Georg Simmel:
Wandel des Kulturformen
ex: Berliner
Tageblatt, 4 5. Jg., Nr. 438, 27. August 1916, Morgen-Ausgabe, 2. Beiblatt
Das Marxische Schema der
wirtschaftlichen Entwicklung: dass die wirtschaftlichen Kräfte in Jeder
historischen Periode eine Produktionsform erzeugen, die ihnen angemessen
ist, innerhalb dieser aber zu Maßen anwachsen, die in jener Form nicht
mehr unterkommen, sondern sie sprengen und sich eine neue schaffen -
dieses Schema gilt weit über das wirtschaftliche Gebiet hinaus.
Zwischen dem immer weiter
flutenden, mit immer weiter greifender Energie sich ausdehnenden Leben und
den Formen seiner historischen Äußerung, die in starrer Gleichheit
beharren, besteht unvermeidlich ein Konflikt, der die ganze
Kulturgeschichte erfüllt, obgleich er natürlich streckenweise latent
bleibt.
In der Gegenwart aber
scheint er mir für eine große Anzahl von Kulturformen in vollem Gange zu
sein.
Als gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts der künstlerische Naturalismus sich ausbreitete, war dies
ein Zeichen, dass die von der Klassik her herrschenden Kunstformen das zur
Äußerung drängende Leben nicht mehr in sich aufnehmen konnten.
Es kam die Hoffnung auf, in
dem unmittelbaren, möglichst durch keine menschliche Intention
hindurchgegangenen Bilde der gegebenen Wirklichkeiten dieses Leben
unterbringen zu können.
Allein der Naturalismus hat
den entscheidenden Bedürfnissen gegenüber ebenso versagt, wie es doch
wohl auch der jetzige Expressionismus tut, der das unmittelbare
Gegenstandsbild durch den seelischen Vorgang und seine ebenso unmittelbare
Äußerung ersetzt.
Indem sich die innere
Bewegtheit in eine äußere Schöpfung fortsetzt, sozusagen ohne Rücksicht
auf deren eigene Form und auf objektive, für sie gültige Normen, glaubte
man dem Leben endlich die ihm ganz angemessene, durch keine ihm äußere
Form gefälschte Aussprache zu gewinnen.
Allein es scheint nun
einmal das Wesen des inneren Lebens zu sein, dass es seinen Ausdruck immer
nur in Formen findet, die eine Gesetzlichkeit, einen Sinn, eine Festigkeit
in sich selbst haben, in einer gewissen Abgelöstheit und Selbständigkeit
gegenüber der seelischen Dynamik, die sie schuf.
Das schöpferische Leben
erzeugt dauernd etwas, was nicht selbst wieder Leben ist, etwas, woran es
sich irgendwie totläuft, etwas, was ihm einen eigenen Rechtsanspruch
entgegensetzt.
Es kann sich nicht
aussprechen, es sei denn in Formen, die etwas für sich, unabhängig von
ihm, sind und bedeuten. Dieser Widerspruch ist die eigentliche und
durchgehende Tragödie der Kultur.
Was dem Genius und den
begnadeten Epochen gelingt, ist, dass der Schöpfung durch das von innen
quellende Leben eine glücklich harmonische Form wird, die mindestens eine
Zeitlang das Leben in sich bewahrt und zu keiner, ihm gleichsam
feindseligen Selbständigkeit erstarrt.
In den allermeisten Fällen
indes ist solcher Widerspruch unvermeidlich, und wo die Äußerung des
Lebens, um ihn doch zu vermeiden, sich sozusagen in formfreier Nacktheit
bieten will, kommt überhaupt nichts eigentlich Verständliches heraus,
sondern ein unartikuliertes Sprechen, aber kein Aussprechen, an Stelle des
freilich Widerspruchsvollen und fremd Verhärteten einer Einheitsform
schließlich doch nur ein Chaos atomisierter Formstücke.
Zu dieser extremen
Konsequenz unserer künstlerischen Lage ist der Futurismus vorgedrungen:
leidenschaftliches Sichaussprechenwollen eines Lebens, das in den überlieferten
Formen nicht mehr unterkommt, neue noch nicht gefunden hat, und deshalb in
der Verneinung der Form - oder in einer fast tendenziös-abstrusen - seine
reine Möglichkeit finden will - ein Widerspruch gegen das Wesen des Schöpfertums,
begangen, um dem anderen in ihm gelegnen Widerspruch zu entgehen.
Nirgends vielleicht zeigt
sich stärker als in manchen Erscheinungen des Futurismus, dass dem Leben
wieder einmal die Formen, die es sich zu Wohnstätten gebaut hatte, zum
Gefängnis geworden sind.
Wie es in dieser Hinsicht
mit der Religion steht, ist vielleicht nicht zu bestimmen, weil das
Entscheidende sich hier nicht an sichtbaren Erscheinungen, sondern in der
Innerlichkeit des Gemütes vollzieht.
In welchem Ausmaß das
Christentum noch die Form ist, in der das religiöse Leben seinen ganz
zureichenden Ausdruck findet, muss deshalb dahingestellt bleiben.
Feststellen lässt sich
nur, dass es irgendwelche Kreise überhaupt gibt, deren religiöse Bedürfnisse
sich vom Christentum abwenden.
Dass sie sich allerhand
exotischen Hergeholtheiten oder wunderlichen Neubildungen zuwenden,
scheint keinerlei Bedeutung zu haben.
Nirgends kann hier ein
wirklich lebenskräftiges Gebilde entdecken, eines, das sich, außer in
ganz individuellen Kombinationen, dem religiösen Leben als genauer
Ausdruck anschmiegte.
Dagegen entspricht es der
allgemeinen Kulturlage, dass man vielfach auch hier gerade jede Formung
dieses Lebens ablehnt, und dass die überkonfessionelle Mystik die in
jenen Kreisen entschieden überwiegende Anziehung übt.
Denn ihr will die religiöse
Seele ihr Leben ganz unmittelbar ausleben, sei es, dass sie ohne
Vermittlung eines irgendwie geformten Dogmas, sozusagen nackt und allein,
vor ihrem Gotte steht, sei es, dass sogar die Gottesvorstellung noch als
Starrheit und Hemmung empfunden wird und die Seele nur ihr eigenstes,
metaphysisches, in keinerlei Glaubensform mehr gegossenes Leben als
eigentlich religiös empfindet.
Analog jenen angedeuteten
futuristischen Erscheinungen bezeichnet diese gänzlich gestaltlose Mystik
den historischen Augenblick, in dem ein inneres Leben in die Formen seiner
bisherigen Ausgestaltung nicht mehr eingehen kann und, weil es nicht
imstande ist, andere, nun angemessene zu schaffen, ohne Formen überhaupt
existieren zu sollen meint.
Innerhalb der
philosophischen Entwicklung erscheint mir diese Krisis weitergreifend, als
in der Regel zugestanden wird.
Die Grundbegriffe und
methodischen Funktionen, die, seit dem klassischen Griechentum
ausgebildet, auf den Weltstoff angewendet werden, um aus ihm
philosophische Weltbilder zu formen, haben, wie ich glaube, alles
geleistet, was sie in dieser Hinsicht hergeben können.
Der philosophische Trieb,
dessen Ausdruck sie waren, ist an ihnen selbst zu Richtungen,
Bewegtheiten, Bedürfnissen entwickelt, denen sie nicht mehr angemessen
sind; wenn die Zeichen nicht trügen, beginnt der ganze philosophische
Apparat zu einem Gehäuse zu werden, das vom Leben entleert ist. Dies
schient mir an einem Erscheinungstypus besonders sichtbar zu werden.
Jede der großen
philosophiegeschichtlichen Kategorien hat zwar die Aufgabe, die
Zerspaltenheit und chaotische Fülle des Daseins in eine absolute Einheit
zusammenzuführen; zugleich aber besteht oder entsteht neben jeder
einzelnen eine andere, mit jener im gegenseitigen Ausschluss stehende.
So treten diese
Grundbegriffe paarweise auf, als je eine zur Entscheidung auffordernde
Alternative, derart, dass eine Erscheinung, die sich dem einen Begriff
versagt, notwendig unter den anderen fallen muss, ein Ja und Nein, das
kein Drittes übrig lässt.
Solches sind die
Entgegengesetztheiten von Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt,
Mechanismus und Teleologie des Organismus, Freiheit und Determiniertheit
des Willens, Erscheinung und Ding-an-sich, Absolutes und Relatives,
Wahrheit und Irrtum, Einheit und Mehrfachheit, Wertfortschritt und
Wertbeharrung in der menschheitlichen Entwicklung.
Es scheint mir nun, dass
ein großer Teil dieser Alternativen nicht mehr der unbedingten
Entscheidung Raum gibt, die jeden gerade fraglichen Begriffsinhalt
notwendig in die eine oder in die andere einstellt.
Wir fühlen an dieser
Begriffslogik eine so unangemessene Enge, andererseits gehen ihre Auflösungen
so selten von einem schon entdeckten Dritten aus, sondern sie bestehen
weiter als Forderung und unausgefüllte Lücke - dass sich hiermit doch
wohl eine tiefgreifende philosophische Krisis verkündet, die die
Spezialprobleme in eine allgemeine, wenn auch zunächst nur negativ zu
bezeichnende Tendenz sammelt.
Auf einige dieser Probleme
gehe ich kurz ein. Über die Bestimmung des Willenslebens nach Freiheit
oder Notwendigkeit kann man doch wohl alle Argumente für die eine wie für
die andere Entscheidung als erschöpft ansehen, ohne dass die Frage
dadurch erledigt wäre.
Neben der theoretisch
festgehaltenen naturgesetzlichen Bestimmtheit steht ein unleugbares Gefühl,
dass diese Rechnung nicht glatt aufgeht, die Opposition irgendeiner
inneren Realität - die sich gerade in der letzten Zeit wieder zu
theoretischer Behauptung der Freiheit verdichtet hat.
Aber diese scheint mir
vielfach daran zu kranken, dass sie sich mit dem Nachweise begnügt:
mechanische Notwendigkeit könne für unseren Willen nicht gelten -und
dies unbefangen für den Erweis der Freiheit hält.
Allein sollte, angesichts
der schweren Bedenken auch gegen die Freiheitsbehauptung, diese
Alternative wirklich unbedingt sein?
Sollte der Wille nicht in
einer Form ablaufen können, die jenseits dieses Entweder-Oder steht, und
für die wir freilich keinen theoretischen Ausdruck haben? Die große
Kantische Lösung erscheint doch mehr als eine gedankliche Möglichkeit,
wie als der Ausdruck des wirklichen inneren Verhaltens, von dem das
Problem überhaupt ausgeht.
Indem Kant Notwendigkeit
und Freiheit an zwei verschiedene Daseinsschichten verteilt - die
Notwendigkeit an die erfahrbare Erscheinung, die Freiheit an das
unerkennbare An-Sich unserer Existenz -, beseitigt er zwar ihre Konkurrenz
um unser Subjekt, aber von der dazu vollbrachten Zerschneidung dieses
Subjekts weiß es selbst gerade an dem Punkte nichts, an dem das Problem
aufsteigt.
Im Grunde genommen ist
durch die Zweiheit: Ich-Erscheinung und Ich-an-sich, mit der jeder der
beiden Ansprüche gesättigt werden soll, die Frage mehr umgangen als gelöst.
Denn das Leben, das sich
weder mit der Determiniertheit noch mit der Freiheit wirklich ausgedrückt
findet, ist ein einheitliches, das seine Probleme und Konflikte, die ihm
als einheitlichem kommen, gerade nicht durch itio in partes lösen
kann.
Für das
logisch-begriffliche Interesse Kants waren viel mehr die Begriffe Freiheit
und Notwendigkeit der primäre Problemstoff, als das Leben, das sie aus
sich gebiert, und darum hat er ohne Bedenken dies Leben gezweiteilt, um
den Widerstreit der Begriffe als solcher zu schlichten.
Mir aber scheint, dass
deren porenlose Aneinandergefügtheit brüchig geworden ist und aus der
Bruchstelle eine Forderung oder Ahnung -mehr ist es noch nicht -
aufsteigt: die Wesensform unseres Willens sei etwas jenseits von
Notwendigkeit ebenso wie von Freiheit, ein Drittes, das sich dieser
Alternative nicht ergebe.
Ebenso unzulänglich
scheint mir der Gegensatz zwischen Einheit und Mehrfachheit, wo er das
Wesen des beseelten Organismus zu deuten unternimmt.
Der Dualismus von Körper
und Seele, für dessen gröbste wie verfeinertste Formen es schließlich
immer zwei wesensverschiedene »Substanzen« sind, darf wohl als überwunden
gelten.
Die Spekulationen freilich,
die die »Einheit« beider aus den letzten Gründen des Tiefsinns
heraufholen wollen, haben keinem irgendwie positiven Bild Überzeugungskraft
gewonnen, sondern nur der Tatsache, dass jene Zweiheit unerträglich ist.
Man wird vielleicht sagen können,
dass es ein Leben ist, als dessen Pulsschläge sich die körperliche und
die seelische Existenz erzeugt; allein dass dies Leben im innerlichen
Sinne Einheit ist, ist dadurch so wenig präjudiziert, wie der Begriff der
einen Welt darüber entscheidet, ob die Welt monistisch oder pluralistisch
gedacht werden muss.
Es gibt eigentlich nur zwei
letzte Lösungsmöglichkeiten, wenn zwei einander streng ausschließende
Begriffe die Bestimmung irgendeines Gegenstandes in Anspruch nehmen. Die
objektive Lösung entdeckt an dem Gegenstand selbst eine Doppelheit der
Existenz, der Seiten, der Bedeutung, so dass jeder der beiden gegensätzlichen
Begriffe störungslose Anwendung findet.
Die subjektive lässt den
Gegenstand in voller Einheit bestehen und erklärt die beiden, ihn
beanspruchenden Begriffe für verschiedene Gesichtspunkte, unter die die
Betrachtung ihn einstellen kann.
Beide Verfahrungsweisen
heben die Konkurrenz der Begriffe auf, aber ersichtlich wird mit ihnen in
manchen Fällen dem Problem mehr ausgewichen, als eine wirkliche Lösung
gegeben; und zu ihnen scheint mir die Frage zu gehören, ob das körperlich-seelische
Phänomen eine Einheit oder eine Zweiheit darstelle.
Die Schwierigkeit liegt
darin, dass die hervorgehobene Ablehnung der Zweiheit zwar logisch nur die
Einheit übrig zu lassen scheint, dass aber auch damit dem tatsächlichen
Bilde nicht entsprochen wird.
Denn wir gewinnen nichts
Rechtes, wenn wir den Menschen als Einheit des Körperlichen und des
Seelischen verkünden.
Dem bildenden Künstler mag
es gelingen, die beseelte Menschengestalt als schlechthin einheitliche
Vision hinzustellen; für das denkende Vorstellen aber liegen schließlich
Körperliches und Seelisches so weit auseinander, dass der Einheitsbegriff
für sie ein bloßes Wort bleibt, ein Schema, das um beide herumgelegt
wird, ohne aber ihre Fremdheit innerlich zu überwinden.
Ich möchte deshalb
glauben, dass weder Zweiheit noch Einheit ihr Verhältnis angemessen ausdrückt,
dass wir für dieses Verhältnis also überhaupt noch keine begriffliche
Formulierung besitzen.
Und dies ist deshalb so
bemerkenswert, weil Einheit und Dualistik logisch so aneinander stoßen,
dass jedes Verhältnis von Elementen notwendig der einen anheimfallen
muss, wenn die andere von ihm verneint wird.
Trotzdem ist auch diese
Alternative für uns jetzt brüchig, sie hat sozusagen ihre Dienste getan,
und wir verlangen für das Wesen des Lebens, insoweit es zugleich körperlich
und seelisch ist, einen Formausdruck, von dem wir aber bisher nichts sagen
können, als dass er ein Drittes jenseits jener scheinbar und bisher
zwingenden Alternative sein wird.
Die hier gezogenen Grenzen
beschränken mich auf diese knappen Hindeutungen als Symbole der allgemein
geistigen Lage.
Nirgends schärfer als
durch das Versagen der bisher logisch geltenden Begriffsalternativen und
durch die Forderung eines noch unformulierbaren Dritten wird klar, dass
unsere Mittel, die Lebensinhalte durch geistigen Ausdruck zu bewältigen,
nicht mehr ausreichen, dass das, was wir ausdrücken wollen, nicht mehr in
sie hineingeht, sondern sie sprengt und nach neuen Formen sucht, die für
jetzt nur als Ahnung oder ungedeutete Tatsächlichkeit, als Verlangen oder
ungefüge Tastversuche ihre heimliche Gegenwart ankündigen. |