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Sociology of Health and Social Welfare

 

 

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Zur Krise des Helfens in der individualisierten Gesellschaft

Prof. Dr. Hans Geser

Zürich 2001


Bibliographische Zitation:
Geser Hans: Zur Krise des Helfens in der individualisierten Gesellschaft. In: Sociology in Switzerland: Sociology of Health and Social Welfare. Zürich 2001. http://socio.ch/health/t_geser1.html


Wer heute einen Soziologen danach fragt, in welcher Art von Gesellschaft und gesellschaftlicher Entwicklung wir uns momentan befinden, wird je nach Ansprechpartner zwei völlig unterschiedliche Antworten hören. Einige legen Wert darauf, sie als Organisationsgesellschaft zu bezeichnen. Sie denken dabei an das heute noch unentwegt anwachsende Angebot an Institutionen, Bürokratien, Anstalten und andern künstlich geschaffenen Strukturen, denen wir die Lösung der meisten Gegenwartsprobleme anvertrauen. In der Perspektive der Sozialhilfe ist dies ein Wohlfahrtsstaat, der in historisch einzigartiger Weise in der Lage ist, materielle Not durch umfangreiche Sozialversicherungssysteme an der Wurzel auszuräumen, auf Katastrophenfälle mit einem beeindruckenden Potential gezielter, schneller Hilfeleistung zu reagieren und zur Behandlung schwieriger Einzelfälle hoch differenzierte Technologie und professioneller Expertise zu mobilisieren. Andere Soziologen wiederum finden es viel angemessener, sie als individualisierte Gesellschaft zu charakterisieren. Das Augenmerk richtet sich dabei auf den wachsenden Anspruch aller Bürger, ausserhalb von institutionellen Bindungen und unbehelligt von Gemeinschaftsbindungen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, in moralischen ebenso wie in politischen Fragen allein ihren persönlichen Ueberzeugungen zu folgen und mit ihren ganz privaten subjektiven Wahrnehmungen, Erlebnissen und Gefühlen ernstgenommen zu werden. In dieser Perspektive ergibt sich eine dem Modell des Versorgungsstaats diametral entgegengesetzte Vision einer Selbsthilfegesellschaft, in der jeder primär für sein eigenes Schicksal verantwortlich sein will und sekundär in persönlich mitgestalteten Netzwerken und Informalbeziehungen Zuflucht sucht: weil das unpersönliche System der institutionellen und professionellen Hilfe dem Einzelindividuum zu wenig Chancen bietet, seine persönlichen Autonomiebedürfnisse und Idiosynkrasien zur Geltung zu bringen.

In ganz grober Vereinfachung kann man behaupten, dass nach dem 2. Weltkrieg während etwa 25 Jahren der Trend zur Organisationsgesellschaft Vorrang hatte, der in den 70er und 80er Jahren zwar durchaus nicht zum Erliegen kam, aber immer stärker durch den Gegentrend zur individualisierten Gesellschaft überlagert wurde. Im folgenden möchte ich verständlich machen, wie und warum dieser Trend zur Individualisierung die Systeme der institutionellen und professionellen Hilfe noch zur Zeit ihres Weiterausbaus fundamental unterminiert und in ihrer Reichweite beschränkt. An diese in der Fachliteratur häufig vorgebrachte - und deshalb nicht mehr besonders originelle - Behauptung schliesst sich allerdings die viel radikalere These an, dass "Helfen" eine Spielart sozialen Verhaltens darstellt, die - in welcher Form auch immer - in einer individualisierten Gesellschaft immer weniger Boden findet. Um dies alles ganz anschaulich und lebensnah zu machen, möchte ich Sie bitten, mich auf vier Tagungen und Workshops zu begleiten, in denen praktisch tätige Helfer und Helferinnen zusammen mit Sozialwissenschaftlern über aktuelle Probleme ihrer Arbeit diskutieren. So vielgestaltig, ja scheinbar unvergleichbar ihre Probleme sind, so wird doch deutlich, dass sie in der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft ihre gemeinsame Wurzel haben.

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I

In einer Seminartagung über moderne Sterbebegleitung spricht man über die häufigen Gefühle von Ratlosigkeit (und Erfolglosigkeit), die bei der heutigen Betreuungsarbeit am Krankenbett an der Tagesordnung seien. Weil es über Sterben und Tod keine verbindlichen religiösen Vorstellungen gebe, müsse man bei jedem Sterbenden separat ermitteln, wie er persönlich zu seinem Schicksal Stellung beziehe, welche Erinnerungen, Aengste und Hoffnungen ihn bewegten und welche Art von Trost und Beistand er sich wünsche. In Zukunft sei noch mit einem starken Anstieg dieser Verunsicherung zu rechnen, weil immer mehr Menschen, die das Gedankengut nicht-christlicher Weltanschauungen in sich aufgenommen hätten, ins Sterbealter kämen.

Jemand wirft ein, dass dadurch bloss die traditionelle Sterbebegleitung durch berufliche Seelsorger in eine Krise geraten sei, der in früherer Zeit imstande war, mit seinem fixen Bestand an theologischen Kenntnissen und pastoralen Erfahrungen überall wirksam Trost zu spenden. Heute seien hingegen Fähigkeiten wie persönliche Einfühlung, Intuition, Gefühlswärme und Dialogbereitschaft erforderlich, die nicht beruflich erlernbar seien, hingegen von vielen freiwilligen Helfern und Helferinnen mitgebracht würden. Bedauerlicherweise sei es deshalb auch nicht mehr möglich, klare Qualifikationsanforderungen und Leistungsbewertungen für Sterbebegleiter zu definieren; aber andererseits könne man nicht bestreiten, dass auf nichtberuflicher Basis vielerorts gute Arbeit geleistet werde. Im Vergleich zu früher sei es ein unschätzbarer Fortschritt, dass man gelernt habe, jeden Sterbenden in seiner individuellen Einzigartigkeit ernstzunehmen, denn schliesslich "sterbe doch jeder seinen eigenen Tod".

Durch die letzte Bemerkung fühlt sich der anwesende Soziologe zu einem kritischen Gegenvotum provoziert. Es sei paradox, beginnt er, dass heute die Tendenz bestehe, ausgerechnet das universellste aller menschlichen Schicksale, den Tod, zu einem höchst individuellen Geschehnis zu verklären. Soziologisch heisse dies, den Sterbenden aus allen kulturellen Konventionen und sozialen Rollenbeziehungen zu entlassen und ihm am Schluss seines Lebens das Anstrengendste zuzumuten, was man einem Menschen zumuten kann: nämlich jenseits aller kollektiver Denkweisen persönlich zu seinem eigenen Schicksal Stellung zu beziehen und jenseits aller sozialer Verhaltenserwartungen sich den Umstehenden rein als individuelle Person darzustellen. Unter diesen Umständen hänge der Erfolg der Sterbebegleitung viel zu sehr davon ab, dass es dem Kranken gelinge, dem Helfer seine subjektiven Gedanken und Gefühle mitzuteilen und zu ihm ein persönliches Vertrauensverhältnis zu kultivieren. Ein Sterbender müsse heutzutage noch sehr gut bei Kräften sein und eine beachtliche Spanne bewusster, schmerzfreier Lebenszeit vor sich haben, um solch hohen Ansprüchen zu genügen.

An dieser Stelle fühlt sich der konservativ gesinnte katholische Seelsorger ermutigt, seinen kirchentreuen Standpunkt zu vertreten. Die moderne Sterbebegleitung, sagt er, vermag niemals den Priester zu ersetzen, der am Krankenbett auf kommunikationslose Weise Trost spendet, indem er Gebete spricht und das Sakrament der letzten Oelung erteilt. Vor allem die wirklich Sterbenden seien auf diese Form unilateraler Hilfeleistung angewiesen, die allerdings gemeinsame christliche Glaubensüberzeugungen zur Voraussetzung habe. Nach einer Kaffeepause, in der "Traditionalisten" und "Progressivisten" miteinander heftig in die Haare geraten sind, bringt ein Votant das Argument ins Spiel, dass es auch aus einem andern Grund nicht gangbar sei, dem Sterbenden volle Selbstbestimmung zuzugestehen. Was mache ich z.B., fragt er, wenn der Kranke von mir verlangt, den Arzt zum Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen zu überreden oder gar: ihm zur Selbsttötung zu verhelfen? Wie kann ich es ethisch verantworten, gegen meine eigenen Werte und das christliche Gebot, dass man nicht töten darf, zu handeln, also vom Sterbebegleiter zum Sterbehelfer zu werden?

In der anschliessenden Diskussion wird zuerst festgestellt, dass es in einer Gesellschaft, die auf individuelle Selbstbestimmung hohen Wert legt, häufig vorkommt, dass die Anliegen des Hilfebedürftigen mit den Werthaltungen des Helfers im Widerspruche stehen. Jemand meint, dass gerade unter solchen Bedingungen die Idee der christlichen Caritas wirklich zum Tragen komme. Aus christlicher Nächstenliebe "selbstlos" helfen, müsse eben auch die Bereitschaft einschliessen, eigene Ueberzeugungen und Werte zugunsten derjenigen des Hilfebedürftigen in den Hintergrund zu schieben. Je stärker also die Individualisierung der Gesellschaft voranschreite, desto mehr werde also die christliche Caritas zur einzigen zuverlässigen Basis, auf die man die Motivation zum Helfen noch abstützen könne. Solange Helfer in voller Uebereinstimmung mit ihren eigenen Werten handeln könnten, gebe es genügend anderartige Quellen ihrer Motivation.

Diese Auffassung erweckt heftigen Widerspruch: in christlicher Weise helfen heisse niemals, dem Hilfebedürftigen einfach alles zu gewähren, was dieser will. Denn gerade die Liebe zu ihm gebiete es, ihm gegenüber auch gegen seinen Willen grundlegende moralische Gebote (wie z.B. das Tötungsverbot) zur Anwendung zu bringen. Der konservative Seelsorger wirft ein, die Selbstbestimmung des Sterbenden könne vor allem dann nicht die Richtschnur sein, wenn dieser bewusstlos, psychisch krank oder aus anderen Gründen nicht in der Lage sei, seinen Willen auszudrücken. Hier zeigt sich wiederum, dass überindividuell verbindliche Werte und Normen für eine effektive Sterbebegleitung unverzichtbar seien.

Das Seminar endet mit einem ziemlichen Streit, obwohl am Schluss alle von Liebe gesprochen haben. Immerhin tragen alle Teilnehmer die Einsicht nach Hause, dass die Folgeprobleme und Grenzen hoher Individualisierung im Feld der Sterbebegleitung besonders drastisch sichtbar werden, und dass sie selber rettungslos zu einer Schar von Individualisten geworden sind, weil offensichtlich jeder seinen eigenen Ausweg aus der Orientierungskrise sucht.

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II

Bei einer Internationalen Tagung über "neue Armut" in hochentwickelten Ländern kreist das Eröffnungsreferat um die Feststellung, dass "alte Armut" meist ein kollektives Schicksal ganzer Bevölkerungsgruppen (z.B. Klassen, Regionen oder Ethnien) war, während "neue Armut" sich häufiger aus verunglückten individuellen Lebensläufen ergebe:

Alleinerziehende Mütter nach der Scheidung, Strafentlassene ohne Berufschancen, in den Konkurs getriebene Kleingewerbler, alkoholabhängige Arbeitslose... in diesen vielen Gesichtern moderner Not würde sich die zunehmende Individualisierung der Lebensläufe und Lebensziele widerspiegeln, und sowohl die staatlichen Behörden wie die privaten Wohlfahrtsverbände würden dadurch vor zwei fast unüberwindliche Probleme gestellt:

1) vor das Problem, sich über Ausmass und Entwicklungstrends der neuen Armut auf dem Laufenden zu halten (was praktisch nur durch einen ständigen Aufwand an Sozialforschung möglich sei);

2) vor das Problem, für alle die verschiedenen Fälle "massgeschneiderte" Lösungswege zu finden, die auf die besonderen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Betroffenen Rücksicht nähmen.

Zumindest in der Inlandhilfe sei die Zeit für bürokratisch betriebene, mit viel technokratischem Aufwand betriebene Hilfsprogramme endgültig vorbei, weil solche Programme voraussetzten, dass es massenhaft ähnliche Notsituationen gebe, die mit Hilfe derselben standardisierten Verfahrensweisen behoben werden könnten.

Mit dieser Diagnose scheint ein überaus zentraler Punkt getroffen, denn die meisten Voten in der nachfolgenden Diskussion knüpfen in der einen oder andern Weise daran an.

Ein erster Votant fügt bei, dass die frühere, kollektiv auftretende Armut logischerweise meist als ein vom Einzelnen unverschuldetes Schicksal betrachtet wurde, während sich bei der heutigen individualisierten Armut häufig der Verdacht einstelle, dass der Betroffene zumindest teilweise dafür die Mitverantwortung trage. In einer Gesellschaft, die dem Menschen zusammen mit dem Recht zur Selbstbestimmung auch die Pflicht zur erfolgreichen Lebensgestaltung aufbürde, gehe man davon aus, dass weder die geschiedene Mutter noch der überschuldete Familienvater, weder der Drogenabhängige noch der von AIDS Betroffene an ihrem Schicksal völlig unschuldig seien, genauso wenig wie das kinderreiche Ehepaar, das man im kontrazeptiven Zeitalter mit dem Vorwurf mangelnder Verhütungsdisziplin überziehe. Es sei deshalb verständlich, dass sowohl der Enthusiasmus von Spendern wie auch der Einsatzwille freiwilliger Helfer zunehmend zu wünschen übrig lasse, und es sei mit einer zunehmenden Verlagerung der Aktivität auf jene Bereiche zu rechnen, wo - wie vor allem in der Katastrophenhilfe - an der Unschuld der Betroffenen keinerlei Zweifel beständen.

Jemand wirft ein, dass genau dies die Bedingungen seien, unter denen die Vorzüge der christlichen Karitas voll zum Tragen kämen. Es gebe vielerlei allgemein-menschliche Gründe, um beispielsweise ein Kleinkind vor dem Hungertod zu bewahren; aber es sei schwierig, sich für Strafentlassene oder Arbeitsunwillige zu engagieren, wenn man sich nicht mit den von Jesus Christus vorgelebten Prinzipien bedingungsloser Nächstenliebe identifiziere.

Ein anderer fügt bei, dass aus denselben Gründen auch die Betroffenen selbst heute die Neigung hätten, ihre Armut als persönliches Versagen zu interpretieren und dadurch ihrer materiellen Not, die im Prinzip sehr wohl behebbar sei, eine viel schwerer zu beseitigende psychische Not hinzuzufügen. Mit dem Eingeständnis, hilfebedürftig zu sein, sei heute viel mehr als in jeder früheren Gesellschaft ein Akt negativer Selbststigmatisierung verbunden: weil man dadurch zugebe, den gesellschaftlichen Anforderungen nach individueller Selbstbestimmung und Lebensgestaltung nicht zu genügen. Die "neue Armut" sei auch deshalb schwer erkennbar, weil viele Betroffene ihre Bedürftigkeit niemandem mitteilen, ja oft vor sich selbst nicht eingestehen würden, und sie sei auch deshalb schwer zu beheben, weil der Status des "Hilfeempfängers" ein gefürchteter Status sei, der nicht ohne das Begleitgefühl sozialer Deklassierung eingenommen werden könne. In Deutschland würden deshalb ungefähr 50% der gesetzlichen Sozialhilfe nicht ausgeschöpft, und in der Schweiz würden viele Berechtigte keinen Antrag auf AHV-Ergänzungsleistungen stellen.

Ein Sozialpsychologe beklagt, dass man im Trend der zunehmenden individuellen Selbstbestimmung immer mehr die Auffassung vertrete, der Hilfebedürftige selber müsse um Hilfe fragen, weil er allein entscheiden könne (und solle), ob und wann er welche Art der Hilfe braucht. Experimentelle Untersuchungen hätten aber gezeigt, dass unter solchen Bedingungen auch dringend nötige Hilfe viel zu selten beansprucht wird: weil jemand, der selber um Hilfe nachfragt, einen viel drastischeren Akt der Selbststigmatisierung vollzieht als jemand, der ungebetene Hilfe akzeptiert. In rein psychologischer Sichtweise sei es deshalb besser, Hilfe ungefragt zu verteilen, weil der Empfänger dann eher das Bewusstsein aufrechterhalten könne, eigentlich hätte er sie gar nicht gebraucht.

Ein weiterer Votant stimmt lebhaft zu und fügt bei, dass es manchmal auch aus andern Gründen nötig sei, jemandem Hilfe aufzuzwingen und dadurch seine Selbstbestimmung zu verletzen: z.B. dann, wenn der Empfänger unmündige Kinder habe, die im Falle der Hilfeverweigerung unverschuldet mitleiden würden.

Ein Sozialarbeiter bemerkt, dass die Institutionen des Wohlfahrtsstaats zur Beseitigung der "neuen Armut" deshalb besonders ungeeignet seien, weil seitens der Betroffenen besonders grosse Hemmungen bestünden, formelle, professionelle Formen der Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wer formelle Hilfe beantrage, gebe damit zu, dass er über keine informellen Netzwerke verfüge, die er zu Behebung seiner Not beanspruchen könne. Dies sei eine weitere Quelle negativer Selbstdefinition: denn eine individualisierte Gesellschaft fordere von jedem Einzelnen, dass ihm der Aufbau solcher Netzwerke gelingt. Für die zukünftige Arbeit der karitativen Institutionen ergäbe sich daraus eine zentrale Forderung: sie müssten den Einzelnen beim Aufbau derartiger informeller Hilfebeziehungen Unterstützung bieten und damit verhindern, dass jemals formelle Hilfe nötig wird. Sofern formelle Massnahmen unerlässlich seien, müssten sie möglichst eine Hilfe zur Selbsthilfe sein, also z.B. in Form einer Zusatzbildung oder "Anschubfinanzierung" erfolgen. Nur derartige Interventionen seien tauglich, um neben der objektiven Armutssituation auch die subjektiven Versagensängste zu beseitigen und den Betroffenen jenen Status der Selbstbestimmung wiederzugeben, von dem ihr Selbstwertgefühl und ihre soziale Anerkennung im selben Masse abhängig seien.

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III

In einem Seminar über Rekrutierungsprobleme und Einsatzmöglichkeiten ehrenamtlicher Helfer herrscht allgemeine Uebereinstimung darüber, dass die Felder ausserberuflichen, freiwilligen Helfens momentan überdurchschnittlich stark expandieren und dass deshalb die Funktionsfähigkeit des gesamten Sozialhilfesektors immer mehr von Faktoren abhängig werde, die sich jeder politischen und administrativen Steuerung entziehen: davon nämlich, wie viele Frauen und Männer sich bereitfinden, für wie lange welche Engagements zu übernehmen. Einige Seminarteilnehmer aus der älteren Generation äussern sich sehr pessimistisch. Der im Zeitalter individueller Selbstbestimmung um sich greifende Hedonismus habe bereits zum Schwinden informeller Hilfeleistung im Kreise der Verwandtschaft und Nachbarschaft geführt, vor allem weil auch die Frauen wegen ihrer Berufstätigkeit keine Zeit mehr dafür fänden. Unter den Jüngeren würde man immer seltener jene altruistische Opferbereitschaft finden, die für unbezahlte Hilfeeinsätze die Voraussetzung sei.

Die jüngeren Teilnehmerinnen wehren sich gegen diese pauschale Unterstellung. Viel wichtiger sei hingegen ein qualitativer Wandel in den Hilfemotivationen: Immer mehr Bewerber und Bewerberinnen würden nämlich mit ihrem Engagement zwar nicht "egoistische", sehr wohl aber "selbstbezogene" Motive verbinden: etwa das Interesse, in der Begegnung mit neuen Menschen und in der Bewältigung neuer Probleme eine innere Selbstbereicherung zu erfahren, im Umgang mit Kranken oder Sterbenden zu ihrem eigenen Leben neu Stellung zu beziehen oder einfach: für Talente und Fertigkeiten, die im normalen Alltag nicht zur Geltung kommen, ein Anwendungsfeld zu finden. Als Beispiel dafür wird darauf verwiesen, dass die Kurse für Sterbebegleitung häufig von Frauen mittleren Alters besucht würden, die sich davon bessere Bewältigungsmöglichkeiten für einen privat erlebten Todesfall versprechen. Viele Menschen würden heute gerade in besonders anspruchsvollen Hilfeaktivitäten existentielle Grenzerfahrungen suchen, die andere in herausragenden Leistungen sportlicher, wissenschaftlicher oder künstlicher Art zu finden hofften. Immer mehr Menschen würden ihr Leben als nicht richtig erfüllt betrachten, wenn sie nicht wenigstens einmal die Erfahrung des Helfens gemacht hätten, und in Amerika sei es bereits viel üblicher als bei uns, das soziale Ansehen eines Menschen nicht nur an dessen Berufsstatus, sondern auch an seinen freiwilligen philanthropischen Tätigkeiten zu messen.

Dem wird entgegnet, dass es im mindesten sehr problematisch, wenn nicht sogar unmoralisch sei, die Not Anderer zur Forderung seiner eigenen Selbstverwirklichung zu missbrauchen. Dies führe dazu, dass alle sich den besonders "erlebnisintensiven" Einsatzfeldern (zu denen paradoxerweise die Sterbebegleitung gehöre) zuwenden würden, während es kaum jemand "bereichernd" finde, bei alleinstehenden Senioren zu putzen oder andere notwendige, aber höchst triviale Arbeit zu tun. Ein anderer Votant fügt bei, dass all diese subjektiven, selbstbezogenen Hilfemotivationen viel zu zufällig auftreten würden und rein zeitlich viel zu unstabil wären, als dass man darauf zuverlässige Organisationen aufbauen könnte. Vor allem sei nicht einzusehen, wie im Zeitalter der Individualisierung die Bereitschaft zur Sorgearbeit aufrechterhalten werden könne: also die Bereitschaft, z.B. für ein behindertes Kind oder eine invalide alte Witwe einfach "da" zu sein, ohne nach den zeitlichen oder sachlichen Limiten des Engagements zu fragen.

Diese schwer zu widerlegende Argumente lösen in der Seminarrunde echte Betroffenheit aus, und ein Teilnehmer findet es sehr evident, dass auch die stark sinkende Geburtenhäufigkeit mit der abnehmenden Bereitschaft zur "Sorgearbeit" im Zusammenhang stehen. Dagegen wird allerdings eingewandt, dass viele, ja vielleicht die meisten modernen Menschen auch eine Phase der "Sorgearbeit" als Teil ihrer persönlichen Selbstverwirklichung betrachten: sofern diese Phase nur zeitlich begrenzt bleibe und derart vorgeplant werden könne, dass sie mit den übrigen Lebenszielen vereinbar bleibe. So könne es wohl sein, dass eine Frau mit 25 sich aufopfernd in einem Altenheim betätige, aber mit 50 überhaupt nicht dazu disponiert sei, ihre eigene kranke Mutter zu betreuen; oder dass eine absichtlich kinderlos gebliebene Ehefrau mit 45 auf die Idee komme, als Tagesmutter fehlende Erfahrungen nachzuholen. Jemand fügt bei, dass diese Herauslösung der Sorgebeziehungen aus Verwandtschaftsbindungen viele neue Möglichkeiten eröffne, die auch im Sinne des Hilfebedürftigen liegen: denn er habe schon manche alte Frau gekannt, die im Interesse ihrer Selbstbestimmung Wert darauf gelegt habe, sich nicht von ihrer eigenen Tochter pflegen zu lassen. Er entwirft die phantastische Vision einer zukünftigen Caritas, die sich von einer Hilfsorganisation in eine blosse Vermittlungsagentur verwandelt hat: deren Hauptaufgabe darin besteht, täglich wechselnde spezifische Hilfeangebote und Hilfenachfragen miteinander in Beziehung zu bringen. Es sei evident, dass die moderne Computertechnologie für das Management einer solchen "Börse" bisher ungeahnte Möglichkeiten schaffe, andererseits aber weniger klar, ob das Ganze nicht ebenso gut dem künftigen VIDEOTEXT - System überlassen werden könne.

Am Ende leuchtet allen ein, dass es in unserer Gesellschaft besonders schwer fällt, auf der Basis von Ehrenamtlichkeit zuverlässig funktionierende Hilfeorganisationen zu etablieren. Denn wenn die Motivation zum Helfen nicht durch Entlöhnung, Karrierechancen, professionelles Prestige und andere Privilegien beruflicher Anstellung gesichert ist, könnte ihre Stabilität ja nur auf eine sehr dauerhafte altruistische Gesinnung und Einsatzbereitschaft gegründet werden, die sich in gleicher Weise auf "interessante" und "uninteressante" Tätigkeiten erstreckt.

Deshalb findet die Schlussrednerin viel Verständnis für ihre These, dass die christliche Karitas gerade in der modernen Gesellschaft eine besonders unverzichtbare Basis für organisiertes Helfen geworden sei. Die Einzigartigkeit der christlichen Nächstenliebe bestehe eben darin, dass sie dem Helfer immer in zweifacher Weise gegenübertrete

1) als inneres Gefühl, das die Basis subjektiv befriedigender (erfüllender) Hilfehandlungen bilde;

2) als übersubjektive sittliche Verpflichtung, aus der die Bereitschaft erwachse, von selbstbezogenen Ansprüchen Abstand zu nehmen und das eigene Handeln in grössere, kollektive Aktivitäten einzuordnen.

Nur auf der Basis christlicher Nächstenliebe sei es deshalb im ausserberuflichen Bereich des Helfens möglich, individuell-selbstbezogene Motive und personenunabhängige objektive Zweckforderungen miteinander in Einklang zu bringen.

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IV

An einer letzten Tagung über "Sozialarbeit im Zeitalter der Selbsthilfegruppen" ist man sich rasch darüber einig, dass Sozialarbeiter heute in fast allen Gebieten ihrer Tätigkeit mit Selbsthilfegruppen in Berührung kommen und dadurch dazu genötigt werden, ihre berufliche Rolle und Identität neu zu definieren. Kontrovers ist hingegen die Frage, welche Ursachen diesem Phänomen zu Grunde liegen und dementsprechend auch: welche Konsequenzen daraus gezogen werden müssen. Während die einen darin eine vorübergehende, weitgehend auf den städtischen Raum begrenzte Modeerscheinung erblicken, sehen andere in der Selbsthilfegruppe den Versuch, mittels künstlicher Assoziierung jene gemeinschaftliche Integration und Geborgenheit wiederzugewinnen, wie sie früher im natürlichen Kreis der Familie und Nachbarschaft bestand.

Die Mehrzahl der Anwesenden vertritt allerdings einen dritten Standpunkt: dass Selbsthilfegruppen wegen ihrer höchst spezifischen Zielsetzungen einerseits und der zeitlich begrenzten Mitgliedschaft andererseits eben gerade nicht der Sehnsucht nach sozialer Geborgenheit entsprängen, sondern genau umgekehrt dem Bedürfnis des Einzelnen, mehr Selbstbestimmung zu realisieren und in höherem Masse individuell geprägte Bedürfnisse und Anliegen einbringen zu können. So seien Selbsthilfegruppen gerade dort besonders wichtig, ja völlig unverzichtbar, wo Menschen bestrebt seien, eine besonders fundamentale Weise der Selbstbestimmung zu verwirklichen: zum Beispiel, wenn es darum gehe, sich selbst von einer Suchtabhängigkeit zu befreien, in einer drastisch veränderten Lebenssituation (etwa als Paraplegiker oder als alleinerziehender Vater) eine neue persönliche Identität zu erarbeiten oder nach einer traumatischen seelischen Erschütterung ein neues inneres Gleichgewicht zu finden. Selbsthilfegruppen seien deshalb Korrelate einer hoch individualisierten Gesellschaft, in der immer mehr Menschen den Wunsch hätten, nicht nur einzelne Aspekte ihrer Lebenssituation, sondern ihre gesamte Persönlichkeitsstruktur und personale Identität in ihre eigene Hand zu nehmen. Jemand fügt bei, dass Selbsthilfegruppen auch in ganz anderer Weise dazu beitragen würden, die Autonomie des Einzelnen zu fördern. Zum Beispiel würden die Teilnehmer an Selbsthilfegruppen lernen, den professionellen und institutionellen Hilfeinstanzen informierter, selbstbewusster und mit mehr Eigeninitiative gegenüberzutreten. Der Zuwachs an Selbstbewusstsein sei überdies stark dadurch bedingt, dass die Individuen in solchen Gruppen Gelegenheit fänden, nicht bloss Empfänger von Hilfeleistungen, sondern auch selber aktive Helfer zu sein.

An diese Stelle wird den Anwesenden plötzlich bewusst, dass dem Sozialarbeiter so ziemlich das schlimmste Unheil droht, das einen etablierten Berufsstand überhaupt treffen kann: dass nämlich immer mehr selbsternannte Laien auftreten und von sich behaupten, sie könnten dieselbe Arbeit ohne besondere Ausbildung ebenso gut oder sogar besser tun. Ein Referentin vom Münchner Selbsthilfezentrum vertritt die radikale These, dass professionelle Helfer eben gerade das nicht bieten könnten, was immer mehr Hilfebedürftigen das Allerwichtigste sei: in ihrem ganz subjektiven Erleben und Fühlen ernstgenommen zu werden und ein einfühlendes Verständnis zu finden, das nur von Personen, die von derselben Problemlage betroffen seien, wirklich aufgebracht werden könne. Sie sieht die Zukunft der Sozialarbeit wie auch aller karitativen Institutionen darin, sich vom bisherigen Auftrag direkter Hilfeintervention zurückzuziehen und sich auf indirektere Aufgaben (etwa auf die Konstituierung, Begleitung, Koordinierung und Vernetzung von Selbsthilfegruppen) zu beschränken.

Als Experte für derartige Interaktions- und Organisationsfragen könne der Sozialarbeiter vielleicht zukünftig eine neue berufliche Qualifikationsbasis und Identität gewinnen. Im Gegensatz zum traditionellen Casework seien die Chancen der Professionalisierung allerdings sehr gering: denn die Helfer und Helferinnen müssten sich in die Gruppenprozesse mit ihrer Eigenlogik einfügen, anstatt ihnen autonom gegenüberzustehen, und je nach Verlauf dieser Prozesse damit rechnen, in eine Randstellung manövriert oder ausgebotet zu werden.

In der anschliessenden Diskussion kommen endlich jene zu Wort, die den weitverbreiteten Enthusiasmus über die zunehmende Expansion informeller Selbsthilfe überhaupt nicht teilen. Die zunehmende Neigung, sich nur noch von Mitbetroffenen (Schicksalsgenossen) helfen zu lassen, sei von Grund auf absurd: denn es sei doch unausweichlich, dass Sterbende durch Lebende betreut und Aeltere die Hilfe von Jüngeren in Kauf nehmen müssten. Ueberhaupt sei das Konzept der "Selbsthilfe" elitär: weil es sich nur auf jene relativ gutgestellten Hilfebedürftigen ausrichte, die genügend Fähigkeiten und freie Valenzen besässen, um Gruppenbeziehungen aufzubauen und selber die Helferrolle zu übernehmen. Für die karitativen Organisationen bestehe überhaupt kein Anlass, wie hypnotisiert auf dieses vorwiegend in den mittleren und höheren Schichten verbreitete Phänomen zu starren und darüber jene vielen wirklich Bedürftigen zu vergessen, die nach wie vor nur durch institutionelle Direkthilfe erreichbar seien. Auf Grund ihrer Informalität seien Selbsthilfegruppen als Träger zuverlässigen Helfens kaum geeignet: Undurchsichtige und unkontrollierbare innere Prozesse würden darüber entscheiden, ob jemand überhaupt Aufnahme finde und welche Qualität von Hilfeleistung erfolge - und häufig genug würden die Teilnehmer in diffuse Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt - wobei (wie überall sonst) den Frauen die grösseren Lasten aufgebürdet würden.

Kein Spender könne sich übrigens auch für eine karitative Organisation begeistern, die ihre Mittel in Selbsthilfegruppen versickern liesse, über deren Grad an Effektivität und Effizienz niemals Klarheit gewonnen werden könne. Zusammen mit den staatlichen Einrichtungen müssten die privaten Verbände vielmehr den Bedürftigen eine möglichst zielsichere, kontrollierbare und einheitliche Hilfeleistung zukommen lassen: und dies schliesse den Einsatz von Selbsthilfegruppen praktisch aus. Abschliessend findet die Diskussionsleiterin es ausgesprochen schwierig, aus all den widersprüchlichen Voten ein endgültiges Fazit zu ziehen. Sie hält fest, dass Selbsthilfegruppen eng mit dem Trend zur Individualisierung und persönlichen Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft verknüpft sind und insofern sehr fundamentale Entstehungsursachen haben, andererseits aber zu schwerwiegenden Folgeproblemen führen, die sich keineswegs auf eine Berufskrise der Sozialarbeit beschränken.

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Schlussfolgerungen

"Individualisierung" bedeutet, dass immer mehr Menschen immer stärker bestrebt sind, ihre Lebensumstände und ihre persönliche Entwicklung autonom zu bestimmen, ihre eigenen Werte, Interessen und Geschmackspräferenzen zur Geltung zu bringen und für ihre subjektiven Denkweisen, Erlebnisse und Gefühle Toleranz und Verständnis zu finden. Diese Entwicklung hat fundamentale Auswirkungen auf alle zwischenmenschlichen Interaktionen, Rollenstrukturen und Institutionen und verändert in besonders drastischer Weise die Bedingungen, unter denen sich praktisch jede Form karitativer Hilfeleistung vollzieht:

1) Die Möglichkeiten und Chancen wirksamen Helfens verringern sich ganz allgemein, weil

- immer grössere Ungewissheit darüber besteht, wer wann welche Art von Bedürftigkeit aufweist und welche Art der Hilfeleistung wünscht;

- Helfer häufig Dinge tun sollen, die ihren persönlichen Werthaltungen widersprechen;

- immer weniger Menschen bereit sind, vor sich selbst und vor anderen als "Hilfesuchende" und "Hilfeempfänger" dazustehen.

2) Die Wirkungsmöglichkeiten für berufliches Helfen nehmen in besonders starkem Ausmass ab, weil

- es angesichts der Vielfalt und Unvorhersehbarkeit der Bedürftigkeiten und Vorgehensweisen immer schwerer fällt, die Kenntnisse und Fähigkeiten zu definieren, die für erfolgreiche Hilfeleistung notwendig und hinreichend sind;

- Laienhelfer oft besser in der Lage sind, die unverhältnismässig stark ansteigende Nachfrage nach "Einfühlung", "Verständnis" u.a. zu befriedigen;

- dank der Eigenaktivität der Adressaten (und ihrer "Selbsthilfegruppen") weniger Möglichkeiten bestehen, berufliche Qualifikation und professionelle Autorität zur Geltung zu bringen;

- die Helfer im Zuge ihrer eigenen Selbstverwirklichung immer weniger bereit sind, sich irreversibel und lebenslang an ihre Rolle zu binden.

3) Schliesslich gib es eine besonders ausgeprägte Krise des bürokratisch organisierten Helfens, weil

- moderne Not so viele Gesichter hat, dass häufig keine stabilen und standardisierten Typen der Bedürftigkeit identifizierbar sind, die mit Hilfe formeller Programme und routinisierter Verfahrensweisen angegangen werden könnten;

- am Ort der konkreten Hilfe sehr informelle, personenbezogene Verhaltensweisen und Beziehungen realisiert werden müssen, die sich der hierarchischen Ueberwachung und Steuerung entziehen;

- die Helfer selbst verstärkt den Anspruch stellen, eher auf der Basis innerer Gesinnungen anstatt externer Regeln und Weisungen zu handeln.

Als Folge dieser drei einander überlagernden Krisen erfahren die nichtstaatlichen karitativen Organisationen ständig anwachsende Spannungen und Dilemmas beim Versuch, ihre vermittelnde Rolle zwischen der öffentlichen Wohlfahrtsbürokratie einerseits und den sich individualisierenden Hilfebedürfnissen andererseits zu erfüllen.

Im Prinzip stehen ihnen drei alternative Anpassungsstrategien offen:

a) Sie können versuchen, durch Bereitstellung variabler und individualisierterer Hilfeleistungen die neuen Anforderungen selber zu erfüllen. Folge: Sie werden von der Peripherie her "entbürokratisiert" und müssen hinnehmen, dass Hilfeprozesse weniger planbar und steuerbar und Hilfeergebnisse weniger messbar werden. Dementsprechend fällt es ihnen auch schwerer, ihre Aktivität und Leistungen nach aussen hin darzustellen und zu legitimieren.

b) Sie können sich auf indirektere Funktionen (z.B. auf die Koordination, Vermittlung etc. von Hilfeangeboten) zurückziehen und die direkte Hilfe informelleren Instanzen (z.B. den Selbsthilfegruppen) überlassen. Folge: Mit dem Verzicht auf Direkthilfe verlieren sie ihre spezifische karitative Identität und ihr karitatives Ethos, mit dem sie sich von anderen Vermittlungsagenturen unterscheiden und machen sich in ihrer Wirkung von Faktoren abhängig, die sich ihrer Beeinflussung entziehen.

c) Sie können sich von der Sphäre individualisierten Helfens zurückziehen und ihre Aktivitäten auf Bereiche und Problemfelder mit massenhaft-homogenen Bedürftigkeiten und vorausplanbaren Lösungsstrategien verlagern, wo die Leistungskapazitäten bürokratischer Organisation besser zum Tragen kommen (z.B. internationale Flüchtlings- oder Katastrophenhilfe). Folge: karitative Aktivitäten im Inland werden einem intransparenten, zeitlich unstabilen und weder sozialpolitisch noch organisatorisch steuerbaren Feld von Spontaninitiativen und informellen Gruppen überlassen.

Im Lichte all dieser Entwicklungen wird die christliche Nächstenliebe ("Karitas") als ethische Fundierung des Helfens nicht etwa überflüssig, sondern erhält im Gegenteil eine zusätzliche funktionale Bedeutung.

Als ein Medium zur Stabilisierung von Spende- und Hilfemotivationen erscheint die "Karitas" vor allem in jenen stark anwachsenden Fällen unentbehrlich, wo

- Hilfeleistung gleichzeitig ausserfamiliär und ausserberuflich erfolgt,

- die Adressaten für ihre Bedürftigkeit selber mitverantwortlich sind,

- dem Helfer ein besonderes Mass an "Selbstlosigkeit" abgefordert wird, weil er genötigt wird, gegen seine eigenen Wertmassstäbe zu handeln.

Christlich orientierte karitative Organisationen sind deshalb relativ gut gerüstet, um mit den Folgeproblemen der Individualisierung umzugehen, und es gibt Grund zur Vermutung, das sie gegenüber nichtreligiösen Verbänden einen wachsenden "Konkurrenzvorsprung" gewinnen.

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Last update: 08 Nov. 20

 

   

Editor:

  Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut

der Universität Zürich

hg@socio.ch