nicht davon beeinflussen liess,  Manche erliegen auch allzu leicht der Gefahr, in politisch Andersdenkenden nicht so sehr ernstzunehmende Opponenten zu sehen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, sondern Menschen (oder Parteien) mit niedrigerem Moralniveau, mit denen man möglichst nichts zu tun haben möchte.

Häufig wird vorwurfsvoll behauptet, die Journalisten würden sich zu stark an ihre Leser, Hörer oder Zuschauer anpassen, und in den Einseitigkeiten und Simplifizierungen der Berichterstattung würde sich einfach der schlechte, ungebildete Geschmack des Durchschnittspublikums widerspiegeln. Oft genug ist aber auch das Gegenteil der Fall. So hat die amerikanische Presse hat auch dann noch unentwegt auf den Frontseiten über die Clinton-Lewinsky- Affaire berichtet, als dem Publikum ob dieser Story schon speiübel war. Nicht nur die Boulevardblätter, sondern die seriösen Pressemedien haben durch ihre einfach gestrickte simple moralische Devise: „Wer als Privatmann lügt, ist ein schlechter Präsident" den seltsam morbiden Charakter der Kampagne noch verstärkt – und bis zum Schluss standen sie verständnislos der (durch Umfragen bestätigten) Tatsache gegenüber, dass die Bevölkerung im Vergleich zur Medienelite mehrheitlich viel differenziertere ethische Auffassungen (dass man zwischen Person und Rolle trennen müsse) vertrat.

* * *

Im Lichte dieser Situation richten sich heute berechtigte Hoffnungen auf die neuen weltweiten Computernetze, deren Hauptfunktion ja darin besteht, ihren Nutzern unabhängig von Ort, Zeit und sozialen Kontrollen äusserst niederschwellige Möglichkeiten zur Selbstdarstellung in der globalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen.  "Niederschwellig" heisst nicht nur, dass nur geringe Finanzmittel und Kenntnisse nötig sind, sondern vor allem auch: dass man nicht auf die Unterstützung irgendwelcher Institutionen oder Organisationen angewiesen ist, die den Zugang zur Öffentlichkeit kontrollieren.  Wenn man mit Staunen die rasende Ausbreitung des Internet in den letzten fünf Jahren registriert, muss man als mögliche Erklärung wohl berücksichtigen, dass es in eine von einem rigiden Mediensystem gefesselte Gesellschaft hineinwächst, in der eine unglaubliche, ständig anwachsende Staulage an unbefriedigten Wissensbedürfnissen besteht.
 

Allerdings wäre es aber naiv, sich vom Internet die rasche Lösung aller genannten Probleme zu erhoffen, weil es momentan noch viel zu sehr von den traditionellen Medien kolonisiert ist und von traditionellen Rezipienten in Anspruch genommen wird, die ihre bisherigen Sende- und Empfangsgewohnheiten im Netz weiterpflegen und vorderhand noch wenig Neigung (bzw. Fähigkeiten) besitzen, alle neuen Möglichkeiten, die der „online jounalism" eröffnet, voll zu nutzen.  Persönlich bin ich aber überzeugt, dass sich auf der Plattform der Computernetze in den nächsten Jahren neue multimediale Publikationsmedien entwickeln werden, die Angebot und Nachfrage nach Information in ein besseres Gleichgewichtsverhältnis bringen.

Diese neue Medienlandschaft dürfte sich von der heutigen in vieler Hinsicht dramatisch unterscheiden.

Erstens wird sie möglicherweise nicht mehr von so sehr von Grosskonzernen, sondern eher von kleineren professionellen Journalistenteams geprägt, die – da keine Druck- und Verteilungskosten anfallen – fast ihre gesamten Einkünfte in die professionelle Arbeit investieren.  Im Unterschied zu den heutigen Allerweltsmedien werden sie sich wahrscheinlich auf spezialisiertere, streng auf bestimmte Kundensegmente bezogene Informationsbedürfnisse konzentrieren („narrowcasting" statt „broadcasting").  Viel stärker als heute wird jeder Journalist unter Druck stehen, bei den Lesern – deren Anzahl leicht aus den login-files ersichtlich sind - Beachtung zu finden und auf ihre Anregungen und Kritiken produktiv zu reagieren. Deshalb ist er genötigt, sich auf jene Kernkompetenzen zu konzentrieren, wo er wirklich in der Lage ist, gegen andere erfolgreich zu bestehen.  Immer weniger wird es möglich sein, allein durch blosses Verbreiten von ungefragter Information Beachtung zu finden. Vielmehr wird es unerlässlich, mannigfache Zusatzleistungen anzubieten, die mehr auf die Bedürfnisse des Einzelnutzers fokussieren: z. B. indem man das Jahresabonnement mit dem Recht verbindet, ein paarmal im Jahr der Redaktion eine eigene Frage zu stellen oder – etwa nach Art des „Beobachters" - eine Beratung in Anspruch zu nehmen.

Zweitens wird es üblich werden, alle Artikel mit vielfältigen weiterführenden Links auszustatten, um interessierten Lesern zu ermöglichen, nach Bedarf detailliertere Hintergrundinformationen zu gewinnen oder die aktuellen Ereignisse mit vorgängigen Geschehnissen und umfassenderen Entwicklungen in Beziehung zu setzen.  Je mehr das Informationsangebot im Web zunimmt, desto mehr wächst dem Journalisten die neue Aufgabe zu, den desorientierten Usern als Führer durch den Cyberdschungel dienlich zu sein: ihnen beispielsweise mitzuteilen, in welchen Newsgroups momentan besonders hochstehende und fruchtbare Diskussionen geführt werden, wann berühmte Persönlichkeiten in Online-Konferenzen für Anfragen aus der Bevölkerung zur Verfügung stehen, oder wo man im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen die fundiertesten Informationen über Kandidaten, Parteien, Programmplattformen und ähnliches findet.  Derartige Webangebote stehen für ein neues Rollenverständnis des Journalisten, der sich nun nicht mehr als Weltdeuter, Oberlehrer oder gar als Propagandist und Indoktrinator versteht, sondern – viel bescheidener - als "information broker", der seinen Rezipienten Wege zeigt, wie sie interessierende Informationen selber beschaffen und das Netz für ihre persönlichen Zwecke besser nutzen können.
 

Drittens werden Journalisten zu ihren Rezipienten in einem erheblich interaktiveren Verhältnis als heute stehen. Im Minimum wird sich die (heute schon z. B. vom Österreichischen „Standard" gepflegte) Praxis ausbreiten, an jeden Artikel ein freies Diskussionsforum anzuschliessen; und im besseren Fall werden die Verfasser sich selber rege an der ausgelösten Diskussion beteiligen, und auf Anfrage zusätzliche Informationen liefern oder ihre Meinungsstandpunkte ausführlicher begründen. Journalisten und Redakteure werden mit einem Gefühl innerer Befreiung entdecken, dass sie sich im Vergleich zu den heutigen ex cathedra Predigten sehr viel mehr Freiheiten nehmen können, um auch einseitige und umstrittene Meinungen zu vertreten, weil in der Diskussion alles relativiert und modifiziert werden kann. Andererseits werden sie genötigt, sich als Gleiche unter Gleichen in die Diskussion einzufügen und können keine privilegierte Führungsrolle mehr in Anspruch nehmen. Zu den erfolgreichsten Online-Journalisten werden jene gehören, denen es gelingt, eine dauerhafte, untereinander intensiv diskutierende Gemeinschaft von interessierten Usern aufzubauen, die ihn durch ihren dauernden Feedback in die Pflicht nimmt, ihm aber auch bisher unbekannte Erfolgserlebnisse verschafft.

Viertens schliesslich dürfte wird sich längerfristig insgesamt eine offenere, dynamischere und vielfältigere Medienszene entwickeln, an der sich auch vielerlei nichtprofessionelle Organisationen, Gruppierungen und Einzelpersonen erfolgreich mitbeteiligen. Die relevante Frage ist hier nicht mehr: wer kontrolliert den Zugang zu Publikationskanälen, (= primär eine Frage der Machtverteilung) , sondern: wer ist in der Lage, für seine Publikationen öffentliche Beachtung zu finden (=primär eine Frage des attraktiven Angebots und der öffentlichen Reputation). Deshalb können im Prinzip beliebige, auch höchst organisationsschwache Gruppen Aufmerksamkeit erringen, falls sie eine hoch motivierte Nutzergemeinde finden. Für die Journalisten und Redaktoren bedeutet dies vor allem, dass sie ihre „gate-keeper"-Funktion verlieren: also ihre Entscheidungsmacht darüber, ob, in welcher Form und aus welcher Perspektive über irgendein Ereignis öffentlich berichtet wird. So werden sich im Netz zunehmend nichtjournalistische Publikatoren aus allen Bevölkerungssegmenten tummeln, die einerseits vielleicht die professionelle "Qualitätssicherung" bedrohen, andererseits aber die Öffentlichkeit durch zusätzliche Gesichtspunkte bereichern. Beispielsweise wird man in Zukunft lesen können, wie ausländische Immigranten das Vorgehen der Fremdenpolizei wahrnehmen, wie Todkranke die Betreuung in der Klinik erleben, oder wie betroffene Primarschüler über die neuen Zürcherischen Schulreformen denken. Im Rückgriff auf die grosse Toleranzkultur der Aufklärung müssen wir erneut lernen zu akzeptieren, dass in dieser virtuellen Öffentlichkeit andauernd Meinungen verbreitet werden, denen wir selber niemals zustimmen können - genauso wie wir zukünftig in einer von Designer-Drogen überschwemmten Gesellschaft und einer mit immer mehr Handwaffen ausgestatteten Bevölkerung leben müssen, ohne unsere angestammten moralischen Grundsätze zu verlieren.

Zusammenfassend deutet alles daraufhin, dass das Internet praktisch alle Medien in Zukunft dazu nötigen wird, in einem komplexeren, volatileren und unwirtlicheren Umfeld als bisher zu operieren:

- In einer Umgebung, wo sie sich in intensiver Konkurrenz (insbesondere auch zu nichtprofessionellen Informationsanbietern) behaupten und in einem engen Kompetenzbereich höchste Professionalität zeigen müssen, um überhaupt noch Beachtung zu finden;

- in einer Situation, wo sie sich mit immer eigenwilligeren Usern zurechtfinden müssen, die kaum mehr gezielt steuerbar und beeinflussbar sind, immer aktiveren Einfluss auf die Mediengestaltung nehmen und höchstens noch dann zu zahlen bereit sind, wenn man ihre hoch individualisierten momentanen Informations- und Beratungsbedürfnisse erfüllt.
 

Last update: 01. Feb 15


Home: Cybersociety and Vireal Social Relations Home: Sociology in Switzerland

Contact:

  Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut

der Universität Zürich

hg@socio.ch