Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Individualismus

ex: Marsyas. Eine Zweimonatsschrift, herausgegeben von Theodor Tagger, Erster Semesterband des Jahrganges 1917 (=Heft I vom Juli/August 1917), S. 33-39, Berlin

Ein italienischer Chronist der Frührenaissance erzählt, es habe damals einige Jahre lang in Florenz keine eigentliche Mode der männlichen Kleidung gegeben, da ein jeder sich auf eine besondere, nur ihm eigene Weise zu tragen wünschte.

Höchst bezeichnend ist dies für eine Zeit, die sich eben aus den bindenden Gemeinschaftsformen des Mittelalters zu lösen begann und in der der Einzelne sich gar nicht selbständig, charakteristisch, ausgezeichnet genug glaubte darstellen zu können.

Dennoch, wenn man die damaligen Porträts betrachtet, die die Menschen doch im ganzen so zeigten, wie sie gesehen sein wollten, und die Art, in der sie in der Literatur auftreten, so ist eine gewisse Gleichheit ihres Stiles unverkennlich.

Wie die Formen gesehen sind, wie die Einzelheiten zum Eindruck des Ganzen zusammenwirken, die ganze Haltung und die Gebärden - alles dies verkündet eine Gemeinsamkeit von Lebensgefühl und Gesinnung, die wie eine allgemeine Atmosphäre jene leidenschaftlich betonten Individualisierungen umgibt, durchdringt, formt.

Ja, sie bewirkt, dieser Individualisierung zum Trotz, dass der Einzelne doch schließlich sich als Träger eines Typus darstellt, eines mehr oder weniger allgemeinen Charakters oder Temperamentes.

In dem romanischen Wesen liegt - hierin dem klassisch griechischen verwandt - ein fundamentales Streben nach dem Allgemeinen, nach dem Typus.

Mit dem »Allgemeinen« ist hier nicht eine Kollektivität gemeint, ein praktischer Zusammenschluss zu einem umfassenden Gebilde, ein Sich-aneinander-Fügen, um ein höheres Ganzes real entstehen zu lassen.

Sondern es ist das dem Begriffe verwandte Allgemeine, eine Form oder ein Gesetz, das eine unbegrenzbare Zahl von Einzelexistenzen bestimmt und von dem eine jede solche durch Natur wie durch Willen gewissermaßen der Repräsentant ist.

Innerhalb der Schranken dieser Voraussetzung wird alle Freiheit, Unterscheidung, Ausgezeichnetheit gesucht, ja die letztere ist eigentlich nichts anderes als die besonders reine und starke Ausprägung von typischen, benennbaren Zügen.

Alles, was wir Individualität nennen, mag es als Sein, als Empfindung, als Sehnsucht auftreten, geht auf ein nicht weiter ableitbares Verhalten oder auf einen Urtrieb zurück, für den in der untermenschlichen Natur kein Ansatzpunkt auffindbar erscheint.

Immer bedeutet sie auf der einen Seite ein Verhältnis zur - größeren oder kleineren - Welt, ein praktisches oder ideelles, ein ablehnendes oder aneignendes, ein herrschendes oder dienendes, ein gleichgültiges oder leidenschaftliches; andererseits aber besagt sie, dass dieses Wesen eine Welt für sich ist, in sich selbst zentriert, irgendwie in sich selbst geschlossen und selbstgenügsam.

In diese Doppelheit versetzt die irdische Existenz jedes geistige Wesen, das man überhaupt als »eines« bezeichnen kann: es ist nach seinem Inhalt oder seiner Form etwas für sich, eine Einheit, es hat ein irgendwie in sich ruhendes Sein oder Sinn oder Zweck; und es ist zugleich ein Teil von einem oder von mehreren Ganzen, es steht in einem Verhältnis zu etwas außerhalb seiner, einem Umfassenden, einer über es hinausragenden Totalität.

Es ist immer Glied und Körper, Partei und Ganzes, Vollkommenes und Ergänzungsbedürftiges.

Individualität nennen wir die Form, in der diese Doppelbedeutung der menschlichen Existenz sich zur Einheit zu bringen vermag oder versucht.

Mit einer großen Mannigfaltigkeit von Graden und von Akzentuierungen mag dies geschehen.

Das Bewusstsein kann sich vollkommen auf das eigene, sich in sich rundende Sein legen und sich gegen die »Welt« sozusagen überhaupt nicht irgendwie »verhalten«.

Oder der Mensch kann den Sinn seines Individuell-Seins in der Vergleichung mit Anderen, in der Überordnung oder Gleichstellung, in der Einfügung oder dem Dienst an einem übergreifenden Ganzen sehen.

So unsäglich verschiebbar, durch Übergewicht oder Gleichgewicht bezeichnet, in Harmonie oder tragisch zerstörerisch, beide Elemente des Begriffs sich treffen mögen - immer bedeutet die undefinierbare Lebensbestimmtheit, die wir Individualität nennen, dass ein Wesen beide in Eins zusammenlebt: die innere Zentriertheit, Eigenweltlichkeit, das sich genügende Selbst-Sein - und das positive oder negative, sich angleichende oder sich abhebende Verhältnis zu einem Ganzen, dem das Wesen zugehört.

Zu der angedeuteten Art nun, wie der romanische Geist in der Renaissance seinen Begriff der Individualität ausgebildet hat, stellt sich deren Wirklichkeit und Ideal, wie beides sich im germanischen Geiste formt, in völligen Gegensatz.

Nicht als ob die klassisch-romanische Form nicht auch für nordische Menschen Glaube und Leidenschaft geworden wäre.

Alles aber, was hier als unser Eigenes ausgebildet ist, was auf unserem Boden - gleichviel in welcher Reinheit und in wie vielen Exemplaren -gewachsen ist, trägt eben den anderen Charakter.

Wie Rembrandt seine Menschen hinstellt - Seele zu Leib und Leib zu Seele geworden -, die Gestaltung und Sehnsucht in den Tiefen Beethovenscher Musik, die Idee des menschlichen Wesens bei Herder und Schleiermacher, die Bilder der Existenz, die uns aus Walther von der Vogelweide wie aus den deutschen Romantikern, aber auch aus Kierkegaard und aus Vielem bei lbsen und Selma Lagerlöf ansehen - von all diesem weiß keines etwas von jener Bindung an ein Formgesetz, an einen Stil, der, als ein allgemeiner, es durchdränge und von dem es nur Beispiel wäre.

An den Jünglingen des Parthenonfrieses wie an der Sophokles-statue, an den Gestalten von Leonardos Abendmahl wie an denen des klassischen französischen Dramas, an den Menschen Tizians oder Balzacs spüren wir die Zugehörigkeit zu einer jeweils bestimmten allgemeinen Art Mensch - obgleich die Sprache diese Art vielleicht überhaupt nicht oder nur mit den gröbsten Begriffen beschreiben kann.

Jeder dieser Menschen ist gewissermaßen von einer allgemeineren ideellen Sphäre umgeben, als deren augenblickliche Substanzwerdung, Kristallisation, er erscheint.

Der Individualismus, der Trieb zur Absonderung, Sich-selbst-Genügen, Sich-heraus-Heben gilt hier im letzten Grunde nicht dem isolierten Wesen, sondern dem Typus Mensch, für den dieses Wesen Spitze, Vertretung, Verdeutlichung ist.

Daher konnte diese Weise, den Menschen zu sehen und zu bilden, viel weitere Menschheitskreise ergreifen, viel mehr europäisches Kulturideal werden, als der germanische Individualismus, der am Menschen den Punkt seiner Einzigkeit sucht - im tiefsten Grunde gleichgültig, ob damit ein möglicher Typus dargestellt wird oder ob ein solches Wesen auch im numerischen Sinne »nur einmal« in der Welt sein kann.

Diese Gleichgültigkeit ist es, die den germanischen Individualismus von jenem Florentinischen scheidet, von dem der Anfang dieser Zellen eine charakteristische Erscheinung erzählte.

Jene Renaissancemenschen wollten eben etwas ganz Singuläres sein, grade wie Jahrhunderte später noch Bernini in seinen Porträtbüsten ausdrücklich grade das am Menschen herausstellen wollte, »was die Natur keinem andern als grade ihm gegeben hat« - obgleich, ebenso für den Italiener bezeichnend, wie ihm selbst unbewusst, jede einzelne auf eine durchaus typische Formgebung und Repräsentation eines Allgemeineren hin orientiert ist.

Niemals hätte Rembrandt dem Individualismus, für dessen germanische Form er der Stimmführer ist, jenes Ziel gesteckt; ihm hätte dieser Begriff nur bedeutet, dass das Leben des Menschen aus seinem für sich bestehenden, für sich verantwortlichen Wurzelpunkt entwickelt wird, unbekümmert darum, wie viele solcher Wurzeln etwa noch daneben die gleiche Erscheinung hervorgetrieben haben.

Der im romanischen Sinne individualisierte Mensch mag seine Selbstgenügsamkeit, Eigenheit, Weltfremdheit, noch so betonen - immer empfindet man noch ein Generelles, das gleichsam durch ihn hindurchleuchtet und über das hin man sich 'hin nähern kann: das Klare, Geformte, gewissermaßen Rationalistische des romanischen Menschen, dessen Unheimlichkeiten und Verschlossenheiten selbst, auch wo man ihren Inhalt nicht durchdringt, als Unheimlichkeiten und Verschlossenheiten offenbar sind.

Zu dem germanischen Menschen aber fehlt diese Brücke, man muss den Weg zu ihm unmittelbar von ihm selbst her nehmen, sonst verfehlt man ihn.

Jenes Doppelverhältnis, mit dem sich das Individuum als solches konstituiert, stellt sich für ihn so, dass er zwar einem Gesetz, einem Ganzen völlig gehorchen mag, d. h. sein Wesen einem Höheren unterstellt und einfügt, dieses Wesen selbst aber ausschließlich durch sich selbst werden lässt.

Er verdankt sich vielleicht dem Kosmos, vielleicht der Gesellschaft, vielleicht der göttlichen Ordnung, aber jedenfalls nicht einer Idee, deren Wesen es sei, auch noch andere in unbegrenzbarer Zahl zu umfassen.

Jener Individualismus des Renaissancemenschen war ein soziologischer, in dem Anders-Sein, dem Sich-Abheben bestehender; er bedarf der Vergleichung und setzt grade darum ein Allgemeines, Normgebendes, außerhalb der Individuen Stehendes voraus, an dem ihre Besonderheit sich messe.

Nun ist diese Scheidung selbstverständlich kein Schema, in das man jede einzelne Erscheinung mit scharfem Entweder-Oder einstellen könnte.

Sie bezeichnet nur die reinen, begrifflich isolierten Formen der Individualität, die Extreme, die die Wirklichkeit nie in dieser Unbedingtheit zeigt, zwischen denen sie sich vielmehr in unzähligen Abstufungen und Mischungen bewegt.

Grade der deutsche Geist hat seinen Berührungen mit der klassischen und der italienischen Welt eine Sehnsucht und eine Hinbildung nach der anderen Form des Individualismus entlehnt, die ihm oft genug ebenso zur Bereicherung wie zum verhängnisvollen Dualismus geworden sind.

Man kann keine tiefer deutsche Natur denken wie Kant.

Den absoluten und einzigen Wert des Menschen stellte er, wie in ungeheurer Einsamkeit, auf das schlechthin eigene sittliche Gewissen der Persönlichkeit, in das weder ein göttliches Gebot noch das eigene Glück, weder die Meinung eines Anderen noch eine geschichtliche Lage das geringste hineinzureden hätten.

Auf die Frage aber, was denn die Gestalt und Entscheidung dieser Pflichtbewusstheit, dieser ethischen Selbstgesetzgebung des Individuums wäre, antwortet er: ihr entspräche nur die Handlungsweise, die sich zugleich als ein allgemeines Gesetz denken ließe, von der man vernünftigerweise wollen könne, dass ein jeder, ohne Unterschied der Person, sie in gleicher Lage gleichartig vollzöge.

Hierin aber lebt doch jenes andere Ideal der Individualität, das seine Aussprache in der Unterordnung unter eine für alle gültige Norm, in der Einstellung in einen überpersönlichen Typus findet.

Gewiss, dies Gesetz kommt nicht von einer äußeren Gewalt, es biegt die Persönlichkeit nicht um, es ist vielmehr völlig autonom und fließt aus der letzten, unvermischten Wertquelle des Ich.

Aber den Lauf dieses Flusses bestimmt dennoch nicht die individuelle Qualität des Menschen, »Gesetz« und »allgemeines Gesetz« gelten hier ohne weiteres als solidarisch; zur Seite geschoben ist die Möglichkeit, dass die besondere Sprache, in der jeder besondere Mensch sich ausdrückt, nicht nur sein Sein, sondern auch sein Sollen verkünde.

Wie für Plato etwa die tapfere Handlung ihr letztes Wesen und Wert aus der allgemeinen Idee der Tapferkeit bezieht, nicht aber aus dem singulären Leben des singulären Menschen, dessen Pulsschlag sie ist - so ist auch für Kant die sittengesetzliche Handlung dem allgemeinen Gesetz der Sittlichkeit entnommen, mit ihr wird der Mensch zum Typus des Vernunftmenschen, und dass es ein »individuelles Gesetz« gäbe, das sich ausschließlich aus dem So-Sein dieses Individuums entwickelte (ohne darum im geringsten seine Idealität und Strenge oder die eventuelle Übereinstimmung seines Inhalts mit dem allgemeinen einzubüßen) - das verkennt die Kantische Ethik.

Die klassisch-romanische Bezauberung durch den allgemeinen Begriff, durch die überindividuelle Typik hat den rein germanischen Begriff der Individualität abgelenkt, der doch auch für Kant letztes Fundament ist: dass der Sinn und Wert der individuellen Existenz schließlich aus ihrer eigenen Wurzel wächst.

Aber nur bis zur Ablehnung aller sittlichen Normen, die von außen an diese Individualität herantreten mögen, ist der Individualismus hier vorgedrungen; das Innerliche dieses Individualitätswertes selbst wird wieder einer generalisierenden Idee verhaftet und gewissermaßen erst von seiner Verbreitung ins Allgemeine her wird es als Wert gewonnen.

Es ist schließlich dasselbe Verhängnis, das in das so ganz von dem Kantischen abweichende Lebensbild Goethes einen nie ganz gelösten Zwiespalt bringt.

Goethes Jugend war ein ungestümes Werden und Wachsen seines Ich und zugleich eine leidenschaftliche Sehnsucht nach diesem Ich, das immer reiner, mächtiger, gotterfüllter sein sollte; die Bodenkräfte seiner ganz auf sich stehenden Individualität erzeugen sein Sein und sein Schaffen, sein Glück und seine Qualen; so radikal ist sein Individualismus, dass er mit achtzehn Jahren sich bei dem Gedanken empört, er könne einmal Kinder haben, die irgend jemandem ähnlich sähen.

Diese echt germanische Passion ist seit der italienischen Reise umgebogen.

Nicht der Individualismus überhaupt; denn noch als ganz alter Mann spricht er aus, dass, wie der Mensch von innen heraus leben müsse, so der Künstler unter allen Umständen »immer nur sein Individuum zutage fördern wird«.

Aber dieses Individuum war ihm unter dem Einfluss der Klassik und der italienischen Kunst verändert: in den späteren Werken werden die Gestalten, so scharf umrissen und »von innen heraus lebend« sie sein mögen, mehr und mehr zu Typen, nach einem Formgesetz gebildet, das nicht auf ihre Einzigkeit beschränkt ist; jedes Individuum repräsentiert etwas Allgemeines, neben dem zwar andere, mit jenem nicht vermischte Allgemeinheiten stehen - aber in diesem Übereinzelnen, dieser generellen Idee seiner, ruht seine Bedeutung und sein Wert.

Er griff zu dieser Art des Individualismus, weil er den seiner Jugend nicht zu Form, anschaulicher Begreiflichkeit, festen Gesetzen bringen konnte; wie die Entwicklung dieses tief deutschen Geistes nun einmal liegt, musste er die Züge auszuscheiden suchen, die die Schwer-Zugänglichkeit, Schwer-Verständlichkeit des germanischen Wesens begründen.

Aber diese Rechnung ging nicht glatt auf.

Von so unermesslicher kultureller Bedeutung es wurde, dass Goethe die deutsche und die klassische Wesensart zu einem ganz neuen Gebilde zusammenschuf, so ging eben doch von der unmittelbaren Kraft des Selbst, von dem ungehinderten Schwung der nur in und durch sich selbst bewegten Seele ein Teil unwiederbringlich verloren.

Der Gewinn dieses Verlustes war groß - aber der Verlust dieses Gewinnes war nicht klein.

Der Individualismus seines eigenen Lebens wie seiner Hervorbringungen zeigt, mindestens hier und da, seitdem eine gewisse Spaltung.

Gewiss wird er noch immer von innen gespeist.

Allein dieses Innen muss zugleich noch etwas Allgemeines tragen oder ein Allgemeines lebt durch das Innen hindurch, es untersteht einem Gesetz, das die individuelle Form aus einem wie auch differenzierten Typus heraus bildet, und aus diesem Typus, nicht aber aus dem Einzigkeitspunkt ihrer Existenz, zieht sie ihre Legitimation.

Es gehört zu dem wunderlichen Schicksal des deutschen Geistes, dass eine Individualitätsform, die gleichberechtigt neben der seinen steht, ihm dauernd zum Verhängnis geworden ist.

Unverkennbar ist es viel gefährlicher, viel dunkler, viel verantwortlicher, auf germanische Art als auf klassisch-romanische zu leben.

In dem Augenblick, in dem die Triebkraft der Wurzel schwächer, die innere Stimme undeutlicher wird, in dem das verschleierte Gefühl für den kosmischen Wert grade dieses Mit-sich-Alleinseins und seines Zusammenhanges mit dem Weltgrunde uns irgendwie abhanden kommt - in eben diesem bietet sich die Verlockung jenes anderen Individualismus dar, der der Besonderheit den Rahmen eines generellen Stiles, der Eigenkraft den Rückhalt an einer mindestens ideellen Allgemeinheit gibt, für die dies einzelne Leben ein Beispiel, eine Sichtbarkeit, eine Verdichtung sei.

In dieser Form kann das Individuum sein Recht als solches sozusagen rational beweisen, in der germanischen Form kann es dies immer nur durch die Tat, und ist im übrigen auf das einsam in sich kreisende Selbstbewusstsein, Selbstgefühl angewiesen.

Wo dem romanischen Individuum die Tat verwehrt ist, bleibt noch immer jene Überindividuelle Sphäre als Träger und Umgebung seines Wesens bestehen und lässt - wie wir es oft an energielosen, inhaltlosen Existenzen des Südens spüren - eine einladende Liebenswürdigkeit und zugängige Kultiviertheit an der Stelle aufleuchten, an der wir eigentlich eine Persönlichkeit gesucht haben.

Dem Deutschen, der sich nicht durch die Tat - sei es als Schöpfung, sei es als Handlung, sei es als charakteristisches Verhalten - erweisen kann, mangelt solche Ausweitung der Individualität um seinen Kern herum, dieser bleibt wie in einer Schale, aus der der Andere, insbesondere der Fremde, ihn nur schwer herauslösen kann.

Nicht darum handelt es sich, dass die Deutschen überhaupt »individualistischer« seien als andere Nationen; mag das auf sich beruhen.

Sondern darum, dass die europäische Kultur den Begriff des Individuums, als eine Gleichung zwischen Ich und Welt, bei Romanen ebenso wie bei Germanen hervorgetrieben und damit zwei verschiedene Lösungen dieser Gleichung erzeugt hat.

Das deutsche Individuum, auch wo es sich Gesetzen, Formen, Ganzheiten »selbstlos« einordnet und dabei nur sich selbst treu bleibt, ist schließlich doch auf jene Verantwortlichkeit gestellt, die aus dem nur ihm eigenen Mittelpunkt wächst - während sie im klassischen und romanischen Individualitätsideal gewissermaßen den Brennpunkt bildet, in den ein allgemeiner Stil und ein ideell gemeinsames Formgesetz, der Typus und die überindividuelle Idee dieser Individualität selbst ihre Strahlen: Sinn und tragende Kräfte - zusammenleuchten lassen.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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