Online Publications 

Towards Cybersociety and "Vireal" Social Relations


Bibliographische Zitation:
Geser Hans:
Wiederbelebung vergessener Traditionen oder Aufbruch ins Dritte Jahrtausend? Neue Chancen politischer und regionaler Identität im Internetzeitalter. In: Sociology in Switzerland: Towards Cybersociety and Vireal Social Relations. Online Publikationen. Zuerich 1997. http://socio.ch/intcom/t_hgeser04.htm


 

Wiederbelebung vergessener Traditionen

oder Aufbruch ins Dritte Jahrtausend?

Neue Chancen politischer und regionaler Identität im Internetzeitalter

 

Hans Geser (1997) 

 

Wenn die Schweiz sich nach wie vor als demokratisches und föderalistisches Staatswesen versteht, müsste sie logischerweise ein Mediensystem anstreben, in dem alle Bürger(innen) und alle Regionen und Gemeinden dieselbe Chance haben, ihre Ideen, Werte, Meinungen und Forderungen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck zu bringen.

Seit Jahrzehnten ist offensichtlich, dass dieses Ziel auf der Grundlage der bisherigen Massenmedien immer weniger erreichbar ist.  Denn Presse, Film, Radio und Fernsehen haben gemeinsam, dass sie nur für radiale Einwegkommunikation (von einem Sender zu vielen passiven Empfängern) geeignet sind und deshalb in fataler Weise dazu tendieren, durch Werbung, Propaganda (oder einfach durch selektive Auswahl des Dargebotenen) den Einfluss von Eliten und die Autorität zentralistischer Machtstrukturen zu verstärken. Demgegenüber sind die technischen Möglichkeiten, um von Vielen zu Einem (oder von Vielen zu Vielen) zu senden, auf einem viel primitiveren Niveau stehengeblieben. 

Im Zeitalter der Pressekonzentration und der globalisierten Fernsehnetze sind die Zugangschancen zur Öffentlichkeit ungleicher als fast alle anderen Güter (Einkommen, Vermögen u.a.) verteilt. Das für alle verbürgte Grundrecht der "Pressefreiheit" beinhaltet für die Herren Murdoch und Turner die Möglichkeit, weltweite Satellitenprogramme zu betreiben; für die meisten von uns aber nicht einmal das Recht, einmal im Leben einen Leserbrief gedruckt zu sehen.  Wenn man von der NZZ absieht, hängt es in der Schweiz von wenigen Verlegerfamilien ab, welche Tages- und Wochenblätter überhaupt noch erscheinen und wer die Chance erhält, als bezahlter Redaktor oder Journalist auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen.  Sicher ist: solche Medien werden vielerorts geschätzt, weil sie dafür sorgen, dass in Abstimmmungskampagnen unisono die Stimme der Vernunft durchdringen kann, dass die Politiker sich der Kontrolle einer machtvollen "vierten Gewalt" beugen müssen, und dass sich anlässlich von Olympischen Spielen oder bei Trauerfeiern für prominente Blondinen die halbe Menschheit kurzfristig zu einer konsensualen Erlebnisgemeinschaft zusammenfindet. 

Auf der andern Seite beklagen wir zurecht, dass die Standpunkte wichtiger Minderheiten nicht zur Kenntnis genommen werden; dass vorzugsweise über Vorgänge an der Spitze der nationalen Politik berichtet wird, während Ereignisse in unteren Rängen (sowie auf Kantons- und Gemeindeebene) unterbelichtet bleiben; dass Regionen wie das Oberwallis oder Unterengadin in Radio und Fernsehen kaum zur Geltung kommen; dass es in immer mehr Städten keine eigene Tageszeitung (geschweige den eine Mehrzahl konkurrierender Blätter) mehr gibt; oder auch: dass wir als Schweizer kaum (sehenswerte) Filme produzieren, in denen wir uns mit unserer Sprache und unseren Alltagsgewohnheiten wiederkennen. 

Die Wissenschaft spricht davon, dass ein immer drastischeres "Gefälle der Selbstthematisierung": besteht: zwischen 

·        grossen Ländern wie den USA, die alle Aspekte ihrer Kultur und ihres sozialen Lebens in Filmen, Fernsehserien, Nachrichtensendungen usw. zum Ausdruck bringen können; 

und 

·        Mikrostaaten wie z.B. Liechtenstein, die mangels eigener Radio- und Fernsehprogramme auf schmalbrüstige Pressemedien angewiesen sind – oder kleinen Gemeinden ohne Lokalzeitung, wo sich die politische Diskussion auf Gespräche am Stammtisch oder in intransparenten Insider-Zirkeln beschränkt. 

Daraus ergibt sich das Paradox, dass die Menschen gerade ihren kleinräumigeren Kollektiven, denen sie angehören, oft relativ randständig und "entfremdet" gegenüberstehen. Viele Schweizer(innen) sind - z.B- als Neuzuzüger - selbst über die wichtigsten aktuellen Vorgänge in ihrer Wohngemeinde nicht informiert - und manche wären eher in der Lage, die deutsche Bundesregierung als ihren Gemeindevorstand zu wählen, weil letzterer sich in keiner Fernsehsendung präsentiert.

Im Lichte dieser Situation richten sich heute berechtigte Hoffnungen auf die neuen weltweiten Computernetze, deren Hauptfunktion ja darin besteht, ihren Nutzern unabhängig von Ort, Zeit und sozialen Kontrollen äusserst niederschwellige Möglichkeiten zur Selbstdarstellung in der globalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen,   "Niederschwellig" heisst nicht nur, dass nur geringe Finanzmittel und Kenntnisse nötig sind, sondern vor allem auch: dass man nicht auf die Unterstützung irgendwelcher Institutionen oder Organisationen angewiesen ist, die den Zugang zur Oeffentlichkeit kontrollieren.  Keine Gemeinde oder parteiinterne Splitterfaktion ist so klein und keine Bürgerinitiative oder Vogelschutzvereinigung derart unbemittelt, dass sie nicht in der Lage wäre, im Internet eigenständig ihre Existenz zu bezeugen und ihre Gründungsgeschichte, Wertorientierungen, Zielsetzungen und Aktivitäten "aus erster Hand" zu präsentieren.  Manchen mikroskopischen Gruppierungen kann kann überhaupt nur auf dem Internet begegnen: z.B. der auf das Zürcher Oberland begrenzten "Evangelisch-sozialen Partei" (ESP), die sich ausschliesslich an linksgrün gesinnte evangelikale Christen wendet und mit ihrem öffentlichen Auftritt vielleicht die Hoffnung verbindet, bei den nächsten Wahlen eine von der Mutterpartei (EVP) getrennte Liste zu präsentieren.1

) 

Die relevante Frage ist hier nicht mehr: wer hat genug Macht und Geld, um sich Zugang zu öffentlichen Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen, sondern: wem gelingt es, (z.B. durch gute Gestaltungsideen oder nützliche Informationen) für seine Online-Präsentationen in der täglich wachsenden Fülle von Netzangebote verbreitete Beachtung zu finden?  Paradoxerweise stellt man fest, dass ausgerechnet ein paar sehr kleine, wenig bekannte Gemeinden (z.B. Lachen, Mümliswil oder Thayngen) mit phantasievoll-attraktiven, gutbesuchten Angeboten vertreten sind, während sich z.B. die Zürcher Stadtregierung noch nicht zu einem offiziellen Webauftritt hat durchringen können. 

Zweitens fällt auf, dass die offiziellen Websites der mächtigsten politischen Akteure (Bund, Kanton Zürich, Bern oder Graubünden) einen überaus nüchternen Eindruck machen und sich vorwiegend auf die Darstellung offizieller Organe und Vorgänge beschränken, während z.B. einzelne Bundesämter (BIGA, Amt für Energiewirtschaft), entlegenere Talregionen (z.B. Guldental, Emmental) oder Kleinkantone (Appenzell-Innerhoden, Zug u.a.) ungleich lebendiger wirken und von Trägerschaften konzipiert scheinen, die lustvoll und hoffnungsfroh die neuen multimedialen Möglichkeiten des Cyberspace erkunden.  

Der offensichtliche Grund dafür liegt darin, dass grosse politische Einheiten bei ihrer Selbstdarstellung Mühe haben, weil vielfältige Interessen berücksichtigen müssen, während es kleineren Regionen und Gemeinden ebenso wie spezialisierten Ämtern viel leichter fällt, allgemein zustimmungsfähige Präsentationsinhalte (z.B. lokale Kunstwerke und Naturschönheiten oder interessante Spezialinformationen) zu präsentieren.  So mag das Internet dazu führen, dass sich die Menschen über vielfältige Spezialinstitutionen auf ihre angestammte Heimat beziehen.: z.B. dass von Wellen der Nostalgie heimgesuchte Auslandschweizer z.B. die Homepage ihrer ehemaligen Gymnasialschule2) aufsuchen, oder Arbeitslose regelmässig die Stellenbörse des kantonalen Arbeitsamts konsultieren - um von dort zwanglos zu den Webangeboten weiterer kantonaler Stellen zu surfen. 

Mit Blick auf die Schweiz erhält man drittens den Eindruck, dass Regionen im sich konstituierenden helvetischen Cyberspace ein relativ starkes Gewicht erhalten werden, obwohl (oder weil?) sie staatspolitisch (und auch sonst im Gesellschaftsleben) sehr wenig bedeutsam sind.  Einige Hinweise dafür lassen sich der untenstehenden Wortzählung (vom Herbst 97) entnehmen, wo sich zeigt, dass Webpages mit den Begriffen "Region" oder dem Wortstamm "regional" zumindest in der deutschen Schweiz sehr viel häufiger sind als solche, die auf die kantonale, kommunale oder europäische Ebene Bezug nehmen. In der Westschweiz besteht zwischen regionalen und kantonalen Referenzen eher ein Gleichgewicht, während die europäische Ebene sehr viel stärker im Vordergrund steht. 

Wortzählung in sear.ch (25. September 1997):
 
 

Gemeinde/lokal*/

29907

commune/local

13578

Region/regional*

61238

région/régional*

24710

Kanton*/kantonal*

40324

canton/ cantonal*

27466

Schweiz/schweizerisch*

109420

Suisse/national*

68430

Europa/europäisch*

22987

Europe/européen/

37566

Welt/global*

70694

monde/mondial*/

39418

 

Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von Netzangeboten, die explizit auf die Bevölkerung (oder Wirtschaft) einer Region ausgerichtet sind (Emmental. Toggenburg, Haslital, Seeland, Oberaargau, Oron, Vallée de Joux, Poschiavo etc.).Andere sind zwar in einer Zentralgemeinde verankert, legen aber Wert darauf, die weitere Region rundherum mitzupräsentieren.3) In der Vielfalt (und zeitlichen Variabilität) dieser Angebote widerspiegelt sich eine gewisse Unsicherheit darüber, was damit eigentlich bezweckt wird und wer primär angesprochen werden soll.  Bei den meisten stehen nüchterne Sachinformationen (über Veranstaltungen, Beherbergung, gewerbliche Angebote, Verkehrsverbindungen, Verwaltungsstellen, offene Stellen usw.) im Vordergrund: wobei durch eine möglichst breite Diversifikation solcher Infos versucht wird, Netzsurfern mit sehr unterschiedlichen (nicht voraussehbaren) Bedürfnissen etwas zu bieten.  Im Falle von "BEoberland" erstrecken sich diese Hilfestellungen sogar auf eine Page zur "Geistigen Lebenshilfe", auf der man (von einem ungenannt bleibenden Autor) z. B. erfahren kann, dass das Leben unergründlich sei und seine Vollkommenheit sich in der Unendlichkeit widerspiegle.4) 

Auch bei völligem Fehlen identitätsstiftend-heimatlicher Elemente ist überall das Interesse spürbar, der Region als Mittelpunkt individuellen, sozialen und kulturellen Lebens mehr Bedeutung als bisher zu verleihen: sei es, dass man in der Freizeit die in der Gegend stattfindenden Sportveranstaltungen besucht und auf einen innerregionalen Anbieter zurückgreift, wenn man Möbel oder Orientteppiche anschaffen will oder einen Automechaniker, Elektrofachmann oder Physiotherapeuten benötigt. Lehrlinge sollen nicht "auswandern" müssen, da sie auf der Webpage einen inserierenden Lehrmeister aus ihrer Nachbargemeinde finden, und selbstverständlich soll jeder, der sich eine professionelle Webpage zulegen möchte, die Dienste regional ansässiger Informatikfirmen in Anspruch nehmen.  Hinzu tritt - mit Blick auf die Weltöffentlichkeit - das Ziel, die Region als attraktive Gegend auf dem Globus zu präsentieren, die als Standort für Industrie- und Dienstleistungsbetriebe, als Destination für erlebnisreiche touristischer Ausflüge oder als Domizil für gutbetuchte Steuerzahler Positives, ja Unvergleichliches anzubieten habe. 

Das Motiv zur vorteilhaften (z.B. tourismusfördernden) Aussendarstellung verbindet sich symbiotisch mit dem Ziel, jene partikulären Eigenheiten der Region (Landschaft, Kultur, Geschichte, Volkstum u.a.) zu betonen, die für die eingesessenen Bewohner selbst zu Verankerungspunkten ihres regionalen Heimatgefühls und Identifikationsbewusstseins werden können. So können heimwehkranke Auslandtoggenburger sich unter der Webpage "Augenschein" an Fotos vom "Tagesanbruch in Bütschwil" oder von "Bauernhöfen beidseits des Neckers" erfreuen5), und manche Glarner dürften sich erst angesichts der Website, die den den im Kanton sesshaften Autoren gewidmet ist, des Reichtums heimischen Literaturschaffens innewerden.6) 

Bezeichnenderweise findet man die am besten ausgebauten Websites häufig bei Regionen, deren Einwohner relativ weit verstreut wohnen und/oder aufgrund der gebirgigen Zerklüftung ihres Wohngebiets bei Offline-Kontakten relativ grosse physische Hindernisse erfahren.  Dies gilt für das Berner Oberland genauso wie für das Toggenburg, das – als frühere "Grafschaft" – die Bevölkerungen mehrerer voneinander unabhängiger Talschaften mitumfasst, und es gilt für das Appenzell mit seiner typischen Streusiedlungsweise, die die dörfliche Konzentrierung des Gemeinschaftslebens erschwert. Im Ausland lebende Eidgenossen erhalten teilweise überhaupt erst via Online-Kommunikationen die Chance, sich untereinander oder mit ihren hiesigen Angehörigen zu vernetzen. So unterhält z.B. der "Swiss Club of Central North Carolina" eine Website, die vor allem der laufenden Information über Zu- un d Wegzüger und der nostalgischen Erinnerung an vergangene Heimattreffen dient.7) 

Diese Funktion des Internet, kompensativ zu den fragmentierenden Tendenzen der Offline- Welt virtuelle Gemeinschaftlichkeit zu fördern, hat bisher wohl im "Proggetto Poschiavo" seinen deutlichsten Ausdruck gefunden, an dem sich Gruppen aus weit entlegenen Tälern des Puschlavs, Bergells, des Veltlins und Valchiavenna mit beteiligen.   Im Herbst 1996 hat eine Initiativgruppe unter der Führung des "Istituto Svizzero di Pedagogia per la Formazione Professionale" (eine Zweigstelle des BIGA) systematisch mit Internet-Ausbildungskursen begonnen, um möglichst zahlreiche Bewohner der Gegend in die Lage zu versetzen, sich mit einer eigenen Thematik am Aufbau der Regionssite "Progetto Poschiavo"8)mitzubeteiligen. In der Folge sind unter Beteiligung von über 100 Einwohnern 21 thematische Netzseiten entstanden, die sich z.B. mit der Volksmusik im Bregagliatal, mit der heimischen Oekologie von Medizinalkräutern, mit den Problemen heimischer Arbeitslosigkeit, Bewässerungsprojekten, und schliesslich auch mit den Lebensgewohnheiten jenes seltenen heimischen Nagetiers befassen, das unter der Bezeichnung "mus poschiavinus fatio" Eingang in die Wissenschaft gefunden hat. In anderen Projekten geht es um das Problem, die Bibliothek von Poschiavo landesweit (oder grenzübergreifend) zuvernetzen, für ein altes leerstehendes Kloster eine neue Bestimmung zu finden oder neue Konzepte für die Vermarktung heimischer Agrarprodukte zu finden. Ganz offensichtlich ist bei den Beteiligten das doppelte Ziel massgebend, einerseits nach innen ihr regionales Selbstbewusstsein zu stärken und andererseits ihre – gleichzeitig geographische und sozio-ökonomische – Marginalität gegenüber ihrem schweizerischen und italienischsprachigen Umfeld zu überwinden.9) 

Zumindest im Fall der privaten Partisanengruppe, die die Domain "Juranet" für sich reserviert hat, kann man – in entfernter Analogie zu den Websites der Lega Nord, der Kurden, Waliser und anderer sezessionistischer Regionen - vom Versuch sprechen, durch Aufbau einer "virtuellen Gegenidentität" die aktuelle territoriale Ordnung im Nationalstaat zu unterminieren.   Auf den ersten Blick glaubt man, die offizielle Site der jurassischen Kantonsregierung vor sich zu haben, bis man feststellt, dass auf der Landkarte anstelle des aktuellen Kantons die weitgespanntere Region Jura gezeichnet ist, die auch die bernischen Südteile um Moutier mitumfasst.10) Weil das "District de Moutier" in völlig gleicher Weise wie die Distrikte Pruntrut und Delemont präsentiert werden, wird der Verbreitung eines gegenüber den politischen Realitäten schroff abweichenden Bildes territorialer Identität Vorschub geleistet. 

Dieses Bestreben wird durch das Angebot einer umfassenden Email-Liste aller Jurassier unterstützt , die damit zur (kantonsunabhängigen) horizontalen Kommnikation untereinander ermutigt werden. Dass bei der Präsentation Moutiers und seiner Geschichte eine militante Wiedervereinigungsrhetorik angeschlagen wird und auf der Linkliste jeder Verweis auf bernische Webangebote fehlt, vervollständigt das Gesamtbild in stimmiger Weise. Und dass die Urheber der Site stolz auf eine monatliche Zahl von 50000 Hits (!) verweisen können, zeigt, dass Webangebote dissentierender Bewegungen eine ungleich höhere Beachtung als offiziell-behördliche Präsentationen finden können - sofern es ihnen gelingt, die Interessen einer weitgespannten Anhängerschaft, die sich sonst vielleicht in den Medien nicht hinreichend vertreten fühlt, zum Ausdruck zu bringen.  "Subversiv" in einem anderen – vielleicht letztlich nicht harmloseren – Sinne sind die transnationalen Grenzregionen, die sich besonders stark auf Internet-Kommunikation abstützen, weil sie angesichts der nationalen Segregation der Presse bisher keine Möglichkeit besassen, sich in einem Medium einer weiteren Oeffentlichkeit integral zu präsentieren: 

1) COTRAO (Communauté de travail des Alpes occidentales)11) 

Die COTRAO wurde bereits 1982 als eine transnationale Arbeitsgemeinschaft gegründet; die neben den Schweizer Kantonen des "arc lémanique", die französischen Regionen Rhône-Alpes und Provence-Alpes-Còte d’Azur und die italienischen Provinzen Ligurien, Piemont und Aostatal umfasst:  In ihrer aktuellen Ausdehnung stimmt die COTRAO sehr weitgehend dem ehemaligen Herzogtum Savoyen: ein Illustrationsbeispiel dafür, wie .- wie z.B. auch im Fall der Grafschaft Toggenburg - ehemalige historische Territorialherrschaften im Internet ihre virtuelle Wiederauferstehung feiern können.  Ebenso illustriert sie die Regularität, dass das Internet keineswegs die Kraft hat, völlig neue regionale Identitäten zu konstituieren, hingegen sehr wohl die Fähigkeit, bereits bestehenden regionalen Verbänden, die bisher kaum an die Oeffentlichkeit getreten sind, als Mittel interner Kommunikationsverichtung einerseits und als Medium der Aussendarstellung andererseits zu dienen.  Im vorliegenden Fall wird die Wirkung allerdings dadurch begrenzt, dass sich die Page allzu sehr als Kopfgeburt der formellen Verbandsgremien und –kommissionen präsentiert, die im neuen Medium zusätzliche Chancen der Selbstdarstellung erblicken, ohne aus den spezifischen (z.B, interaktiven) Möglichkeiten des Internet Nutzen zu ziehen.  

Damit kontrastiert COTRAO mit dem am entgegengesetzten Grenzzipfel der Schweiz entstandenen 

2) EMB-Net ("electronic mall Bodensee"),  

das sich – zwar auch "von oben her" konstituiert – als aktiver Katalysator einer neuen, nur mittels elektronischer Medien realisierbaren Form regionaler Integration und Identitätsbildung sieht, die schwerpunktmässig vor allem eine Verdichtung wirtschaftlicher Transaktionen im Blickfeld hat.12)   Die Vorstellung, die "electronic mall" solle gewissermasssen die Verkaufshallen der grossen peripurbanen Einkaufszentren der 70er und 80er jahre (Spreitenbach, Glatt, Säntispark u.a.) ersetzen, geht so weit, dass mit Hilfe modernster VRLM Technik versucht wird, beim Besuch der Site den Eindruck einer "dreidimensionalen Erlebniswelt" zu bieten.  Darüber noch weit hinausgehend, soll die Website zu einem Brennpunkt verschiedenster privater und öffentlicher Kommunikations- und Austauschbeziehungen avancieren, mit dem Ziel, dass sich die Bevölkerung in möglichst vielen Lebensbereichen vorrangig an diesem transnationalen Raume orientiert: Ausgehend vom Motiv, die natürlichen Standortnachteile der geographischen Lage zu kompensieren, soll der Einsatz elektronischer Kommunikation der Region neue wirtschaftliche Wachstumsimpulse verleihen und sie zur Modellregion werden lassen, die für viele andere europäischen Regionalverbünde wegweisend sein will.13) * * *  Wenn man bedenkt, wieviel Begeisterung, Phantasie, Kreativität und ernsthafte Aufbauarbeit das Internet bereits in diesen Anfangsphasen geringer Verbreitung in verschiedensten Kreisen entfesselt hat, darf man in Zukunft auf erwarten, dass es sich in Zukunft alle unsere Lebensbereiche durchdringen und das, was wir die "politische Oeffentlichkeit" nennen, in besonders dramatischer Weise umgestalten dürfte. 

Insbesondere gilt, dass die internationale Selbstdarstellung eines Landes wie der Schweiz nun in keiner Weise mehr von monopolistisch dafür zuständigen Behördeinstanzen (Aussenministerium, Botschaften, Konsulate, Pro Helvetia u.a.) oder traditionell etablierten offiziösen Privatinstitutionen (Wirtschaftsförderung, NZZ) unter Kontrolle gehalten werden kann, sondern von einer Vielzahl kleinerer und infomellerer , vom Staat überaus unabhängiger Akteure mitgetragen wird, deren Netzangebote ja alle in gleicher Weise weltweit abrufbar sind.  Im Ausland lebende Bürger unseres Staates dürften sich dann vielleicht nicht mehr so sehr als "Auslandschweizer", sondern als "Ausland-.Toggenburger" oder "Ausland-Liestaler" fühlen, weil sie im Internet Gelegenheit finden, ohne den Umweg über nationale Gateways direkt mit ihrer angestammten Region oder Gemeinde in Beziehung zu treten. 

Aber auch nach innen mag das Internet dazu beitragen, dass Bürgerinnen und Bürger den "Staat" weniger als in früheren Generationen als Einheit erfahren: denn diese Einheit ist infolge der Komplexität staatlicher Organisationen und Aufgaben derart abstrakt geworden, dass sie sich der multimedialen Vermittlung, für die das Netz die Chance bietet, weitgehend entzieht. Stattdessen fördert das Netz die (wohl schon immer realitätsnähere) Vorstellung, dass es sich beim "Staat" bloss (nominalistisch) um den Ueberbegriff für eine Vielfalt disparater Einzelakteure (Behörden, Kommissionen, Aemter, Kantone, Gemeinden) handle, wie sie beim Netzsurfen konkret erfahrbar werden.  Diese Fragmentierung mag sich in dem Masse verstärken, wie das neue Medium interaktive Verwendung findet: weil sich die Meinungskundgaben, Beschwerden und Forderungen der Bürger je nach ihrem Inhalt auf völlig verschiedene (spezifische) Anlaufstellen verteilen. 

Generell unterstützt das Internet jenen spielerisch-unverbindlichen Umgang mit Traditionen und Identifikationen, wie er bereits im Konzept der "Postmoderne" vorweggenommen wurde:  So kann ich mich drei Minuten lang von einer bewegenden "Memorial-Site" zu Ehren Mutter Theresas rühren lassen und im Gästebuch einen kleinen Eintrag hinterlassen; nachher widerstandslos zu den Verlautbarungen meines örtlichen Turnvereins überwechseln, aus einer momentanen nostalgischen Anwandlung die Schülerzeitung meines ehemaligen Gymnasiums konsultieren und mich schliesslich auf "Appenzell-Online" mit dem vielfältigen lokalen Brauchtum (Betruf, Silvesterkläuse, Funkensonntag u.a.) in Verbindung setzen, das im Leben meiner Grosseltern noch eine prägende Bedeutung besass. 

Auch im sensiblen Bereich politischer Orientierungen scheint eine pluralistische Vielfalt koexistierender und sich überlappender Referenzebenen Platz zu greifen, die mit den exklusiven Identifikationsforderungen des traditionellen Nationalstaats in ein Spannnungsverhältnis treten kann.14)  So unterstützt das Internet flottierende, selbstgewählte, ja nach situativen Bedingungen und sozialen Rollen wechselnden politischen Identifikationen: manchmal bin ich Thurgauer, dann Angehöriger der Bodenseeregion, in anderen Belangen solidarisch mit allen, die auch Deutsch als Muttersprache sprechen; dann Westeuropäer - und häufig einfach Mitglied der westlichen Zivilisation.  

Im selben Sinne kann es Nezugezogenen oder kurzzeitig anwesenden Touristen ermöglichen, sehr rasch eine gewisse Vertrautheit mit ihrem aktuellen Aufenthaltskontext zu erwerben, ohne dass sie dazu auf den Aufbau sozialer Bekanntschaftsbeziehungen (oder die Teilnahme an speziellen Veranstaltungen) angewiesen wären.  Und für Ausgewanderte bietet es die Chance, ungeachtet ihres Aufenthaltsorts hin und wieder ein bisschen in die lokale Kultur der Heimat einzutauchen (und dadurch die Situation, Emigrant zu sein, erträglicher zu finden). 

Die Auslandschweizer werden mit Sicherheit die Möglichkeit nutzen, sich über Computernetze weltweit effektiver zusammenzuschliessen und wirksamer auf sie betreffende politische Entscheidungen im Heimatland (bzw. auch in einzelnen Kantonen oder Gemeinden) Einfluss zu nehmen. Die Initiative "FDP International" (mit der die Freisinnigen sich ein zusätzliches Wählerpotential zu erschliessen hoffen) weist bereits darauf hin, dass es vielerlei Kräfte geben wird, die den altetablierten Vereinigungen (z.B. ASO) ihre bisherige Vorrangstellung streitig machen.15) 

Zumindest in diesen Anfangsjahren seiner Genese und Ausbreitung bietet das Internet das Bild einer riesigen Experimentierwerkstatt, in der mit wenig Aufwand und Risiko vielfältigste Möglichkeiten politisch-territorialer Identifikation produziert und angeboten werden in der oft nur vagen - Hoffnung, damit auf eine gewisse Nachfrage zu stossen.  Es macht sichtbar, dass es bereits bisher politische Identifikationen gegeben hat, die nur auf informeller, subinstitutioneller Ebene (in der regionalen "Volkskultur") erhalten geblieben sind, weil sie sich im konventionellen Mediensystem nicht haben ausdrücken können. Und andererseits kann vielleicht auch die Entstehung neuer regionaler Identitäten unterstützt oder beschleunigt werden, die aufgrund bereits bestehender Interdependenzen und kommunikativer Verdichtungen naheliegend sind, bisher aber weder in der Politik noch in den konventionellen Massenmedien hinreichende Ausdrucksmöglichkeiten gefunden haben. 

Allerdings ist es äusserst unwahrscheinlich, dass allein auf der Grundlage von Online-Kommunikation neue primäre Identifikations- und Soldaritätskerne entstehen könnten, die eine hinreichende Basis für die spätere Gründung stabiler formeller Assoziationen oder Institutionen darstellen würden.  Längerfristig bietet die Netztechnologie günstige Voraussetzungen dafür, dass das mediale "Angebot" an Identitätskonstruktionen der jeweils aktuellen "Nachfrage" entspricht: weil Anbieter wöchentlich, ja täglich und stündlich beobachten können, ob ihre Präsentationen (schon, bzw. noch) auf Interesse stossen oder ob die angebotenen Kommunikationsmöglichkeiten Zuspruch finden.  

Ein "Endsieg" des Internet über Presse und Fernsehen ist nicht wahrscheinlich und hätte auch zuviele problematische Konsequenzen:  Je mehr sich die Menschen im Cyberspace aufhalten, desto stärker werden ihre Erfahrungswelten divergieren und desto weniger werden sie bei ihren Offline-Begegnungen noch gemeinsame Gesprächsthemen finden - was wiederum ein Motiv sein kann, sich noch intensiver in virtuelle Gemeinschaftserlebnisse zu versenken.   Und: je mehr sich die Aufmerksamkeit des Publikums auf sehr verschiedene Politikebenen und Problemlagen aufsplittert, desto weniger kann eine einheitliche "öffentliche Meinung" entstehen, die als kraftvolle "vierte Gewalt" politisch wirksam werden kann.  Vielleicht werden die konventionellen Massenmedien in Zukunft noch nötiger sein als heute, um den zentrifugalen und vereinsamenden Wirkungen der Netzkommunikation gemeinsame Erlebniswelten, konvergente Diskussionsthemen und eine wirksame Meinungsführerschaft entgegenzusetzen.  

 

 

Anmerkungen  

1)http://www.evp-pev.ch/ 

2)So hat sich z.B. eine "Gesellschaft Ehemaliger der Kantonsschule Baden" (GEK) gebildet, die ihre periodische Informationsschrift übers Netz verbreitet).  

3)http://www.baden-schweiz.ch/deut/schul/kantibad/html/GEK.htm.

4)Z.B. Winterthur http://www.winti.ch/ 

5)http://www.beoberland.ch/ 

6)http://www.toggenburg.ch/ 

7)http://www.glarusnet.ch/rahmen1.html 

8)http://www.progetto-poschiavo.ch/ 

9)http://www.ispfp.ch/fd/AP/default.html 

10)vgl. "Anschluss ans Netz" Italienische Bündner Täler steigen ins Internet (Tages Anzeiger 9. 10. 1997: 14). http://www.juranet.ch/ 

11)http://www.unil.ch:8080/cotrao/welcome.html 

12)http://www.bodan.net/regioinfo/index.html 

13)http://www.ch1.emb.net/about/doku/paper1.html 

14)Ein Beispiel für die Ueberlappungstendenz der Internet-Regionen: manche der vom "bodan-net" angesprochenen Gebiete gehören auch zur Region "Rheintal", die wiederum eine eigene, sehr detaillierte Webseite unterhält (http://www.rheintalweb.ch/)

15)Auslandschweizer Organisation, die 1916 gegründet wurde und als Dachverband von ca. 700 weltweitverstreuten Schweizervereinen dient.
(vgl.
http://www.aso.ch/)

Last update: 04. Dez 14


Home: Cybersociety and Vireal Social Relations Home: Sociology in Switzerland

Contact:

  Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut

der Universität Zürich

Andreasstr. 15 
8050 Zürich
 
hg@socio.ch