Georg Simmel:
Bruchstücke aus einer Philosophie der Kunst
ex: Festskrift
tillägnad Vitalis Norström pä Boärsdagen den 29 januari 1916,
Göteborg: Wettergreen & Kerber 1916, S. 15-26
I.
Der Mensch der griechischen
Statue hat den Stolz seiner Schönheit und das Bewusstsein, diese Schönheit
dem Beschauer gegenüber zu repräsentieren.
Dieser ideelle Zuschauer
ist ein ausschlaggebendes Moment des ganzen klassischen Stiles.
Man vergleiche etwa eine
italienische Grablegung mit einer Rembrandtschen.
In der letzteren ist zwar
jede Erscheinung ganz individuell und man wüsste kein Formgesetz zu
nennen, das gleichmäßig über allen stünde.
Ihre Einheit aber liegt
darin, dass eine jede ganz und gar in dem Aktus und der ihm zukommenden
Empfindung aufgeht, mit ihrem ganz unvergleichlichen Aussehen will doch
keine als etwas für sich Seiendes dastehen.
Bei den Italienern dagegen
teilt zwar jede mit jeder den formalen Typus, aber dessen besonderes Wesen
ist, dass jede für sich schön sein soll.
Das Sich-Verlieren an den
Vorgang wie an das über das bloße Sein hinausgehende Gefühl findet hier
seine Schranke an der ästhetischen Selbstgenügsamkeit und Betontheit des
Individuums, die von ihm sozusagen nie vergessen wird und die ideell immer
von dem, was es fühlt und worin es sich einordnet, gesondert bleibt.
Jeder Teilnehmer z. B. auf
der Raffaelschen Grablegung ist nicht nur für den Vorgang da, sondern
auch, von sich aus, für den Beschauer; damit aber stellt er sich diesem
zugleich gegenüber, als jemand, dessen Betrachtung sich auch lohnen soll,
der Anerkennung fordert, der auf sich hält: das Gegenübersein und das Für-sich-Sein
gehören zusammen.
Rembrandts Menschen dagegen
denken niemals an den Zuschauer und eben deshalb nicht an sich selbst.
Die Proportion von
Selbstbehauptung und Selbstaufgabe, die jedes menschliche Dasein irgendwie
bestimmt, steht bei ihnen zwischen der untypischen Individualität und der
Hingabe an das Geschehen und seine inneren Reaktionen, während in dem
italienischen Werk die gleichen Elemente in der stilgleichen, allgemein
gesetzlichen, den Beschauer voraussetzenden Formung einerseits und dem
stolzen, repräsentativen Aufsichhalten und Sich-Zurückhalten des
Einzelnen bestehen.
Nur freilich ist die
letztere Ausgestaltung jener Grundproportion mit einer gewissen Würde und
Vornehmheit ausgestattet, die den Rembrandtschen Menschen abgeht.
Nicht als ob sie das
Gegenteil dieser Eigenschaften in irgend einem positiven Sinne zeigten;
sie werden nur überhaupt von der ganzen Polarität von Vornehmheit und
Unvornehmheit nicht berührt.
Denn diese, so wie sie für
die Renaissancefiguren in Frage kommen, hängen durchaus von der realen
oder ideellen Gegenwart eines Gegenüberstehenden ab, oder vielmehr, diese
Vornehmheit besteht selbst, obgleich ein personales Verhalten, in einer
eigentümlichen Mischung von Reserve und Repräsentation dem Beschauer
gegenüber, von stolzem Sich-Abheben und gleichzeitigem Von-ihm-gesehen-,
Von-ihm-anerkanntwerden-Müssen.
Eine ganz andere Bedeutung
wieder hat der an den Porträts von Frans Hals bemerkte Zug, dass der
Dargestellte fast überall zu einem nicht dargestellten Dritten in
Beziehung stehe.
Denn dieser Dritte steht
durchaus im idealen Raume des Bildes selbst, weshalb man denn auch die
besondere Begabung des Hals für Gruppenporträts gerade mit diesem Zuge
in Verbindung gebracht hat - als würde in diesen eben nur das sonst
unsichtbare Korrelat des Einzelnen sichtbar gemacht.
Der ideelle Zuschauer in
der klassisch-romanischen Kunst ist zwar auch nicht etwa das lebendig
davor stehende Individuum (denn dieses hineinzuziehen, was immer eine Art
Koketterie mit ihm bedeutet, ist einer der rohesten, unkünstlerischen
Effekte), sondern steht wieder in einer ganz eigenen transzendentalen
Schicht: er ist weder ein Einzelner innerhalb des Kunstwerks wie bei Hals,
noch ein Einzelner außerhalb des Kunstwerks wie im letzteren Falle,
sondern ein schlechthin Allgemeines, jener »Idee« des Dargestellten
zugehörig, von der sowohl seine empirische Wirklichkeit wie seine künstlerische
Darstellung einzelne Ausformungen sind.
Dieser ideelle Zuschauer
ist überhaupt nicht als ein bestimmtes Wesen zu denken, sondern als ein
Hilfsbegriff, um die Qualität und Haltung der Gestalten auszudrücken.
II.
Wir sprechen von »bewegten
Gestalten« in der bildenden Kunst.
Allein, was bewegt sich
denn überhaupt im Bilde? Da sich die gemalte Figur selbst doch nicht
bewegt wie im Kinomatographen, so kann es natürlich nur heißen, dass die
Phantasie des Beschauers angeregt wird, sich die Bewegung zu und von dem
dargestellten Moment zu ergänzen.
Aber gerade gegen dieses
scheinbar Selbstverständliche habe ich Bedenken.
Prüfe ich mich genau, was
mir denn innerlich beim Anblick des fliegenden Gottschöpfers in der
Sixtina oder der zusammensinkenden Maria auf Grünewalds Kreuzigung
bewusst wird, so finde ich nicht das geringste von Stadien vor und nach
dem dargestellten Moment.
Dies wäre auch ganz unmöglich,
denn wie eine Gestalt von Michelangelo in einer anderen als der von ihm
selbst gezeigten Attitüde aussehen würde, kann der Beschauer S nicht
konstruieren.
Es wäre dann eine S'sche
Gestalt, aber nicht mehr eine michelangeleske, es wäre also gar nicht ein
Bewegungsmoment eben der Gestalt, um die es sich handelt.
Vielmehr, in einer Art, die
sich von der Wahrnehmung einer realen Bewegung wohl nur nach Intensität
und Komprimiertheit unterscheidet, ist die malerische Geste unmittelbar
mit Bewegtheit geladen.
Es ist ihr, so paradox es
klingt , immanent und nicht erst durch ein Vorher und Nachher ihr
supponiert, dass sie eine Bewegungsgeste ist: Bewegtheit ist eine Qualität
gewisser Anschauungen.
Mag also Bewegung ihrem
logisch-physischen Sinne nach eine Ausdehnung in der Zeit beanspruchen,
mag andererseits unser Anschauen, gleichfalls nach seinem logischen Sinne,
der sich freilich gleich als irrealer zeigen wird, sich gerade in jeweils
unausgedehnten Momenten vollziehen - so würde sich auch dieser
Widerspruch lösen, wenn die Bewegtheit auch dem Momentbild des Objekts
einwohnen kann, wie Farbe, Ausdehnung und wie überhaupt seine
Eigenschaften; nur dass diese Eigenschaft nicht so unmittelbar an der
Oberfläche liegt wie andere, nicht so sinnlich-einfach greifbar und
aufzeigbar ist.
Der Künstler aber bringt
sie auf ihren Höhepunkt, indem er sie an ein tatsächlich unbewegtes,
starr einmaliges Bild zu binden weiß.
Und erst wenn wir uns
klarmachen, dass wir auch der Wirklichkeit gegenüber nicht die von der
Momentphotographie festgehaltene Attitüde »sehen«, sondern Bewegung als
Kontinuität, was dadurch ermöglicht ist, dass unser subjektives Leben
selbst eine Lebenskontinuität ist und nicht ein Kompositum aus einzelnen
Momenten, das ja überhaupt kein Prozess und keine Aktivität wäre - so
begreifen wir, dass das Kunstwerk viel mehr »Wahrheit« darbieten kann,
als die Momentphotographie.
Wir brauchen in diesem
Falle gar nicht an die sogenannte »höhere Wahrheit« zu appellieren, die
das Kunstwerk gegenüber der mechanischen Reproduktion beanspruche; ganz
unmittelbar vielmehr und in ganz realistischem Sinne ist das Bild, dessen
Eindruck durch irgendwelche Mittel eine kontinuierliche Bewegung in sich
gesammelt hat, der Wirklichkeit (die hier doch nur die bewusste
Wahrnehmung der Wirklichkeit bedeutet) näher als die Momentphotographie.
Auch wird durch dieses
Gesammeltsein in einem Anschauungspunkt die Bewegung überhaupt erst zu
einem ästhetischen Wert.
Bedeutete sie innerhalb des
Kunstwerks wirklich nichts anderes, als dass zu dem dargestellten Moment
noch ein oder mehrere vorhergehende und nachfolgende durch Assoziation und
Phantasie hinzutreten, so sehe ich nicht, welchen ästhetisch qualitativen
Wert dieses bloße Mehr an Momenten zubringen sollte.
Meines Erachtens verhält
es sich hiermit ebenso wie mit der Bedeutung der dritten Dimension in der
Malerei, deren Fühlbarmachung an dem dargestellten Körper als künstlerischer
Wert gilt.
Die dritte Dimension als
Wirklichkeit ist schlechthin nur das Tastbare: empfänden wir nicht bei
der Berührung der Körper einen Widerstand, so hätten wir eine nur
zweidimensionale Welt.
Die dritte Dimension wohnt
in der Welt eines anderen Sinnes als die farbige Fläche des Bildes.
Wird nun durch allerhand
psychologisch wirksame Mittel zu dieser die dritte Dimension assoziativ
hinzuentlehnt, so ist dies eine bloß numerische Vermehrung über das
schon vorhandene Quantum von Dimensionen hinaus, ein Anhängsel an das
Gegebene, das nur in der seelischen Reproduktion des Beschauers entsteht
und an dem ich einen Wert als künstlerisches, von dem schöpferischen
Geist selbst geformtes Element nicht erkennen kann.
Soll die Fühlbarkeit der
dritten Dimension einen solchen haben, so muss sie eine immanente Qualität
des unmittelbar sichtbaren Kunstwerks selbst sein.
In einer Umsetzung, deren
Wege noch nicht beschreiblich sind, wird die Tastbarkeit, in der die
dritte Dimension als Realität allein besteht, zu einer neuen qualitativen
Note des rein optischen Bildes, auf das der Leistungsbezirk des Malers ja
doch beschränkt ist; durch die bloße, irgendwie erreichte Assoziation
der dritten Dimension - bei der diese immer noch ihre Realitätsbedeutung
behielte -wird dieses Bild, als künstlerisches, gar nicht bereichert,
sondern es erhielte nur ein Darlehen aus einer anderen Schicht, das sich
ihm organisch, in seiner eigenen, nicht verbinden kann.
Im Gegensatz zu den Täuschungskunststücken
des Panoramas ist, was wir die Dreidimensionalität der Körper im
malerischen Kunstwerk nennen, eine jetzt dem Augeneindruck zugekommene
Bestimmtheit, eine Bereicherung und Deutung, Intensivierung und Reizerhöhtheit
des Anschaulichen als solchen.
Das zu diesem in Hinsicht
des Raumes »Hinzugefügte« verhält sich also genau so wie das in
Hinsicht der Zeit.
Was sich assoziativ, von außerhalb
des unmittelbar Angeschauten her diesem anzugliedern scheint: die
Bewegungsstadien vorher und nachher, ebenso wie die dritte Dimension
hinter der Fläche, enthüllen sich als eine besondere Qualifizierung
dessen, worin das Kunstwerk wirklich besteht, des in Zeit und Raum sich
rein in sich abschließenden Anschaulichen.
Solche Qualifizierung des
unmittelbar Sichtbaren bringt, wie gesagt, der Künstler zu ihrer größten
Höhe und Reinheit.
Sie ist, obgleich zeitlos
eindrucksmässig, nur mit Zeitbegriffen zu bezeichnen; wir empfinden den
Augenblick der Bewegung als den Erfolg der Vergangenheit und die
Potentialität des Zukünftigen; eine gleichsam an einem innern Punkt
gesammelte Kraft setzt sich in die Bewegung um.
Je reiner und stärker die
Bewegung erfasst ist, desto weniger bedarf es für den Beschauer der
intellektuellen und phantasiemässigen Assoziationen, sondern diese
Bestimmtheit liegt unmittelbar innerhalb der Anschauung, nicht außerhalb
ihrer.
III.
Das Problem der
Individualisierung und das der Deutlichkeit der Darstellung verschlingt
sich an einem Punkte, von dem aus ein Widerspruch gegen hergebrachte
Vorstellungsweisen aufsteigt.
Man ist im ganzen gewöhnt,
für Darstellungen jeder Art das Zusammengehen von Detaillierung und
Individualisierung anzunehmen.
In dem Maß, in dem über
die Genauigkeit im einzelnen hinweggegangen wird und die Darstellung,
statt sich in das letzterreichbare Detail zu versenken, sich an den
Gesamteindruck hält, an die Zusammenfassung zum Großen und Ganzen - in
eben diesem Maße scheint sie sich nicht auf die Individualisiertheit des
Objekts, sondern auf ein Allgemeines, mit anderen Geteiltes zu richten.
Nach der herkömmlichen
Struktur unserer Begriffe enthält der sogenannte »allgemeine Eindruck«
einer Erscheinung dasjenige, was ihr mit anderen gemeinsam ist und was
erst durch Hinzufügung spezieller und immer speziellerer Bestimmungen die
Individualität der Erscheinung bis zur Einzigkeit und Unverwechselbarkeit
hin vortreten lässt.
Aber eine andere
Einstellung scheint mir sehr wohl möglich, die die unbefangene
In-eins-Setzung von Detailliertheit und Individualisiertheit aufhebt.
In sehr vielen
Erscheinungen mindestens ist gerade das Spezielle, Minutiösere, die große
allgemeine Überschau in das Detail der unmittelbaren Wirklichkeit Überführende
- gerade dies ist das Allgemeine, einer großen Zahl von Erscheinungen
Gemeinsame; gerade nur indem man über dies alles zugunsten der nicht in
Einzelheiten zerlegten Einheit der Erscheinung wegsieht, erfasst man deren
individuellste Wesenheit und Einzigkeit.
Die monographische
Darstellung großer geistiger Persönlichkeiten bietet, mit einer gewissen
Verschiebung, eine Analogie.
Was man als das »Persönliche«
an ihnen zu bezeichnen pflegt: die Umstände des äußeren Lebens, die
soziale Stellung, Verheiratetheit oder Ehelosigkeit, Reichtum oder Armut
-gerade das ist das Nicht-Persönliche am Menschen; gerade diese
Differenzierungen des Persönlichkeitsganzen teilt er ja mit unzähligen
anderen.
Das Geistige dagegen, seine
objektive Leistung, das über alle diese Vereinzelungen Hinweggehende,
bezeichnet man zwar nicht als ein logisch Allgemeines, aber immerhin ist
es insofern ein Allgemeines, als Unzählige daran teilhaben können, als
es sich in den Besitz des Menschheitsganzen einstellt.
Gerade dies indes muss man
als das eigentlich Persönliche ansehen.
Das für die Menschheit
oder die Kultur Allgemeinste ist für den Schöpfer sein Persönlichstes,
gerade dies markiert die Einzigartigkeit dieser Individualität: die
unvergleichliche Individualität Schopenhauer liegt doch nicht in seinen
»persönlichen« Verhältnissen: dass er in Danzig geboren wurde, ein
unliebenswürdiger Junggeselle war, mit seiner Familie zerfiel und in
Frankfurt starb; denn jeder dieser Züge ist nur typisch.
Seine Individualität, das
Persönlich-Einzige an Schopenhauer ist vielmehr »die Welt als Wille und
Vorstellung« - sein geistiges Sein und Tun, das gerade als um so
individueller hervortritt, je mehr man nicht nur von jenen
Spezialbestimmungen seiner Erscheinung, sondern auch innerhalb der
geistigen Ebene von dem Detail der Leistung absieht.
Gerade Einzelheiten und
Besonderheiten mögen hier und da an andere Schöpfer erinnern, ihr
Allgemeinstes, einheitlich Durchgehendes, ist schlechthin mit Schopenhauer
und nur mit ihm synonym.
Und so wird es wohl
allenthalben sein: was als der allgemeinste, alles Detail übergreifende
Eindruck einer Persönlichkeit an uns gelangt, ist ihre eigentliche
Individualität; je mehr wir in ihre Details eingehen, um so mehr kommen
wir auf Züge, die wir auch an anderen treffen; vielleicht nicht
durchgehend, aber in weiter Erstreckung schließen Detaillierung und
Individualisierung sich gegenseitig aus.
Wenn diese
Begriffsdifferenzierung befremdend wirkt, so liegt das an unserer
mechanistischen Gewöhnung.
Im Äußeren und
Unlebendigen freilich gewinnt eine Erscheinung Besonderheit und relative
Einzigartigkeit in dem Maß, in dem immer mehr Einzelbestimmungen an ihr
hervortreten; denn in eben diesem Maß wird die Wiederholung der gleichen
Kombination unwahrscheinlicher; hier wird tatsächlich die
Individualisiertheit einer Vorstellung durch Detaillierung ihres Inhaltes
erreicht; und dies geschieht auch an seelischen Objekten, insoweit wir sie
in psychologischer Äußerlichkeit, also nach mechanistischer Art
betrachten: dann wächst auch hier das Maß der Besonderheit proportional
der Zahl angebbarer Einzelheiten - obgleich ersichtlich die sichere
Erreichung einer wirklichen Individualität auf diese Weise eine nie zu
vollendende Aufgabe wäre.
Wird aber eine seelische
Existenz von Innen erfasst, nicht als eine Summe von Einzelqualitäten,
sondern als eine Lebendigkeit, deren Einheit jenes ganze Detail erzeugt
oder bestimmt oder deren Zerlegung dieses ist, so ist diese Existenz von
vornherein als volle Individualität da.
Je mehr jedes Einzelne in
ihr nun seine Einzelheit verlöscht, mit je weniger selbständigen Grenzen
eines sich gegen das andere abhebt, desto fühlbarer wird jenes
individuelle Leben, von dem irgend ein Element in ein anderes Leben zu
versetzen ein sinnloser Gedanke ist - was keineswegs der Fall ist, solange
Details in ihrer scharfen Umrissenheit das Ganze zusammensetzen.
Dies gilt nicht nur für
das isolierte menschliche Wesen, sondern für das Gesamtgebilde, in dessen
Zusammenhang es mit der Landschaft, mit Luft und Licht, mit dem Gewoge von
Farben und Formen verschmilzt, sei es, dass die Figur sich aus all diesem
als Höhepunkt entwickelt, sei es, dass all dieses gleichsam ihr
erweiterter Leib ist.
Die Individualität des
Gebildes als Ganzen, seine dadurch entstehende Einzigkeit, dass jedes
Teilchen nur in Bezug auf gerade dieses Zentrum Existenz und Sinn hat -
diese wird jedenfalls durch das Fehlen genauer Detaillierung begünstigt;
denn diese lässt den Teilen einen Sonderbestand, der ihre Einstellung in
einen anderen Zusammenhang prinzipiell ermöglicht und sie der Einzigkeit
ihrer jetzigen Bedeutung enthebt.
Dies scheint mir die
tiefere Verknüpfung zu sein, durch die das so oft Grenzverwischende,
Vibrierende, Verundeutlichende in Rembrandts Malweise zu einem Träger
seiner Individualisierungstendenz werden kann.
IV.
Die leidenschaftlich
hervorgehobene Individualität in der Renaissance - per tanto variar la
natura é bella - wird von der nicht weniger tief empfundenen allgemeinen
Naturgesetzlichkeit umfasst, als deren Wirkung wie als deren Symbol eine
Gleichmäßigkeit der Proportionen und der Stilgebung auftritt.
Für den
Renaissancemenschen war die Natur ein einheitliches, ideales Wesen, - in
so verschiedenen Tonarten es auch zu Michelangelo und Correggio, zu
Raffael und Tizian spricht - aus dem die Mannigfaltigkeit der Individuen
herauswächst, ohne sich von diesem Wurzelgrund zu lösen.
Hieran findet die
Individualisierung ihre Grenze, die von jenen Formgemeinsamkeiten
bezeichnet wird.
Eine solche Idee von »Natur«
liegt Rembrandt ganz fern.
Die Natur, die auch er
sucht, ist die des einzelnen Wesens, seine Porträtgestalten berühren
sich nicht in jener metaphysisch-monistischen Wurzel wie die der
Renaissance, ihr Sein geht nicht zu einem - formulierten oder nur gefühlten
oder tatsächlich wirksamen - Allgemeinbegriff zusammen, sondern erschöpft
sich vollständig in Jeder einzelnen; was durchaus damit zusammengehen
kann, dass die Gestalt in Licht und Luft versponnen ist oder aus einem das
Bild durchbrausenden Rausch und Sturm von Farben herauswächst.
Die allgemeine Natur, mit
der es auf diese Weise zusammenhängt, liegt ersichtlich in einer ganz
anderen, viel mehr anschauungshaften Schicht, als die pantheistische »natura«
der Renaissance.
Hier scheint das Verhältnis
Rembrandts zur Renaissance dem zwischen Shakespeare und Goethe einigermaßen
analog zu sein.
Bei aller reichen,
weitgespannten Individualisiertheit der goetheschen Gestalten sind sie
doch alle von einer geistigen Atmosphäre umfasst.
Die Nähe, in der ihr Schöpfer
noch zu jeder einzelnen steht - er, der seine gesamten Werke als eine persönliche
Konfession bezeichnet - findet ihr objektives Gegenbild darin, dass sie
alle wie Früchte einer einheitlichen Natur gewachsen scheinen: in allen
Verzweigtheiten der Existenz weht das eine göttliche Leben, dessen Atem
Goethe als den Lebenshauch jedes Wesens spürbar macht - diese Gott-Natur,
deren Kinder wir alle sind und die so unter, wie in, wie über einem jeden
lebt.
Bei Shakespeare nun
entwickelt sich die Individualität aus dem letzten Grunde nicht des Seins
überhaupt, sondern des eigenen Seins dieses Wesens, sie wird nicht
durchströmt von einem allen gemeinsamen, nur metaphysisch fassbaren
Lebenssaft, der alle mit irgendeiner Einheit nährte.
Eine gewisse chaotische
Naturdynamik, aus der sie aufzusteigen und die sie weiter zu umgeben
scheint, verhält sich zu diesen Einzelwesen vielleicht zutiefst viel
weniger einheitlich und vereinheitlichend, als die »Natur«, die »gute
Mutter« bei Goethe, aber sie liegt mit ihnen in der gleichen erlebbaren
substanziellen Schicht, sie ist wie die geatmete Luft um uns herum, die ja
die Stoffe enthält, von denen die Hauptmasse unseres Körpers gebildet
wird.
Diese zwar dunkel formlose,
aber ganz unmetaphysische Atmosphäre, in der Shakespeares Gestalten leben
und die ihre absolut selbstgenügsame, für sich allein Einheit-bildende
Individualität in keiner Weise in einen All-Grund hinabreichen und aus
ihm eine mit anderen gemeinsame Form gewinnen lässt - sie ist am ehesten
jenem Meer von Licht und Farbe zu vergleichen, das Rembrandts Gestalten
umleuchtet: aber indem sie aus ihm auszukristallisieren scheinen,
geschieht es nach dem individuellen Gesetz einer jeden, das keine
gemeinsame Notwendigkeit der einen und der anderen auferlegt.
Die »Natur« ist hier wie
bei Shakespeare gänzlich in die Individualität aufgegangen und behält
nichts mehr für sich zurück, um aus einer letzten Tiefe heraus alle mit
Formeinheit zu umfassen, wie es in der Renaissance und bei Goethe geschah. |