Georg Simmel:
Europa und Amerika -
Eine weltgeschichtliche
Betrachtung
ex: Berliner
Tageblatt, 44. Jg., Nr. 336, 4. Juli 1915, Morgen-Ausgabe, 2. Beiblatt
Versucht man sich zu den
weltgeschichtlichen Wandlungen hinzutasten, die der Krieg vorbereitet, so
gewinnt das Verhalten Amerikas eine tiefere Bedeutung, als man der
Tatsache der Munitionslieferungen unmittelbar entnehmen kann.
Es ist jetzt schwer für
uns, über unser Verhältnis zu Amerika ein reines Bild, das mehr als
augenblickliche Erregungen spiegelte, zu gewinnen, weil wir uns dazu, über
unser Deutschsein hinaus, noch als europäischen Staat denken müssen,
also in einer gewissen Einheit mit allen anderen europäischen Staaten.
Dies aber gerade ist,
solange die Bekämpfung fast des ganzen Europa für uns unbedingteste
Forderung und leidenschaftlichster Entschluss ist, nur mühsam zu
vollziehen.
Dennoch müssen wir uns
dazu bringen; denn alle deutsch-amerikanischen Interessen ruhen doch
darauf, dass Deutschland nicht nur in Deutschland liegt, sondern auch in
Europa.
So paradox es im Augenblick
klingt, ich bin überzeugt, dass Europa den anderen Weltteilen gegenüber
eine Einheit bleibt - nur dass in dem Verhältnis zu ihnen der Faktor
Europa bisher eine Art von Solidarität besaß, nun aber in einer Einheit
sozusagen mit negativem Vorzeichen: in sich kämpfend, haßerfüllt; sich
zerfleischend - auftritt.
Vor mehreren Monaten traf
ich in einem neutralen Land mit einem in wichtigen Missionen tätigen
Franzosen zu einer Besprechung zusammen, in der es sich um unsere
Zivilgefangenen in Frankreich handelte, der Franzose hatte sich bereit
erklärt, für Verbesserungen in der Lage gewisser internierter Deutscher
zu wirken.
Während ich es für
selbstverständlich hielt, dass die Unterhaltung das politische Gebiet
nicht berühre, sagte der Franzose beim Abschied: »Wissen Sie, was meine
Meinung ist? Deutschland und Frankreich fressen sich gegenseitig auf,
damit England sich an den Tisch setze.« Bleibe diese Bemerkung, die im
Munde eines geistig hochstehenden, durchaus patriotischen Franzosen
immerhin bemerkenswert ist, hier unkritisiert.
Was sie aber über die Verhältnisse
innerhalb Europas aussagt, droht jedenfalls für das Verhältnis ganz
Europas zu Amerika Wahrheit zu gewinnen.
Europa steht im Begriff,
Selbstmord zu begehen, und Amerika sieht darin die Chance für sich
selbst, sich an die Spitze des Weltgeschehens zu setzen. Es steht dabei,
wie der lauernde Erbe am Sterbebett des reichen Erblassers.
Die Munitionslieferungen
sind die Betätigung dieser Haltung. Europa schickt einen nicht kleinen
Teil seines schwer erarbeiteten Vermögens nach Amerika, und den
Gegenwert, den es dafür erhält, knallt es in die Luft, oder vielmehr, es
benutzt ihn zu besserem Vollzuge jenes Selbstmords, der die Thronfolge in
der Weltherrschaft an Amerika bringen würde.
Von hier aus gesehen, sind
die Munitionslieferungen doch nicht nur Handelsgeschäfte zur Bereicherung
einzelner Lieferanten, die der Staat angeblich geschehen lässt, weil er
sich in solche Privatangelegenheiten nicht zu mischen habe.
Sie sind vielmehr der erste
große, praktische Anstoß, mit dem Amerika die westliche Drehung des
Zeigers der Weltgeschichte zu beschleunigen hofft; es spielt den europäischen
Völkern die Waffen in die Hand, mit denen sie sich zu seinen Gunsten
umbringen sollen, und lässt sich zudem diese Waffen noch mit
unermesslichen Reichtümern bezahlen - so mit einem einzigen Verhalten die
Schwächung Europas auf zwei Weisen fördernd; ein Meisterstück
weltgeschichtlicher Spekulation!
Ich glaube, dass man dem
Verhalten Amerikas ganz mit Unrecht seine Parteinahme für England
unterlegt.
In Einzelfällen mag das
zutreffen, da allerdings die Engländernarretei drüben in ziemlich weitem
Umfang zu herrschen scheint.
Ein feiner alter Engländer
sagte mir einmal, er könne die Amerikaner nicht leiden: they are too
english; und die Leidenschaft gewisser amerikanischer Familien, ihren
Stammbaum von einem der Passagiere der »Mayflower« herzuleiten, ist das
Symbol dieser Idealbildung.
Allein die letzte
Motivierung seines Verhaltens geht zwar gegen Deutschland, aber nur weil
sie gegen Europa geht, gegen das Europa, dessen auch England schließlich
ein Teil ist! Die Parteinahme für England ist nur das bei der
augenblicklichen Sachlage sich ergebende äußere Phänomen.
Amerika würde zweifellos
mit derselben Beflissenheit auch an die Zentralmächte Waffen liefern,
wenn es für diese möglich und nötig wäre.
Denn damit würde es Europa
noch gründlicher zu seiner Selbstvernichtung helfen.
Präsident Wilson hat ja
ausgesprochen, dass nach den Grundsätzen der Neutralität die
Waffenlieferung an alle Parteien gleichmäßig erfolgen könne, und dass
es deshalb ein Neutralitätsbruch seinerseits wäre, wenn er sie an
England und Frankreich untersagte.
Aber wenn er die
Waffenausfuhr überhaupt verböte, so würde sich auch dieses ganz gleichmäßig
auf alle Parteien beziehen, würde also den Grundsätzen striktester
Unparteilichkeit genau ebenso entsprechen.
Nur dass die Durchführung
dieses Beschlusses freilich die Blutströme aus Europas
selbstbeigebrachten Wunden in erheblichem Maße stauen würde - und zwar
die auf beiden Seiten fließenden.
Denn es liegt auf der Hand,
dass der Munitionseinsatz der einen Partei auch die andere zur
entsprechenden Anstrengung veranlasst.
Amerika könnte also einen
Modus ergreifen, dessen formaler Neutralitätscharakter seinem jetzigen
Verhalten absolut gleichstünde, und der außerdem seine fortwährend
gepredigten Humanitätsideale realisierte.
Ich zweifle gar nicht
daran, dass diese Ideale bei den führenden Amerikanern in weitem Ausmaß
bestehen; dass sie ihnen auch nicht um der unmittelbaren Geschäftsgewinne
willen untreu werden würden.
Aber, instinktiver oder
bewusster, beherrscht sie das Motiv, das der Präsident ganz zutreffend
ausgesprochen hat: Amerika habe nicht für oder gegen eine Kriegspartei,
sondern es habe für Amerika zu handeln: weltgeschichtlich interpretiert
bedeutet das, dass es mit seinem Intensivermachen dieses Krieges nicht
gegen eine Partei, sondern gegen alle, gegen Europa als Ganzes handelt.
Aber ist denn Europa
irrsinnig, dass es dieses Harakiri begeht. Hat denn der Partikularismus
seiner Teile die Urheber dieses Krieges so borniert, dass man die
ungeheure Gefahr für seine Gesamtexistenz übersieht und die Geschäfte
Amerikas noch in unendlich weiterem Maße als durch Waffenbestellungen
besorgt.
Denn so sehr wir hoffen,
dass Deutschland aus diesem Kriege in so mancher Hinsicht gesundet und
gestärkt hervorgehen, und dass ihm alles, was es - jenseits der
unersetzlichen Menschen - verloren hat, reichlich nachwachsen wird -
Europa wird nach ihm unermesslich geschwächt sein.
Man vergegenwärtige sich
nur den vielleicht nie mehr einzubringenden Verlust an Prestige, den durch
ihn der Europäer in Afrika und im ganzen Orient erlitten hat.
Solche Begriffsverwirrung
ist freilich dadurch begünstigt, dass weiteste Kreise sich von vornherein
über die ganz verschiedenen Wichtigkeitsschichten unklar waren, in denen
dieser Krieg spielt.
Mit Frankreich haben wir
eine lokale Fehde auszufechten.
So unzweifelhaft
Deutschland um seiner selbst willen bis zum letzten Mann das Elsass halten
muss und wird - weltgeschichtlich ist es ziemlich gleichgültig, ob diese
vierzehntausend Quadratkilometer von Elsass-Lothringen (an Umfang und Bevölkerung
etwa der vierzigste Teil von Deutschland) deutsch oder französisch sind,
fast so gleichgültig, wie ob das Trentino zu Österreich oder zu Italien
gehört.
Und es ist eine der
Paradoxen dieses Krieges, dass seine unerhörtesten Opfer gerade zwischen
uns und demjenigen Volke fallen, dessen Konflikt mit uns den am wenigsten
weitgreifenden Inhalt hat.
Die Kriegsgründe Russlands
und namentlich Englands reichen freilich schon mehr an die »Schwelle«
der weltgeschichtlichen Bedeutung.
Dennoch glaube ich nicht -
im Gegensatz zu so manchem unserer besten und tiefsten Denker - an die
Spekulationen, die in diesen Krieg eine Unvermeidlichkeit und innere
Notwendigkeit hineindeuten.
Nichts kann mich überzeugen,
dass die Welt nicht für England und Deutschland Raum hätte, wenn England
nur - nicht seinen Egoismus (das verlangt niemand), sondern bloß dessen
kurzsichtigste Form aufgeben wollte.
Zusammen hätten wir Europa
den Frieden, solange wir nur wollen, bewahren können - nicht um eines
pazifistischen Ideales willen, über dessen Wert man streiten mag, sondern
um Europa und eben damit auch England seine Weltstellung gegenüber den
aufwachsenden Mächten Amerikas und vielleicht auch Ostasiens zu bewahren.
Ein starkes Europa kann
zwischen diesen ein »Gleichgewicht« bewirken; ob es nach dieser
Selbstzerfleischung aber noch verhindern kann, dass eine von ihnen im
Laufe der Zeit die andere dominiert und sich damit für eine Weltperiode
zum Brennpunkt der wirtschaftlichen und, in ihrem Gefolge, der anderen
kulturellen Kräfte der Erde macht - das dürfen wir uns heute wohl
fragen.
Vor Jahrzehnten schon hat
Jacob Burckhardt mit seinem unvergleichlichen historischen Weitblick
ausgesprochen, dass die europäischen Völker viel zu sehr der »Sekurität
ihrer Verhältnisse« vertrauten.
Viel zu sehr haben wir
vorausgesetzt, dass die Weltgeschichte sich schlechthin innerhalb Europas
abwandle, und dass ihre Wellenhöhe, nachdem sie vor Jahrtausenden Asien
verlassen hat, nun für immer in Europa zum Stehen gekommen wäre.
In der langen Stabilität
der Verhältnisse, in denen ein jedes Volk nur seine sozusagen unmittelbar
persönlichen Interessen zu besorgen brauchte, ist uns der Sinn für die
wirklich weltgeschichtlichen Entscheidungen und ihre Dimensionen verloren
gegangen.
Und es ist das Verhängnis
dieses Krieges, dass seine akuten Nöte und Leiden den Internismus Europas
gerade in dem Augenblick aufs unerhörteste zuspitzen, in dem dieser
Internismus - in der Form des innereuropäischen Krieges - uns mit einer
noch nie dagewesenen weltgeschichtlichen Gefahr bedroht.
Schließlich wohnt Europa
in einem Hause und Amerika in einem anderen.
Und der Frevel nicht nur,
sondern die Kurzsichtigkeit und der Wahnwitz unserer Gegner, die diesen
Krieg entzündet haben, ist wie von Wohnparteien, die eine andere Partei,
weil sie allerhand gegen sie auf dem Herzen haben, aus ihrer Wohnung
vertreiben wollen und darum das ganze Haus anzünden, ihr eigenes Haus. |