Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Geld und Nahrung

ex: Der Tag, Nr. 74, 28. März 1915, Ausgabe A, Illustrierter Teil (Berlin)

Was uns in den ersten Kriegstagen erschütterte, über alle eigene Gefahr und Sorge und Aufruf aller Leistungskräfte hinaus, war doch wohl dies: dass wir empfanden, eine völlige Wendung der Weltgeschichte zu erleben.

Wie einen körperlichen Anstoß in eine ganz neue Richtung hinein fühlten wir dies, in der freilich Ziel und Inhalte noch in undurchdrungenem Dunkel liegen, aus der aber ein Windhauch neuer Welten uns entgegenweht.

Dies Dunkel über der Zukunft Europas ist seitdem nicht gelichtet, ja es ist vielleicht noch schwerer und fragwürdiger geworden.

Nur dies eine können wir von der Zukunft sagen: schon der Augenblick führt Umstimmungen und neue Forderungen herauf, die überhaupt erlebt zu haben ein Element in der Gestaltung dieser Zukunft ausmachen muss.

Wenn alle Anweisungen über die jetzt notwendige Lebenshaltung uns predigen: wir sollten nicht mit dem Geld sparen, sondern mit den Nahrungsmitteln, so bedeutet das eine viel prinzipiellere und erstaunlichere Wendung in unserem wirtschaftlichen Wertbewusstsein, als diese wenigen Worte unmittelbar verraten, bedeutet das Rückgängigmachen einer Entwicklung von Jahrhunderten.

Seit mit dem Ende des sogenannten Mittelalters die Naturalwirtschaft zurücktrat, in der zum ganz großen Teile für den Eigenbedarf produziert wurde, Leistungen durch Schenkung oder Nutznießung von Grund und Boden vergolten, Dienste in Naturalien entlohnt wurden und Rechte sich wesentlich auf Naturallieferungen bezogen -schob sich das Geld nicht nur als Vermittlung und Vertretung mehr und mehr in jedes wirtschaftliche Geschehen ein.

Sondern es gewann durch diese Funktion eine Wichtigkeit, die allmählich die unmittelbare Wirkung der Dinge verschlang und den Zustand herbeiführte, den wir alle kennen: dass für die meisten Menschen der Gegenwart alles irgendwie Käufliche gerade so viel Wert hat, wie es kostet.

Auf das einzelne angesehen, erscheint das unglaublich.

Wir schätzen doch das Brot, weil es uns nährt, und den Hummer, weil er gut schmeckt, den Stuhl, weil wir sitzen wollen, und die Wolle, weil sie uns bekleidet.

Weil aber jedes Quantum dieser Dinge ohne weiteres ersetzbar ist, wenn wir nur Geld genug für ein neues Quantum haben, weil im großen und ganzen nicht mehr die Gegenstände unserer Wünsche schwierig zu erlangen sind, sondern nur noch das Geld für ihren Ankauf, darum hat sich die Spitze unseres Wertbewusstseins von ihnen weg und dem Gelde zugedreht, dessen Wert in jedem Augenblick für den ihrigen eintreten kann.

Dieser Prozess ist so weit vorgeschritten, dass für unzählige Menschen der Gegenwart der Geldbesitz das eigentliche und letzte Strebensziel ist, über das sie gar nicht hinausfragen.

Das ist die verhängnisvolle Folge davon, dass in der modernen Wirtschaft die Dinge zu »Waren« geworden sind, dass sie, die immer käuflichen, ihre Werthöhe an ihrem Marktpreise messen.

Zusammenhänge hiermit strecken sich bis in das Innerste unserer Kultur.

Der Mangel an »Idealismus« in der jüngsten Vergangenheit der europäischen Völker bedeutet eben, dass die Werte, die nicht in Geld ausdrückbar sind, auch ihren Kurs verloren haben.

Wo man alles nur nach seinem Marktpreis schätzt, wird man über alle die Werte unsicher und skeptisch, für die es keinen Marktpreis gibt.

Diese Reduktion aller Werte auf den Generalnenner Geld hat seit lange auch unseren Begriff des Sparens bestimmt.

Sparen schlechthin heißt für uns: mit Geld sparen; und wenn man mit Verbrauchsgegenständen sparsam umging, so war der selbstverständliche Sinn davon, dass man ihren Geldwert sparte; sie selbst waren gar nicht das eigentliche Objekt des Sparens, denn man konnte sie ja in jedem Augenblick wieder ersetzen, wenn man das nötige Geld hatte.

Darum ist jener Leitsatz unseres jetzigen Verhaltens: spart nicht mit Geld, sondern mit den Dingen - so einfach er klingt, tatsächlich eine Revolutionierung unserer ganzen wirtschaftlichen Wertungsweise, die sich so weit über das Wirtschaftsgebiet hinausgestreckt hatte.

Und darum ist es trotz dieser Einfachheit so schwer, weite Kreise zu Verständnis und Überzeugung davon zu bringen.

Das bisher Selbstverständliche: dass man sich satt essen kann, wenn man nur Geld hat, wird zum Problem, dagegen wird Zentrum und Zweck der bisherigen Wirtschaft: dass man Geld habe, zu etwas Gleichgültigem und eigentlich Wirkungslosem.

Der ungeheure, die ganze wirtschaftliche Kultur durchziehende Prozess: dass das Geld, ersichtlich ein bloßes, für sich allein gänzlich unbrauchbares Mittel, sich zu einem Selbstwert und Endzweck menschlicher Bestrebungen auswächst - dieser Prozess wird sich wohl für absehbare Zeiten weiter durch die Welt fortsetzen, die Produktivität der Weltwirtschaft und ihre Allgegenwart wird uns später wieder vergessen lassen, dass nicht das Geld den Wert hat, sondern die Dinge.

Allein in diesem Augenblick lässt uns die Knappheit unserer Lebensmittel eine Periode seiner Rückläufigkeit erleben.

Die überragende soziale Funktion des Geldes ist jetzt, dass es zur Verteilung der Werte verhilft.

Die Unterhaltsmittel sind begrenzt, und es ist jedermanns eigenstes Interesse, dass sie nicht nur für ihn, sondern für alle Deutschen reichen.

Und da sie nur für Geld zu haben sind, so muss das Geld möglichst so verteilt werden, wie der Zweck, einen jeden bestandsfähig zu erhalten, es erfordert.

Wer sonst verschwendete, tat es um des Genusses der Dinge willen - von den selteneren Fällen abgesehen, in denen das Geldausgeben rein als solches einen halb pathologischen Genuss gewährt.

Nun aber sollen die Wohlhabenden gerade Geld um des Geldes willen ausgeben, es soll dadurch an die ärmeren Schichten gelangen, um der gleichmäßigeren Verteilung der Subsistenzsmittel zu dienen.

Wie im Sparen der Akzent jetzt vom Geld weg auf die Dinge gerückt ist, so wird jetzt ein Verschwenden gefordert, dessen Akzent von den Dingen auf das Geld gerückt ist.

Man hat mit Recht unseren Krieg als die größte demokratische Bewegung der Weltgeschichte bezeichnet; niemals noch hat in einer solchen Volksmasse ein einziger Wille alle Unterschiede von Hoch und Niedrig in solchem Maße verlöscht, und die Unterschiedslosigkeit, mit der in unserem Heer der sozial Höchste und der sozial Niedrigste seine Pflicht unter dem gleichen Gesetz tut, ist das absolute Symbol jener Ausgleichung, die wir zwar im Wirtschaftlichen nicht im gleichen Maße durchführen können und vielleicht auch nicht sollen, aber wenigstens bis zu dem Punkte, an dem jeder Deutsche jetzt die Möglichkeit materieller Subsistenz findet.

Es ist der gleiche demokratische Zug, der, ebenso egoistisch wie karitativ, beide Maximen beherrscht: mit den Dingen sollen wir sparen, damit für jeden das physische Durchhalten möglich sei, mit dem Geld sollen wir verschwenden, damit es für jeden wirklich werde.

Aber innerhalb des so festgestellten Sinnes des Sparens fordert diese Zeit, die alles umbildet, noch einmal eine Verlegung gewohnter Akzente.

An dem Quantum der Ernährungssubstanz soll Reich und Arm gleichmäßig sparen.

In ihrer Qualität aber soll, wer irgend dazu imstande ist, sich steigern und die billigen Nahrungsmittel möglichst denen überlassen, deren Lage sie unabänderlich auf diese anweist.

Hier haben vom Anfang an die wunderlichsten Missverständnisse gewaltet.

Sobald es allgemein hieß, man solle sich einschränken, verstand man in den wohlhabenden Ständen schwerlich darunter, dass man weniger als bisher essen sollte - was nach dem Zeugnis sämtlicher Physiologen und nach dem einer aufmerksamen Selbstbeobachtung durchaus möglich und nützlich wäre -sondern, dass man einfacher zu leben hätte.

Leute, die an Hummersalat, junge Karotten und Rebhühner gewöhnt waren, aßen auf einmal grüne Heringe, alte Mohrrüben und Lungenhaschee und waren überzeugt, dem Vaterland um so mehr damit zu leisten, je schlechter es ihnen schmeckte.

Genau das Umgekehrte ist das Richtige.

Solange die billigen Nahrungsmittel unbeschränkt am Markt waren, mochte es eine Tugend der Reichen sein, sich an ihre Einfachheit zu halten.

Jetzt aber, wo ihr Maß begrenzt und kaum vermehrbar ist, müssen die Reichen möglichst auf sie verzichten zugunsten derjenigen, die keine teuren bezahlen können.

Alle jene Wohlhabenden und Gutgesinnten machten sich nicht klar, dass die Herabsetzung ihrer Lebenshaltung den Substanzvorrat, an den die Armen gewiesen sind, immer knapper macht und dass sie, indem sie die Anzahl der um ihn Konkurrierenden vermehren, seine Preise in die Höhe treiben.

Wer die Freiheit zu niederem oder höherem Niveau hat, muss jetzt das höchste, mit seinem Budget noch vereinbare wählen, um alle Bevölkerungsschichten, die nicht über die niedrigeren hinaus können (und diese brauchen keineswegs die allerniedrigsten zu sein), von dem Mitbewerb um ihre Unterhaltsmittel zu entlasten.

Der Wohlhabende, der etwa bisher aus Neigung oder Geiz grüne Heringe, alte Mohrrüben und Lungenhaschee gegessen hat, darf sich jetzt das nicht mehr leisten, sondern muss alle Mittel derjenigen Lebenshaltung, über die er sich gerade noch erheben kann, für die mehr oder weniger breiten Schichten freilassen, die nicht die Freiheit haben, sich über sie zu erheben.

Noch einmal also muss der Begriff des Sparens differenziert werden: die Sorgsamkeit, nichts umkommen zu lassen, die Vermeidung jedes Konsumtionsmaßes über den wirklichen Bedarf hinaus, kurz die quantitative Einschränkung soll, wo es pekuniär möglich ist, durch qualitative Erweiterung ergänzt werden.

Es genügt nicht, dass man durch reichliche Ausgaben überhaupt den ärmeren Schichten Geld zuführe: man muss auf den gleichen Zweck auch von der andern Seite her zustreben und dafür sorgen, dass der Arme für dieses Geld auch möglichst viel der ihm zugänglichen Nahrungsmittel kaufen kann, indem man ihm den davon vorhandenen Vorrat nicht knapper macht.

Ich habe vor Jahren ein eigentümliches Verhältnis dargestellt, das zwischen den Ernährungskosten der Armen und denen der Wohlhabenden besteht.

Die Bedürfnisse der Massen bringen es mit sich, dass vielerlei Güter in einem Umfang erzeugt werden, der ihren sogenannten »Seltenheitswert« auf ein relatives Minimum senkt: sie dürfen eben nicht mehr kosten als die niedrigsten Einkommensstufen noch bezahlen können.

Damit ist gegeben, dass die Reichen, die diese Produkte doch auch gebrauchen, sie zu eben diesem billigen Preise erwerben, während sie ohne weiteres viel höhere Preise dafür anlegen würden - wenn man sie ihnen nur abforderte.

Falls die Preise von Brot und Kartoffeln, Petroleum und Wolle, Bier und Stecknadeln um einen beträchtlichen Prozentsatz in die Höhe schnellten, so würde die Lebenshaltung wohlhabender Familien dadurch wenig berührt werden, schon weil diese primitiven Bedürfnisse, je höher man in der Einkommensskala steigt, einen um so geringeren Teil des Gesamtverbrauchs ausmachen.

Indem der Arme diese einfachsten Produkte kaufen muss und sie dadurch auf den ihm erschwinglichen Preis herunterbringt, macht er sie für den Reichen billig und bewirkt, dass, während er sein ganzes Einkommen für eben diese aufwenden muss, der Reiche nun einen um so größeren Teil des seinigen für Luxuswünsche übrig behält.

Aus ähnlichen Erwägungen heraus hat ein italienischer Ökonomist als Abhilfe aller sozialen Missstände ein System differenzieller Preise vorgeschlagen: es würde die Ungerechtigkeit der Besitzverschiedenheiten ausgleichen, wenn der Reiche genötigt wäre, denselben Gegenstand teurer zu bezahlen als der Arme: dadurch wäre es möglich, ihn dem letzteren billiger als bisher anzubieten und damit seine Lebenshaltung zu erhöhen.

Über die ausschweifende Phantastik dieses Planes ist nicht zu verhandeln; allein sein bedeutsames Grundmotiv ist eben dies, das in der Forderung unserer jetzigen Lage lebt: die Wohlhabenden sollen die billigen Nahrungsmittel den Unbemittelten überlassen, sie sollen tatsächlich für ihre Ernährung mehr ausgeben, als nötig wäre - während sie zugleich nur gerade so viel essen sollen, wie nötig ist.

Bisher haben die Armen es den Reichen ermöglicht, viel billiger zu leben, als sie es ohne den Untergrund des Massenkonsums tun könnten; Jetzt ist ein Augenblick gekommen, in dem der Reichtum sich dadurch erkenntlich zeigen kann, dass er für sich nur das beansprucht, was die Armut sich versagen muss - ein Augenblick, in dem der soziale Anstand und die politische Pflicht ihre unlösliche Verbundenheit offenbar machen.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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