Georg Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie
ex: Neue Deutsche Rundschau, 13. Jg.,
Heft 2 vom Feb. 1901, S. 207-215 (Berlin)
Die Selbständigkeit des Genießenden gegenüber den Künstlern
seiner Zeit geht selten weiter als bis zur Unbefriedigung an der einzelnen
Leistung, an der einzelnen künstlerischen Persönlichkeit, vielleicht
auch an dem Können der ganzen Generation; nicht aber darauf, dass der Umfang ihrer Probleme überhaupt verkümmert oder verfälscht
ist; diesen vielmehr pflegt man an jeder gegenwärtigen Kunst einfach
hinzunehmen.
Unterläge man hier nicht der Suggestion durch die Kunst, die da
ist, so wäre uns schon längst die Tyrannei unerträglich
geworden, die in der Lyrik das erotische Motiv ausübt.
Ist das Wesen der Seele: Einheit des Mannigfaltigen während alles
Körperhafte in ein unaufhebbares Außereinander gebannt ist -
so Ist keine Kunstform so, wie die lyrische durch ihre überschaubare
Enge geeignet, diese Kraft und Geheimnis der Seele wirksam und fühlbar
zu machen.
Aber die Gesamtheit ihrer Inhalte, an deren jedem die Seele durch diese
Form ihr tiefstes Sein offenbaren könnte, ist zu Gunsten jenes Einen
schlechthin vernachlässigt worden.
Hierfür ist großenteils der Einfluss Goethes verantwortlich,
wenn auch nur so, wie Michelangelo für die Entstehung des Barock.
Das unermessliche Künstlertum Goethes ließ freilich
auch die jedem Triebe unmittelbar entquellende Äußerung als Kunstwerk
zu Tage treten; er konnte »singen wie der Vogel singt«, und
ganz von selbst hatte es die Distanz gegen alles Vereinzelte und Subjektive,
deren Mangel sonst die Klippe der erotischen Kunst bildet.
Von der Erregung durch das Liebesgefühl aus gesehen wirkt freilich
auch die schlechteste Versmacherei noch als Distanzierung: daher die Erlöstheit
und Befreiung, die der Dilettant in ihr findet.
Aber vom Standpunkt der Kunst aus ist fast die ganze Lyrik des 19. Jahrhunderts
- mit der leuchtenden Ausnahme Hölderlins - von dem Atem naturalistischen
Trieblebens durchdrungen.
Mag man auch diese Reize nicht rigoristisch zurückweisen, so verrät
es doch eine seelische Armut der Zeit, dass sie sich einer Kunstform,
die der ganzen Weite des Innenlebens Raum gäbe, nur unter dem Zusatz
von Attraktionen zu bedienen pflegt, die von außerhalb der Kunst
stammen.
Vielleicht ist die Linie, die das künstlerische Wesen Stefan Georges
umschreibt, am deutlichsten von diesem Punkt aus zu ziehen.
Der organische, oder richtiger: überorganische Prozess aller
Kunst, in dem sie die Inhalte des Lebens über das Leben selbst hinauswachsen
lässt, dürfte einmal an der Höhe besonders sichtbar
sein, in die der Dichter sich und uns über die Unmittelbarkeit jener
Impulse selbst darstellt, wo sie seinen Gegenstand bilden; und demnächst
an der Leidenschaft und Zartheit, mit der er das Bild der Lebenswerte jenseits
der Liebe ausstattet.
Denn damit erst wird der Künstler seine wirklich eigene Kraft und
Vertiefung offenbaren, während alle erotischen Äußerungen etwas
Zufälliges haben: man weiß sozusagen nicht, wie viel von der
Leistung man der Einheit und Tiefe des eigentlichen Ich und wie viel jener
Erregung zuschreiben soll, die man als etwas Peripheres, halb und halb
der äusseren Welt zugehörig, empfindet.
Zu diesen höchsten Stufen entwickelt die Lyrik Georges die Elemente
etwa bis zum Jahr 95 in einer gewissen Sonderung.
Seine Kunst wird von vornherein durch das Bestreben bezeichnet, ausschließlich
als Kunst zu wirken.
Während sonst die Endabsicht des Lyrikers in dem Gefühls-
oder Vorstellungsinhalt zu liegen pflegt, zu dessen Darstellung und Erregung
ihm die künstlerische Form als Mittel dient, - ist hier die grundsätzliche
Wendung vollzogen: dass umgekehrt aller Inhalt das bloße Mittel
ist, um rein ästhetische Werte zu bilden.
Diese Wendung hat freilich Viele zu bloßem Formalismus verführt:
die künstlerische Vollendung in der wohlklingenden Korrektheit von
Reim und Rhythmus zu suchen.
Jedes wirkliche Kunstwerk kann uns belehren, dass die Scheidung
von Form und Inhalt nur der verstandesmäßigen Analyse dient,
während es selbst jenseits dieses Gegensatzes steht.
Der ästhetische Genuss - weder mit dem, dem »Vorwurf«
des Werkes korrespondierenden Gefühle noch mit der Freude an der bloß
äußerlichen Harmonie der Form zusammenfallend - knüpft
sich an die Einheit, der gegenüber diese Einzelmomente nur elementare
Mittel sind.
Je strenger die innere Logik des Kunstwerks ist, desto mehr offenbart
sich diese innere Einheit in der Tatsache, dass jede leiseste Änderung der sogenannten Form sogleich eine
Änderung des Ganzen, also auch des
sogenannten Inhaltes ist, und umgekehrt.
Man kann gar nicht denselben Gedanken oder dasselbe Gefühl
auf zwei verschiedene Arten ausdrücken.
Nur die oberflächliche Abstraktion, die statt des wirklichen, individuellen,
genau umgrenzten Inhalts den Allgemeinbegriff desselben setzt -
wie es fast durchgehends Brauch ist - kann denselben Inhalt mannigfaltigen
Ausdrucksnuancierungen zusprechen.
Liebe kann man freilich sehr verschieden ausdrücken; die Liebe
aber, die die Trilogie der Leidenschaft darstellt, ist eben genau nur so
ausdrückbar und würde mit jedem geänderten Wort irgend eine
ihrer Nuancen ändern.
Diese mit nichts vergleichbare Einheit des Kunstwerks
erhebt sich also ebenso über die Zweiheit von Form und Inhalt, wie
die spezifisch-ästhetische Erregung über die primären Gefühle,
die sich an jene bloßen Elemente des Kunstwerks knüpfen mögen.
Die ersten Gedichte Georges, von denen man erfuhr, verrieten schon diese
ausschließlich ästhetische Absicht: weder wollten sie außer
dieser noch etwas »geben« - Gefühle oder Gedanken an und
für sich - noch durch das leichte Spiel formalistischer Vollendung
ergötzen; und durch diese beiden jenseits unterschieden sie sich sogleich
von der typischen Lyrik.
Nur grade das erotische Thema bereitet ihm in diesen früheren Gedichten - von
so großer Zartheit und Reinheit sie auch sind - hier und da
noch einen Rückfall in die alte Art.
Die prinzipielle Wendung wird erst in dem »Jahr der Seele«
(1897) restlos verwirklicht.
Der Inhalt ist hier fast ausschließlich ein Verhältnis zwischen
Mann und Weib.
Aber die Distanz zu ihm ist gefunden, die ihm keinen andern Reiz, keine
anders mitklingende Erregung gestattet, als dem Gegenstand eines Kunstwerks
als solchem zukommt.
Der Rohstoff des Gefühles ist so lange umgeschmolzen, bis er in
sich der ästhetischen Formung keine Grenze mehr durch sein Fürsichsein
setzt.
Alle Kunst hat gegenüber dem lebendigen Dasein ihres Gegenstandes
einen Zug von Resignation, sie versagt sich das Auskosten seiner Realität,
um freilich seinem Inhalt, dem Qualitativen an ihm, mehr zu entlocken,
als es eigentlich selbst besitzt.
Indem jener Verzicht und diese Fülle sich gegeneinander abheben,
eines zur Bedingung des anderen wird, erzeugen sie den Reiz des ästhetischen
Verhaltens zu den Dingen.
Hier hat nun die Resignation die Gefühlsgrundlage selbst ergriffen:
alle Bewegungen und Vertiefungen der Liebe, die dies Buch erfüllen,
stehen im Zeichen der Resignation, sie werden gleich an ihrer Quelle von
dieser gefärbt.
Und zwar ist es nicht die Resignation im Sinne eines bloßen Nicht-habens,
und Nicht-wollens, sondern jener ästhetisch wertvollen gleich: als
Gegenstück und Bedingung dessen, dass man doch den letzten, tiefsten,
feinsten Sinn und Inhalt des Menschen und der Beziehung zu ihm und unserer
eigenen Empfindung ausschöpfe.
So ist das erotische Motiv, dem sonst das Künstlerische nur wie
zufällig oder äußerlich kopuliert ist, hier seinem ganzen
eigenen Sein nach in die Formgestaltung dieses eingegangen; und das, was
uns als der heimliche Gegner des ästhetischen Zustandes erschien:
der selbständige Reiz des Materials, ist diesem selbst nun vereinheitlicht
und dienstbar gemacht.
Die Form der Resignation, in der allein hier das unmittelbare Gefühl
zum Kunstwerden zugelassen wird, stiftet von innen heraus, als eine inhaltliche
Bestimmtheit eben des Gefühles selbst die Distanz, die die Kunstform
ihm sonst erst nachträglich und wie von außen zufügt.
Was hier das räumliche Symbol der Distanz ausdrückt, kann
durch eine zeitliche Beziehung ein verstärktes Licht erhalten.
Der Inhalt dessen, was wir unsere Gegenwart nennen, entspricht eigentlich
nie ihrem strengen Begriff: obgleich sie nach diesem nur die Wasserscheide
zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, suchen wir in der Unheimlichkeit
ihres Wegschwindens einen Halt, indem wir ihr Bild aus einem Stückchen
Vergangenheit und einem Stückchen Zukunft bauen.
Dieser logischen Zweideutigkeit der »Gegenwart« steht aber
ein durchaus eindeutiges Gefühl ihrer gegenüber.
Gewisse Vorstellungsinhalte werden von einem Gefühle begleitet,
das wir nur so ausdrücken können: dieser Inhalt sei eben gegenwärtig.
Das ist noch nicht dasselbe, wie dass er wirklich ist; vielmehr,
der Ton des Gegenwärtigen, die eigentümliche innere Macht, die
es ausübt, kann manches begleiten, an dessen Wirklichkeit wir gar nicht denken; und manches kann »wirklich« sein, dem doch der Gefühlswert
der Gegenwärtigkeit fehlt.
Diese Gegenwärtigkeit des Erlebens nun hat zu dem lyrischen Gedicht
mannigfaltige Verhältnisse.
An den Jugendgedichten Goethes empfindet man sie außerordentlich
stark.
Der Gefühlszustand, den sie darstellen, ist gegenwärtig, seine
Gegenwart ist unmittelbar in diese Form gebannt, er ist in seiner ursprünglichen
Wärme in sie gegossen.
Bei dem älteren Goethe ist die Gegenwärtigkeit des dichterischen
Erlebens verschwunden; das innere Schicksal scheint abgeschlossen zu sein,
wenn die Kunst sich seiner bemächtigt.
Aber nicht, als sei es ein fertiger Stoff, zu dem diese hinzutrete.
sondern auch bei ihm ist der Charakter der Kunstform von vornherein auch
der ihres im Gefühle erlebten Stoffes.
Der Moment seines Fühlens selbst hat aber nicht mehr den Gegenwartston,
nicht mehr das vollständige Aufgehen in seinem Jetzt.
Der Grund dieser Änderung ist, dass sein Erleben im Alter mit
der ganzen Vergangenheit belastet war, jeder Augenblick, den er empfand,
war nicht mehr bloß dieser, sondern er schloss tausenderlei
Früheres, Gleiches und Entgegengesetztes, in sich.
Darum werden selbst Gedichte, die aus einem so unmittelbaren Gefühlszustand
hervorbrechen, wie die Trilogie der Leidenschaft, durchaus sententiös,
der Inhalt des Augenblicks verbreitert sich zu einem übermomentanen,
allgemein gültigen, gewinnt Beziehungen zu dem ganzen Umfang des Lebens.
In dem jenseits der Gegenwart hält sich auch George; nur dass es nicht wie bei Goethe der erdrückende Reichtum der Vergangenheit
ist, der die Gegenwart von ihrem eigenen Platze weg zu sich lockt und überdeckt;
sondern hier ist es eine von innen her kommende Beschaffenheit des Kunstwerks.
Als wäre die Empfindung, das Gefühl, das Bild von vornherein
nur in ihrem reinen Inhalt, ohne jede Beziehung auf einen Zeitmoment erlebt.
Die eigentümliche Qualität des Ernpfundenwerdens, die wir
als die Gegenwärtigkeit seines Inhaltes bezeichnen, hat immer etwas
Zufälliges; grade jetzt ist er von Schicksalsmächten verwirklicht,
die doch außerhalb seiner selbst liegen, es ist, als verdankte er
seine Lebhaftigkeit nicht seinem eigenen Werte, sondern dem glücklichen
oder unglücklichen Zusammentreffen innerer und äußerer
Ereignisreihen; so fühlen wir oft auch tiefer und eindrucksvoller
Lyrik gegenüber, dass die Betonungen und Werte, mit denen sie
wirkt, ihren einzelnen Inhalten als momentane Erregungen, aus Zuspitzungen
und Komplikationen der Gefühlsschicksale heraus, zuwachsen.
Dieses Cachet der Gegenwärtigkeit trifft das, was eigentlich gemeint
und gefühlt ist, wie der Strahl eines zufällig aufflammenden
Lichtes; die Helligkeit und Wärme, die es bedeutet, kommt den eigentlich
künstlerischen Bildern und Ideen mehr wie ein Glück von außen,
denn als eine eigene, innere Notwendigkeit zu.
Bei George dagegen - wenn auch nicht bei ihm allein - scheint der Aggregatzustand
des Gefühls, die ganze Existenzempfindung um die einzelnen Elemente,
Worte, Gedanken des Gedichtes herum aus diesen selbst hervorzubrechen,
statt ihnen durch die Gunst und Erhebung des Augenblicks anzufliegen.
Ein Unterschied, der freilich qualitativ innerlich ist, ein Unterschied
der Impressionen, für den die Verschiedenheit der Ursprünge nur
ein symbolischer Ausdruck sein kann; so mögen wir für den Eindruck,
den die Welt auf uns macht, kein anderes Wort haben, als dass sie
aus dem Geist und Willen eines Gottes hervorgegangen ist - aber damit können
wir nicht ihre historische Genesis begründet, sondern nur das qualitative
Wesen der gewordenen, wirklichen, durch eine symbolische Verlegung des
Seins in das Werden geschildert haben.
Was ich mit diesem, aller bloßen Gegenwärtigkeit entrückten
Wesen der George'schen Lyrik meine, ordnet sich einem ganz allgemeinen Verhalten
unserer Seele ein, das auf dem Gebiet der Erkenntnis vielleicht am deutlichsten
ist.
Sobald wir uns durch Begriffe verständigen wollen, setzen wir voraus, dass
jeder von ihnen einen festumschriebenen, feststehenden Inhalt
habe, den wir freilich nicht in jedem Augenblick dabei wirklich vorstellen,
den vielmehr dieses wirkliche Vorstellen in größerem oder geringerem
Abstand umspielt.
Wie eine Wirklichkeit einem Ideal, so steht das Vorstellen in jedem
gegebenen Moment jenem Sachgehalt des Begriffes gegenüber, und obgleich
auch er nur vorgestellt wird, so ist doch das, was wir mit ihm meinen,
über die Zufälligkeit des augenblicklichen Bewusstseins erhaben, und von ihr ebenso unabhängig, wie Inhalt und Gültigkeit
des Staatsgesetzes davon, dass die ihm Untergebenen es bald vollständiger,
bald mangelhafter erfüllen.
Eine
solche Zweiheit muss, wie zwischen den logischen, so
auch zwischen den Gefühlsbedeutungen der seelischen Gebilde bestehen.
Wir empfinden - auch ohne es uns abstrakt klar zu machen - dass Worten wie Dingen, Sätzen wie Schicksalen, ein gewisses Gefühl,
eine innere Resonanz, eine Antwort der gesamten Seele entspricht; dies
ist sozusagen ihr Sachgehalt an Subjektivität, das haben sie zu fordern,
das sind sie, wenn sie in der Sprache der Innerlichkeit richtig ausgesprochen
werden.
Aber jenseits dieser beharrenden Bedeutung für das Fühlen
überhaupt, die dem Innenleben jener Gebilde korrespondiert, bewegt
sich das Chaos aller zufälligen, persönlich-wirklichen Gefühle,
nur mehr oder weniger denen verwandt, die den Dingen nach dem Gesetz ihrer
Beziehungen zu uns zukommen.
Alle Kunst nun scheint in höherem oder niederem Maße grade
jene inneren Erregungen zum Anklingen zu bringen, die ihren Worten und
Farben, Gedanken und Gestalten, Bewegungen und Ideen wie durch eine sachliche
Notwendigkeit eigen sind, wie Bestimmungen, die sich ihrem Wesen unmittelbar
verbinden.
Gewiss sind es nur subjektive, innerliche Vorkommnisse, um deren
Anknüpfung an äußerliche, sinnliche Gegebenheiten es sich
handelt; allein die Tatsache, dass sie sich an sie anknüpfen,
wird als objektive Notwendigkeit empfunden, und zwar als eine, die der
Beschaffenheit des Gegebenen selbst anhaftet.
Dies ist vielleicht der Sinn der zeitlosen Bedeutung, die wir Kunstwerken
zusprechen.
Die Zeitlosigkeit oder Ewigkeit des Naturgesetzes besagt doch, dass der Erfolg gewisser Bedingungen sachlich notwendig ist, ganz gleichgültig
gegen den Zeitmoment, in dem sie eintreten, und ob und wie oft sie überhaupt
eintreten; die Zeitlosigkeit einer Idee hat den Sinn, dass ihre logische
oder ethische Bedeutung ihr selbst einwohnt, wir mögen sie in uns
nachbilden oder nicht - aber wenn wir diese Idee denken wollen, jetzt oder
in tausend Jahren, so kann sie immer nur diese Bedeutung haben; und so
überzeugt uns die Kunst, dass jedem ihrer Elemente gewisse subjektive
Bewegungen - wir nennen sie, vielleicht nicht durchweg zutreffend, Gefühle
- aus der eigenen Beschaffenheit eben jener Elemente heraus zugehören.
Wir mögen sie in uns seelisch vollkommen oder unvollkommen, heute
oder morgen oder nie realisieren, wenn wir aber diese Ausdrücke,
Bilder, Formen so empfinden wollen, wie es ihnen entspricht, so können
wir es nur mit diesen und keinen anderen Gefühlsvorgängen.
Diese objektiven Valeurs aller Elemente des lyrischen Gedichtes zur
Alleinherrschaft zu bringen, uns fühlen zu machen, welche innere Notwendigkeit
psychischer Reaktion jedes Wort, jeden Gedanken, jedes Gleichnis wie ein
Astralleib umgibt - das ist George nun am vollendetsten in seiner letzten
Veröffentlichung (»der Teppich des Lebens und die Lieder von
Traum und Tod, mit einem Vorspiel«) gelungen.
Das »Vorspiel«, das mir als der Gipfel seiner bisherigen
Leistungen erscheint1), schildert in vierundzwanzig
Gedichten, wie das höhere Leben, die immer weiter greifende Zugehörigkeit
zu den idealen Mächten uns von der verworrenen Wirklichkeit erlöst.
Unter dem Bilde des »Engels«, der ihn durch das Dasein führt,
erscheint ihm die ganz allgemeine Form unserer höchsten Wertpotenzen,
die der Dichter als seine Muse, der Forscher als die Wahrheit, der handelnde
Mensch als das praktische Ideal bezeichnen mag; dies ist für jeden
die letzte Instanz, deren Einheit uns ebenso den Überschwang alles Glückes,
wie die Unerbittlichkeit schmerzlichster Pflichten bedeutet; die uns von
der darunter gelegenen Welt ebenso trennt, wie sie doch deren gerade für
uns bestimmte Werte kenntlich macht und in sich sublimiert; die uns von
den Forderungen wie von den Genüssen des flacheren Lebens scheidet,
um den Preis, allein vor ihr und uns selbst verantwortlich zu sein.
Der Engel ist der Sinn, den das Leben in sich, und zugleich die Norm,
die es über sich hat.
Nach Goethe weiß ich keine Dichtung, in der in so völlig
Allgemeines, durch keine Einzelbestimmung Festzulegendes, wie der Engel,
so künstlerisch anschaulich, in der das Ungreifbare doch so fühlbar
gemacht wäre.
Der ungeheure Ernst seines Problems würde nun mit dem sinnlichen
Reize seiner Form nicht zusammengehen, wenn nicht jedes Wort und jedes
sonstige Element mit jener, ihm allein zukommenden, als notwendig empfundenen
Bedeutung wirkte, wenn das Kunstwerk nicht aus diesen inneren, jede Bereicherung
oder Abzug von außen her ablehnenden Bedeutungen zusammenwüchse.
Die Verse ziehen eine unvergleichliche Schwere und Bedeutsamkeit aus
der Strenge, mit der jedes Wort nur den genauen Sinn seiner Innerlichkeit
ansprechen lässt und dadurch alles das Spielerische und Flatternde
ausschließt, das der Zufälligkeit seines bloß subjektiven
Wieder- und Weiterklingens anhaftet.
Durch welche Eigentümlichkeit der Zusammenordnung, der innerpsychischen Akustik, der Verflechtung zwischen logischem Inhalt und Versbau ihm dies
gelingt, kann keine Analyse feststellen.
Es ist aber, als ob die Worte und Gedanken, Reime und Rhythmen hier
erst zu ihrem eigenen Rechte kämen, als gehörten die inneren
Bewegungen in uns zu ihrem eigenen Wesen, als dessen sachliche Konsequenz.
Dadurch kann sich jene Synthese erzeugen, dass ein ganz Allgemeines
und Abstraktes doch völlig sinnlich und ästhetisch wirksam ist:
wir empfinden das Subjektive, das in uns vorgeht, als ein objektiv Notwendiges,
dem Werke selbst Zukommendes.
Wenn in den Engelgedichten der spielende Reiz klanglicher Harmonie (der
darum so wenig spielerisch ist, wie das Kindliche kindisch ist), eine Tiefe
des Lebensinhaltes trägt, die an sich über aller Form steht -
so ist dies möglich, weil alle Erregungen und Schwingungen subjektiver,
momentaner, mittönender Gefühle den ganzen Wert, gleichsam den
Aggregatzustand des sachlich Begründeten besitzen, die Signatur einer
Gesetzmäßigkeit tragen, die über dem Subjekte thront; und
dies wiederum ist ersichtlich nur ein anderer Ausdruck dafür, dass hier von jedem Elemente des Kunstwerks nur derjenige Sinn zum seelischen
Anklingen zugelassen ist,
der seinem eigensten, innersten Sein, seiner zeitlosen, über das
ephemere Empfunden- oder Nicht-Empfunden-Werden erhabenen Bedeutung zukommt.
Dies muss mit einer weiteren Eigenart der Georgeschen Lyrik, insbesondere
seines letzten Werkes zusammenhängen.
Jenes vollkommene Artistentum, das keinem bloß persönlichen
Tone Raum gibt, und in dem der Wille zum objektiven Kunstwerk alleinherrschend
geworden ist, verbindet sich hier doch mit einem Zuge, den ich nur als
Intimität bezeichnen kann.
Man fühlt eine Seele ihr geheimstes Leben offenbaren, wie dem vertrautesten
Freunde.
Dies entspricht genau der höchsten Aufgabe bildender Kunst: indem
diese den Formgesetzen und Idealen der reinen Anschaulichkeit genügt,
indem sie die sichtbare menschliche Erscheinung nach den Normen, Ausgleichungen,
Reizen gestaltet, die wirklich nur der Selbstgenügsamkeit der räumlichen
und farbigen Erscheinung zukommen - gibt sie eben damit auch eine Vorstellung
des Seelischen hinter der Erscheinung, des Charakters und der Geistigkeit,
des ewig Unanschaulichen; und zwar unter der eigentlich metaphysischen
Voraussetzung, dass der Vollendungsgrad der Darstellung in der einen
Reihe, gemessen an ihren eigenen immanenten Bedingungen, eben den gleichen
in der anderen, nicht weniger in sich geschlossenen, mit sich bringe.
Den beiden, gegeneinander ganz selbständigen, so oft divergierenden
Gesetzgebungen genügt diejenige künstlerische Erscheinung in
ganz gleichem Grade, die für eine von ihnen die höchste ist:
die Vollendung nach dem Maßstab der anderen fällt ihr wie durch
eine mystische Harmonie in den Schoß.
Wenn nun diese Gedichte, den Normen objektiv
aesthetischer Vollendung
vorbehaltlos gehorsam, doch zugleich den Reiz und die Tiefe ganz persönlicher
Intimität zeigen, die einer ganz anderen Ordnung als jener mehr formalen,
bloß künstlerischen angehören - so kann man auf diesem
Gebiet doch vielleicht den Treffpunkt der beiden, sonst von einander so
unabhängigen Reihen etwas genauer bezeichnen.
Ich halte es für das erste Erfordernis aller wirklich ästhetischen
Betrachtung, dass dieselbe dem Kunstwerk als einem ganz auf sich ruhenden,
völlig selbständigen Kosmos gelte, in absoluter Loslösung
von seinem Schöpfer und allen Gefühlen, Deutungen, Hinweisungen,
die ihm etwa durch die Beziehung zu diesem zugehören könnten.
Die Absicht und Stimmung, aus der das Werk geschaffen ist, haben zu
dem geschaffenen gar keine Beziehung mehr, außer insoweit sie zu
objektiven Qualitäten desselben geworden sind: nicht weil der Künstler
sie empfand, sondern weil sie dem Werke wahrnehmbar einwohnen, sind sie
jetzt wesentlich.
Das genetische, historisch-psychologische Verständnis des Werkes
greift über die Grenzen desselben hinaus, in denen die rein ästhetische,
nur dem Kunstwerk als solchem geltende Betrachtung sich hält.
Während aber so die Projizierung der Leistung auf den realen, individuellen
Schöpfer aus der ästhetischen Betrachtung jener schlechthin verbannt
sein muss, ist mir noch die Frage, ob diese Betrachtung nicht doch
den Begriff einer das Werk tragenden Persönlichkeit, wenn auch von
anderer Art, direkt in sich schließt.
Zu der Auffassung eines Kunstwerkes und seiner Wirkung auf uns gehört
allerdings, wie mir scheint, als Bedingung, dass wir es als Äußerung eines, und zwar eines bestimmt qualifizierten Geistes auffassen.
Dadurch bekommt es den Zusammenhang seiner Teile, der es für uns
erst zur Einheit macht, damit erst fühlen wir uns berechtigt, uns
durch das Werk zu gewissen inneren Reaktionen anregen zu lassen, die einer
bloßen Kombination äußerer Naturwirkungen nicht gelingen.
Aber diese Persönlichkeit, die für uns, ebenso wirksam wie unbewusst, das Werk trägt, ist nicht die des wirklichen Autors,
von dem man etwas außer seinem vorliegenden Werke weiß; sondern
eine ideelle, die eben nichts ist, als die Vorstellung einer Seele, die
grade dies Werk vollbracht hat.
Wie wir eine Vielheit äußerer Eindrücke, die sich in
unserem Bewusstsein treffen, zu der Einheit eines Gegenstandes zusammenschließen,
zu einer Substanz, von der sie ausstrahlen, und deren Einheit das Gegenbild
der Form unserer Seele ist: so wird uns die Mannigfaltigkeit der Töne
und Farben, der Worte und Gedanken eines Kunstwerks in Wechselwirkung gesetzt,
durchdrungen, zusammengehalten durch die Seele, von der wir sie ausstrahlen
fühlen und die als der Träger der Einheit erscheint, zu der sie
in unserer eigenen Seele werden.
Dass wir das Kunstwerk sub specie animae empfinden, ist
eine der zum Grunde liegenden Kategorien, durch die es überhaupt erst
wird, was es für uns ist - wie entsprechend die Natur es wird, indem
wir sie unter der Kategorie von Ursache und Wirkung anschauen.
So wenig aber die Ursächlichkeit etwas für sich und hinter
den Erscheinungen Stehendes ist, sondern nur das immanente, sie zusammenhaltende
Gesetz, so wenig steht die schöpferische Persönlichkeit, auf
die das Kunstwerk projiziert wird, jenseits seiner, sondern ist eine innere
Bedingung unserer Auffassung, sie ist eine Funktion des gegebenen Kunstwerkes
selbst und ausschließlich von ihm aus zustande gekommen.
Es wird hier also nicht, wie bei der Interpretation durch die historische
Persönlichkeit des Schöpfers, auf eine Realität zurückgegangen,
die für das rein ästhetische Gebiet immer etwas Fremdes, ein
illegitimer Eindringling ist; sondern die Personalität wohnt hier
selbst in der Sphäre des Ideellen, sie ist die Form, in der die einzelnen
ästhetischen Gegebenheiten verständlich zusammenhängen.
Wenn etwa ein Werk Michelangelos den Eindruck des Tragischen macht,
so wirkt zu diesem vielleicht die Erinnerung an die Persönlichkeit
Michelangelos mit: an diese ins Unendliche aufstrebende und von allem Schwergewicht
innerer und äußerer Wirklichkeit niedergezogene Seele, erfüllt
von der Sehnsucht nach Versöhnung mit sich und ihrem Gott und doch
in angstvollem Dualismus verharrend, das eigene Sein und Tun nur nach dem
Ideal absoluter Vollendung bewertend und dabei durchdrungen von dem Bewusstsein,
nur ein Anfang, ein Bruchstück, ein halbgeformter Rohstoff zu sein.
Alles dies mag Ausdruck und Symbol in seinen Skulpturen finden, von
denen fast keine ganz fertig geworden ist, in denen die Spannung zwischen
dem leidenschaftlichsten Affekt und der physischen Möglichkeit seines
Ausdrucks ein Maximum geworden ist, deren jede als Moment des Kampfes einer
inneren, gleichsam latenten Vollendung mit einer ihr von außen aufgedrungenen
Unvollendetheit und Unvollendbarkeit erscheint.
Wenn aber das Gegebene uns erst durch jenes Persönliche solchen
Sinn erhält, so ist der Bereich des Ästhetischen damit verlassen,
das Verständnis des Kunstwerks ist nicht mehr von ihm selbst ausgegangen,
es ist ihm transzendent geworden.
Hiervon also müssen wir sorgfältig die Tatsache trennen (so
sehr im unmittelbaren Eindruck beides durcheinander gehen mag), dass uns das Werk an und für sich, ohne irgend ein Wissen um seinen Schöpfer,
tragisch erscheint,
Wie es bei den Skulpturen Michelangelos sicher der Fall ist.
Möglich aber ist dies allerdings auch nur auf Grund einer Seelenhaftigkeit,
die für uns aus den sinnlich gegebenen Formen, als ihr Quell und Träger,
herauswächst.
Dazu bedarf es nur jenes ganz allgemeinen und instinktiven Wissens um
die Äußerungen und Darstellungen der Innerlichkeit, ohne die es
weder zu einem gesellschaftlichen Dasein noch zu einer Kunst käme
und die sich völlig von dem historischen Kennen einer bestimmten Einzelpersönlichkeit
unterscheidet.
Es ist nicht der reale, individuelle, sondern der ganz allgemeine Mensch,
wenn auch in derjenigen Modifikation, die durch den sachlichen Inhalt des
Kunstwerkes angezeigt ist - ungefähr wie wir jeden beliebigen Satz
der Sprache verstehen, indem wir die psychische Bewegung in uns anklingen
lassen, die ihn normaler und logischer Weise hervorbringt, ohne auf die
besondere und vielleicht ganz andersartige seelische Konstellation zurückzugehen,
die ihn in einem einzelnen Fall wirklich entspringen ließ.
Deshalb ist es aber doch kein fehlerhafter Zirkel, wenn wir so aus dem
Werk eine schaffende Seele erschließen, und aus dieser Seele heraus
wiederum das Werk deuten.
Denn tatsächlich wächst dem gegebenen Werk aus unserem Vorrat
instinktiver Psychologie etwas neues zu, das ihm erst Sinn und Leben gibt:
nur dass dies nichts Zufälliges, Historisches, aus einer anderen
Ordnung Stammendes ist, sondern ein Notwendiges, die Kristallisation des
inneren Gesetzes der gegebenen Erscheinung.
Sollte es ein Zirkel sein, so ist er nicht vermeidlicher, als wenn wir
aus einer Reihenfolge sinnlicher Eindrücke ihre ursächliche Verbindung
erschließen, um dann durch eben diese Kausalität jene Eindrücke
und ihr Aufeinanderfolgen zu verstehen.
Und hiermit wird nun endlich klar, wieso Georges Gedichte, die sich,
so ganz jenseits der Subjektivität, unter die reine Gesetzgebung der
Kunst stellen, dennoch so ganz intim, so ganz als Offenbarung letzter Seelentiefe
und allerpersönlichsten Lebens erscheinen können. jene überindividuelle
Persönlichkeit, die, aus dem Kunstwerk gleichsam auskristallisierend,
in ihm selbst als sein Brennpunkt und Träger empfunden wird, bindet
beides zusammen.
Die ideelle Seele, deren Verhältnis zu dem Kunstwerk wir nur sehr
unvollkommen mit dem räumlichen Gleichnis des gleichzeitigen Darin-
und Dahinterstehens ausdrücken, hat eben hier die Qualität des
Intimen; das innere Gesetz des Werkes, das sich uns als zusammenhaltende,
das Ganze durchdringende Seelenhaftigkeit darstellt, ist hier: Erschließen
des innersten Lebens, Fortsetzung der fundamentalsten Regungen in die ästhetische
Erscheinung.
Weil es aber keine konkrete, singuläre Persönlichkeit ist,
auf die die Qualitäten des Werkes uns gefühlsmäßige
Anweisung geben, sondern nur die ihnen sachlich, innerlich Zugehörige,
die Ausstrahlung wie die Bedingung ihrer selbst - so unterscheidet sich
diese Intimität aufs schärfste von derjenigen, die als Indiskretion
über sich selbst und unziemliche Enthüllung wirkt.
Dies ist z. B. bei den sehr tief empfundenen und in ihrer Art sehr schönen
Gedichten Paul Heyse's über den Tod seines Kindes (in den »Versen
aus Italien«) zu spüren.
Hier klingt, ganz naturalistisch, noch der reale Schmerz mit, man fühlt
die ganz einzelne Persönlichkeit, die dies Leid betroffen hat, und
zwar in der Wirklichkeit, in einer Ordnung der Dinge ganz außerhalb
des Kunstwerks, betroffen hat.
Deshalb entsteht hier ein ästhetisch peinliches, unorganisches
Gemenge zweier ganz heterogener Reihen, der Realität mit ihren einzelnen,
zufälligen, konkreten Individuen, und der Kunst, in der nur die sachlichen,
also zeitlosen und von ihren historischen Trägern gelösten Bedeutungen
der Dinge gelten.
Indem George sich rein innerhalb dieser hält, kann er dennoch ganz
persönliche Bewegungen zum Ausdruck bringen, weil er sie nur an jenem
Persönlichkeitsbilde fühlen lässt, das die Worte und
Gedanken des Gedichts als ihr Apriori, ihre innere Einheit umfasst gleichsam die eigentliche Bedeutung der individuellen Wirklichkeit, aber
aus dieser Wirklichkeit selbst herausgerettet und in die Seinsart der bloßen
Idealität gekleidet.
Aber indem die Kunst hier das Gefäß für die letzten
Persönlichkeitswerte wird, darf nun der Genießende auch so objektiven
Kunstwerken Empfindungen subjektivster Art, gleichsam verklärt, zu
wenden: so sehr die Persönlichkeit, die diese Gedichte uns fühlbar
machen, nur der ideale Brennpunkt des Kunstwerkes selbst und nicht die
reale Individualität ist, gewährt sie doch der Dankbarkeit für
das Empfangene, aus der Form der Bewunderung in die der Liebe überzugehen.
Anmerkung
1) Ich lehne ausdrücklich ab, mit alledem eine
Kritik der Georgeschen Dichtung zu geben. Mich geht hier nur an, was an
dieser die Exemplifizierung gewisser kunstphilosophischer Gedanken ist
- ganz dahingestellt lassend, ob das Werk damit, quantitativ und qualitativ,
vollständig bezeichnet wird oder nicht. |