Georg Simmel:
Goethe und die Jugend
ex: Der
Tag, Nr. 395, 6. August 1914, Ausgabe A, Abendausgabe (Berlin)
Im Geiste der gegenwärtigen
Kultur erfährt das Bild Goethes eine eigenartige Metamorphose.
Wie uns jetzt überhaupt
das Leben als Prozess, als flutende Bewegtheit, einen überragenden
Wichtigkeitsakzent gewinnt, über alle einzelnen Inhalte hinaus, die es trägt
- so scheint es, als würden uns allmählich die einzelnen Werke Goethes
weniger bedeutsam als sein Leben; nicht gerade im Sinne einer Biographie,
die dessen äußere Erscheinungen aneinander reiht, sondern als Bild einer
ganz einzigen Weite, Tiefe und Dynamik der Existenz, eines reinsten
Auslebens der inneren Spannkräfte und ihres Verhältnisses zur Welt,
einer Vergeistigung eines unerhörten Umkreises der Wirklichkeit.
Dass man es »einzig«
nennen darf - das hat einen gewissen inneren Widerspruch zu überwinden.
Denn gerade Goethes Dasein
war das schlechthin typische Menschenleben, es ist die Nachzeichnung der
Idee Mensch in den reinsten Linien; seiner Entwicklung gegenüber
empfinden wir anderen unser Leben, als ob es durch lauter äußere Zufälligkeiten
und innere Lücken und Übertriebenheiten fortwährend von der
eigentlichen einfach natürlichen, unserem echten Menschenwesen
eingeborenen Richtung und Periodik abgebogen wäre.
Seine Jugend, sein
Mannesalter, sein Greisentum scheinen jenseits aller einzelnen Inhalte,
jenseits vielleicht auch der an diesen haftenden Unvollkommenheiten,
gerade als solche Stadien unserer Entwicklung überhaupt schlechthin
vollkommen zu sein; rein als die Perioden des allgemeinen Naturprozesses:
Menschenleben - angesehen, zeichnen sie gleichsam die Formen des allmählichen
Sich-zu-Ende-Lebens mit einer unvergleichlichen Typik und Klarheit.
Aber wenn wir diese
Entwicklung mit wenigen Strichen umrissen haben werden, wird sich zeigen,
dass gerade die entscheidenden Züge der Jugend noch eine, über die ihnen
vorbehaltenen Jahre hinausgehende Bedeutung für die Ganzheit seines
Lebens besitzen.
Goethes Jugend ist durchaus
von dem Ideal geführt: seine Existenz rein als Existenz zu möglichster Höhe,
Stärke, Vollkommenheit zu entwickeln.
Gewiss ist er von
vornherein den Dingen und den sachlichen Aufgaben selbstlos und begeistert
hingegeben; aber zum Grunde liegt die Leidenschaft, durch all diese Äußerungen
seiner Persönlichkeit und deren Rückwirkung auf eben diese ein Leben zu
gewinnen, das rein als Leben, als diese rastlose individuelle Bewegtheit
sich zur Vollendung hebe.
Als »Übung« betrachtet
er damals alles, was er überhaupt tut; an den ihm nächsten Menschen
schreibt er, wie er diesem selbst sagt, immer nur von sich selbst: denn »mir
inwendig ist zu tun genug; von Dingen, die einzeln vorkommen, kann ich
nichts sagen«.
Von dem bloßen Gefühl
seines Daseins bekennt Werter sich erfüllt, so dass er seine sachlichen
Aufgaben darüber aus den Augen verliere.
Begreiflich genug ist die
Formel dieser Jugend: »Gefühl ist alles«.
Kaum ist der Götz
erschienen, so kränkt es ihn, dass zu viel Gedachtes darin wäre, dass er
nicht genug aus dem Gefühl, auf das alles ankäme, gequollen sei.
Mit 24 Jahren sieht er die
Vollendung seiner künftigen Lebensarbeit nicht von sachlichen Motiven,
nicht von der Bewegungskraft irgendwelcher Inhalte abhängig, sondern von
seiner »Lebhaftigkeit« und seiner »Liebe«.
Die unzähligen Male, wo er
in diesen Jahren von Gefühl und Gefühlen spricht, ist dies immer nur der
subjektive Reflex seiner Lebensbewegtheit als ganzer, alle benennbaren
Erlebnisse sind nur die Gelegenheitsursachen, an denen die rein inneren,
rein funktionellen Schicksale dieser Existenz, die Flutungen und Überflutungen
hervorbrechen, die die Entwicklungsnotwendigkeiten seines nur auf sich hörenden
Lebens sind.
Alles dies aber ist doch
die Formel der Jugend überhaupt.
Denn will man deren Polarität
gegen das Alter an den letzten Kategorien unserer Existenz ausdrücken, so
sind es diese: dass in der Jugend der Prozess des Lebens das Übergewicht
über seine Inhalte hat, im Alter aber die Inhalte über den Prozess.
Die Jugend will vor allem
die drängenden Kräfte ausleben, relativ gleichviel woran, die gesammelte
Potentialität des Lebens will ihre Spannungen lösen, will sich zunächst
nur ihres eigenen Daseins, ihrer eigenen Lebendigkeit gewiss machen.
Darum ist ihr die
Eigenbedeutung der Dinge noch fremder, fehlt ihr die objektive Wertung der
Lebensinhalte.
Diese aber tritt hervor,
sobald jene alles überrauschende Eigenströmung des Lebens sich
verlangsamt, sobald der Prozess des Lebens schwächer wird; in eben diesem
Maße wird uns der Sachgehalt der Dinge als solcher wichtiger, das Ich
expatriiert sich gleichsam und lebt in den übersubjektiven, der
Lebensflutung enthobenen Bildern und Wertungen seiner Inhalte.
Niemand hat uns diese
Stadien mit solcher gleichzeitigen Reinheit und Dynamik vorgelebt wie
Goethe.
Niemals ist jenes tiefste
Naturgesetz der Jugend, dass das Leben ihr mehr ist als seine Inhalte, und
ihr daraus folgendes Ideal: das lebendige Dasein zur Vollendung zu
steigern, statt irgendeiner seiner benennbaren Einzelheiten - mit solcher
Tiefe und Anschaulichkeit verkörpert worden.
Vielleicht liegt hier die
Basis einer Überzeugung Goethes, die für die Lebensanschauung überhaupt
und für die Pädagogik im besonderen höchst wesentlich ist: dass die
Jugend, vom frühesten Kindesalter an, keineswegs nur daraufhin angesehen
werden darf, was einmal aus ihr werden wird, sondern dass jedes Stadium
des Lebens ein in sich Abgeschlossenes, eigen-einziger Vollendung Fähiges,
einer nur für eben dieses Stadium gültigen Forderung Unterworfenes ist.
Eine »glückliche« Beschränkung
der Jugend, ja der Menschen überhaupt nennt er es, dass sie sich »in
jedem Augenblick ihres Daseins für vollendet halten« könne.
Wie und weil ihm das Leben
seinen Zweck nicht irgendwie außerhalb seiner selbst, sondern in sich
selbst hat, so hat ihn auch jede Periode nicht in einer anderen Periode,
sondern in ihrem eigenen, besonderen Vollendetsein.
Der Zweck des Lebens, sagt
er ausdrücklich, ist das Leben selbst.
Für die Bedeutung, die das
Prinzip der Jugend für ihn hatte, sind, wie sich noch zeigen wird, die Äußerungen
dieses Sinnes höchst wichtig, so dass ich noch einige anführe: »Das Tun
interessiert, das Getane nicht.« »Die Lebensbeschreibung soll das Leben
darstellen, wie es an und für sich und um sein selbst willen da ist. Dem
Geschichtsschreiber ist nicht zu verargen, wenn er sich nach Resultaten
umsieht; aber darüber geht die einzelne Tat sowie der einzelne Mensch
verloren.« »Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein
Resultat desselben an.«
Solche aus ganz
verschiedenen und späten Jahren stammenden Sätze muss unser Gedankengang
festhalten, wenn er nun zu Goethes großer Wendung von der Jugend zum
Alter gelangt, die das mit alledem ausgesprochene Prinzip der Jugend: die
Prärogative des Lebensprozesses vor seinen Inhalten - unmittelbar zu
verleugnen scheint.
Spätestens nach der
italienischen Reise ist Goethes Jugendideal: die Vollendung der persönlichen
Existenz, das höchste und reinste Ausleben und Gestalten des Ich - in die
objektiven Ideale: des Handelns (als Schaffen wie als Wirken) und des
Erkennens übergegangen.
Und entsprechend verläuft,
für sein eigenes Bewusstsein, sein Leben nicht mehr unter der Ägide des
Gefühls, diesem eigentlichen Reflex unseres subjektiven Seins, sondern
wird von Willen und Verstand geführt.
Von der »gebändigten
Selbstigkeit« seines höheren Alters spricht er, mit der er nun erst den Gegenständen
»das gebührende Recht widerfahren lasse«, von dem Zurücktreten des
Gefühls, dem gegenüber es für ihn nur noch »Wort und Tat« gäbe; ja
selbst innerhalb seiner dichterischen Produktion weicht die glühende
lyrische Unmittelbarkeit, weicht die Schöpfung als das Herausquellen
einer nur auf sich selbst hörenden Innerlichkeit - dem kühleren Stil des
Erzählenden, der ein objektives Kunstgebilde darbietet.
Der ideelle Ausgangspunkt
ist nicht mehr das Ich, als dessen Lebensschwingungen oder auch als dessen
Erlösungen das Werk geboren wird, sondern die künstlerische Norm, der
genügt werden soll, das überpersönliche Gesetz des Kunstwerks.
Ja, so weit tritt schließlich
seine Entwicklung von seiner Subjektivität, von dem bloßen
Aussichherausleben zurück, dass er sein eigenes Dasein als etwas
Objektives empfindet, von sich spricht wie von einem beobachteten Dritten;
was er dachte und fühlte, war ihm ein sachliches Ereignis innerhalb des
kosmischen Geschehens wie Sonnenaufgang oder das Reifen der Früchte.1
1 Ich entnehme diese
Formulierung meinem Buche: »Goethe«. Leipzig 1913. [In: GSG 15]
Und wenn die Liebenswürdigkeit,
mit der der junge Goethe alle Welt bezauberte, in jenem vorbehaltlosen
Sichhinströmen lag, in der Offenbarung eines Lebens, das sich in jedem
Augenblick so ganz gab, wie es ganz nur es selbst war - so scheint die
Wirkung seiner Persönlichkeit im Greisenalter sich in einer fast dämonischen
Objektivität zu gründen, für die auch das Persönlichste sozusagen ein
plastischer, sachlich beurteilter Gegenstand wurde.
Während also mit jener
reinen Typik, in der die Goethische Entwicklung die Entwicklung des
Menschen überhaupt symbolisiert, die Form der Jugendlichkeit in die des
Alters überzugehen scheint, zeigt sich nun das Merkwürdige, dass die in
diesen Gegensätzen bewegte Erstreckung seines Lebens dennoch als ganze
noch einmal von jenem Gesetz der Jugend umgriffen, von ihrer eigenartigen
Dynamik durchblutet ist.
Das hiermit Gemeinte wird
durch das gedeutet, was mir als die allgemeinste Formel der Goethischen
Existenz überhaupt, sozusagen der Idee Goethe, erscheint.
Während bei der Mehrzahl
aller Menschen - bei allen nicht genialen - das subjektive Leben, insoweit
es nur seinen Trieben, seinen persönlichen Notwendigkeiten, seiner bloßen
Natur folgt, ein rein zufälliges Verhältnis zu dem objektiven Wert
seiner Erzeugnisse und Ergebnisse hat - ist es das Wunder der Goethischen
Existenz, dass in ihm jenes subjektive Leben wie selbstverständlich in
der objektiv wertvollen Produktion in Kunst, Erkennen, praktischem
Verhalten ausmündete.
Der Grundton seines Lebens
erklang in einer wunderbaren Harmonie des persönlichen Daseins und
Sichentwickelns mit dem sachlichen Bilde, mit der werthaften Gestaltung
der Dinge.
Es ist, als ob jene letzte
metaphysische Einheit der Wirklichkeit in sich und zwischen dieser
Wirklichkeit und ihrem Sinn und Wert, jene Einheit, die sich in der
erfahrbaren Welt sonst in lauter Zersplitterungen, Fremdheiten und Gegensätze
spaltet, in ihm reiner, ungebrochener und in einem weiteren Lebensumkreis
zu Worte käme als in irgendeiner sonst bekannten Erscheinung.
Seinen Kräften und
Trieben, wie sie ihm gegeben waren, der bloßen Wirklichkeit seines
Lebensprozesses, wie seine Natur ihn von innen her entwickelte, konnte er
sich überlassen, sicher, dass dieser Prozess gerade so seine wertvollsten
Inhalte hervorbringen würde, dass er gerade damit den Forderungen der
Sache wie der Idee am besten genüge.
Darum freut ihn so ganz
besonders die Bestätigung, die ihm von Schiller kommt, dass »dasjenige,
was er seiner Natur gemäß hervorgebracht habe, auch der Natur des Werkes
gemäß sei«; darum schreibt er von der italienischen Reise, er könne
alles das fast nicht bewältigen, was auf ihn eindränge - »und doch
entwickelt sich alles von innen heraus«.
Wie hätte er sonst sagen können:
»Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?« Hier liegt die Quelle
seiner ungeheuren Instinktsicherheit, oder vielmehr, dies ist sie schon
selbst: er konnte das Vertrauen zu dem bloßen, eigengesetzlichen Prozess
seines Lebens haben, dass dieser zugleich den Gesetzen seiner Inhalte genüge,
auch wenn man diese in ihrer eigengesetzlichen Objektivität, in ihrer Gelöstheit
von der erzeugenden Funktion der Persönlichkeit ansah.
So hat er sich bis zuletzt
tatsächlich der spontanen Bewegtheit und Getriebenheit seines
Lebensprozesses hingeben können, dem natürlichen Wachstum einer bis
zuletzt rastlosen Entwicklung.
Darum ist der ganze Wandel
seiner Einstellungen zwischen Jugend und Alter, den ich beschrieb, schließlich
doch von dem Lebensprinzip der Jugend getragen, von der Herrschaft des
Lebensprozesses über alles, was dieses Leben an Sachgehalten
hervorbringt, aufnimmt, verarbeitet.
Man möchte sagen: die
typische Entwicklung des Menschen überhaupt, die sich in Goethe so
unvergleichlich rein und treu vollzieht, von der Funktion zum Gehalt, vom
Subjektiven zum Objektiven, wird nun noch einmal von jenem kosmischen oder
metaphysischen Geheimnis seiner Individualität umfasst oder durchwachsen:
dass er, soweit es einem Menschen beschieden sein kann, in seinem bloßen
subjektiven Leben das Leben von Welt und Idee ausdrückte.
Ihm war erspart, was den
theoretischen Menschen, aber doch nicht nur diesen, so oft bedrängt: dass
sein Werk eine Hemmung seines Lebens ist.
Indem sich die Wertmaßstäbe,
die Intentionen, die Kraftquellen aus dem von innen bewegten Leben heraus
in die reine Sachlichkeit verlegen, wird eben diese Bewegtheit unzählige
Male abgebogen oder festgenagelt, und nur das, was man in dem tiefsten
Sinne die Harmonie der Goethischen Natur nennen darf, war dem enthoben.
Jene große Umstellung der
jugendlichen zu den Altersmotivierungen, die den meisten von uns den
Existenzsinn völlig invertiert, konnte er vollziehen, sicher, dass er
damit nur dieselbe Gleichung von der anderen Seite her las, und dass damit
die Grundformel: das Leben, das nur seine eigenen Kräfte entwickeln und
bewähren will, dieser spezifische Rhythmus der Jugend, nicht aus ihrer
Geltung rückte, sondern sich als weit genug und stark genug zeigte, alle
relativen Gegensätzlichkeiten der Lebensperiodik in sich aufzunehmen.
Wenn er mit 25 Jahren
schreibt: »Meine Arbeiten sind immer nur die aufbewahrten Freuden und
Leiden meines Lebens« und damit das Wesen des jugendlichen Schöpfers
aufs vollkommenste bezeichnet, so äußert er sich 40 Jahre später in
genau demselben Sinne: »Meine ernstliche Betrachtung ist jetzt die
neueste Ausgabe meiner Lebensspuren, welche man, damit das Kind einen
Namen habe, Werke zu nennen pflegt.« Nur scheinbar widerspricht dies der
Objektivität, dem überpersönlichen Sachinteresse seines Alters.
In Wirklichkeit ist dieser
Gegensatz, in all seiner Reinheit und Entschiedenheit, sozusagen ein
relativer, und das absolute Ganze, innerhalb dessen er sich erhebt, hat
wiederum den Charakter der Jugend.
Im Unterschiede daher von
den Sachmenschen, deren Lebensprozess nicht von sich her, sondern von
seinen Inhalten her bestimmt wird, und die immer einen Zug, von Altsein
haben, ist in Goethe etwas von ewiger Jugend - wie er denn in seinem
79.Jahre, zweifellos mit Bezug auf sich selbst, von genialen Naturen
spricht, die immer wieder eine Pubertät »auch während ihres Alters«
erleben, »während andere Leute nur einmal jung sind«.
So muss man wohl sagen,
dass für das Bild seines Dasein »Jugend« zweierlei Bedeutungen besitzt.
Er hatte eine zeitliche und
eine sozusagen zeitlose Jugend, eine, die die typisch menschliche
Entwicklung in das Alter umschlagen ließ, und eine, die dieser ganzen
Entwicklung ihre Färbung gab, eine, die etwas Empirisches war und mit all
ihrer Schönheit in der Tragik der Vergänglichkeit stand, und eine, die
den metaphysischen Sinn der Idee Goethe trug. |