Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Die Stetigkeit in Goethes Weltbild

ex: Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung Nr. 515, Morgenblatt vom 9. Oktober 1912, Illustrierter Teil Nr. 237, S. 1-3 (Berlin)

»Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hängen auf die stetigste Weise zusammen, gehen ineinander über - jene Tätigkeiten, von der gemeinsten bis zur höchsten, vom Ziegelstein, der dem Dach entstürzt, bis zum leuchtendsten Geistesblick, der dir aufgeht und den du mitteilst, reihen sie sich aneinander.«

Dieser Ausspruch Goethes bezeichnet in eminentem Sinne seine Betrachtung des Daseins: denn keine andere bindet Formung, Ordnung, Gesetz so unbedingt an die Erscheinung der Dinge, an die morphologische Wirklichkeit.

Beschränkt man sich ganz rein auf die Erscheinungen, deren unabsehliche Individualisiertheit man zugeben muss, so kann man ihre »Einheit«, die Gestaltung eines Ganzen aus ihnen eben nur auf jene abgestuften Ähnlichkeiten hin zustande bringen.

Die Betrachtung der Wesen nach der »Gestalt« hat an und für sich etwas Isolierendes, und es ist die gigantische Bestrebung des Goethischen Naturverstehens, diese Umschlossenheit und Vereinzelung der Gestalten von einem einheitlichen, vibrierenden, alles mit allem verbindenden Leben durchfluten zu lassen.

Insoweit man nun in dieser Tendenz nicht von einem inneren Lebensprinzip ausgeht, sondern die Einheitsform den unmittelbaren Erscheinungen abgewinnen will, so müssen diese, mögen es Gestalten des Ruhenden oder des Bewegten sein, in einer Reihe sich ordnen lassen, in der kein Unterschied der kleinste ist, sondern zwischen je zwei differente Glieder noch immer weitere sich einstellen und die Vermittlung durch morphologische Zusammenhänge ins Unendliche geht.

»Welch eine Kluft«, sagt er in Hinsicht einer ihm besonders wichtigen Reihe, »zwischen dem Zwischenkieferknochen der Schildkröte und des Elefanten, und doch lässt sich eine Reihe Formen dazwischenstellen, die beide verbindet.«

Zwischen der »Kontinuität« im Sinne einer stetig fließenden Bewegtheit und der singulären Einheitlichkeit der Gestalt besteht eine tiefe Diskrepanz; aber die Kontinuität im Sinne der Aufreihbarkeit der Gestalten nach ihrer morphologischen Berührung vermittelt zwischen beiden, sie ist gleichsam das statische Symbol für jene Labilität.

Eine Disposition zu der so angenommenen Stetigkeit der Erscheinungen liegt, wie ich glauben möchte, schon in einer sinnlichen Besonderheit von Goethes Naturanlage: in dem Ineinander-Übergehen der Eindrücke ganz verschiedener Sinne.

Vor der ungeheuren Einheitlichkeit seines Wesens verschwindet gleichsam die Disparität der Sinnesgebiete, ohne weiteres reiht sich ein Stück des einen in das andere ein; man hat das Gefühl, als verliefe sein Inneres, insbesondere sein dichterisch ausgedrücktes Leben, in seinem tiefsten Grunde, als ein eigentlich nur dynamischer Wechsel, ein An- und Abschwellen oder auch ein polares Umspringen einer Daseinsintensität, und als seien alle qualitativen Mannigfaltigkeiten, in denen diese sich darbietet, dadurch innerlichst verbunden; als übergriffe die Einheit dieses Lebens alle Abstände, die seine Inhalte zeigen, sobald sie aus dem Leben heraus und in bloße isolierte Sachlichkeit gestellt werden.

Als erlebte lassen sie ihre Disparität in eine Kontinuität übergleiten, die auch jede Sinnesimpression mit jeder verwandt macht und jeden Stellenwechsel unter ihnen legitimiert.

Ich führe einige Stellen an.

In einer symbolischen Darstellung des Orpheus-Mythus äußert er: »Das Auge übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres« - in der Ausführung des Gedankens, dass die Architektur eine »verstummte Tonkunst« ist.

Es gilt für den Marmor wie für den Busen der Geliebten: »Sehe mit fühlendem Aug', fühle mit sehender Hand«; und aus ihren Augen hört er ein »lieblichstes Getön«.

Ja, selbst die Kühle schleicht ihm »durchs Auge« ins Herz - und Wasser und Höhle sprechen Laute, die der »Künstlerblick vernimmt«.

Geruch und Geschmack sind nicht ausgeschlossen: der Wasserfall verbreitet »duftig kühle Schauer«.

»Von buntesten Gefiedern / Der Himmel übersät, / Ein klingend Meer von Liedern / Geruchvoll überweht.« »Ich habe nichts dagegen, wenn man die Farbe sogar zu fühlen glaubt; ihr eigenes Eigenschaftliche würde nur dadurch noch mehr bestätigt. Auch zu schmecken ist sie. Blau wird alkalisch, gelbrot sauer schmecken. Alle Manifestationen der Wesenheiten sind verwandt.«

Und endlich klingt der Gedanke des Ineinander-Aufgehens der Sinne in dem Vers des Diwan an:

»Ist somit dem Fünf der Sinne / Vorgesehen im Paradiese, / Sicher ist es, ich gewinne / Einen Sinn für alle diese.«

 Was im Empirischen als bloße Kontinuität und Grenzvermischung der Sinne erscheint, ist hier zu phantastisch-metaphysischer Vollendung geführt.

Aus der Stetigkeit in der Reihe der Gestaltungen, die an solchen Äußerungen ihr persönlich-sinnliches Symbol findet, folgert Goethe, dass man sich in der Naturwissenschaft nie mit einem isolierten Faktum begnügen dürfe, sondern durch Versuche alles, was irgendwie daran grenzt, erkunden müsse.

Diese Reihung und Folgerung »des Nächsten aus dem Nächsten« hätten wir von der Mathematik zu lernen.

Die Kontinuität wird ihm hier zum Erkenntnismittel: wo sie nicht hergestellt oder herstellbar ist, wird die Wirklichkeit nicht erfasst.

Und nun charakterisiert sich das Weltbild, das so gewonnen - oder vielleicht vorausgesetzt - wird, durch seinen Gegensatz zu aller »Systematik«.

An der Auffassung des Daseins als eines Systems oder als einer Kontinuität scheiden sich tiefste geistige Wesenstendenzen.

Der Systematiker setzt die Dinge mit scharfer begrifflicher Abgrenzung außer einander und gewinnt Einheit für sie, indem er ihre begrifflichen Inhalte in ein symmetrisch gebautes Ganzes einstellt.

Wie das einzelne Element, so ist auch das Ganze ein Fertiges, Abgeschlossenes, eine feste Form aus festen Formen, geordnet nach architektonisch einheitlichem Prinzip, das jedem überhaupt denkbaren Element seine Stelle gleichsam vorbestimmt.

Gegen diese Tendenz nun wendet sich Goethe nach einer fast fünfzigjährigen naturwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Worten: »Natürlich System: ein widersprechender Ausdruck. Die Natur hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im Ganzen nach Breite und Höhe die Spur verfolgen.«

Von der hiermit angedeuteten Dynamik des Lebens abgesehen, gestattet ihm schon die Stetigkeit der Erscheinungen kein System.

Denn wo Kontinuität ist, verbietet sich jene Abgrenzung von Einheit gegen Einheit, die Unterschiede werden zu unmerklich, um eine begriffliche Hierarchie zu bilden; da es jetzt keine Stelle gibt, die nicht ein Crescendo und ein Diminuendo neben sich hätte, so ist auch ein Abschluss des Ganzen nicht möglich, zwischen je zwei Elemente drängt sich eine unabsehliche Zahl von Zwischenstufen, für die das System, als ein Bau aus Begriffen, keinen Platz hat.

Am schönsten und reinsten hat Goethe in den Berichten über sein botanisches Studium diesen Gegensatz entwickelt, in dem Partei zu nehmen ihn freilich die Geltung des Linnéschen Systems besonders aufreizen mußte.

Dies ganze System ruht für ihn auf der praktischen Zweckmäßigkeit des Zählens; es setzte also ein genaues Trennen der einzelnen Pflanzenteile gegeneinander voraus, die Feststellung jeder Form als eines von allen übrigen völlig verschiedenen Wesens.

Da aber in Wirklichkeit ein Organ, eine Form in die andere mit unfassbaren Übergängen gleitet, so muss das System »alles Wandelbare als stationär, das Fließende als starr, das gesetzlich rasch Fortschreitende als sprunghaft, das aus sich selbst hervorgestaltete Leben als etwas Zusammengesetztes« ansehen.

Er gesteht, angesichts der fortwährenden Umbildungen und Beweglichkeiten der Pflanzenorgane, den Mut zu begrifflichen Fixierungen und Grenzsetzungen verloren zu haben.

»Unauflösbar schien mir die Aufgabe, Genera mit Sicherheit zu bezeichnen, ihnen die Spezies unterzuordnen.« Und schon lange vorher habe das »scharfe Absondern« Linnés in seinem Innern einen Zwiespalt erzeugt: »Das, was er mit Gewalt auseinander zuhalten suchte, musste nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben.«

Der Systematik gegenüber, für die »alles fertig« ist, die »nur ein Versuch ist, viele Gegenstände in ein gewisses fassliches Verhältnis zu bringen, das sie streng genommen unter einander nicht haben« - ist es seine Denkweise, »das Ewige im Vorübergehenden« zu schauen.

Alle Pflanzenorgane sind ihm die in absatzlosen Prozessen vollzogenen Umbildungen eines einzigen Grundorgans - wie er auch von allen »vollkommeneren organischen Naturen«, von den Fischen bis zum Menschen behauptet, dass sie nach einem ideellen Vorbilde geformt seien, »das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet«.

Sehr früh schon scheint er die Gefahr der Systematik empfunden zu haben: dass das System, wegen seiner logisch geschlossenen, bequem zu handhabenden, architektonisch befriedigenden Form sozusagen um seiner selbst willen gesucht und namentlich festgehalten wird und uns hindert, dem jeweiligen Verhalten der Dinge vorurteilslos und anschmiegsam nachzugehen; so dass ihm das System ganz einfach zum Gegenteil der Sachlichkeit und selbstlos gesuchten Wahrheit wird - der Wahrheit, in der sich alles in Einheit und Kontinuität aneinander schliesst: »So viel Neues ich find',« schreibt er 1786, »finde ich doch nichts Unerwartetes; es passt alles und schließt sich an, weil ich kein System habe und nichts will als die Wahrheit um ihrer selbst willen.«

Goethe hatte das stärkste Gefühl, die entschiedenste Vorstellung von dem unstaubaren Flusse alles Lebens, alles Geschehens; so trivial der Gedanke der unaufhörlichen Bewegtheit des Daseins ist, so schwierig und, wie ich glaube, selten ist es, dass damit wirklich Ernst gemacht wird.

Der relativen Grobheit und Langsamkeit unserer Sinne, vor allem unserem praktischen Verhalten zu den Dingen entspricht es, uns an die Fiktion fester Querschnitte und beharrender Zustände zu halten.

Goethe aber gehörte zu den heraklitischen Menschen, deren eigene innere Lebendigkeit und stillstandslose Entwicklung ihnen gleichsam einen physisch-metaphysischen Sinn gibt für die rastlosen Pulsationen, das stetige Sterben und Werden, Sich-Entwickeln und Herabsinken unter der Schein-Starrheit aller Oberflächen.

In höchst fragwürdigem Verhältnis aber zu dieser Absolutheit von Werden und Wandel steht Goethes plastischer Sinn, der auf die »Gestalt« und ihre klassische Ruhe, auf die Geschlossenheit und den Ewigkeitszug der Erscheinungen geht.

Mit wie viel Vorbehalten auch nur man derartige prinzipielle Gegensätze historisch lokalisieren darf: es ist der griechisch-italienische Geist, der hier gegen den germanischen steht, und man hat schon lange hervorgehoben, dass Goethes Lebensarbeit und Lebensintention im Antagonismus, Wechsel, Vereinheitlichung dieser weltgeschichtlichen Parteien verläuft.

Ich lasse dahingestellt, ob er selbst ein theoretisches Bewusstsein über die Tiefe des Abgrunds hatte, der sich zwischen der künstlerischen Umgrenztheit und Selbstgenugsamkeit der »Gestalt« und der Unendlichkeit des Werdens auftut, sobald eines und das andere zur Dominante des Weltbildes wird.

Immerhin spricht er das seelisch-metaphysische Problem als ein praktisches höchst deutlich aus: » Dass dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben gewinne, / Lass die belebende Kraft stets auch die bildende sein.«

Ja, einmal scheint es, als wollte er ihm überhaupt nur im praktischen Sinne eine Stelle zuerkennen: »Das Höchste, das Vorzüglichste am Menschen ist gestaltlos, und man soll sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten.«

Im theoretischen Sinne indes liegt hier die letzte Bedeutung des Kontinuitätsprinzips.

Wenn die pausenlose Umgestaltung, die kosmische Strömung mit dem, was wir Ding, Form, Gestalt nennen, haltzumachen, und die einzelnen Erscheinungen damit dem Gesetz des allgemeinen Lebens entrissen, aus ihm auskristallisiert zu sein scheinen - so bieten sie jedenfalls eine um so deutlichere Spur jenes Gesetzes, je näher sie nach ihren Qualitäten aneinanderrücken, je unmerklicher dem betrachtenden Geist der Übergang von einer zur anderen wird.

Dies subjektiv kontinuierliche Gleiten des Blicks ist Gegenbild und Symbol der Stetigkeit des objektiven erzeugenden Prozesses, der aus den so anzuordnenden Erscheinungen verschwunden ist.

Die fertigen Gestalten, wie der praktische und der künstlerische Blick sie ausschneiden, gehen nicht funktionell ineinander über; aber das Maß ihrer Ähnlichkeit, ihrer möglichen Anordnung in Reihen nach zu- und abnehmenden Qualitäten ist das Maß, in dem sich die Einheit der erschaffenden Funktion in ihnen gleichsam abgelagert hat und sich in ihnen verrät.

Gewiss wird die tiefe Fremdheit zwischen der Welt als stetig lebendigem Werden und der Welt als Summe von Gestalten dadurch nicht verneint, dass diese Gestalten Reihen bilden, in denen kein Unterschied der kleinste ist und für die die Welt, um den Abstand je zweier zu füllen, jedes Mal eine Unendlichkeit abgestufter Zwischenerscheinungen anbietet; Begrenztheit bleibt Begrenztheit und wird nicht Bewegung über die Grenze hin, so nahe man auch die Inhalte der Begrenztheiten aneinanderrücke.

Aber das so entstehende Bild gewinnt allerdings eine ins Unbegrenzte wachsende Beziehung zu dem des absoluten Werdens; eine von dem letzteren beherrschte Welt muss allerdings, zu Gestalten verfestigt, diese in Reihen mit unendlich kleinem Abstand je zweier Nachbarwesen einstellen lassen.

Die Idee der Kontinuität, scheinbar nur das äußerliche Nebeneinander der Phänomene ordnend, enthüllt sich so als der Punkt, an dem die großen weltgeschichtlichen Gegensätze in Goethes Wesen und Welt sich zueinander neigen.


 

Editorial:

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