Der funktional-morphologische
Ansatz als neuer Zugang zur Soziologie der Arbeitswelt
Prof.
Hans Geser (August 1998)
1.
Zur Typologie der Wissensformen
1.1
Internales Wissen 2.
Regularitäten des historischen Wandels
3.
Die prekäre Mittelposition des formalen Bildungswissens
Zu den faszinierendsten Erkenntnisgewinnen der Soziologie gehört die
doppelte Einsicht, dass die Formen und Inhalte menschlichen Wissens
einerseits nicht nur einem historischen Wandel, sondern auch einer
kausalgesetzlichen Abhängigkeit von sozialen Verhältnissen unterliegen;
andererseits aber auch diese selben Sozialverhältnisse
mitkonstituieren.
1. Zur Typologie der Wissensformen
Jeder Mensch, der arbeitet, diskutiert, einkauft oder
sonst wie zielgerichtet handelt, stützt sich dabei Quellen kognitiver Orientierung
(bzw. Wissensbestände), die ihm helfen,
Dabei erweist es sich als fruchtbar, diese Wissensquellen -ungeachtet
ihrer unabsehbaren Vielfalt in allen übrigen Eigenschaften - auf einem
eindimensionalen Kontinuum danach zu ordnen, ob sie - bezogen auf den
Handelnden - eher einen "internalen" oder einen "externalen"
Charakter tragen:
1.1 Internales Wissen
1a) Am äussersten internalen Pol des Kontinuums finden jene völlig
personengebundenen Quellen kognitiver Orientierung, die mit Begriffen wie "Talent",
"Begabung" oder "Intuition" umschrieben werden.
Vom Standpunkt sozialer Systeme aus sind es völlig exogene
Qualifikationen, die man nicht objektiv messen und nicht planmässig
erzeugen, steigern oder interpersonell übertragen kann, so dass sie
idiosynkratisch und unkontrollierbar bleiben und mit jedem Personalwechsel
wieder aus dem System verschwinden.
1.2 Semi-externales Wissen
Hat die Eigenschaft, dass es auf kollektiver Ebene verwaltet, tradiert,
diffundiert und weiterentwickelt wird, andererseits aber nur über
Mechanismen der Internalisierung (z. B. durch Sozialisation oder
Ausbildung) im Handeln wirksam werden kann.
2a) Noch relativ gering ist diese Sozialkontrolle beim "informellen
Traditionswissen", das jene unübersehbaren
Wissensbestände umfasst, die (wie z. B. die Kenntnisse der Muttersprache,
der Haushaltarbeit oder des gewerblichen Handwerks) innerhalb bestimmter
Volks-, Status- oder Berufsgruppen ohne spezielle Planung und
institutionelle Arrangements in beiläufigen Sozialisationsprozessen
übermittelt werden.
1.3 Externales Wissen
Ist von individuellen Einflüssen weitgehend unabhängig, weil es nicht
im physischen Gedächtnis von Menschen, sondern auf materiellen Medien
gespeichert wird und in Handlungen wirksam werden kann, ohne dass dafür
umfangreiche Prozesse des subjektiven Erlernens notwendig sind.
3a) Schriftliches Regelwissen umfasst die in Textdokumenten (z.
B. in Gesetzen und Dienstreglementen, Betriebsanleitungen,
Kochrezeptbüchern oder Enzyklopädien) explizierten kognitiven
Orientierungen, die immerhin noch der individuellen Kenntnisnahme
bedürfen, aber in Form und Inhalt völlig auf überindividueller Ebene
(z. B. von Bürokratien) gestaltet, interpretiert, ausser Geltung gesetzt
oder weiterentwickelt werden.
Evidenterweise haben all diese Wissensformen ihre je spezifische
Affinität zu bestimmten sozialen Strukturen. Z. B. begünstigt Intuition
und Erfahrung sehr dezentralisiert-individualisierte Sozialsysteme,
wie sie z. B. in den bürgerlichen Unternehmer- oder
Intellektuellenschichten, Künstlergruppen oder in mystisch orientierten
religiösen Bewegungen ihre Ausprägung haben. Das Traditions- und
Bildungswissen dient hingegen eher dem Erhalt kohäsiver
gemeinschaftlicher Gruppenkollektive (Zünfte, Gilden oder Professionen),
und das externale Wissen steht in eindeutiger Affinität zu
formal-bürokratischen und hochtechnisierten Organisationen.
2. Regularitäten des historischen Wandels
Wenn man die neuere Kultur- und Sozialgeschichte unter diesem neuen
wissensmorphologischen Blickwinkel ins Auge fasst, lässt sich - in
gröbster Vereinfachung - die These formulieren, dass innerhalb der
vergangenen 500 Jahre ein Trend zur "heteromorphen Poiarisierung"
vorherrschend war.
Während im Mittelalter sowohl in der Landwirtschaft wie im Handwerk,
in der Kunst wie in der Wissenschaft, Erziehung und Religion das
"informelle Traditionswissen" dominiert hat (welches für die
ständische Differenzierung ebenso wie für die Familienzentrierung und
die lokale Segmentierung der Gesellschaft mitverantwortlich war), so
lässt sich die Zeit seit der Renaissance durch zwei scharf geschiedene,
andererseits aber komplementär aufeinander bezogene Trends
charakterisieren:
Die erstere, bekanntere Entwicklung besteht aus der Summe jener
Vorgänge der Wissensexternalisierung, die unter Begriffen wie
"Verschulung", "Bürokratisierung",
"Mechanisierung", "Automatisierung" und neuerdings
"Informatisierung" subsumiert werden und allesamt darauf
ausgerichtet sind, implizites informelles Traditionswissen durch
expliziteres, personenunabhängigeres, der institutionellen Kontrolle und
Weiterentwicklung besser zugängliche Wissensbestände zu ersetzen.
In der Sozialwissenschaft haben diese Prozesse, in denen man die
Hauptursachen für die tiefgreifenden sozio-ökonomischen und kulturellen
Wandlungen der letzten paar Jahrhunderte sieht, in verschiedenen
einflussreichen Theoriekonzepten ihren Niederschlag gefunden:
in der marxistischen Vorstellung, dass industrielle
Organisation und Maschinentechnologie traditionelles Handwerkswissen
überflüssig mache und den Arbeiter zum unqualifizierten,
austauschbaren Proletarier degradiere; im Konzept des "Taylorismus", wo explizit das Ziel
statuiert wird, das bisher von den Arbeitern privat (bzw.
gruppenmässig verwaltete) informelle Produktionswissen mittels
schriftlicher Explikation in den Kollektivbesitz des Unternehmens zu
überführen; im Idealtypus der auf gesatztem Recht, formalen Regeln und
schriftlichen Akten basierenden bürokratischen Herrschaft, in
der sich gemäss Max Weber die rationalistischen Maximen des Okzidents
ihren gesellschaftlich verbindlichsten und wirkungsvollsten Ausdruck
finden.
Bezeichnenderweise haben praktisch alle progressivistischen
gesellschaftstheoretischen Entwürfe an diesen Externalisierungsprozessen
festgemacht: in der richtigen Einsicht, dass nur externale
Wissensbestände einer nach oben hin offenen Anreicherung und
Weiterentwicklung zugänglich sind, während z. B. das Intuitions- und Erfahrungswissen infolge seiner Personengebundenheit immer auf demselben
niedrigen Niveau verharrt. In diesem Sinne hat etwa der Fortschrittsoptimismus
der Aufklärung in die Erziehung und schulische Bildung des Menschen
beträchtliche Hoffnungen gesetzt, während der Begriff "Industriegesellschaft"
die im wirtschaftlichen Produktionsbetrieb sichtbare Kombination aus
Organisierung und Technisierung ins Zentrum rückt, und mit dem aktuellen
Konzept "Informationsgesellschaft" die Vorstellung
verbunden ist, dass der aktuelle und künftige Wandel in Wirtschaft,
Kultur und Gesellschaft auf der Digitalisierung des Wissens (d.h. seiner
Ueberführung in einen völlig externalen und fungiblen Aggregatzustand)
basiere.
Der gegenteilige Trend zur Informalisierung und Personalisierung des
Wissens manifestiert sich vor allem in der hohen gesellschaftlichen
Bedeutung von Funktionsgruppen, die - wie z. B. Unternehmer oder
Intellektuelle (aber auch Erfinder, Entdecker und Pioniere aller Art) -
ihre Fähigkeiten zumindest nicht primär auf formale
Bildungsqualifikationen abstützen, sondern auf diffuse idiosynkratische
Talente und Begabungen, die nicht planmässig erzeugbar oder
interpersonell übertragbar sind.
Besonders drastisch zeigt sich dieser Internalisierungsprozess am
Beispiel der bildenden Kunst, die bis ins Spätmittelalter als ein
regulär erlernbares und zunftmässig kollektiviertes Handwerk galt, seit
der Renaissance - und in verabsolutierter Form seit der Romantik - aber
als eine individualisierte Aktivität betrachtet wird, in der sich das
unverwechselbare schöpferische Genie des einzelnen Werkautors
manifestiert.
Parallel dazu hat sich auch bei sozialen Berufen die Auffassung
durchgesetzt, dass z. B. die Qualität und Wirksamkeit von Erziehern,
Lehrern, Seelsorgern, Militäroffizieren, Sozialarbeitern oder
Sterbebegleitern höchstens in lockerem Masse mit ihrer Formalbildung zu
tun habe, sehr viel mehr hingegen mit Faktoren persönlicher Ausstrahlung,
intuitiver Einfühlung oder charakterlicher Integrität, die an der
partikulären Persönlichkeit haften und nicht ex ante erlernt und
abgeprüft werden können, sondern bloss ex post (d.h. im Rahmen der
Rollentätigkeit) in Erscheinung treten.
Während die Informalisierung der kulturellen Berufe viel damit zu tun
hat, dass institutionelle Normierungen (z. B. über die ästhetische
Gestaltung von Bildwerken) verschwunden sind und ein Zwang zur andauernden
Originalität und innovativen Kreativität überhand genommen hat, so
hängt die Subjektivierung sozialer Berufe damit zusammen, dass die
betreuten Individuen zunehmend als autonome (und damit: unberechenbare)
ALTER EGO's mit je einzigartigen Charaktermerkmalen, Fähigkeiten und
Entwicklungspotentialen in Rechnung gestellt werden - anstatt wie früher
als Subjekte, die mit standardisiertem Drill in eine ganz bestimmte
kulturelle Tradition einsozialisiert werden sollen.
Ebenso zeigt sich darin, dass trotz (oder vielleicht wegen?) der
Entfaltung der Humanwissenschaften weniger als jemals an deterministische
Theorien menschlichen Verhaltens geglaubt wird, auf die sich profesionelle
Erzieher oder Therapeuten abstützen könnten: mit der Folge, dass man
Waisenkinder lieber in beliebigen Pflegefamilien als in Heimen mit
Spezialpersonal unterbringt und man Drogensüchtige lieber dem
Dilettantismus ihrer Wohngemeinde ausliefert anstatt sie in
Spezialanstalten professionellen Heilverfahren zu unterziehen.
Ein Blick auf neueste Reorganisationsentwicklungen im
Unternehmensbereich zeigt, dass analoge Informalisierungen auch - ja
gerade - in sehr moderne Zweige wirtschaftlicher Produktion eindringen. So
verschiebt sich bei "lean production" das qualifikatorische
Anforderungsprofil erheblich zu jenen Sozialkompetenzen und
Personalqualifikationen, wie sie für eine produktive Kooperation in
selbständigen Arbeitsteams und für den flexiblen Umgang mit Kunden und
Lieferanten unverzichtbar sind. Dies hat erwiesenermassen dazu geführt,
dass Arbeitgeber bei der Auswahl von Lehrlingen eher auf deren
persönliches Auftreten, familiäres Umfeld und soziale
Freizeitaktivitäten als auf Schulzeugnisse oder berufsbezogene
Vorqualifizierungen achten.
3. Die prekäre Mittelposition des formalen Bildungswissens
Während im Gefolge von Verwissenschaftlichung, Technisierung und
Informatisierung einerseits die externalen Wissensbestände beschleunigt
anwachsen, scheint andererseits die - gerade durch diese genannten
Prozesse herbeigeführte - zunehmende Expansivität, Komplexität und
Dynamik der aktuellen Gesellschaft zu bewirken, dass informelle
Traditions- und formelle Bildungswissen zugunsten von Intuitions- und
Begabungswissen relativ an Bedeutung verliert.
Diese (vergleichsweise) Zweitrangigkeit des Bildungswissen manifestiert
sich beispielsweise darin, dass es neben den Aerzten und Juristen nur
wenigen Berufen gelungen ist, sich im Vollsinne als
"Professionen" zu etablieren: d.h. als Gruppen, die allein
aufgrund formaler Bildungsqualifiation einen Alleinvertretungsanspruch
über ein bestimmtes Aufgabenfeld durchsetzen können.
Bei den meisten andern höherqualifizierten Berufen (z. B. Lehrern,
Ingenieuren, Apothekern u.a.) handelt es sich um
"Semi-Professionen", die ihren Status in einem
"Zweifrontenkrieg" gegen erodierende Einflüsse verteidigen
müssen:
1) gegen Uebergriffe von "Dilettanten" (z.B.
"Quacksalber"), die behaupten, auch ohne Formalbildung (z. B.
aufgrund von Talent, Erfahrung oder informellem Wissen) dieselben
Leistungen gleich gut (oder gar besser) erbringen zu können.
2) gegen noch viel unausweichlichere
Tendenzen zur Routinisierung und
Technisierung, durch die formales Bildungswissen überflüssig wird. So
sehen sich z. B. die Apotheker nicht nur von jenen Kräuter- und
Wunderheilern bedroht, die volkskulturell oder pseudoreligiös verankerte
Rezepte verwenden, sondern noch viel fundamentaler durch die
Pharmaindustrie, die sie dazu disqualifiziert, zu blossen Verteilstellen
vorgefertigter Präparate zu werden und den Klienten Ratschläge
mitzugeben, die auch - dazu noch viel zuverlässiger - auf der
Packungsbeilage lesbar sind.
Von manchen Berufsgruppen (z.B. Revisoren und Informatikern) ist in
Fallstudien dokumentiert, dass sie ihre Professionalität paradoxerweise
durch die Ergebnisse ihrer eigenen Tätigkeit unterminieren: z. B. indem
sie all ihr Wissen in leicht handhabbare Computerprogramme einspeichern,
die nachher von Personen mit viel niedrigerer Qualifikation benutzt werden
können.
Verständlicherweise setzen manche Experten der Entwicklung sogenannter
"Expertensysteme" Widerstand entgegen, die zum Ziel haben, das
von ihnen persönlich akkumulierte Erfahrungs- und Traditionswissen
digital zu externalisieren, um es einer systematischen Integration mit dem
Wissen anderer Experten und einer weltweiten niederschwelligen
Zugänglichkeit (ohne teure Honorarforderungen) entgegenzuführen.
An diesem letzteren Beispiel wird - wie schon beim obigen Hinweis auf
den "Taylorismus" deutlich, dass es nicht nur funktionale
Problemerfordernisse, sondern auch soziale Machtkämpfe sind, die auf den
Wandel unserer Wissensstrukturen (bzw. die daraufhin zielenden Strategien)
einen bestimmenden Einfluss haben.
Last update: 02 Feb. 15 |
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