Georg Simmel:
Die Dialektik des deutschen Geistes
ex: Der
Tag, 28. September 1916, Ausgabe A, Illustrierter Teil, Nr. 228 (Berlin)
Die Form, in der der
Deutsche sein Lebensideal bildet, zeigt einen Typus, der von keinem
anderen Volk vertreten zu sein scheint.
Das Ideal des Franzosen ist
der vollkommene Franzose, das Ideal des Engländers der vollkommene Engländer.
Die ganze deutsche
Geistesgeschichte aber erweist: das Ideal des Deutschen ist der
vollkommene Deutsche - und zugleich sein Gegenteil, sein Anderes, seine
Ergänzung.
Daher die uralte deutsche
Sehnsucht nach Italien, nicht nur nach der Schönheit und den Darbietungen
des Landes, sondern auch nach dem italienischen Leben, das dem deutschen
so entgegengesetzt wie möglich ist und das viele von uns, nicht trotzdem,
sondern gerade wegen dessen als das einzige ihnen gemäße, ja ihnen
einzig mögliche empfunden haben.
Und dies pflegten keine
Bastardnaturen zu sein, sondern gerade ganz echtbürtige, kernhaft
deutsche Naturen.
Dass sie das Fremde, durch
den Gegensatz Erlösende suchten - das eben war die echt deutsche
Sehnsucht, dieses Hinauslangen über das Heimische wurde gerade von ihrer
heimischen Wesensart mitumfasst.
Daran darf nicht irre
machen, dass sie für das Deutschtum oft nur heftige Absage, Kritik und
Spott hatten.
Es ist begreiflich, dass
sie, auf die andere Seite hinübergetrieben, kein rechtes Bewusstsein
davon hatten, wie deutsch sie gerade in diesem Getriebenwerden waren.
Die stärkste Erscheinung
dieses Typus ist vielleicht Hölderlin.
Ich kann nicht zustimmen,
wenn man ihn einen nachgeborenen Griechen genannt hat.
In ihm lebte das deutsche
Begehren nach dem Gegensatz - nicht nur zu dem Gegebenen, sondern zu dem
Vollendungsideal des Gegebenen - nur dass seine dichterische Phantasie es
als ein Unmittelbares, gleichsam Gegenwärtiges anschaute.
Er erscheint mir als die
vollendetste Ausgestaltung jener Dialektik des deutschen Geistes, weil
seine Liebe dem Deutschtum und dem, was ihm als dessen völlige Andersheit
erschien, in wunderbarem Gleichmaß galt.
Deshalb war seine Sehnsucht
gewiss keine romantische oder sentimentale.
Denn diese bedeutet immer,
dass der Dualismus nicht mehr die Einheit des deutschen Wesens ausdrückt,
sondern zu der ganz anderen Erscheinung eines problematischen Schwankens
gelockert ist.
Hölderlin war der
Jugendfreund Hegels, dessen metaphysisches Grundmotiv schlechthin nur aus
deutschem Boden wachsen konnte: dass jedes Ding seinen Gegensatz verlangt
und erst, indem es in diesen umschlägt, zu seiner eigenen Vollendung
kommt.
Es handelt sich nicht
einfach um das Ungenügen an dem, was wir sind, wie es jeden Idealismus überhaupt
bezeichnet, sondern dass unser Ideal dies Sein nicht nur in seiner eigenen
Richtung steigert, vielmehr dessen eigenen Gegensatz in sich aufnimmt und
an ihm erst sich selbst vollendet.
Unsere Reiselust, unser
historischer Sinn, unsere Fähigkeit und Neigung, die Geistesgebilde aller
Völker uns anzueignen, sind nur Ausgestaltungen dieser Grundform unseres
Wesens, und die Hegelsche Formel, gleichviel ob sie dem objektiven Wesen
der Welt gegenüber ausreicht oder nicht, würde wohl ihre Zauberkraft am
deutschen Geist niemals geübt haben, wenn er nicht die Wahrheit seines
eigenen Seins an ihr empfunden hätte.
Dieser Grundverfassung
entstammen unsere tiefsten wie unsere gefährlichsten Eigenschaften.
Vor allem eine gewisse
Formlosigkeit, die der Blick der anderen Nationen äußerlich bemerkt,
ohne ihren tiefen Sinn zu begreifen.
Wir gelangen so spät zur
Form, nicht weil sie sich uns versagte, sondern weil wir jede zerbrechen,
indem wir hinter ihr die entgegengesetzte als Möglichkeit und Wert, als
Ergänzung und ideellen Anspruch fühlen - zerbrechen sie damit freilich
oft, bevor sie sich noch anschaulich gefestet hat.
Die Formlosigkeit des
russischen Wesens ist eine völlig andere.
Sie entspricht der
Endlosigkeit der russischen Steppe, dem weit ausladenden, keine Grenzen
anerkennenden Charakter des typischen Russentums, der mit dessen
mystischer Religiosität eng verbunden ist; das Verschwimmende, aber
zweifellos Tiefe seines Gefühlslebens, das über alle klaren Abgrenzungen
von Verstand und Willen herrscht, kann nur am Unendlichen seinen
Gegenstand finden.
Das Unendliche ist ihm,
eben in seinem religiösen Gefühl, gewissermaßen schon Besitz, während
es für uns mehr ein Streben ist, mehr der zusammenfassende Name für das
Bedürfnis nach alledem, was jenseits unseres Gegebenen und Besessenen
steht.
So ist ihm die
Formlosigkeit ein positiver Wert, für uns eine oft schmerzlich empfundene
Folge jenes Bedürfnisses.
Vielleicht ist dies die
notwendige Art, in der ein Volk sich entwickelt, in dem noch eine
Unabsehlichkeit nicht gelöster Spannkräfte, eines noch nicht gestalteten
Lebensmaterials liegt - die Art jedenfalls, mit der die höchste
Wahrscheinlichkeit für das Wirklichwerden all seiner Möglichkeiten, für
das Herausholen aller Entwicklungschancen gegeben ist.
Wie in unserem Körper
allenthalben Stückchen des noch nicht ausgestalteten Protoplasmas
enthalten sind, so umschließt jedes individuelle und nationale Wesen
sozusagen seelische Stoffmengen, die noch nicht Kultur geworden sind, und
die Wesen unterscheiden sich nach dem Umfang dieses Materials und seiner Fähigkeit,
sich in kulturelle Formen auszuwachsen.
Von den Franzosen wie von
den Engländern habe ich den Eindruck, dass diese dunkeln gebundenen
Energien, diese ungekannten Formmöglichkeiten bei ihnen zu einem Minimum
geworden sind, dass sozusagen aus ihnen schon geworden ist, was überhaupt
werden konnte.
Deshalb hat man von den
Rohheiten und Unmenschlichkeiten, die sie in diesem Kriege offenbart
haben, einen so krassen Eindruck, als lägen sie, etwas Definitives und
Hoffnungsloses, neben den Kultiviertheiten dieser nationalen Existenzen,
als hätte nahezu aller Lebensstoff in ihnen, der kulturelle Möglichkeit
war, sich auch schon in kulturelle Wirklichkeit umgesetzt, und den Rest könne
diese Entwicklung nicht ergreifen.
Wenn man uns als den Parvenü
unter den Völkern zu deklassieren meint, so versteckt sich unter diesem
Spott über das Tempo unseres Werdens sicher ein unheimliches Angstgefühl
über das, was wir noch werden können; und dass die Sympathien der
sogenannten Neutralen mehr den Völkern gelten, die durchschaubarer sind
und deren Möglichkeiten sich in abgeschlossener Entwickeltheit aufweisen,
als einem Volk, in dem so viel Dunkles, noch Latentes, nicht
Vorherzusehendes ruht - das ist nicht unbegreiflich.
Wenn wir von Anfang des
Krieges an das Gefühl hatten, dass uns eigentlich niemand versteht, so
liegt das vielleicht nicht nur an unserer augenblicklichen Lage, in der
die Verteidigung unserer äußeren Existenz und die unserer innerlichsten
Ideale zu einer von außen ersichtlich nicht nachfühlbaren Einheit
geworden sind; sondern weil ein Wesen das Maß und die Gerichtetheit
seiner noch unentfalteten Kräfte wohl selbst irgendwie fühlen mag, diese
aber dem Draußen stehenden nur die Empfindung eines unverständlichen,
unberechenbaren Verstecktseins geben können.
Ich glaube nicht, dass in
dieser Rangierung der Nationen nach Gebundenheit oder Ausgewirktheit ihrer
Energien eine chauvinistische Verblendung steckt.
Denn an und für sich lässt
sie ja ganz dahingestellt, welche Daseinsform man für die höhere halten
mag, und in welcher die größere oder die geringere Wertsumme investiert
ist.
Nur das scheint mir
unbezweifelbar, dass zwischen dem relativen Überwiegen der noch nicht
ausgestalteten Lebensmaterie und der Sehnsucht nach dem eigenen Gegensatz,
nach dem, was das eigen-augenblickliche Sein und Haben eigentlich
verneint, eine tiefe Beziehung besteht.
Denn so hemmend und
vielfach aufreibend diese deutsche Idealbildung wirken mag, über so viele
Umwege und, mit Goethe zu reden, »falsche Tendenzen« sie führen mag -
schließlich gibt sie doch die größte Chance, dass im Lauf der Zeit
alles aus den Menschen herauskomme, was überhaupt an Möglichkeiten in
ihnen liegt.
Da der Deutsche sich immer
mit so vielem Antagonistischen auseinandersetzen muss, und zwar darum
auseinandersetzen muss, weil er es doch irgendwie sich zugehörig, das
Andere und Fremde irgendwie als Ergänzendes fühlt - so braucht er für
die definitiven Schritte seiner Entwicklung mehr Zeit als andere.
Was uns in den Jahren vor
dem Krieg so vielfach besorgt machte, war das übereilige Tempo, mit dem
die deutsche Entwicklung vorwärts zustürmen schien - bis wir uns klar
wurden, dass dieser im wesentlichen technische (und nicht nur auf
wirtschaftlichem Gebiet technische) Fortschritt jene in der Tiefe ruhenden
Wesensstoffe wenig anging, diese vielmehr ihre schwerflüssige, von unzähligen
Gegeninstanzen verführte und sich wieder zurückfindende Entwicklung in
ungestört seltenen Stufenschritten fortsetzte.
Es ist die eigentümliche
Dialektik im deutschen Wesen, dass ebenderselbe Zug, der die gründlichste,
jede Möglichkeit erschöpfende Entfaltung seines Lebensmaterials zu verbürgen
scheint, dieser Entfaltung von jeher schwerste Hemmnisse und
Verlangsamungen bereitet.
Das deutsche Wesen wird
durch diesen Grundzug zum Symbol eines weithin reichenden Zuges des
menschlichen Weltbildes.
Dessen Bestimmungen ordnen
sich zu Gegensatzpaaren; das Gute und das Böse, das Männliche und das
Weibliche, das Leben und der Tod und unzähliges andere, so dass der eine
Begriff immer Schranke und Form am anderen findet.
Nun aber wird die Relativität
beider oft noch einmal von einem absoluten Sinn umfasst, den je einer von
ihnen erwirbt.
Gewiss schließt Gutes und
Böses in beider relativem Sinne sich gegenseitig aus; vielleicht aber ist
das Dasein in einem absoluten göttlichen Sinne schlechthin gut, und
dieses Gute birgt in ich das relativ Gute und das relativ Böse.
Gewiss kämpft der geistige
Fortschritt gegen den geistigen Stillstand; vielleicht aber ist in dem
absoluten Weltwege des Geistes das, was wir relativ Stillstand nennen,
auch nur ein besonderer Modus des Fortschreitens.
Gewiss begrenzen sich Leben
und Tod gegeneinander mit harter Ausschließlichkeit; und doch gibt es
einen letzten und absoluten Sinn des Lebens, in dem es auch den Tod in
sich einbezieht und dessen relativen Sinn zusammen mit dem relativen Sinn
des Lebens selbst einbegreift und unterbaut.
So also steht neben dem
deutschen Wesen allenthalben sein Gegensatz, sein Ausschließendes und
Fremdes; aber dieser Sinn seiner ist nur ein relativer und daneben steht
sein weitester und unbedingter, in dem es auch dieses andere, ja
Feindliche mitumfasst, in dem auch das Entgegengesetzte hinzugehört, als
Verstandenes und Erarbeitetes, als seine begriffene, umgriffene Ergänzung
und Erwünschtheit.
Dieses Grundverhalten entlässt
aus sich zwei eigentümliche, sich scheinbar gegenseitig verneinende Züge
des deutschen Wesens.
Unzählige Tangenten, nach
allen Himmelsrichtungen des geschichtlichen und des zeitlosen Geistes führend,
sind an den innersten Kreis dieses Wesens gelegt, unzählige Möglichkeiten
individueller Charakterisierung dieses Kreises sind damit, mit dieser
Sehnsucht des Deutschen nach dem, was ihn vervollständige und was sein
Anderes ist, gegeben.
Dies scheint wir einerseits
die letzte Formel für den deutschen »Individualismus« zu sein.
So zweifellos deutsch der
Einzelne sein und sich fühlen möge, so gehört doch gerade diese
Sehnsucht zu ihm, die ersichtlich ein unbegrenzt mannigfaltiges Material
zur Verfügung hat und deshalb eine unbegrenzte Möglichkeit jedes
Einzelnen, sich von den anderen zu unterscheiden.
Es ist darum ganz richtig,
wenn man den Individualismus, der ebenso unseren Stolz und unseren
Reichtum wie unsere Gefahr der Zersplitterung, der Parteiung, des
Sich-nicht-Verstehens bildet, als etwas vom deutschen Wesen ganz
Unabtrennbares bezeichnet hat.
Jeder Deutsche, hat
Bismarck einmal gesagt, würde am liebsten einen König für sich allein
haben.
In Wirklichkeit hat jeder
seinen heimlichen König für sich, wenn man unter König einmal jene
beherrschende Vorstellung verstehen darf, die aus dem deutschen Ideal im
engeren Sinne und einer seiner unübersehlichen Jenseitigkeiten und Gegensätze
zusammenwächst und in dieser Synthese erst das deutsche Ideal im
weitesten Sinne bedeutet.
Freilich enthält dies außer
jenen inneren Gefahren auch noch die äußere, dass das zweite Element das
erste überwuchert und entwurzelt, dass das Bewusstsein, wo schließlich
unsere letzte Kraftquelle fließt, verschwindet.
Dieser Gefahr ist Nietzsche
unterlegen, wenn das Ideal der »leichten Füße« und der vollendeten
Form ihn in eine Wertung des romanischen Wesens hineingetrieben hat, die
ihn vergessen ließ, dass ihm dies nur als Korrelat seines so spezifisch
deutschen Wesens zum Ideal geworden war.
Auf der anderen Seite ist
damit - die verbindenden Motive liegen auf der Hand - das »Weltbürgertum«
gegeben, das die Geschichte des deutschen Geistes offenbart - auch dieses
für ihn ebenso einen Ruhmestitel wie unzählige teils leichtsinnige,
teils schuldvolle Abirrungen und Abzüge vom deutschen Eigenbesitz
bedeutend, bei den einen eine seelische Weitspannung, die die Welt in sich
einbezieht und der nichts Menschliches fremd ist, bei den anderen, die die
»Welt« im Sinne des Globetrotters verstehen, eine verblasene Ausländerei,
eine blinde Überschätzung alles dessen, was bloß »anders« ist, die
den Wurzelboden der echten Schätzung des »anderen«, die Schätzung des
eigenen, unter den Füßen verloren hat.
Die ganze Sozialgeschichte
zeigt, dass Individualismus und Weltbürgertum allenthalben und aus den
mannigfachsten Gründen zusammengehören.
Ihre furchtbaren Gefahren,
vor denen wir uns auch nach diesem Kriege nicht sicher glauben dürfen,
werden erst dann vermeidbar, ihre tiefen Werte erst dann rein realisierbar
werden, wenn wir nicht vergessen, dass es das Eigene des deutschen Geistes
und in dieser Form nur des deutschen Geistes ist, das sie zusammenbindet;
erst wenn wir sicher sind - das braucht nicht im abstrakten Bewusstsein zu
geschehen-, dass es dessen innerstes Fatum und reichste Weite ist, sich
selbst und seine Gegenteile als sein höheres Selbst zu umfassen, werden
wir ganz von selbst vor all den Wurzellosigkeiten und Wertverrückungen
gesichert sein, mit denen jene beiden Tendenzen bisher die Entwicklung
unseres Wesens so oft aus der Bahn unserer eigensten Kraft, unseres
eigensten Selbst geworfen haben. |