Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Gesetzmässigkeit im Kunstwerk

ex: LOGOS. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, herausgegeben von Richard Kroner und Georg Mehlis, Band VII, 1917/18, Heft 3, S. 213-223, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)

Es ist dem Menschen nicht gegeben, aus der einfachen Wirklichkeit seiner Natur, aus seinen triebmässig entfalteten Kräften heraus zu leben; zu schmal fühlt er die Basis seiner Existenz, zu dunkel und zufällig sein Verhältnis zur Welt, zu voll von Widersprüchen die Elemente des eigenen Innern.

Er kann nicht ohne den Halt leben, den Gesetze, oberhalb und in dieser Wirklichkeit erschaut, ihm bieten.

Gesetze in dem doppelten Sinn: dass sie der Wirklichkeit ihr Verhalten bestimmen, Naturgesetze, die eine innere Klammer der Elemente, eine Gewähr für Begreiflichkeit und Berechenbarkeit bedeuten und das unausweichliche Schema der Verläufe; und andere, die diesen Verläufen als Normen, als Gesolltes, wenn auch vielleicht niemals rein Verwirklichtes, gegenüberstehen; die einen die reale Notwendigkeit, die anderen die ideale aussprechend.

Auch das Kunstwerk, als ein Erzeugnis natürlicher Kräfte angesehen, steht uns unter jener Naturgesetzlichkeit alles Wirklichen.

Aber nicht nur sie entspricht nicht dem eigentümlichen Gefühl von Notwendigkeit, mit der das Kunstwerk uns trifft.

Sondern auch nicht ohne weiteres erschöpft die andere, die ideale, dieses Gefühl; so einfach es in seinem unmittelbaren Gefühltwerden ist - vor der Forderung des Begriffenwerdens zweigt es sich in Elemente auseinander, deren Eigenart, deren Verwebungen in sich, deren Verhältnis zu anderen grossen Gestaltungen des Geistes ich zu deuten versuchen will.

Die ideale Notwendigkeit enthält das, was wir als die Idee, als die innerlich aufsteigende Vision des Künstlers vorzustellen pflegen, die das fertige Kunstwerk in grösserer oder geringerer Vollkommenheit nach aussen hin offenbart; oder auch eine Norm, die ihm unmittelbar gilt, wie es unabhängig von der Absicht des Künstlers dasteht, und an der wir seinen Wert wie seine Mängel messen; auf sie hin sagen wir: es ist so oder es ist nicht so, wie es seinem Problem nach sein sollte.

Hier nun zeigt sich ein höchst merkwürdiges Wesen des Kunstwerks, mit dem es sich von fast all den Gebilden unterscheidet, denen wir die Lösung einer Aufgabe, Erfüllung einer Norm, Verwirklichung eines Ideals abverlangen.

An all diese nämlich - mit einer uns später wichtigen Ausnahme - tritt das Problem oder der Anspruch in irgendeinem Sinne von aussen heran, als ein Allgemeines oder wenigstens Allgemeineres, dem durch dies besondere Werk oder Tun genügt werden soll.

Die ganz prinzipielle Forderung der Heiligkeit schwebt über dem Menschen, der ihr nun durch seine personale Sittlichkeit, seine spezielle Religiosität mehr oder weniger genugtut; jede technische Aufgabe bezieht sich auf ein allgemein bezeichnetes Ergebnis, das auf vielerlei einzelne Arten gewonnen werden kann; jede Erkenntnis ist die Antwort auf eine Frage, die zuvor bestanden hat und sich an beliebig viele Individuen wendet, gleichviel ob eines von diesen die Antwort und in welchen besonderen Formen es sie findet.

Dem Kunstwerk aber ist es eigen, dass es sich sein Problem selber stellt, dass dieses nur ihm selbst, wie es als schon fertiges dasteht, zu entnehmen ist - abgesehen natürlich von technischen Anforderungen innerhalb seiner, die vor ihm bestehen mögen, aber auch zu der eigentlichen Bedeutung des Werkes als Kunst erst hinzukommen.

Es ist eine ganz irrige Übertragung von den verstandesmässig geleiteten Lebensbezirken her, wenn man das Problem des Kunstwerks als eine irgendwie allgemeine Frage oder Aufgabe ansieht, die nun von diesem einzelnen mit seiner Besonderheit, seinen Vorzügen und seinen Mängeln gelöst wird.

Hat Shakespeare etwa mit Romeo und Julia das ideale Liebespaar zeichnen wollen, Giorgione mit der Dresdener Venus eine schöne Frau darstellen, Beethoven mit dem Schlusssatz der Neunten Symphonie den abstrakten Jubel ausdrücken? All diese vielmehr haben genau nur das gegeben und geben wollen, was in seiner individuellen Einzigkeit dasteht und wenn es etwa nicht ganz geworden wäre, was der Schöpfer wollte, so ist die unerfüllte Forderung nicht eine allgemeine, sondern die grössere Vollkommenheit, Eigenheit, Vertiefung gerade dieser individuellen unvertretbaren Gestaltung.

Nur eine nachträgliche Reflexion, viel mehr literarischen als künstlerischen Wesens, kann jene Allgemeinbegriffe darüber stellen und damit die Ursprünglichkeit und Selbstgenügsamkeit der künstlerischen Vision, ihr causa-sui-Sein, abschwächen; nur auf deren allmähliches Deutlichwerden, Sichgliedern, Durcharbeiten geht die innerlich schaffende Entwicklung, was ein ganz anderer Prozess ist als der vom Allgemeinen zum Besonderen vorschreitende.

Ja, deshalb eigentlich auch ein anderer als derjenige Weg von einem vorbestehenden Problem zur Lösung, den der Gelehrte, der Techniker, der nach Zwecken handelnde Mensch geht.

Nur die grossen philosophischen Deutungen des Daseins sind sicher ihren Schöpfern als solche ungebrochene Anschauungen aufgestiegen, die dann erst, von der logischen Form ergriffen, in Frage und Antwort zerlegt wurden; hier liegt vielleicht der tiefste Unterschied des schöpferischen Denkers und Forschers von dem nur gelehrten Arbeiter.

Das Problem erwächst erst mit dem Kunstwerk selbst, für den Beschauer erst aus ihm, aus seiner unmittelbaren Anschauung heraus.

So gehört das Kunstwerk zu jenem Typus seltener Darbietungen des Lebens, die für Befriedigung eines Bedürfnisses bestimmt sind, das sie selbst erst in dem Augenblick wecken, wo ihr Dasein es befriedigt.

Die Wirklichkeit in uns und ausser uns lässt uns ihren Drang, zur Kunst erlöst zu werden, erst zugleich mit irgendwelcher Vollbringung dieser Erlösung wissen.

Ein ganz vollkommenes Seitenstück bietet vielleicht nur die Liebe und zwar merkwürdigerweise sowohl manchmal auf ihrer sinnlichsten wie auf ihrer vergeistigtsten Stufe.

Wenn sie Erfüllung eines Sehnens ist, so fühlen wir dies erst in dem Momente der Erfüllung selbst - freilich nur in den erlesenen Fällen, mit denen sie zu den Dingen gehört, die man nicht ahnen kann, bevor man sie erlebt.

Dass sie aber dennoch, wie das Kunstwerk, im Zeichen eines befriedigten Bedürfnisses, einer beantworteten Frage, einer erfüllten Forderung steht, das gibt beiden ihre Geschlossenheit, ihre Seligkeit an sich selbst.

Alles, was einfaches Geschenk des Glücks ist, was nicht einen ideell vorbestehenden Rahmen ausfüllt, ist in die Vielheit des Geschehenden, bedingt und bedingend, verwebt.

Erst wo Bedürfnis und Forderung die Gabe umschwebt und wo jene aus dieser selbst uns zuwachsen, wo aus ihrer Wirklichkeit ihre Notwendigkeit kommt, schliesst sie den Kreis in sich selbst, unbedürftig der Verknüpfung mit einem Ausserhalb, nur sie den Durst in demselben Akte erregend, in dem nur sie ihn stillt und stillen kann.

Dies ist, wie ich schon andeutete eine sehr eigenartige Tatsache.

Vor uns steht ein Gebilde, wie »vom Himmel gefallen«, die Absicht seines Schöpfers ist uns nicht mitgeteilt, wir bringen auch keine Idee oder Forderung mit, die sich gerade auf dieses bestimmte Werk bezöge und vor der es sich als befriedigendes oder ungenügendes zeigte.

Vielmehr, vor dieser einfachen Wirklichkeit des Werkes, die uns nur sich selbst bietet und jedes Kriterium von ausserhalb her ablehnt - und aus ihr allein entsteigt uns ein Anspruch daran, ein idealer Massstab, der uns das Werk für gelungen oder misslungen erklären lässt! Keine vorher gekannten, anerkannten Werte dürfen prinzipiell dies bestimmen.

An ganz Einzelnem mögen wir »Fehler« gegen allgemeine Regeln nachweisen - aber keineswegs müssen solche die Grösse des Werkes als ganzen vernichten, von der sie vielmehr umgriffen und gleichsam aufgelöst werden können.

Wie oft doch wirkte auf uns ein Kunstwerk überzeugend und beglückend, das selbst allen zentralen, sonst gültigen Normen, aller bisher unausweichlichen Gesetzlichkeit aufs krasseste widersprach! Gewiss ist dieses ideale, massgebende Gebilde, von der Realität des Kunstwerks mit der Realität des aufnehmenden Geistes gezeugt, keine bestimmt gezeichnete, neben das Werk zu stellende, normierende Anschauung.

Wir können und dürfen, wenn es uns unbefriedigt lässt, gar nicht sagen, wie positiv anders es nun hätte sein sollen; nur im Negationsgefühl, dass es so jedenfalls nicht recht ist, offenbart sich die wirksame Anwesenheit eines solchen Kriteriums.

Viel entschiedener aber in dem Falle des vollen Genügens, des vollen Beseligtseins durch ein Kunstwerk.

Hier empfinden wir, dass die Schuld an eine Idee voll bezahlt ist, ein Versprechen ganz eingelöst, das Gesetz erfüllt.

Und dennoch muss dieses Ideal, Versprechen, Gesetz etwas anderes sein, als die Tatsächlichkeit des dastehenden Werkes selbst, die jetzt mit ihm freilich übereinstimmt, aber doch auch von ihm abweichen könnte, da sonst die Übereinstimmung uns nicht beglückte, ja Voraussetzung und Material für jene überhaupt fehlte! Allerunterwertigste Werke freilich entfalten nicht einmal ein solches ideales Kriterium ihrer selbst und die Sprache bezeichnet sie deshalb zutreffend als »unter der Kritik« stehend.

Hier offenbart sich die Schwierigkeit des allzu leicht Hingesagten, dass ein Gebilde »sich selbst Gesetz« wäre; nur aus letzten Entscheidungen heraus kann sie gelöst werden.

Ich glaube den Weg dahin von der praktisch-ethischen Grundfrage her zu finden.

Fast alle Morallehren, zuhöchst die Kantische, stellen ein allgemeines Gesetz auf, das der Einzelne als Bedingung seines sittlichen Wertes und unabhängig von seiner besonderen Individualität zu erfüllen hätte.

Das Motiv ist dabei, dass die Individualität als eine gegebene Wirklichkeit erscheint, aus der das Sollen, eine ideale, nach Wirklichkeit oder Nicht-Wirklichkeit nicht fragende Forderung, unmöglich stammen könne; indem sie über dem Wirklichen als dessen Norm stünde, müsse sie deshalb ein Überindividuelles, ein Allgemeines sein.

Damit aber wird jenes fragliche Tun der Verflechtung, Kontinuität, Strömung des ganzen organischen Lebenszusammenhanges, der nur ein individueller sein kann, enthoben.

Nur die isolierten Inhalte des Tuns lassen sich durch allgemeine Begriffe, gegen das Individuum gleichgültige Gesetze erfassen.

Nur ihrem abstrakten Begriffe nach ordnet sich die Tat einem allgemeinen Gesetze unter, aber als Welle einer einheitlichen fliessenden Lebensganzheit kann sie ihr Gesolltwerden, ihre sittliche Bedeutung nicht daraus ziehen.

Soll etwas meine Pflicht sein, so ist es eben meine Pflicht; ihre Inhalte mögen noch so selbstlose oder religiöse, vernunftmässige oder soziale sein, - nur wenn mein individuelles Leben sie als sein Sollen, als das was ihm als ganzem obliegt, aus sich entwickelt, können sie als sittlicher Anspruch von letzter Innerlichkeit gelten.

Damit das aber möglich sei, muss jene verhängnisvolle Verbindung zerschnitten werden, an der die Moralphilosophie und vielfach, vielleicht davon abhängig, die Kunstphilosophie unbefangen und, wie mir scheint, nicht gerade auf Grund besonderer Blickschärfe festhält: dass alle Forderung, auf Verwirklichung von Werten gerichtet, sich oberhalb alles Individuellen, in die Allgemeinheit eines Gesetzes zu stellen habe, da die Individualität eine blosse Tatsache sei, von der man sozusagen abwarten müsse, was sie darbiete.

Dies aber scheint mir ein Grundirrtum.

Vielmehr, über jeder besonderen menschlichen Existenz oder in ihr steht, wie mit unsichtbaren Linien vorgezeichnet, ein Ideal ihrer, ein So-Sein-Sollen.

Die Norm, deren Befolgung ihr sittlichen Rang erwirbt und, auch unbefolgt, allein erwerben würde, ist mit ihrer Beschaffenheit genau so gegeben, wie ihr tatsächliches Leben gegeben ist.

Nur die einheitliche individuelle Ganzheit meines Lebens kann bestimmen, wie ich mich zu verhalten habe.

Das Entscheidende ist hier, dass der Mensch wie er ist, zugleich das Gesetz enthält, wie er sein soll, dass sein Leben allenthalben von einem idealen und fordernden Bilde seiner selbst begleitet wird, das aus seinem individuellen Wesen genau so entspringt, genau so dadurch bestimmt wird, wie die vielleicht davon ganz abweichende Wirklichkeit dieses Lebens.

Jede tiefere Moral beurteilt nur und immer den ganzen Menschen insoweit er die Tat vollbracht hat, nicht die Tat als allgemeinen Begriff, insofern sie von diesem, im übrigen gleichgültigen Menschen vollbracht ist.

Wenn wir einen Menschen ansehen, so wissen wir nicht nur wie er ist, sondern zugleich wie er seinem Wesensgesetz nach sein sollte - freilich dunkel, fragmentarisch, irrend genug, aber irgendwie sehen wir es und sind sicher, dass ein göttliches Auge seine Individualität in beiden Formen lückenlos erblicken würde.

Darum, dass die sittliche Gesetzmässigkeit für uns ein individuelles Gesetz bedeutet, steht sie nicht weniger streng und souverän, als ein allgemeines und äusseres Gesetz es könnte, über der Wirklichkeit des individuellen Subjekts, deren Werte und Mängel sich an jenem messen.

Hierin sehe ich eine geistige Form von der ungeheuersten Bedeutung für das gegebene und das zu gestaltende Bild der Menschen und der menschlichen Dinge.

Über der Wirklichkeit des Menschen, seines Tuns, seines Werkes, schwebt, wie aus der gleichen Wurzel in überragendere Höhe getrieben, das Bild dessen, was all dieses sein soll; ein Gesetz, durch Befolgtheit oder Nicht-Befolgtheit nicht in seiner Verbindlichkeit betroffen, wird der tatsächlichen Erscheinung nicht nur von aussen, einem wie idealen und vergeistigten Aussen auch immer, auferlegt, sondern ersteht als eine Funktion ihres gelebten Lebens selbst.

Sehen wir nun, dass das Kunstwerk, jede Normierung durch eine vorbestehende dogmatische Regel ablehnend, seine Freiheit gegen jede Forderung ausserhalb seines eigenen Wollens behauptend, sich dennoch einer idealen Notwendigkeit gegenübersieht: so zu sein und so nicht zu sein - so hat die ethische Analogie dieses Rätsel vielleicht nicht gelöst, aber doch als einem durchgehenden Typus unseres geistigen Verhaltens zugehörig erkannt, der in seiner Tiefe überhaupt nicht durchleuchtet, sondern nur als eine letzte Tatsache anerkannt werden kann.

Diese Beurteilung vollzieht der Beschauer nicht etwa als subjektives Gefallen oder Missfallen; obgleich mit diesem oft gemischt, hat sie doch den ganz anderen Ton: von einer objektiven Norm, einem als Gesetz wirkenden Ideal der Sache selbst her, so schwankend, unbewusst, unbeweisbar sie auch sein mag.

Wie dies der Gegensatz zwischen aller politisch-juristischen Gesetzgebung und der sittlichen ist: dass jene etwas Allgemeines und Äusserliches von den Menschen fordert, diese aber - ihn selbst, wie er als der gesollte, ideelle, über seine Wirklichkeit, und nur über seine, hinauswächst, so scheidet dies auch alle im weitesten Sinne technischen Ansprüche an das Kunstwerk von den nur rein künstlerischen: wo immer eine Normierung, die ihren Ursprung und ihre Legitimation ausserhalb eben dieses Kunstwerks hat, daran herangebracht wird, ist sie schliesslich technischer Natur oder überhaupt ausserkünstlerischer: literarischer, ethischer, religiöser Art; das wirklich nur künstlerische Kriterium ist ein individuelles Gesetz, das aus der Kunstleistung selbst aufsteigt und als ausschliesslich ihr eigene ideale Notwendigkeit sie zu beurteilen dient.

Der Anspruch der Kunst als solcher: nur aus sich selbst, als Kunst, nicht von einem Ausserhalb her, verstanden und beurteilt zu werden, kanalisiert sich hier auf das einzelne Kunstwerk hin.

In dieser Notwendigkeit aber liegt ein weiteres Problem verborgen.

Welchen Sinn kann es eigentlich haben, dass nach einem künstlerischen Gesetz ein Werk »anders« hätte sein sollen, als es tatsächlich ist, dass es eine andere Notwendigkeit als die seiner Wirklichkeit hat? Der Sprachgebrauch führt uns allzuleicht darüber hinweg, dass ein verändertes Gebilde ja gar nicht als »dasselbe«, das nur »anders geworden« wäre, dasteht, sondern ein anderes.

Schneide ich von einem Dreieck eine Spitze durch eine Gerade ab, so sehe ich ein Viereck, aber nicht ein Dreieck, das verändert wäre, färbe ich einen weissen Gegenstand schwarz, so ist nicht ein veränderter weisser, sondern ein schwarzer Gegenstand da - die Substanz aber, die unter diesem Farbwechsel beharrt, ist überhaupt nicht geändert, sondern einfach identisch geblieben.

Dies gilt für alles Unorganische.

Seine Phasen sind entweder schlechthin gleich oder schlechthin nicht gleich, und wo es aus mehreren Elementen besteht, bedeutet Veränderung nicht, dass ein Kern zwar beharrt, aber doch »sich« geändert hätte, sondern die volle Identität gewisser Elemente und die volle Ungleichheit anderer.

Nur die organischen Wesen verhalten sich nicht so.

Das Lebendige ist das Gebilde, das »anders« sein könnte und in dem doch »derselbe« Träger, dasselbe Ich lebt.

Darum ist es - von dem letzten ethisch-metaphysischen Kriterium her, jenseits des praktischen Phänomens - ganz sinnlos, von der einzelnen, ihrem Inhalt nach für sich betrachteten Tat, sittlich zu verlangen, dass sie »anders« hätte geschehen sollen; dann wäre es eben eine andere und nicht dieselbe, die doch anders wäre.

Nur wenn wir sie nicht mehr als isolierte und deshalb dem mechanischen Gesichtspunkt unterstehende ansehen, vielmehr als Pulsschlag der einheitlichen kontinuierlichen Lebensströmung, kann man so sprechen.

Denn dann hiesse es, dass der ganze Mensch ein anderer sein sollte - und das kann er und eben nur er, ohne seine Identität mit sich selbst zu verlieren, und dann wäre freilich nicht die eine, sondern die andere Tat vollbracht worden, und da in beiden der ganze Mensch lebt, wäre nun der Ausdruck, die Tat hätte anders sein sollen, gerechtfertigt.

Und wiederum ist es die Analogie mit diesem Wesen des Lebendigen, die uns die Schwierigkeit dem Kunstwerk gegenüber, dass es gemäss seinem idealen Gesetz »anders« sein sollte, auflösen hilft.

Dem ganz schlechten leblosen Kunstwerk gegenüber fordern wir das nicht.

Wir verwerfen es ganz und gar, ihm ist durch Änderung nicht aufzuhelfen.

Wo aber ein Werk, durch wie viele Mängel auch immer hindurch, von einem wirklichen Leben durchseelt ist, da entsteigt ihm, gerade wie der Gegebenheit eines Menschen selbst, jenes eigentümliche ideale Gebilde, aus dem Unbewussten heraus wirksam: das Gesetz eben dieses individuellen Werkes, das uns von diesem, sobald es ein vollendetes ist, sagen lässt, es hätte seine Idee voll realisiert; und in anderen Fällen, es sei nicht ganz das, was es zu werden bestimmt sei.

Hier besteht dieser Begriff des Anders-Seins, Anders-gewünscht-Werdens zurechte, als die nur an organischen Gebilden erlebbare Einheit von Gleichheit und Ungleichheit; denn mit jener Idee des Werkes beharrt in ihm ein Identisches und doch Variables; dieses Gleichnis des Lebendigen hebt den Widerspruch auf, dass etwas ein anderes sei und sein soll und doch dasselbe ist.

Die geheimnisvolle Fähigkeit des Organismus, in der Veränderung zu beharren, überträgt sich auf das Werk des Menschen und am vollkommensten auf das Kunstwerk, weil dies seine Lebendigkeit am vollkommensten in sich aufnimmt, und gibt diesem Recht und Pflicht, die ideale Gesetzmässigkeit über sich zu entfalten und sich ihrer Norm unterzuordnen.

Wie nun verhält sich diese Gesetzmässigkeit zu der anderen, die dem Kunstwerk als Wirklichkeit aus den Zusammenhängen der wirklichen Welt, durch Naturgesetze geleitet, zukommt? Das so Notwendige bezeichneten frühere Jahrhunderte als das Zufällige.

Denn seine Notwendigkeit heisst: Abhängig-Sein von einer gegebenen Bedingung, an die es nach einem bestimmten Gesetz von Ursache und Wirkung geknüpft ist.

Wo diese Bedingung nicht gegeben ist, tritt auch ihr Erfolg nicht ein, dieser ist also nicht unbedingt notwendig, nicht aus sich selbst, sondern aus etwas anderem, das da sein oder nicht da sein kann; im Letzten also ist er zufällig.

Dies ist die natürliche, nur relative Notwendigkeit jedes Stückes Wirklichkeit, auch des Kunstwerks - aber eben doch nur insoweit es als Naturgegebenheit, in der räumlichen und dynamischen Verflechtung alles Daseins, angesehen wird.

Sein Wesenssinn als Kunstwerk wird davon nicht angerührt; denn dieser, als blosser Anschauungsinhalt, ist ein geistiges Gebilde, ist dasjenige an dem Stück Marmor oder der farbigen Leinwand, was im Gedächtnis der Menschen weiterbestehen kann, auch wenn seine physische Wirklichkeit längst zerstört ist (es kann vergessen werden, aber nicht vernichtet) - damit beweisend, dass auch, solange diese Wirklichkeit besteht, eben das untastbar, aber auch unantastbar Geistige an ihm das Kunstwerk als solches ausmacht, nicht aber das, was entstehen und vergehen kann.

Nur über diesem letzteren aber steht das Naturgesetz, von dem das Kunstwerk also nicht berührt wird.

Nun hat man aber in den Zeiten der theologischen Spekulation über jene kausale Notwendigkeit hinaus, die also im Grunde eine zufällige ist, eine andere, eine absolute Art des Notwendigseins gesucht, da mindestens dem göttlichen Wesen eine solche zukomme.

Und man fand sie in der Formulierung: die Existenz Gottes sei deshalb notwendig, weil seine Nicht-Existenz einen Widerspruch gegen seinen eigenen Begriff bedeuten würde; man könne ihn nur als das allervollkommenste, gleichsam alles Dasein in sich bergende Wesen denken.

Nun aber sei ein existierendes Wesen doch vollkommener, enthalte mehr Realität in sich, als ein nicht existierendes.

Gott müsse also aus logischer, begrifflicher Notwendigkeit heraus existieren, wie man etwa einen Gegenstand, den man als einen körperlichen denke, nicht als unräumlich vorstellen könne, ohne einen unausdenkbaren Widerspruch zu begehen.

Lassen wir nun die Triftigkeit dieses »Beweises für die Existenz Gottes« dahingestellt, so zeichnet er jedenfalls die Form vor, in der sich eine nicht kausale Notwendigkeit auch des Kunstwerks darstellt.

Seine Existenz freilich ist nur so relativ notwendig, wie die aller physischen Dinge unter Naturgesetzen, aber sein So-Sein ist nach seiner aus ihm selbst herausfühlbaren Idee, seinem Problem, seiner Norm, wie wir sahen, notwendig, nicht äusserlich, auf etwas anderes hin, wie alles kausal bestimmte Physische, sondern von innen her, durch sich selbst.

Es liegt in seinem eigenen Begriff, dass es - seine Vollendung vorausgesetzt -gerade so sein muss, - wie es in jenem Begriff Gottes liegt, dass er existieren muss.

Und dies Gefühl, dass es nur von sich selbst, nur von seinem selbstgestellten Problem abhängig ist, oder: dass aus ihm selbst das Problem hervorleuchtet, infolgedessen es, wenn es einmal da ist, eben nur so, eben nur diese Lösung sein soll oder kann - das erfassen wir als seine Notwendigkeit, d. h. als seine Unabhängigkeit von allem, was nicht es selbst ist.

Alles dies gilt ersichtlich nur in dem Masse, in dem es sein Problem, das für uns aus ihm selbst aufsteigt und sich gewissermassen vor das Werk selbst stellt, auch wirklich gelöst hat.

Sobald das angedeutete Verhältnis eintritt: dass zwar sein Problem aus ihm fühlbar, dieses aber nicht nach allen Seiten hin mit ihm gelöst ist, Problem und Werk also irgendwie auseinanderfallen - so fehlt die volle Notwendigkeit, und es ist, nach diesen inadäquaten Seiten hin, zufällig.

Denn nun sind diese Seiten nicht aus ihm selbst, wie es in der Form des Problems vorbesteht, sondern aus irgendwelchen anderen Wurzeln oder Motiven erwachsen.

Als Realitäten oder psychologisch bleiben sie naturgesetzlich notwendig, künstlerisch sind sie es nicht mehr, weil das Kunstwerk, insoweit sie an ihm bestehen, nicht causa sui ist.-

Angesichts der Möglichkeit, dass dem Problem oder der Idee des Kunstwerks seine verschiedenen Teile oder Seiten in verschiedenem, oft ganz entgegengesetztem Masse entsprechen, müssen wir uns jene als eine Einheit denken, der das wirkliche Kunstwerk mit einer Vielheit von Faktoren gegenübersteht.

Diese Vielheit seiner Wirklichkeit von Farben, Tönen, Worten, Formen muss also für sich in einer bestimmten Weise organisiert sein, um jene Einheit zum Ausdruck zu bringen, d. h. also, um die Notwendigkeit, wie sie ideellerweise aus dem Verhältnis der Elemente quillt, auch anschaulich, unmittelbar fühlbar zu machen.

An der Mannigfaltigkeit der Teile, in die das Kunstwerk ausgedehnt ist, realisiert sich die Notwendigkeit als Gesetzmässigkeit, die einer dem anderen auferlegt.

Wir empfinden, dass, wenn der eine Teil einmal in seiner bestimmten Weise gesetzt ist, der andere gleichfalls nur in einer bestimmten Weise und keiner anderen dastehen dürfte.

Dazu bedarf es eben gewisser, diese Relation normierender Gesetze, etwa: Gleichheit und Symmetrie der Teile, Entgegengesetztheit und gegenseitige Ergänzung, durchgängiger Rhythmus, Spannung und Lösung, Steigerung und Senkung, Einheit des Grössenmasses, Beharren oder angemessener Wechsel der Stimmung - kurz alle möglichen psychologischen und sachlichen Verbindungsnormen, die an die eine Teilgestaltung die Erwartung einer anderen knüpfen, werden hier wirksam werden.

Es gehört dazu freilich der irgendwie gewonnene oder antizipierte Eindruck des Ganzen; ist dieser aber einmal da, so können wir das Verhältnis irgend eines zuerst ins Auge gefassten Teiles zu einem anderen nur so ausdrücken, dass dieser zweite notwendig so und so ist, weil der erste tatsächlich so und so ist.

Nun aber ist es das Wesen des Kunstwerks, dass dies ein wechselseitiges Verhältnis ist, d. h. dass das vorher abgeleitete Notwendige jetzt als das primäre angeschaut wird, welches seinerseits das vorher nur Tatsächliche zum Notwendigen macht.

Dies gilt nicht nur für die Künste der Anschauung.

Auch das zweite Reimwort fordert das erste, wie das erste das zweite forderte, die späteren Töne der Melodie die früheren genau so wie umgekehrt.

Da nun jedes beliebige Element des Kunstwerks als das erste, und ebenso jedes als das zweite, von jenem gesetzmässig geforderte, angesehen werden kann, so hat dadurch das Ganze den Charakter der Notwendigkeit.

Dies ist, was man den inneren Rahmen des Kunstwerks nennen könnte.

Es ist die andere mögliche Form von Notwendigkeit, die dem Werke durch kein äusseres Gesetz, sondern ausschliesslich aus ihm selber heraus auferlegt ist.

Aus der Verschlingung beider erwächst uns dem grossen Kunstwerk gegenüber das Gefühl, der Zufälligkeit des Lebens entronnen und in einem Reiche der Gesetzmässigkeit zu sein - in einem, das zugleich das Reich der Freiheit ist.

Denn wenn, wie ich zuerst sagte, es uns nicht gegeben ist, gleichsam im leeren Raum festen Fuss zu fassen, sondern unsere Realität durch jene ideelle Notwendigkeit, die wir Gesetz nennen, ihre Elemente verklammern und ihrer rastlosen Flutung die Sicherheit, dass es so richtig ist, gewinnen muss - so wird diese Notwendigkeit zur Freiheit, wenn das Gesetz über uns und das Gesetz in uns nicht ein fremd Hergekommenes ist, sondern der Sinn, den es diesem Dasein gibt, schon von vornherein in diesem Dasein lebt - als wären das Problem unserer Existenz und seine mehr oder weniger vollkommene Lösung doch nur von zwei verschiedenen Distanzen her aufgenommene Bilder eines und desselben Inhalts.

Und an diesem höchst erreichten Punkte darf man den Gedanken wagen, dass unsere Wirklichkeit und unser Gesetz - in dessen beiden Formen: des Ideals und der notwendigen Wechselwirkung unserer Elemente - nur zwei verschiedene Ausdrücke, ein zweifaches Sich-Ausleben einer tieferen Einheit sind, die wir unser Wesen nennen mögen; als wären dies die beiden Gestalten, in denen ein Tiefstes, unmittelbar nicht Auszusagendes uns bewusst wird, nicht getroffen von der Spaltung in das, was wir sind und das, was wir sein sollen, in die gegebene Summe unserer Lebenselemente und die Einheit, zu der das Gesetz ihrer Wechselwirkung sie verwebt.

Vielleicht ist das Erschütterndste am Kunstwerk, dass wir an ihm ein Symbol dieses letzten Geheimnisses unser selbst besitzen: ein objektives Gebilde, dessen Wirklichkeit Idee und Gesetz, - dessen Idee und Gesetz Wirklichkeit ist, und, weil es vom Menschen selbst geschaffen ist, ein Pfand dafür, dass jenes beides, Spaltung zugleich und Sicherung gegen die Spaltung, ein Auseinanderzweigen aus unserer wortlosen Wesenstiefe ist.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
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