Georg Simmel:
Rembrandtstudie
ex: LOGOS.
Internationale Zeitschrift für Philosophie und Kultur, herausgegeben von
Richard Krohner und Georg Mehlis, Band V 1914/15, Heft 1, S. 1-32.
Tübingen, J. C. B. Mohr.
Die Rembrandtsche
Gestaltung der Ausdrucksbewegung wird an seinen Handzeichnungen und den
skizzenhaft-linearen Radierungen deutlicher als an den Gemälden.
Wie diese Bewegungen bei
der Mehrzahl der Maler dastehen, scheint es, als hätte der Künstler in
der Phantasie oder am Modell gesehen, wie diese bestimmte Bewegung
aussieht, und hätte nach diesem fertigen, zu der Vollendung seiner Oberfläche
gelangten Phänomen das Bild, realistisch oder nicht, gestaltet.
Bei Rembrandt aber scheint
der Bewegungsimpuls, wie er von seinem Wurzelpunkt her mit seelischer
Bedeutung geladen oder von ihr geführt ist, zu Grunde zu liegen, und aus
diesem Keim, dieser gesammelten Potentialität des Ganzen und seines
Sinnes entwickelt sich die Zeichnung Teil für Teil, wie sich entsprechend
auch die Bewegung in der Wirklichkeit entfaltet.
Der Ausgangspunkt oder das
Fundament der Darstellung ist bei ihm nicht das gleichsam von außen
gesehene Bild des Momentes, in dem die Bewegung auf ihrem darzustellenden
Höhepunkt angelangt ist; sondern es ist von vornherein die wie in eine
Einheit zusammengefaßte Dynamik des ganzen Aktes in ihm.
Das Ganze des expressiven
Sinnes, den die Bewegung hat, liegt deshalb schon in dem allerersten
Strich; mit der Schauung oder dem Gefühl, das das Seelische und das Äußerliche
der Bewegung als eines und dasselbe enthält, ist dieser Strich schon
angefüllt.
Daher wird es begreiflich,
daß Gestalten, von denen nur ein Minimum von Strichen, man möchte sagen:
fast gar nichts auf dem Papier steht, dennoch eine absolut unzweideutige
Haltung und Bewegung und ebendamit ihre seelische Zuständlichkeit und
Intention mit voller Tiefe und Überzeugungskraft vortragen.
Wo die Bewegung auf das
Definitivum ihrer Darstellung hin gesehen ist, in der Ausgedehntheit ihres
Erscheinungsmomentes, da bedarf es, damit sie zu ihrem vollständigen
Ausdrucke komme, prinzipiell einer Vollständigkeit der Erscheinung.
Hier aber ist es, als wenn
ein Mensch einen tiefsten Affekt, der ihn ganz durchschüttert,
aussprechen will: er braucht gar nicht den ganzen Satz zu sagen, der den
Inhalt seiner Bewegtheit logisch ausbreitet, da doch schon am ersten Worte
der Stimmklang alles offenbart.
Natürlich ist damit kein
vermittlungsloser Unterschied gegen alle anderen Künstler gemeint.
Es handelt sich um die
Differenz von Prinzipien, die als Prinzipien freilich polar
entgegengesetzt sind, zwischen denen aber die empirischen Erscheinungen
eine Stufenreihe größeren oder geringeren Teilhabens an beiden
darstellen.
Das ist um so
ersichtlicher, als die Ausdrucksbewegungen bei dem jüngeren Rembrandt
selbst von der bloßen Außensicht ausgehen.
Wie sich z. B. in dem Raub
der Europa von 1632 oder dem wenig späteren Mene Tekel, oder dem Ungläubigen
Thomas die Gestalten bewegen, das ist ausschließlich das fixierte Phänomen
eines Bewegungsmomentes.
Dann setzt, etwa mit der
Berliner Täuferpredigt, die von innen her innervierte, in der letzten
seelischen Schicht vorbereitete Bewegung ein, die, mit allerhand
Schwankungen noch in den vierziger, ja fünfziger Jahren, schließlich
seinen Bildern einen mit nichts anderem vergleichlichen Charakter gibt.
Vielleicht erklärt sich
hiermit - zum Teil - die Tiefe der Lebenssymbolik, die wir an Rembrandt
empfinden.
Die praktischen
Notwendigkeiten und die Differenziertheit unserer aufnehmenden und
verarbeitenden Kräfte lassen uns selten das Leben in seiner Einheit und
Ganzheit, sondern vielmehr seine einzelnen Inhalte, Schicksale,
Zuspitzungen empfinden.
Insoweit wir das Leben als
kontinuierlichen Prozeß, als unsere Daseinstotalität denken oder fühlen,
erscheint es deshalb wie in einer Absonderung von jedem jener einzelnen
Momente als solchen, oder, anders ausgedrückt, als wäre es aus den
letzteren, in deren jedem ein Stück und Teil von ihm ist,
zusammengesetzt.
Dies ist dadurch möglich,
daß unser Leben die Form eines mit wechselnden Inhalten ablaufenden
Prozesses hat, die Inhalte aber, außer daß sie in der Lebensreihe
stehen, auch noch in allerhand andere: logische, ideelle, sachliche Reihen
eingeordnet werden können.
Ein angeschauter Gegenstand
z. B. ist nicht nur ein Akt des Vorstellens, sondern er steht in einem
System physikalischer Erkenntnis, ein Willensentschluß ist nicht nur ein
inneres Tun, sondern er repräsentiert einen bestimmten Grad in der Skala
objektiver sittlicher Werte, eine Ehe ist nicht nur das Erlebnis der
beiden Subjekte, sondern ein Element einer historisch-sozialen Struktur.
Indem diese gesondert
akzentuierten Inhaltlichkeiten nun aber doch wiederum als »das Leben«
gelten, scheint dieses eine Aneinanderreihung ihrer zu sein, der
funktionelle Verlauf des Ganzen wird zwar irgendwie als eine Einheit
empfunden, aber damit stellt man ihn in eine gewisse Absonderung von jenen
partikularen Abschnitten; sieht man das Leben von diesen her an, so
scheint es, als ob sie seinen Charakter und seine Dynamik pro rata unter
sich aufgeteilt hätten.
Nun glaube ich aber noch an
eine andere mögliche Betrachtungsweise des Lebens, die das Ganze und die
Teile nicht derart - wenn auch ideell - voneinander sondert, für die überhaupt
die Kategorie von Ganzem und Teil auf das Leben nicht anwendbar ist;
sondern dieses ist ein einheitlicher Verlauf, dessen Wesen es ist, als
lauter qualitativ oder inhaltlich unterscheidbare Momente dazusein.
Jene erste Vorstellungsart
gravitiert zu dem »reinen Ich« oder zu der »Seele«, die gewissermaßen
etwas für sich sind, jenseits der in ihnen auftauchenden, nach
Sachbegriffen ausdrückbaren Inhalte.
Mir aber scheint der ganze
Mensch, das Absolute von Seele und Ich, in jedem jeweiligen, inhaltlich
singulären Erlebnis enthalten zu sein; denn diese Produktion wechselnder
Inhalte ist die Art, auf die das Leben lebt, und es behält sich nicht
eine irgend abtrennbare »Reinheit« und Fürsichsein jenseits seiner
Pulsschläge vor.
In einem ähnlichen
Gedankengange, der den »Charakter« des Menschen und seine einzelnen
Handlungen betrifft, sagt Goethe einmal: »Die Quelle kann nur gedacht
werden, insofern sie fließt«.
Was sich dagegen sträubt,
daß man in jedem Augenblick des Lebens das ganze Leben sehe, ist nur die
Gewohnheit, unter dem letzteren Begriff die Summe all jener,
nacheinander auftretender Augenblicke zu verstehen.
Allein genau angesehen hat
dies nur als Addition der, nach Sachbegriffen bezeichneten Inhalte des
Lebens einen Sinn, ist aber an dem kontinuierlichen Fluß des Lebens
selbst gar nicht zu vollziehen.
Denn dieser hat seine
Wirklichkeit nur an der Wellenhöhe, zu der er sich jeweilig hebt, und
eben dieser jetzige Moment ist durch den ganzen vorherigen Lebenslauf
bestimmt, ist der Erfolg aller vorangegangenen Momente und schon deshalb
ist die jeweilige Lebensgegenwart die Form, in der das ganze Leben des
Subjekts wirklich ist.
Die Rembrandtsche Lösung
seiner Darstellungsprobleme, größeren wie geringeren Umfanges, steht völlig
im Zeichen dieser Auffassung des Lebens.
Während in der klassischen
und der in engerem Sinne stilisierenden Kunst die Darstellung einer
Bewegung durch eine Art Abstraktion geschieht, dadurch, daß der Anblick
eines bestimmten Momentes dem bis zu ihm hin und unter ihm fortströmenden
Leben entrissen wird und zu einer selbstgenügsamen Form kristallisiert -
scheint bei Rembrandt der dargestellte Moment den ganzen, bis zu ihm sich
hinlebenden Impuls zu enthalten, er erzählt die Geschichte dieser
Lebensströmung.
Er ist nicht ein zeitlich
fixierter Teil einer physisch-psychischen Bewegtheit, jenseits dessen, zu
künstlerischer Formung herausgehobenen Fürsichseins, noch das Ganze eben
dieser Bewegtheit, dieses innerlich abrollenden Ereignisses stünde;
sondern er macht anschaulich, wie der eine dargestellte Augenblick der
Bewegung wirklich die ganze Bewegung ist oder vielmehr überhaupt Bewegung
und nicht ein verfestigtes So und So ist.
Es ist die Umkehrung des »fruchtbaren
Momentes«.
Während dieser die
Bewegung von ihrem jetzt her für die Phantasie in die Zukunft führt,
sammelt der Rembrandtsche ihre Vergangenheit in dieses jetzt, nicht sowohl
ein fruchtbarer, als ein erntender Moment.
Wie es das Wesen des Lebens
ist, in jedem Augenblick ganz da zu sein, weil seine Ganzheit nicht
die mechanische Summierung von singulären Augenblicken, sondern ein
kontinuierliches und kontinuierlich formwechselndes Strömen ist - so ist
es das Wesen der Rembrandtschen Bewegung, das ganze Nacheinander ihrer
Momente in der Einmaligkeit eines einzelnen fühlen zu lassen, ihre
Zerspaltung in dieses Nacheinander getrennter Momente zu überwinden.
Seine Mittel, den auf diese
symbolische Weise beschriebenen Eindruck zu erreichen, entziehen sich der
Analyse.
Vielleicht nicht wegen
mangelnder Schärfe unseres Blicks, sondern weil hier die Schöpfung etwas
ganz Einheitliches ist und in sich selbst keine diskreten, eine Analyse
ermöglichenden Elemente enthält.
Hier wird wieder die
Beobachtung wichtig, daß auf seinen Zeichnungen ein paar Striche, die
kaum für eine Bedeutung aufnahmefähig scheinen, eine Bewegung mit
restlosem Ausdruck ihrer Innerlichkeit geben.
Ich deutete dies so, daß
seine künstlerische Vision nicht einfach die Sichtbarkeit der Geste in
ihrem Darstellungsmoment enthält, sondern die ganze, wie in einem Punkt
gesammelte Bedeutsamkeit und Kraft des gesamten Vorgangs; dessen Sinn und
Intensität entsteht, sozusagen nicht erst in der Ebene der Anschauung,
sondern lenkt und füllt schon den ersten Strich, der also die Totalität
des innerlich-äußerlichen Vorgangs (in seiner eigentümlich künstlerischen
Ungeschiedenheit) vollgültig offenbart.
Wie es nun als die tiefere
Formel des Lebens erschien, daß seine Totalität nichts außerhalb seiner
einzelnen Augenblicke ist, sondern daß es in jedem dieser ganz da ist,
weil es eben ausschließlich in der Bewegung durch all diese
Entgegengesetztheiten hindurch besteht - so offenbart die bewegte Gestalt
bei Rembrandt, daß es sozusagen in dem Sich-Darleben und Sich-Darbieten
eines inneren Schicksals keinen Teil gibt, daß vielmehr jedes, von
irgend einem Gesichtspunkt der Anschaulichkeit herausgesonderte Stück das
Ganze dieses inneren und sich ausdrückenden Schicksals ist.
Daß er jedes Teilchen der
bewegten Gestalt als ihre Ganzheit darzustellen vermag, das ist der ebenso
unmittelbare wie symbolische Ausdruck davon, daß jeder der kontinuierlich
verbundenen Augenblicke des bewegten Lebens das ganze, in dieser
bestimmten Gestalt Person gewordene Leben ist.
Dieselbe Formel, die über
das Verhältnis zwischen dem dargestellten Bewegungsmoment und dem ganzen,
sich ausdrückenden Innenereignis herrscht, bestimmt Rembrandts Gestaltung
des Porträts als solchen.
Die letzte und allgemeinste
Intention des italienischen Porträts ist in die Wertmetaphysik des
klassischen Griechentums eingeordnet: Sinn und Wert der Dinge liegt im Sein,
in ihrer festumschriebenen Wesenheit, wie ihr zeitloser Begriff sie
ausdrückt; das flutende Werden, der historische Wechsel der Formen, die
Entwicklungen ohne definitiven Vollendungspunkt - das widerstrebte der
plastischen, auf die Selbstgenügsamkeit des Formungswertes gehenden
Sinnesart der Griechen.
Und auf so geschlossenes
Sein, auf die zeitlos qualitative Wesenheit des Individuums geht das
Renaissanceporträt.
Die Wesenszüge der Person
sind wie nebeneinander in fester Geformtheit ausgebreitet; und obgleich
selbstverständlich Schicksale und innere Entwicklung zu der dargebotenen
Erscheinung geführt haben, so sind doch für deren Eindruck diese Momente
des Werdens ausgeschaltet, wie die Stationen einer Rechnung da
nicht in Frage kommen, wo nur nach ihrem Resultat gefragt wird.
Das klassische Porträt hält
uns in dem Augenblicke seiner Gegenwart fest, aber dieser ist nicht ein
Punkt in einer Reihe des Kommens und Gehens, sondern er bezeichnet die
jenseits einer solchen Reihe stehende zeitlose Idee, die überhistorische
Form der seelischkörperlichen Existenz.
Dies entspricht einerseits
dem Begriffsrealismus, der sowohl das Nebeneinander der Existenzen wie das
Nacheinander der Existenz in ein einmaliges Gebilde, das übereinzeln und
doch real ist, zusammenzieht, andererseits unserer Vorstellung von der äußerlich-natürlichen
Wirklichkeit.
Denn so sehr in dieser jede
Erscheinung durch die vorhergehende streng kausal bestimmt ist, so ist
doch das Vergangene völlig und sozusagen selbstlos in seine Wirkung
aufgegangen, es ist als Vergangenes verschwunden und gleichgültig
geworden, schon weil andere Ursachenkombinationen prinzipiell zu dem
gleichen Effekt führen konnten.
In dieser Analogie, teils
mit Metaphysischem, teils mit Physischem, stellt sich die Renaissance das
Problem des Porträts.
Anders aber ist die Formung
des Seelischen als solchen.
In seinem Verlaufe ist die
Ursache nicht in ihre Wirkung aufgelöst und in ihrer besonderen
Bestimmtheit irrelevant geworden, sondern in der Gesamtentwicklung der
Seele empfinden wir Jede Gegenwart als gerade nur durch diese bestimmte
Vergangenheit möglich (obgleich einzelne, künstlich isolierte
Partialverläufe jene physische Analogie zeigen mögen).
Das Vergangene ist hier
nicht nur Ursache des Späteren, sondern seine Inhalte legen sich als
Erinnerungen oder als dynamische Realitäten, deren Wirkungen aber von gar
keiner anderen Ursache ausgehen könnten, Schicht um Schicht übereinander
und damit wird - so paradox der Ausdruck ist - das Nacheinander zur
wesentlichen Form jedes Gegenwartsbestandes der seelischen Ganzheit.
Wo also die Seele nach
ihrer wirklichen Eigenart die Gestaltung bestimmt, kommt es nicht zu deren
Zusammenziehung auf jene Art von anschaulicher Abstraktion, in der alle
Bestimmtheiten sich in einem Ein-für-alle-Mal, in zeitloser
Wesenhaftigkeit bieten.
An den Rembrandtschen Porträt-Physiognomien
empfinden wir sehr deutlich, daß ein Lebensverlauf, Schicksal an
Schicksal fügend, dieses Gegenwartsbild erzeugt, es versetzt uns
gewissermaßen auf eine Höhe, von der der Weg bis zu ihr hinauf überschaubar
ist - so wenig irgend ein Inhalt dieser Vergangenheit naturalistisch
anzugeben wäre, wie manche späteren Porträts mit psychologischer
Tendenz es nahelegen wollen.
Dies wäre ein
anekdotisches oder literarisches Interesse jenseits der reinen Kunstlinie.
Wunderbarerweise trägt
Rembrandt in die feste Einmaligkeit des Anblicks das ganze bewegte Leben
ein, das zu ihr geführt hat, aber wirklich nur den mit innerer Logik
dahin gerichteten vitalen Prozeß und seine sozusagen formale Rhythmik,
Gestimmtheit, Schicksalstönung.
Denn nur diese
Lebensdynamik, nicht aber ihr im einzelnen anzugebender Inhalt, ist der
Bildner unserer Züge.
Das Leben besteht so wenig
aus seinen hintereinander aufgereihten, einzeln benennbaren Inhalten, wie
die Bewegung aus den einzelnen Lagen oder Zuständen, in die die
Momentphotographie sie zerlegt.
Und wie Rembrandt in die
einzelne Ausdrucksbewegung die Einheit ihrer Geschichte, von der bloßen
Potentialität des ersten Impulses an, mit Eins zur Darstellung und
Empfindung gebracht hat, so hat er - gleichsam »mit großen Buchstaben
geschrieben« - die ganze persönliche Entwicklungslinie so in das jetzt
der Anschauung gebannt, daß sie in einer eigentümlich intuitiven Weise,
trotz und mit ihrer Nacheinander-Form, mit diesem jetzt unmittelbar
gegeben und aus ihm ablesbar ist.
Rembrandt hat so der
Lebensbewegtheit einen bis dahin unerhörten künstlerischen Ausdruck
gewonnen, freilich einen, der nicht Methode oder Stil werden kann, sondern
an die persönliche Genialität gebunden bleibt.
Gewiß fehlt es dem
Florentiner und Venetianischen Porträt nicht an Leben und Seele.
Allein es ist eine
allgemeine Formgebung da, die die Elemente der Unmittelbarkeit ihres
Erlebtwerdens und damit der Ordnung des Nacheinander entreißt: die Form
hat eine Geschlossenheit in sich, der die seelische Bewegtheit nur ihre Resultate
als Material zur Verfügung stellen kann.
Jener typisierende Stil
bewirkt hier nicht eine inhaltliche Ähnlichkeit der Individuen (wie sich
etwa in der Sienesischen und teilweise in der Umbrischen Kunst die
Menschen alle irgendwie ähnlich sehen), aber er bewirkt eine besondere
Art von »Allgemeinheit«, nämlich die Darstellung des ideellen
Individuums, das durch die Abstraktion aus all seinen einzelnen
Lebensmomenten zustandekommt.
Bei Rembrandt bedeutet die
Allgemeinheit des individuellen Menschen die Akkumulation eben
dieser, gewissermaßen ihre historische Ordnung bewahrenden Momente.
Damit enthalten sie die
Bewegtheit des seelischen Lebens, während das klassische Porträt nicht
nur zeitlos im Sinne der Kunst überhaupt ist, d. h. unabhängig von der
Einstellung zwischen ein Vorher und ein Nachher der Weltzeit, sondern in
sich selbst, in der Ordnung seiner Momente, eine immanente Zeitlosigkeit
besitzt.
Daher sind die reichsten
und ergreifendsten Porträts Rembrandts die von alten Leuten, weil an
ihnen ein Maximum gelebten Lebens zur Überschau gelangt; in Porträts von
jugendlichen hat er dasselbe nur mit einigen Titusbildern durch eine
Drehung der Dimension erreicht, indem hier gewissermaßen das zukünftige
Leben mit seinen Entwicklungen und Schicksalen ebenso akkumuliert und als
Gegenwart des zukünftigen Nacheinander erschaubar wird, wie dort die
bereits abgelaufene Zeitfolge.
Vielleicht klärt sich hier
noch ein eigentümlicher Unterschied gegen das Renaissanceporträt auf.
Ich sagte von diesem, daß
es seinen Charakter gleichsam zeitlos ausbreite, in einer Abstraktion, die
die vitale Bewegtheit seines Gewordenseins ausschalte und nur seine reinen
Inhalte in sich aufnehme.
Obgleich das so
Aufgenommene sich innerhalb dieses Stiles mit der größten Deutlichkeit
darstellt, so bestimmt damit das Cachet des Geheimnisvollen oder Rätselhaften
der Persönlichkeit ihren Eindruck eher in höherem als in geringerem
Grade.
Denn es ist in unserem
innerlich-äußerlichen Sein etwas Dunkles und Verhangenes, das eine Verständlichkeit,
soweit sie überhaupt dafür in Frage kommt, nur von dem Lebensprozeß
seines Werdens aus gewinnt.
Indem das klassische Porträt
oberhalb der Ebene, in der dieser verläuft, zu einer höchst
geschlossenen Einheit von Stil und Eindruck gelangt, bekommt die
dargestellte Persönlichkeit Jenes eigentümlich Verschlossene, das an so
vielen Renaissancebildnissen auffällt.
Zweierlei ist hieran höchst
merkwürdig.
Einmal, daß ein Zug, der
doch nur den künstlerischen Stil charakterisiert, ein Formungsprinzip,
das nur die Darstellung als solche leitet - sich in eine Qualität des
dargestellten Subjektes fortsetzt: das Entrücktsein aus der Zeitfolge,
das in einem gewissen Sinn und Maß das Verständnis der Persönlichkeit
verschließt, wirkt als eine Verschlossenheit dieser Persönlichkeit
selbst! Und zweitens, daß gerade die mit diesem Stil gewonnene
Deutlichkeit und gewissermaßen rationalistische Bestimmtheit der
Darstellung ihre Inhalte in solche Rätselhaftigkeit und
Undurchdringlichkeit rückt! Dies öffnet einen tiefen Blick in die
Divergenz zwischen der zeitlos-logischen Verbindung von Inhalten (auch
wenn es sich, wie hier, um die Logik der Anschaulichkeit handelt) und
ihrer vitalen, im Zeitstrom sich vollziehenden Verbindung; es zeigt, wie
sehr die begriffene Einheit der ersteren noch immer die letztere als ein
Geheimnis bestehen läßt.
Die Wirkung von Rembrandts
Bildnissen ist gerade entgegengesetzt.
Von so tiefem Leben
durchschüttert, in so lang laufende Schicksalsfäden versponnen seine
Figuren uns oft erscheinen - keine hat jenes eigentümlich Rätselhafte,
wie die Mona Lisa oder Botticellis Giuliano Medici, wie Giorgiones Jünglingsköpfe
in Berlin und Budapest oder Tizians junger Engländer im Pitti.
Mit solchen verglichen ist
Rembrandts Auffassungs- und Vortragsweise unvergleichlich vibrierend, in
das Dämmernde und sozusagen Unendliche sich verlaufend, der logischen
Durchsichtigkeit entbehrend; aber mit alledem ist der dargestellte Mensch
für uns sehr viel aufgeschlossener, bis auf den Grund durchleuchtet, ein
verständlich vertrautes Wesen.
Und das wird keineswegs
daran liegen, daß Rembrandts Modelle unkompliziertere, geradlinigere
Menschen waren als die differenzierten und mit allen Kulturfinessen
geladenen Renaissance-Italiener.
Sondern vielmehr daran, daß
Rembrandts verschlungenere, an Elementen reichere, scheinbar ungeklärtere
Auffassung des Menschen die seelische Reihe von Entwicklungen und
Schicksalen, die die aktuelle Erscheinung aufgeformt haben, in dieser
fühlbar und dadurch sie selbst nachfühlbar und von innen her verständlich
gemacht hat.
In der klaren Harmonik und
Ausbalanziertheit des Renaissanceporträts tragen gleichsam die Elemente
sich gegenseitig, die geistdurchdrungene Körperlichkeit wird nach den
Gesetzen aktueller Anschaulichkeit geformt; im Rembrandt-Porträt werden
die erscheinenden Elemente, außer ihrer unmittelbaren Relation zueinander,
gleichsam von einem dahintergelegenen Punkt her geformt, im sinnlichen
Erfassen ihrer wohnen wir der Dynamik des Lebens und Schicksals bei, die
sie ausgehämmert hat.
Was nach den Kategorien der
Intellektualität ganz widerspruchsvoll und mit ihnen nur höchst
unvollkommen ausdrückbar ist, ist hier künstlerisch gekonnt: in ein rein
anschauliches Gebilde, ohne jede literarische oder außerkünstlerische
Assoziation, ist sein lebendiges Gewordensein hineingeformt, die
Darstellung des aktuell Anschaulichen hat die Zeitlichkeit eines langen
Lebensverlaufes, nach seiner Gewalt und Rhythmik, in sich aufgenommen,
ohne daß das Nacheinander am Nebeneinander oder dieses an jenem
zerbrochen wäre.
Es wird das Freischwebende,
Sich-selbst-Tragende jener anderen Gebilde durch die Schichtung der
Vergangenheiten ersetzt, mit diesen letzteren, die sich irgendwie in ein
Dunkel verlieren, ist das Gegenwärtige durch die Lebensströmung in
wirksame Berührung gesetzt.
Es ist aber das Wesen des
Lebens, daß sein eigentliches Verständnis ausbleibt, solange man es nur
seinen, gleichsam unter sich bleibenden Klarheiten abverlangt, und daß es
für den beschauenden Blick nur hell wird, wenn seine Klarheiten sich aus
seinen Dunkelheiten, die auch Dunkelheiten bleiben, entwickeln.
Oder anders ausgedrückt:
das Sein, so viel plastischer, formsicherer, unproblematischer als das
Werden es erscheint, ist schließlich dennoch rätselhaft und
verschlossen, während das Werden, dem all jenes mangelt, dennoch uns erst
eigentlich nachfühlbar ist und jedes Stadium des Seins uns innerlich
assimiliert und begreiflich macht - vielleicht, weil auch das Begreifen
ein Leben ist und nur das Lebendige eigentlich vom Leben begriffen werden
kann.
Jenes Rätselhafte, bis zur
Unheimlichkeit gesteigert, das dem klassischen Porträt oft eignet, geht
vielleicht darauf zurück, daß es ein der zeitlichen Lebendigkeit
enthobenes Sein darstellt, das Rembrandtsche Porträt scheint uns
seine Rätsel selbst zu deuten, weil es dem immer nur werdenden, dem
Zeitschicksal unterworfenen Leben enttaucht, dem es doch oder das ihm doch
verhaftet bleibt.
Hier scheint freilich ein
Zirkel unvermeidlich.
Es liegt die Darstellung
einer aktuellen Erscheinung vor, in der, wenn ich es richtig deute, ihre
seelische Geschichte gleichsam abgelagert und ihr von innen her gelebtes
Werden noch immer anschaulich ist und die dadurch eine besondere Art von
Verstandenwerden gewinnt.
Aber diese zeitliche und
vielgliedrige Geschichte ist doch nur aus dem unzeitlichen, einmaligen
Anblick herauszufühlen.
Nennen wir diesen einmal
kurz die »Gegenwart« der Darstellung, so soll diese Gegenwart uns durch
Vergangenheit gedeutet werden, diese Vergangenheit aber ist nur aus jener
allein gegebenen Gegenwart heraus zu deuten! Freilich scheint diese ganze
Interpretationsform: daß die Erscheinung aus dem heraus verstanden werden
soll, was doch seinerseits erst aus der Erscheinung heraus verstanden
werden kann, die Darstellung des Menschen allenthalben zu beherrschen.
Denn diese Darstellung ist
eine sinnlich-räumliche, eine bloße Ordnung von Farbigkeiten, die einen
Sinn für uns nur dadurch bekommen, daß sie ein - allgemeines oder
individualisiertes - Seelisches ausdrücken.
Dieses Seelische aber zu
wissen, haben wir gar kein anderes Material und keinen anderen Hinweis als
eben jene gegebene körperliche Anschaulichkeit.
Der Zirkel indes scheint
nicht unlösbar, denn er ruht nur auf der keineswegs indiskutabeln
Voraussetzung, daß uns das Seelische einer menschlichen Erscheinung auf
eine ganz getrennte und andere Art als das Körperliche zugänglich werde,
daß wir dieses unmittelbar sehen, jenes aber nur mittelbar erschließen.
Möglicherweise aber ist
dies eine künstliche Trennung; und wie der Mensch als Subjekt eine
ungespaltene Einheit ist, ein Leben schlechthin, das das sogenannte Körperliche
und das sogenannte Geistige in einheitlichem Prozeß hervortreibt und
formt - so hat er als betrachtender eine dementsprechende Fähigkeit: den
anderen Menschen mit einer einheitlichen Funktion wahrzunehmen, in der
sinnliches und geistiges Wahrnehmen so wenig durch einen inneren
Teilstrich getrennt sind, wie eben das Körperliche und das Seelische als
Lebenstatsachen es sind.
Solange wir freilich
bestimmen, daß wir nur Physisches »wahrnehmen« können, ist es
definitorisch richtig, aber auch eine petitio principii, daß wir das
Geistige erst »erschließen« müssen.
Vielleicht aber haben wir,
wie eine Totalexistenz, so auch eine Totalwahrnehmung, die nur die
Reflexion aus irgendwelchen Gründen zerlegt - vielleicht weil sie sich
nicht nach allen Dimensionen mit gleicher Sicherheit erstreckt und das »Seelische«
nicht ebenso unzweideutig bestimmen kann, wie das »Körperliche«; aber
dies schließt jene Einheit so wenig aus, wie das optische Sehen darum
weniger eine einheitliche Funktion ist, weil der Punkt des schärfsten
Sehens und die Ränder des Blickfeldes sehr verschiedene Deutlichkeit
haben.
Manches spricht für dieses
Verhalten.
Man ist seit lange darauf
aufmerksam geworden, wie vieles in dem, was wir unmittelbar zu »sehen«
glauben, tatsächlich gar nicht gesehen, sondern, wie man zu sagen pflegt,
»erschlossen« wird.
Bei genauerer Analyse
schmilzt das innerhalb des Gesamteindrucks tatsächlich rein sinnlich
Aufgenommene immer mehr zusammen, es geht in jenes, uns auf andere Weise
Zugängige kontinuierlich über, so daß in dem als Einheit angeschauten
Ding die Scheidung zwischen dem unmittelbar und dem mittelbar Erfaßten
ganz problematisch und künstlich erscheint.
Vielleicht liegt schon die
Kantische Erkenntnis, daß auch der empirische Gegenstand uns nur durch
Verstandesfunktionen, am Sinnesmaterial vollzogen, zustande kommt, in
dieser Richtung; ist es richtig, daß Anschauungen ohne Begriffe blind,
Begriffe ohne Anschauungen leer sind, so ist durch deren Synthese eine
Einheit zustande gebracht, von der es immerhin zweifelhaft ist, ob sie
nicht einer ursprünglich einheitlichen Funktion entspricht, deren
Trennung in Begriff und Anschauung gar nicht in ihrer eigenen Struktur
vorgezeichnet ist.
Dieses Motiv führt, mit
einer vielleicht gar nicht so sehr wesentlichen Modifikation, dahin
weiter, daß auch das Bild des körperlichen und das des seelischen
Menschen durch eine fundamental einheitliche Funktion gewonnen wird, die
man nur nachträglich, durch gewissermaßen von außen herangebrachte
Gesichtspunkte, in Anschauung und psychologische Konstruktion zerlegt.
Innerhalb der Kunst dürften
die Gestalten Michelangelos das am eindringlichsten machen.
Hier erscheint die körperliche
Gestaltung objektiv, vom Schöpfer her, derart von der seelischen Stimmung
durchdrungen, daß ein einziger, innerlich ganz untrennbarer Akt des
Beschauers beides aufnimmt: körperliche Geformtheit und seelische
Bedeutung sind hier nur zwei Worte für einen und denselben Tatbestand des
Seins, der viel zu einheitlich ist, als daß seine Aufnahme sich erst aus
einer bloß sehenden und einer bloß deutenden Funktion zusammensetzen
sollte.
Daß unser Aufnehmen einer
menschlichen Erscheinung in den Komplikationen und Dissolutheiten des
empirischen Lebens solche Zerspaltung dennoch erfährt, daß seine
Wirkungsart mindestens den Schein zweier gesonderten Funktionen sehr nahe
legt, ist unleugbar.
Aber vielleicht gehört es
gerade zum Wesen der Kunst, die Einheit in ihr wirksames Recht
treten zu lassen; gerade die Kunst gestaltet die menschliche Erscheinung
so, daß die Zweiheit des physischen und des seelischen Auffassens, der
Wahrnehmung und der Deutung, in die das unzulängliche Verhältnis des
Betrachters zum Betrachteten oft die Betrachtung zerdehnt - daß diese
verschwindet.
Der Zirkel, der das Verständnis
des Porträts bedrohte: daß wir die körperliche Erscheinung des Menschen
aus seiner seelischen Wirklichkeit zu deuten haben, diese aber nur aus
jener, die sich uns allein unmittelbar darbietet, gewinnen können, ist
nun nichts als der Ausdruck dafür, daß hier eine Einheit des Seins und
eine entsprechende Einheit des Wahrnehmens besteht.
Überall, wo der Gedanke
etwas in sich Einheitliches in zwei Faktoren spaltet, stehen diese im
circulus vitiosus: der eine zeigt sich auf den anderen gegründet und der
andere auf den einen; aber in diesem Falle ist der Zirkel die in der Sache
selbst begründete, legitime Form, in der sich die Einheit der Zweiheit
kundgibt.
Ist dies Motiv nun bis zu
dem spezifischen Rembrandtschen Problem, zu der Sichtbarmachung des
Vergangenen in dem Gegenwartsbilde des Menschen zu erstrecken? Wir sehen:
nach den Kantischen Voraussetzungen kommt die einfachste räumliche
Gegenstands-Anschauung schon durch Zusammenwirken der sinnlichen und der
intellektuellen Funktion zustande, obgleich für die unmittelbare Bewußtseinsrealität
der Gegenstand ganz sinnlich-einheitlich gegeben ist.
Die späteren
Untersuchungen haben dies mehr ins Empirische erweitert, indem sie die ergänzende
Verwebung des bloß Erschlossenen, nicht Wahrgenommenen und selbst nicht
Wahrnehmbaren in das scheinbar rein sinnliche Bild der Dinge zeigten.
Es wurde der gleiche Aspekt
nur gleichsam von der anderen Seite genommen, wenn ich nun umgekehrt
vermutete, daß die Doppelfunktion physischer Anschauung und seelischer
Deutung gegenüber dem Menschen in Wirklichkeit und Kunst nur eine einzige
ist: indem man das sinnliche Sehen vergeistigt, darf man das geistige
Sehen versinnlichen; nur wegen gradueller Unterschiede und akzidenteller
Verschiebungen erscheint es als paradox, daß wir die seelische Bedeutung
einer Leiblichkeit in demselben Akt »sehen«, wie diese letztere.
Dies aber selbst zugegeben,
muß es noch viel paradoxer sein, wenn jetzt nicht nur das aktuelle
seelische Sein, sondern die Vergangenheit, die sich zu diesem und seinem
leiblichen Phänomen hinentwickelt hat, mit dem momentanen Anblick dieser
Körperlichkeit gegeben sein soll.
Dennoch, der berührte
Zirkel: daß wir die »Gegenwart« der Erscheinung aus ihrer Vergangenheit
verstehen, diese Vergangenheit aber doch nur jener allein dargebotenen
Gegenwart entnehmen können, scheint mir nur unter dieser Bedingung lösbar,
ja verständlich.
Was überwunden werden muß,
ist die nächstliegende platte Vorstellung: es sei ein Sinnlich-Gegenwärtiges
gegeben, aus dem durch ein Intellektuelles Verfahren die seelische
Vergangenheit rekonstruiert, bzw. in das diese hineinprojiziert wird.
Tatsächlich hat die Kunst
spezifische (in Rembrandts Altersporträts nur besonders offenbar
werdende) Mittel zur Verfügung, sich von dieser rationalistischen
Notwendigkeit zu befreien.
Freilich darf es nicht so
gedacht werden - wozu vielleicht ein früherer vorläufiger Ausdruck verführen
könnte -, als ob eine fixierte Ordnung einzelner Szenen oder Akte des
Lebens, jeder für sich begrenzt und von anderen durch einen jetzt als
leer geltenden Zeitraum getrennt, von seinem jetzigen Phänomen her
sichtbar würde.
Sondern die ganze
kontinuierliche Strömung des Lebens wird es, weil sie sich in dieses
absatzlos ergießt.
Vielleicht ist überhaupt
dem Menschengebilde gegenüber die mathematisierende Vorstellung, daß wir
jeweils einen im zeitlichen und physikalischen Sinne absolut aktuellen
Zustand seiner erblicken, nicht zutreffend.
Daß er in der Objektivität
wissenschaftlicher Abstraktion nur punktuelle Gegenwart ist, mag sein und
bleibe dahingestellt; als wirkliches Anschauungserlebnis ist uns das Phänomen
eines Menschen ein den Moment irgendwie übergreifendes Ganzes, etwas
jenseits des Gegensatzes von Gegenwart und Vergangenheit (vielleicht sogar
von Zukunft) Stehendes.
Diese spezifische Lebenscharakteristik
bringen die späteren Porträts Rembrandts zu reinster Betonung.
Es ist ganz gleichgültig,
daß wir physikalisch ein in einmaliger Qualität gegebenes, unveränderliches
Farbengebilde vor uns haben; die Frage ist ausschließlich, was es für
uns, in uns, als unsere aktive Schauung bedeutet.
Und wie für diese schon
die Gespaltenheit zwischen der Körperlichkeit, als dem sinnlich
Wahrgenommenen, und der Seele, als dem intellektuell Dazukonstruierten,
fortfiel, so nun weiterhin die entsprechende zwischen Gegenwart und
Vergangenheit.
Die Rembrandtsche
Menschendarstellung läßt uns jeweils eine Totalität des Lebens
erschauen, trotzdem diese begrifflich und als erlebte Realität in das
Nacheinander von Vergangenheit und Gegenwart geformt ist.
Wir sehen eben den ganzen
Menschen und nicht einen Augenblick seiner, von dem wir dann erst auf frühere
Augenblicke schlössen, denn das Leben ist unmittelbar gar nichts
anderes, als die Gegenwart werdende Vergangenheit, und wo wir das Leben
wirklich sehen, ist es ganz unsinnig, zu behaupten, daß man nur den
starren Punkt der Gegenwart sehe.
Ob wir dieses Sehen des
totalen Lebens erst allmählich erwerben, ob ihm gewisse Erfahrungen und
Schlüsse psychologisch vorangegangen sind, ob es etwa immer unvollkommen,
bloß annähernd bleibt, das ist prinzipiell ganz gleichgültig.
Es war die entsprechende
Wendung des Denkens, mit der Kant die scheinbare Notwendigkeit abwies, auf
den Gegenstand der äußeren Wahrnehmung erst zu schließen.
Da uns nur unsere
Vorstellungen, also rein innerhalb unser selbst ablaufende Geschehnisse,
gegeben sind, so schien es, als könnten wir auf die Außenwelt, die uns
nie unmittelbar zugängig ist, eben nur schließen: von der Wirkung in uns
auf die Ursache außer uns.
Demgegenüber zeigte Kant,
daß auch die Außenwelt ausschließlich als unsere Vorstellung für uns
bestände, daß deshalb zwischen ihr und der angeblich an sich selbst
sicheren Innenwelt insoweit gar kein prinzipieller Unterschied herrschte,
und jene mit ihrem Vorgestelltwerden ebenso sicher und ohne daß es eines
Schlusses bedurfte, gegeben sei.
Ich glaube nun zunächst,
daß es sich mit der Erkenntnis von Körper und Seele des anderen
Menschen, die den gleichen, nur umgekehrt laufenden Schluß zu erfordern
scheint, analog verhält.
Hier ist uns angeblich
gerade die Anschauung des Körpers unmittelbar gegeben, und auf die mit
ihm verbundene Seele müßten wir erst »schließen«.
Vielleicht aber entstammt
diese Scheidung nicht weniger als die von Kant kritisierte, einem
rationalistischen Vorurteil und wir nehmen den Menschen unmittelbar als
eine Einheit wahr, in der Körper und Seele erkenntnistheoretisch äquivalent
sind - mag auch empirisch die Erkenntnis der letzteren unsicherer,
zweideutiger, lückenhafter sein.
Und nicht anders mit dem
entsprechenden Schluß: wenn nun auch schon die körperlich-seelische
Existenz eines Menschen uns in einem prinzipiell unteilbaren Akt gegeben
sei, so könne dieser jedenfalls nur die Gegenwärtigkeit eines Momentes
enthalten, während das Vergangene, als nicht mehr vorhanden, uns nur
durch einen, auf das Gegenwärtige aufgebauten Schluß - von der Wirkung
auf die Ursache - zugängig wäre.
Allein vielleicht verhält
sich doch in dieser Hinsicht die Vergangenheit nicht anders zur Gegenwart,
als die von uns vorgestellte Seele des Anderen zu seinem Körper, oder als
in dem Kantischen Fall die äußere Existenz der Dinge zu der
Innerlichkeit des Vorstellens.
Die »Gegenwart« eines
Lebens ist überhaupt mit der Isoliertheit und Präzision ihres
mathematischen Begriffes gar nicht festzustellen.
Wo wir Leben wahrnehmen und
nicht einen erstarrten Querschnitt, der nur einen Inhalt, aber
nicht die Funktion des Lebens als solchen bietet, nehmen wir stets ein Werden
wahr (sonst könnte es nicht Leben sein), nur wo die eigentümliche Fähigkeit
in Funktion tritt: das jetzt in der Kontinuität eines zu ihm sich
streckenden Ablaufs anzuschauen, haben wir wirklich Leben gesehen.
Wie weit freilich
wir in diese Reihe hineinschauen, ein wie großes Stück von dem,
was wir Vergangenheit nennen, als Einheit überblickt wird, ist ganz
problematisch und wechselnd.
Es ist die Kunst
Rembrandts, solches Nacheinander, das, diese Form bewahrend, dennoch in
uns eine Schauung ist, in eine gar nicht bestimmbare Weite
verlaufen, oder genauer: aus ihr herkommen zu lassen.
Nur darf man der Verleitung
des Nacheinander-Begriffs nicht nachgeben: als ob einzelne, inhaltlich
bestimmte Stationen gleichsam hintereinander aufgebaut wären.
Denn damit wäre ja die
Zeitlichkeit nur eine äußerliche Anordnungsform festumschriebener
Sachgehalte des Lebens, während es sich hier gerade um eine Werdensströmung
handelt, in der die für sich seiende, bloß inhaltliche Bedeutung der
einzelnen Momente (die für andere Kategorisierung unbestritten ist)
schlechthin aufgelöst ist, darum handelt, daß jedes Gebilde als ein in
der flutenden Rhythmik von Leben, Schicksal, Entwicklung, gewordenes oder
werdendes erschaut wird: es ist sozusagen nicht diese jetzt erreichte
Form, die Rembrandt vorträgt, sondern das gerade bis zu diesem Augenblick
gelebte, von ihm her gesehene Gesamtleben.
Wie die Scheidung zwischen
dem seelisch-subjektiven Vorstellen und dem ihm äußerlich entsprechenden
Objekt erst eine nachträgliche Abstraktion ist, während ursprünglich
das einheitliche, inhaltbestimmte, noch nicht in Subjektivität und
Objektivität differenzierte Bild vorhanden ist- ähnlich ist, wo wir
Leben wahrnehmen, die absolute Scheidung eines hart isolierten jetzt gegen
ein ausgedehntes Vergangenes Sache einer intellektuellen Reflexion; in
Wirklichkeit nehmen wir zunächst und unmittelbar eine zeitlich
erstreckte, gar nicht in Momente auseinanderfallende Einheit wahr.
Und wie diese Schauung
hinsichtlich ihres Objekts weder sein punktuelles jetzt noch seine
ausgedehnte Vergangenheit, sondern die fließende Einheit beider ist, so
ist sie in Hinsicht des Subjekts weder isolierte Sinnlichkeit noch
isolierte Verstandeskonstruktion, sondern eine ganz einheitliche Funktion,
die erst von anderen Gesichtspunkten her in jene beiden differenziert
wird.
Damit ist erst das
Bewegungsproblem, von dem ich ausging, in die richtige Reihe gestellt.
Es besteht zunächst jeder
»dargestellten Bewegung« gegenüber die Frage, wieso der eine, starre,
zeitlich unausgedehnte Moment, den das Bild bietet, eine zeitlich
erstreckte Bewegung anschaulich machen kann.
Dem geringen Künstler
gelingt dies auch nicht, sondern die Figur erscheint in ihrer Attitüde
wie festgefroren, und dasselbe ist auch bei der Momentaufnahme der Fall.
Denn wo wirklich, von außen
her, das absolut momentane Phänomen reproduziert ist, da gilt der
Zenonische Beweis für die Unmöglichkeit des fliegenden Pfeiles: da der
Pfeil in jedem gegebenen Augenblick in irgend einem Ort ist, so ruht er,
wie kurze Zeit auch immer, in diesem; da er also in jedem Augenblick ruht,
so ruht er immer und kann sich also überhaupt nicht bewegen.
Der Trugschluß liegt hier
darin, daß der Pfeil überhaupt an irgend einer Stelle ruhen solle.
Er tut das nur in der künstlichen
und mechanischen Abstraktion des schlechten Künstlers und des
Momentphotographen, in Wirklichkeit aber geht er durch jede Stelle
hindurch und hält sich keine noch so kurze Zeit in ihr auf, d.h. die
Bewegung ist eine besondere Art des Verhaltens, die nicht aus einzelnen
Aufenthaltsmomenten zusammenzusetzen ist.
Die wirkliche Bewegung
eines Körpers zeigt ihn uns nicht in einzelnen Lagen, sondern in stetigem
Hindurchgehen durch räumliche Bestimmtheiten, die, wenn er sich eben nicht
bewegte, jeweils »Lagen« wären.
Es ist also eine
prinzipiell andere Art des Schauens, als sie von dem sozusagen
mechanistisch-atomistischen Standpunkt, für den es nur Momente und Gegenwärtigkeiten
»gibt«, begriffen werden kann.
Zu eben diesem Schauen
veranlaßt uns die Bewegtheitsattitüde des vollkommenen Kunstwerkes.
Freilich kann auch diese
nach jener äußerlichen Betrachtungsweise keine Bewegung zeigen, sondern
nur einen starren Moment; allein der unleugbare Eindrucksunterschied gegen
die entsprechende Attitüde im schlechten Kunstwerk beweist, daß hier
doch noch etwas anderes und mehr vorliegen muß.
Nur glaube man nicht, daß
es sich um Phantasievorstellungen bestimmter vorhergehender und bestimmter
nachfolgender Attitüden handle-, dieser Glaube hätte wiederum die
mechanistisch singularisierende Voraussetzung und die Lebensbewegung wäre
wiederum in einzelne, innerlichst unverbundene Inhaltsphänomene zerteilt.
Vielmehr, in einer Art, die
sich von der Wahrnehmung einer realen Bewegung wohl nur nach Intensität
und Komprimiertheit unterscheidet, ist die malerische Geste unmittelbar
mit Bewegtheit geladen, es ist ihr, so paradox es klingt, immanent und
nicht erst durch ein Vorher und Nachher ihr oktroyiert, daß sie eine
Bewegungsgeste ist: Bewegtheit ist eine Qualität gewisser Anschauungen,
gleichviel, ob ihr psychologisch funktioneller Träger, das Anschauen als
Solches, als etwas schlechthin Momentanes, zeitlich Unausgedehntes
angesehen werden kann.
Wenn uns, die wir,
sozusagen nach dem logischen Begriff des Sinnenwesens, an den
Augenblickseindruck gefesselt sind, dennoch die Bewegung eines Körpers in
sinnlicher Empirie zugängig ist, so bringt der Künstler diese Funktion
zu ihrem Höhepunkt und reiner Selbständigkeit, indem er sie an ein
objektiv unbewegtes, starr einmaliges Bild zu knüpfen weiß.
Diese zeitlos eindrucksmäßige
Bestimmtheit des malerischen Phänomens ist freilich nur mit Zeitbegriffen
zu bezeichnen: wir empfinden den Augenblick der Bewegung als den Erfolg
der Vergangenheit und die Potentialität des Zukünftigen.
Denn jede Bewegung,
insbesondere jede Ausdrucksbewegung, ist doch das allmähliche
Sich-Entladen einer gespannten Energie; eine gleichsam an einem inneren
Punkt gesammelte Kraft setzt sich in die Bewegung um, so daß jeder
wahrgenommene Augenblick dieser von der vorhergehenden Entfaltung bestimmt
ist und die nachfolgende bestimmt.
je reiner und stärker die
Bewegung erfaßt ist, desto weniger bedarf es für den Beschauer der
intellektuellen und phantasiemäßigen Assoziationen, sondern diese
Bestimmtheit liegt unmittelbar innerhalb der Anschauung, nicht außerhalb
ihrer.
Ich untersuche hier nicht,
in welcher eigentümlichen Umsetzung und Ideellität der Künstler diesen
seelischen Impuls, in dem die Körperbewegung noch gesammelt ist und der
sie aus sich entfaltet, innerlich nachbildet.
Bei Rembrandt jedenfalls muß
dies mit einer unerhörten Stärke und Richtungssicherheit geschehen sein;
so daß der Augenblick, in dem die Geste (und als Summe der Gesten, die »Haltung«)
des Menschen gefaßt ist, wirklich die ganze Bewegung ist.
Er macht anschaulich, daß
diese nicht aus Stücken zusammengesetzt, sondern ihrem inneren,
impulsiven Sinne nach eine Einheit ist, so daß, wenn man einen einzelnen
Moment ihrer erfaßt, dieser ihre Ganzheit darstellt: ihr schon
Vergangenes als seine Ursache und Zuleitung, ihr Künftiges als seine
Wirkung und noch gespannte Energie.
Ich sagte früher, daß ein
Leben in jedem seiner Augenblicke dies ganze Leben ist: weil Leben nichts
anderes als die kontinuierliche Entwicklung durch inhaltliche
Entgegengesetztheiten hindurch ist, weil es nicht aus Stücken
zusammengesetzt ist und seine Totalität deshalb nicht außerhalb des
einzelnen Momentes besteht.
Dies ist nun auch als das
Wesen der einzelnen Bewegung aufgezeigt und macht erst deutlich, wieso
jene Minima von Strichen, mit denen manche von Rembrandts Zeichnungen und
Radierungen eine Bewegtheit andeuten, deren Ausdruckssinn vollgültig
darstellen.
Ist die Bewegung wirklich
in ihrer ganzen Kraft, Richtung, undurchkreuzten Einheit innerlich erfaßt
und künstlerisch durchlebt, so ist der geringste Teil ihrer Erscheinung
eben schon die ganze, denn jeder Punkt enthält ihr bereits Abgelaufenes,
weil es ihn bestimmte, und ihr noch Bevorstehendes, weil er es bestimmt -
und diese beiden zeitlichen Determinationen sind in der einen, einmaligen
Sichtbarkeit dieses Striches gesammelt, oder vielmehr: sie sind dieser
Strich.
Aus eben dem Wesen des
Lebens heraus, um dessentwillen der fest dastehende Strich als Bewegung
anschaulich wird, ist in der fixierten Physiognomie der vollkommensten
Rembrandtschen Porträts die Geschichte der Persönlichkeit sichtbar,
sozusagen in einem Akt, als qualitative Bestimmtheit dieses einen
Anblicks.
Ich deutete vorhin den
Unterschied gegen das Renaissanceporträt so, daß in ihm das Sein des
Menschen, von Rembrandt aber sein Gewordensein gesucht wird; dort die
Form, zu der es das Leben jeweils abschließend gebracht hat und die
deshalb in zeitloser Selbstgenügsamkeit geschaut werden kann, hier das
Leben selbst, vom Künstler in dem Augenblick gefaßt, in dem er seine Strömung,
die Vergangenheit stetig in Gegenwart umsetzend, zu unmittelbarer
Anschauung bringt; wodurch leicht klar wird, daß die Renaissancekunst,
obgleich dem Leben gegenüber eine hohe Abstraktion, doch viel reiner
optisch-sinnlich aufzunehmen ist, während die Rembrandtsche mehr den
ganzen Menschen als Beschauer, das ganze Leben in seiner Funktion als
wahrnehmendes voraussetzt.
Jene vitale Analogie nun
der einzelnen Bewegung mit der Porträtphysiognomie legt auch für die
Genesis der letzteren einen analogen Ausdruck nahe.
Das Entscheidende war dort,
daß nicht das äußere Phänomen eines Bewegungsmomentes, sondern die
innere, gesammelte Dynamik der Ausgangspunkt ist, daß die Darstellung
sich, der realen Bewegung entsprechend, aber in künstlerisch-ideeller
Umsetzung, aus dem seelischen Impuls entfaltet, der in unenträtselter
Weise die Energie und Richtung der Körperaktion potentiell zu enthalten
und aus sich zu entlassen scheint.
So nun scheint -zugegeben,
daß aller Ausdruck hier nur symbolisch ist - in jedem der großen
Rembrandt-Porträts jeweilig ein Leben, mit dem die gesammelte Potentialität
seiner Quelle sich in ein Werden verwirklicht, zu der sichtbaren
Erscheinung hingeführt zu haben.
Diese ist von innen her
entwickelt.
Die Differenz streckt sich
über die Einzelgestalt in die Struktur der Bilder als ganzer überhaupt
hinein.
Die Einheit des
wohlkomponierten Renaissancebildes liegt außerhalb des Bildinhaltes
selbst, sie ist als abstrakte Form zu denken: Pyramide, Gruppensymmetrie,
Kontrapost an und mit den Einzelfiguren - deren an und für sich selbständige
Bedeutung auch mit anderem Inhalt erfüllt werden könnte.
Abgesehen aber von dieser,
in einem ideellen Außerhalb gelegenen Form hat das Bild oft eine sehr
geringe Einheit, sondern besteht in einem Nebeneinander von Teilen, die
dadurch, daß sie alle gleichmäßig ausgeführt sind, ganz des
organischen Verhältnisses entbehren.
Denn sie weisen nicht zu
gegenseitiger Ergänzung aufeinander hin, es bedarf nicht des einen, um
den anderen zu verstehen, sie ordnen sich nicht nach Haupt- und
Nebensachen, bilden nicht die Stufenfolge von Deutlichkeiten, durch die
sie, außer der Beziehung von Vorder- und Hintergrund im räumlichen
Sinne, auch noch eine solche im qualitativen Sinne erhielten.
Die mechanisch gleichmäßige
Deutlichkeit jedes Teiles der Bildfläche ist gerade das Gegenteil des
wirklichen Seherlebnisses, sie entspricht durchaus jenem Prävaliren einer
allgemeinen, gegen die Individualität des Bildinhaltes gleichgültigen
Formeinheit und hält das Gefühl eines einheitlichen Lebens mit
seinen notwendigen Abstufungen dem Bilde fern.
Bei Rembrandt dagegen liegt
die Bildeinheit ganz unmittelbar in dem singulären und singulär
gestalteten Bildinhalt, nicht in einem davon abtrennbaren und noch in
solcher Abtrennung sinnvollen Schema.
Jedes Bild hat nur seine
Form, in die kein anderer Inhalt eingesetzt werden könnte.
Das Bild als ganzes ist
Individualität, d.h. Formung eines Stoffes, der gerade nur in dieser Form
existieren kann.
Das Wesen der Individualität
ist, daß die Form nicht von ihrem Inhalte abstrahiert werden und dann
noch einen Sinn behalten könnte.
Wir werden freilich nachher
sehen, daß das Prinzip des Lebens und das der Form gemäß einer tieferen
Bedeutung in einer gewissen gegenseitigen Ausschließung stehen.
In der jetzt fraglichen
aber kann man sagen, daß das menschliche Individuum, wirklich als reine
Individualität gefaßt, die unwiederholbare Form ist und insofern
allerdings jenem Begriff der Form widerspreche, durch den sie ein
Allgemeines, unendlich oft und an beliebigem Stoff Wiederholbares
bedeutet.
Man hat Rembrandt »Mangel
an Form« vorgeworfen, weil man ganz unbefangen Form = allgemeiner Form
gesetzt hat, der gleiche Irrtum, wie wenn man im Moralischen Gesetz mit
allgemeinem Gesetz identifiziert, nicht bedenkend, daß einer
individuellen Wirklichkeit vielleicht auch ein individuelles Gesetz
entsprechen mag, ein ideal, das eben nur für diese Existenz in ihrer
Ganzheit und Besonderheit gilt.
Die Form, wie Rembrandt sie
herausarbeitet, entspricht gerade nur dem Leben dieses Individuums, sie
lebt und stirbt mit ihm, in einer Solidarität, die ihr keine darüber
hinausreichende, allgemeine, andere Spezialisierungen vertragende Gültigkeit
gestattet.
Darum hat die Form hier
einen anderen Sinn oder eine andere Art »Notwendigkeit«, als in der
klassischen Kunst.
Für diese bedeutet sie, daß
die Elemente der Erscheinung sich mit einer unter ihnen geltenden Logik
gegenseitig bedingen, daß die Geformtheit des einen die des anderen
unmittelbar fordert.
Bei Rembrandt besagt sie,
daß ein von einem Quellpunkt her strömendes Leben gerade diese Form als
sein Ergebnis oder als den klarsten Anschauungsmoment seiner, in der Form
des Werdens seienden Ganzheit hervorgetrieben hat.
Es ist, als ob - in der
symbolischen Repräsentation, in der der Künstler sein Objekt in sich
nachrealisiert - Rembrandt den Gesamtlebensimpuls einer Persönlichkeit
wie in einem Punkt gesammelt empfände und ihn, durch alle seine Szenen
und Schicksale hin, bis zu seiner gegebenen Erscheinung entwickelte; so daß,
ganz entsprechend den einzelnen Bewegungen, dieser scheinbar einzelne
Augenblick als ein von einem weiten Anfang her gewordener und der sein
Werden in sich gesammelt hat, vor uns steht.
Was wir gerade nur als
Prinzip aussprechen, aber in der undurchsichtig verworrenen
Erfahrungswirklichkeit nur sehr unvollkommen und zufällig erschauen können:
daß jeder Augenblick des Lebens das ganze Leben ist - oder genauer: das
Leben ganz ist -, das offenbart hier der künstlerische Ausdruck in
Reinheit und Unzweideutigkeit.
Wenn jedes Rembrandtsche
Gesicht den Bestimmungsgrund seiner aktuellen Form in seiner ganzen
Geschichte hat, so sind deren einzelne Inhalte aus ihm nicht ablesbar;
sondern nur dies kommt zu anschaulicher Überzeugung, daß von dem Beginn
und der Potentialität dieses Daseins her ein Strom des Werdens bis zu
dieser Aktualität geführt und sie bestimmt hat; wie sie da ist, ist sie
eine durch die innerliche Dynamik und Logik des Lebens gewordene.
Durch solchen Ausschluß
aller Andeutungen einzelner Inhalte und durch das Fühlbarmachen des
Lebensprozesses, der nach seiner formalen Kraft und Rhythmik, Tempo und
Stimmung diese bestimmte Form hervortreiben mußte, fällt alles
Hineinziehen von außerkünstlerischen Daten weg: die Geschichte des
Menschen, wie sie hier offenbar wird, liegt ganz und gar innerhalb der künstlerischen
Erscheinung selbst, daß die Ganzheit des Lebens in ihr liegt, ist
sozusagen die Art, auf die sie ist.
Hier ist nun noch einmal
der Gegensatz zwischen dem Renaissanceporträt und dem Rembrandtschen von
den letzten Kategorien der Weltauffassung her zu formulieren.
Die beiden Begriffe,
zwischen deren Deutung und Wertung das Dasein sich auf Schritt und Tritt
zu entscheiden hat, sind: das Leben und die Form.
Das Leben, seinem Prinzip
nach, ist dem Prinzip der Form ganz heterogen.
Sagt man selbst, es bestände
in einem fortwährenden Wandel, Zerbrechen und Neuschaffen von Formen, so
ist auch dies schon leicht mißverständlich.
Denn es scheint
vorauszusetzen, daß irgendwie, ideell oder real, feste Formen bestehen,
deren Jeder nur, indem das Leben sie zeugt oder offenbart, ein äußerst
kurzer zeitlicher Bestand gegönnt ist.
Dann aber würde das, was
wir eigentlich Leben nennen, ja nur in der Bewegtheit bestehen, die sich
zwischen die eine und die nächste Form schiebt, würde nur während des
Intervalls, das jene in diese überführt, existieren; denn die Formen
selbst können sich, als irgendwie stabile, innerhalb des Lebens, das
absolut kontinuierliche Bewegung ist, nicht unterbringen.
Macht man mit diesem
letzteren Begriff Ernst, so kann es zu der Gefestetheit, ohne die der
Begriff der Form nicht denkbar ist, prinzipiell nicht kommen.
Nennt man das, was die
innere rastlose Dynamik des Lebendigen äußerlich erzeugt, seine Form, so
bringt man damit einen Begriff heran, der einer anderen Ordnung zugehört.
Denn Form bedeutet, daß
das Phänomen, das der Lebensprozeß von innen her an die Oberfläche oder
als seine Oberfläche hervortreibt, von dem Prozeß selbst abgelöst wird;
es gewinnt die Festigkeit einer ideellen Existenz, indem seine Elemente
von einer neuen Gesetzlichkeit des Anschaulichen (wenn auch des vom Leben
gespeisten Anschaulichen) aus vereinheitlicht, als voneinander abhängig
erkannt werden.
Durch ihr verschiedenes
Verhältnis zur Zeit und zur Kraft sind Form und Leben absolut getrennt.
Die Form ist zeitlos, weil
sie nur in der gegenseitigen Bewegung und Relation von Anschauungsinhalten
besteht, und sie ist kraftlos, weil sie als Form gar keine Wirkung üben kann;
nur innerhalb des darunter weiterströmenden Lebens und seines
Kausalprozesses setzt sich auch dieses Stadium in weitere Bewirktheiten
fort, aber es ist mit dem Oberflächenphänomen, das man ihm an dieser
Stelle entnommen hat, gewissermaßen in einer Sackgasse angekommen, oder
auch, seine Strömung hat die jeweilige Form an das Ufer geworfen, zu
schlechthin entwicklungsloser, ein für allemal seiender Phänomenalität;
die Strömung selbst entwickelte sich in kontinuierlichen Kraftwirkungen
weiter, gleichsam ohne sich um das Bild zu kümmern, das sie irgendwo dem
von außen her aufnehmenden Blick bietet.
Dem nun entspricht,
wenngleich natürlich in zahllosen Abstufungen, der prinzipielle
Unterschied der beiden Möglichkeiten des Porträts.
Das Problem des klassischen
Porträts ist die Form.
Das heißt, nachdem das
Leben es einmal zu einem bestimmten Phänomen gebracht hat, gewinnt dieses
für den Künstler eine ideelle Eigenexistenz, die er nach Normen der
linearen, koloristischen, räumlichen Deutlichkeit, Schönheit und
Charakteristik vorträgt.
Er abstrahiert das Phänomen
aus dem Lebensprozeß, der es erzeugte, und damit werden nur die seiner
Gestaltung immanenten Gesetzlichkeiten für sie gültig - ungefähr wie
die abstrakten Begriffe logische Beziehungen untereinander aufweisen, die
ganz von denjenigen unterschieden sind, durch die die ihnen zugrunde
liegenden Einzelwesen real verknüpft sind.
Auf die »Beseeltheit« des
Porträts ist damit natürlich nicht verzichtet, denn der seelische
Ausdruck, in dem Sinne, in dem ich ihn früher in Hinsicht des
Renaissanceporträts besprach, ist eine unmittelbare Qualität des
leiblichen Phänomens selbst; auch das seelische Wesen ist innerhalb
dieses Stiles nicht ein Lebensprozeß in zeitlicher Entwicklung, sondern
ein resultathaftes So-Sein, ein zeitloses, durch die Dimension des Körperphänomens
miterstrecktes Definitivum.
- Die Form dagegen, die das
Rembrandt-Porträt darbietet, erscheint nicht von dem Prinzip der Form
selbst, nicht von den ideellen Beziehungsnormen bestimmt, die die Teile
des Phänomens sich untereinander begrenzen und balancieren lassen,
sondern das von innen treibende Leben, das jener Stil hinter dem Phänomen
verschwinden läßt, ist hier in dem Augenblick erlauscht, in dem es in
seine Oberfläche hineinwächst, diese trägt sich nicht, gleichsam
freischwebend, durch die Gesetze ihrer zeitlosen Anschaulichkeit, sondern
durch die Dynamik von Werden und Schicksal, deren vergangenheitsgetragene
Gegenwart eben dieses Phänomen bedeutet.
In der Klassik scheint das
Leben nur den Zweck zu haben, daß es die Form hervorbringe, dann aber von
ihr zurückzutreten und sie ihrem selbstseligen Spiel zu überlassen; bei
Rembrandt umgekehrt ist die Form nur der jeweilige Moment des Lebens, in
diesem liegt der nie zurücktretende Einheitspunkt ihrer Bestimmung, sie
ist nur die - recht verstanden - zufällige Art, in der sein Wes en, d. h.
sein Werden, sich nach außen kehrt.
Dies macht klar, wieso die
Porträtgestalten der Renaissance immer als irgendwie typisch wirken, während
die Rembrandtschen den Eindruck individueller Einzigkeit machen.
Die Normen, nach denen
Erscheinungselemente rein als solche zu einem Optimum künstlerischer
Anschaulichkeit geformtwerden, sind unvermeidlich allgemeiner Art,
sie sind gewissermaßen den Naturgesetzen analog, die sehr mannigfaltig
individualisierten Erscheinungen dennoch ein gleichmäßiges Verhalten
bestimmen, weil diese, mit all ihren Verschiedenheiten, dem Gesetz
dieselbe Bedingung der Anwendbarkeit bieten.
Die Elemente werden so
gestaltet, als ob sie in einem als einheitlich vorgestellten Beschauer den
in Hinsicht der Charakteristik, Schönheit, Deutlichkeit günstigsten
Eindruck hervorrufen sollten.
Dieses Als-ob gilt für den
vorliegenden Sachbestand und ist unabhängig davon, ob der Künstler es
als Motiv im Bewußtsein hatte oder nicht.
Es scheint mir mit dem
allgemeinen Zuge der Mittelmeervölker zusammenzuhängen: ihr Verhalten
auf die Gegenwart eines Zuschauers einzurichten.
Noch heute ist es ein sehr
charakteristischer Unterschied, wenn man in Deutschland und wenn man in
Italien etwa einen Arbeiter, der allein über Feld geht und sich
unbeobachtet glaubt, singen hört.
Der Deutsche singt nicht
nur »für sich«, sondern wie aus einer inneren Stimmung heraus, einer fröhlichen
oder sentimentalen oder schlechthin nur bewegten, die sich bloß
verlautbaren will, so daß es ihm - etwas kraß ausgedrückt – gar nicht
so sehr darauf ankommt, wie es klingt.
Der Italiener dagegen singt
auch in solchen Augenblicken wie für ein Publikum und als ob er auf dem
Podium stünde.
Auch für die griechische
Kunst scheint mir dies gegenüber dem germanischen Prinzip (so selten dies
außerhalb Rembrandts ganz rein zum Ausdruck kommt) bedeutsam zu
sein.
Der Mensch der griechischen
Statue hat den Stolz seiner Schönheit und das Bewußtsein, diese Schönheit
dem Beschauer gegenüber zu repräsentieren.
Sobald die Oberflächenerscheinung,
mit der als seinem Resultat das Leben sich nach außen hinbietet, das
exklusive Material der künstlerischen Formung wird, ist die
Interessenrichtung auf den Beschauer hin entschieden.
Dieser ideelle Zuschauer
ist ein ausschlaggebendes Moment des ganzen klassischen Stiles, ja es
bestimmt ihn im eminenten Sinne gerade als Stil.
Denn Stil bedeutet doch
immer eine allgemeine Formgebung, die an einer beliebigen Zahl
mannigfaltigster Erscheinungen gleichmäßig wirksam wird, eine Einheit
des Lebensgefühles, das allen diesen Mannigfaltigkeiten entquillt, sobald
sie jener Formgebung unterstehn.
Indem nun die klassische
Kunst die Erscheinungen unter der primären Kategorie des
Betrachtetwerdens gestaltet, gewinnt sie an dem ideellen Zuschauer einen
terminus ad quem, dessen Überindividualität und Typik die
verschiedensten Erscheinungen in die Gleichheit eines Formprinzips
münden läßt.
Darum erscheint, noch
abgesehen von dem Wie des Stiles, die klassische Kunst der germanischen
gegenüber als »stilisiert« schlechthin.
Vermittels dieser Zusammenhänge
entwickelt sich aus dem klassischen Prinzip der reinen Form, d. h. der
immanenten Gesetzlichkeit der Oberflächenelemente, des Lebensstadiums,
das das Werden hinter sich abgeschnitten hat - aus ihm entwickelt sich der
Charakter der Typik, des Generellen, der das Renaissanceporträt (von
einer nachher zu behandelnden Einschränkung abgesehen) bezeichnet.
Es ist noch hinzuzunehmen,
daß die Form als solche überhaupt überindividuellen Wesens ist; wie der
Allgemeinbegriff zu dem ihm unterstehenden Einzelnen, verhält sie sich zu
der Vielheit der materiellen Existenzen, die mit all ihrer Verschiedenheit
in sie eingehen und deren Gleichheit sie bildet: wo immer das Prinzip der
Form führt, geht der Weg jenseits des Individuellen.
Aber umgekehrt geht er auf
die Individualität zu, wo das Prinzip des Lebens die Führung hat.
Während die Form als
solche der Abstraktion und damit der Verallgemeinerung verhaftet ist, ist
das Leben an individuelle Gestaltung gebunden.
Natürlich kann man auch
einen Allgemeinbegriff des Lebens oder des Lebendigen bilden, aber in ganz
anderem Sinn und Maß hat das Individuum sein Leben für sich, als es
seine Form für sich hat.
Die Form ist nicht an die
Wirklichkeit angenietet, sie hat eine ideelle Gültigkeit, die von
beliebig vielen Wirklichkeiten aufgenommen werden kann; das Leben aber ist
schlechthin nur wirklich und hat deshalb in jeder seiner Reihen diejenige
Einzigkeit, die jedes Stück Wirklichkeit als Wirklichkeit besitzt.
Es ist ganz unsinnig, daß
dieselbe Existenz zweimal sein sollte, während dieselbe Form an zwei oder
wie viel Existenzen immer bestehen kann.
Soll ein menschliches Phänomen
aus dem Lebensprozeß heraus verstanden werden -statt aus der rationalen
oder anschaulichen Logik des geschlossenen Erscheinungskomplexes selbst -,
so kommt es eben aus einer absoluten Einmaligkeit und Einzigkeit der
Existenz; diese Existenz mag ihre Form (oder, was in dieser Hinsicht
gleichsteht, ihre Inhalte) mit Unzähligen teilen, sie mag und muß in
ihre Lebensströmung unzähliges aufgenommen haben, was Andere, was die
Weltinhalte ihr bieten, - dies alles eingerechnet, ist sie nun doch diese
eine, von einem unvertauschbaren Punkt des Daseins zu einem anderen
unvertauschbaren sich streckend.
Ihre Form und ihre Inhalte
mögen, wie gesagt, vergleichbare sein, aber ihr Prozeß steht jenseits
der Alternative von Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit, er hat die
Einzigkeit des reinen Werdens, das gar nicht durch Qualitäten, die sind
oder werden, auszudrücken ist.
Daß in den Rembrandtschen
Gestalten der Lebensprozeß selbst anschaulich wird, das ist der Sinn
ihrer »Individualität«, nicht aber ein an einzelnen Inhalten
aufweisbares qualitatives Anders- oder Besonderssein; denn dies ist eine
durchaus relative und zufällige Individualität.
Sähe aber eine Existenz
auch in einem oder allen Stadien genau so aus wie eine andere, so wäre
sie dennoch, mit all ihren Voraussetzungen, Hergeleitetheiten,
Entlehnungen, als Lebensprozeß, als Werdenswirklichkeit eben diese eine
einzige Strömung.
Die empfundene individuelle
Einzigkeit eines resultierenden So-Aussehens, eines Oberflächenphänomens
eines Lebens ist nur das Synonym dafür, daß sein Werden in ihm
investiert ist, daß der Lebensprozeß, als solcher ein einreihiges,
unverwechselbares, schlechthin nur in sich seiendes Geschehen, das in
diesem Gegebenen eigentlich Angeschaute ist.
Vielleicht hängt mit
dieser Konstellation das Gefühl zusammen, das einem manchen
Rembrandtschen Gestalten gegenüber kommt: als wäre das, was wir Schönheit
zu nennen pflegen, eine äußerliche Zufügung zum Wesen des Menschen -
nicht aus dem innersten Quellpunkt des Wesens mit dem Leben selbst
entwickelt, sondern etwas wie ein Rahmen oder eine Schematik, in die der
Mensch hineingestellt ist.
Gewiß gibt es andere, zu
Recht bestehende Auffassungen der Schönheit, die sie gerade mit dem
Wurzelpunkte des Lebens verbinden.
Allein wenn man die
Rembrandtschen Gestalten, die sich aus diesem Punkte, seinen Triebkräften
allein folgsam entwickeln, in ihrer ungeheuren Bedeutsamkeit und
Beeindruckung sieht und daß ihre Entwicklung mit alledem nicht zur Schönheit
geführt hat, so erscheint die Schönheit eben doch leicht als die Form
bloßer Oberfläche, als eine Zugabe, die von außen kommt und an der äußeren
Schicht hängen geblieben ist.
Es ist doch kein
historischer Zufall, daß unser Schönheitsbegriff im großen und ganzen
und beliebig viele Ausnahmen zugegeben, von dem klassischen Formideal
ressortiert, von jener Klassik, deren Sinn nicht auf die schöpferische
Strömung des Lebens, sondern auf die formalen Verhältnisse seiner nach
außen abgelagerten Erscheinung geht.
Wenn Rembrandts Menschen,
an diesem Ideal gemessen, so vielfach »häßlich« sind, so hat dies den
tieferen Grund, daß die ganze Schicht, als deren ideale Norm unser
konventioneller Schönheitsbegriff entstanden ist, überhaupt nicht der
Ort seiner bildnerischen Intention ist.
Und für den weiteren
Zusammenhang, den diese Relation mit der anderen: zwischen Typik und
Individualistik besitzt, ist in dem gleichen Sinne die frühere
Unterscheidung der ästhetischen Elemente wertvoll: zwischen Schönheit
und Charakterisiertheit.
Als das »Charakteristische«
gilt immer das Individuelle; und Rembrandt galt als der Maler des »Charakteristischen«
und dessen Gegensatz also war die »Schönheit«, deren Organ das
Typische war.
Wenn eben das Typische nur
an dem äußeren Phänomen haftet, die darunter flutende Lebendigkeit aber
immer nur eine jeweils einzige, individuelle ist, so ist damit gleichsam
ein Koordinatensystem der Begriffe gezeichnet, das die Rembrandtsche Attitüde
festlegt; und es macht begreiflich, daß ihm die »Schönheit« in einem
Sinne, der keineswegs ein Werturteil, sondern ein Seinsurteil bedeutete,
als etwas »Oberflächliches« erscheinen konnte.
Es ist also sozusagen keine
bloß äußerlich festzustellende, sondern aus dem Verhältnis zu den
letzten Lebenskategorien quellende Beschaffenheit des Renaissanceporträts,
daß es den Eindruck des Typischen, des Rembrandtporträts, daß es den
der Individualität macht.
Und vielleicht läßt erst
diese Deutung der Begriffe den Unterschied der Rembrandtschen
Individualisierung gegen die doch immer betonte und mit Recht betonte
Individualisierung auch der Renaissanceporträts, insbesondere des
Quattrocento, hervortreten.
Auf die Kollektivitätsformen,
in die das mittelalterliche Leben sich gebunden hatte, war eine Reaktion
erfolgt, die insbesondere in der Porträtplastik des 15. Jahrh. ihren
extremen Ausdruck fand: gar nicht eigenartig, exklusiv, charakteristisch
genug konnte der Mensch dargestellt werden.
Allein diese
Individualisierung ist eine soziologische, in dem Anderssein, dem
Sich-Abheben bestehende, sie bedarf der Vergleichung und ist deshalb etwas
nach außen, nach dem Phänomen hin Gekehrtes, sie hängt mit dem Ehrgeiz,
dem rücksichtslosen Sich-Durchsetzen, dem Machtwillen, den guten wie den
übeln Seiten der Megalomanie des Renaissancemenschen zusammen.
Der Rembrandtschen
Individualität, wie ich sie hier deute, ist solche Differenz gegen andere
Wesen ganz irrelevant; sie besagt nur, daß die jeweils dargebotene
Erscheinung durch die Gesamtströmung des bis zu ihr führenden Lebens,
welches eben nur das Leben dieses einen Menschen ist und sein kann,
bestimmt ist und aus ihr sozusagen anschaulich begriffen wird.
Sie wird deshalb gar nicht
davon berührt, daß vielleicht neben ihr eine andere, genau so
qualifizierte Existenz besteht, denn dem jeweiligen Leben kann sein
Nur-einmal-Sein nicht genommen werden; wogegen der
Renaissance-Individualismus vortrefflich gerade durch die Überlieferung
illustriert wird, es habe zu Anfang der Epoche eine Zeitlang in Florenz
keine durchgehende Mode der männlichen Kleidung gegeben, da jeder sich
auf eine besondere Weise zu tragen gewünscht habe.
Überall wo Vergleichung
ist, mag sie als ihr Resultat noch so weite Differenzen zeigen -es
bestehen immer gemeinsame Voraussetzungen, unter denen sie möglich ist,
ein gemeinsamer Maßstab, vor allem, in unserem Falle: eine gemeinsame
Idee des Menschlichen, von der sozusagen irgend ein Quantum in jeder Persönlichkeit
enthalten ist, so unvergleichliche Ausgestaltung es auch in jeder erfahre,
und die das Gefühl eines gleichen Stiles und allgemeiner Typen alle diese
Unvergleichlichkeiten dominieren oder durchdringen läßt.
Gewiß hat die Renaissance
dem Platonismus, den sie aufnahm, das Element der Individualität eingefügt.
Wenn wir, für Plato, den
einzelnen schönen Menschen darum lieben, weil er uns an unsere präexistentiale
Schauung der Idee der Schönheit erinnert, so ergreift das Motiv der
vorirdischen Existenz und ihrer idealen Bedeutung nun das Individuum.
Petrarca sagt über das
Porträt der Madonna Laura von Simone Memmi:
Doch war mein Meister wohl
im Paradiese,
Daher die edle Frau
herabgestiegen,
Dort sah er sie, daß von
den edlen Zügen
Sein irdisch Werk ein
himmlisch Zeugnis wiese.
Und dann Michelangelo an
die geliebte Frau:
Dorthin, wo unsre
Seelen einst sich trafen,
Führt mich der Weg,
den deine Augen weisen.
Die Idee der allgemeinen
Schönheit überhaupt ist durch die »Idee« der Einzelpersönlichkeit
ersetzt, es ist individualisierter Platonismus - aber immerhin
Platonismus, der in der ein für allemal dargebotenen, sozusagen
metaphysisch starren Form die abschließende Wesenheit erblickt.
Diese zeitlose Form, so
leidenschaftlich ihre Einzigkeit in einem empirisch realen Bezirk betont
werden mag, kann es prinzipiell gar nicht ablehnen, sich mehrfach
zu verwirklichen, mit anderen denselben Stil zu teilen, einen Typus zu
bilden.
Aber gegen jene
soziologische Einzigkeit wie gegen diese abstrakte Allgemeinheit ist die
Rembrandtsche Individualistik gleichgültig, weil die Richtung, von
der her sie die Erscheinung faßt, im Prinzip eine andere ist: nicht von
ihrer Form, sondern von ihrem Leben her, das sich jeweils als ein
einziger, wenngleich aus unzähligen unpersönlichen Quellen genährter
Strom ihr zubildet.
Daß die in diesem Sinn
individualisierte und einreihige Lebensströmung den spezifischen Eindruck
des Rembrandtporträts trägt, das bedeutet freilich eine gewisse
Eingeschränktheit seiner Menschenauffassung, die sich etwa gegen die
beiden Stiltypen: Michelangelo und Rodin, deutlich abzeichnet.
Die klassische Typik
ergreift bei Michelangelo in einzigartiger Weise die Ganzheit des Lebens,
wobei der Lebensbegriff aber nicht als die historische Werdensreihe einer
Einzelexistenz verstanden ist, sondern zu seinem Subjekt die Menschheit
und zu seinem Inhalt alles das hat, was man im weitesten, inneren und äußeren
Sinne Schicksal nennen kann.
Die Physiognomien von
Michelangelos Gestalten haben durchaus den klassisch generellen, nirgends
personal zugespitzten Charakter.
Die ganze Gestalt, in all
ihrer formalen Geschlossenheit, Ruhe, ja Schwere, ist durchschüttert von
dem Leben überhaupt, von dem Leben als Schicksal, in der ganzen rätselvollen
Verflechtung, in die dieser Begriff unser Innerstes und das, was die Mächte
außerhalb unser uns auferlegen, einstellt.
Diese Gestalten sind nur
wie die Kanäle, durch die das Verhängnis des Daseins überhaupt strömt,
ihr Leben ist das Leben der Menschheit, das zwar hier von einer sehr
bestimmten Weltanschauung und Gefühlsweise her erfaßt ist, für das aber
diese einzelne Individualform nur Gefäß oder Symbol ist, ohne es in die
Besonderheit gerade dieser Lebensströmung zu vereinzigen.
Wie Rembrandts Gestalten
jenseits von Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit standen, weil sie
schlechthin einzig sind, so die Michelangelos aus dem entgegengesetzten
Grunde: weil sie schlechthin allgemein sind.
Die Form-Allgemeinheit der
Klassik hat hier ihre tiefste Begründung gefunden, ist aus einem letzten
Sinn heraus gewachsen: daraus, daß jede Gestalt gleichmäßig die
Offenbarung des jede Individualform übergreifenden Lebens überhaupt,
Schicksals überhaupt ist.
Während nun auch
Rembrandts Gestalten kein besonderes, zufälliges Schicksal der Person
darstellen, sondern das ganze Leben unmittelbar das Schicksal ist - so ist
es eben doch ihr ganzes Leben, die völlige Individualität seines
Verlaufes.
Es schwebt nicht als das
Menschenschicksal überhaupt über ihnen und läßt sich nur auf den
einzelnen nieder, sondern es bricht aus ihnen selbst hervor; aus irgend
einer tiefen Quelle, die nichts Vorangehendes und nichts Übergreifendes
kennt, strömt hier ein Werden, das die Totalität dieses Lebens ist, aber
seiner Wirklichkeit und seinem Sinn nach einzig, eine individuelle causa
sui.
Aus diesen Konstellationen
wird begreiflich, daß Michelangelos Gestalten, trotz all ihrer
Gewaltigkeit und Vollendung, den Eindruck der Unfreiheit machen: Schicksal
und Leben, weil es nicht ihr einzig-eigenes, sondern das der Menschheit überhaupt
ist, vergewaltigt sie, sie möchten sich dagegen wehren und es abschütteln
und können das nicht, weil es ja doch ihr eigenes, sie ganz
ausmachendes Wesen ist - ein begrifflicher Widerspruch freilich, ein
logisch Unvereinbares, mit dem sich aber gerade die unversöhnbare Tragik
dieser Gestalten vielleicht ausdrücken läßt.
Rembrandts Gestalten
umgekehrt, ohne die heroische Gebärde und monumentale Mächtigkeit jener,
oft genug wie gedrückt und zerdrückt von äußeren Mächten, lassen
immer noch einen Freiheitspunkt fühlen, sie haben nicht gegen die
unsichtbaren Gewalten anzukämpfen, die als das Schicksal des menschlichen
Lebens Überhaupt den Einzelnen, ihn umgreifend und doch irgendwie außerhalb
seiner, mit sich reißen.
An all den oft kleinbürgerlichen,
schlechtrassig jüdischen, geistig unerheblichen Menschen Rembrandts ist
etwas von Souveränität, die aber nicht ihrem Bewußtsein einwohnt,
sondern ihrer Auffassung durch den Künstler; er hat gezeigt, wie in dem
idealen Bilde jedes Menschen eine Freiheit und Selbstherrlichkeit wohnt,
sobald der zum Bilde ergriffene Moment wirklich aus der Kontinuität
seines Lebens aufgewachsen ist - entsprechend dem Freiheitsbegriff seines
Zeitgenossen: zu existieren und zu handeln ex solis suae naturae legibus -
ein Gewordenes, das den ganzen Lauf seines Werdens in sich gesammelt hat
und gerade nur aus diesem - soviel Äußeres und Passives ihm eingefügt
sei - werden und begriffen werden konnte.
Freilich muß das mit dem
Verzicht auf jene Erweiterung zum Allgemein-Menschlichen bezahlt werden.
Michelangelos Gestalten
erlebten das, wenn auch unter besonderem Gesichtswinkel erfaßte,
Schicksal der Menschheit überhaupt, die Grenzen des individuellen Daseins
sind durchbrochen, und was wir sehen, ist nicht ein Strom, aus einer Quelle
zu einer Mündung fließend, sondern eine Welle, gehoben aus einem
Meer, das in ihr sein Gesamtgesetz anschaulich macht, oder genauer, wir
sehen eigentlich nicht eine Welle, sondern durch sie hindurch, als wäre
sie durchsichtig, das ganze Meer.
Es handelt sich nicht um
das Plus und Minus, das jede Vergleichung künstlerischer Persönlichkeiten
unvermeidlich, aber innerlich zufällig ergibt; sondern darum, daß das
Positive jeder dieser Auffassung der Kunst, ja des Lebens, innerlichst an
die Bedingung gebunden ist, die andere auszuschließen.
Ist es nun bei Michelangelo
die Schwere, Spannung und Unerlöstheit des Menschenschicksals überhaupt,
an der fühlbar teilhabend die Gestalt sich über die individualistische
Einschränkung der Rembrandtschen Darstellung erweitert, so dehnt sich bei
Rodin der Kreis, in den die Individualität sich auflöst, noch weiter.
Die Intention des Gefühles
liegt jetzt nicht mehr auf einem Verhängnis der Menschheit als solcher,
sondern auf dem Bewegungsrhythmus des kosmischen Geschehens überhaupt.
Rodins Kunst, insoweit sie
originell schöpferisch ist, steht im Zeichen des modernen Heraklitismus.
Für das so bezeichnete
Weltbild ist alle Substantialität und Festigkeit des empirischen Anblicks
in Bewegungen übergegangen, in rastlosen Umsetzungen durchströmt ein
Energiequantum die materielle Welt, oder vielmehr: ist diese Welt, keiner
Gestaltung ist auch nur das geringste Maß von Dauer beschieden und alle
scheinbare Einheit ihres Umrisses ist nichts als Vibration und das
Wellenspiel des Kräftetausches.
Rodins Gestalten sind
Elemente einer so empfundenen Welt, Umrisse und Bewegungen des Leibes sind
hier die Symbole von Seelen, die sich in eine Unendlichkeit von Entstehung
und Vernichtung hineingerissen fühlen, in jedem Augenblick an dem Punkte
stehen, wo Werden und Untergehen sich begegnen.
Die Form im Sinne der
Klassik ist deshalb hier ebenso aufgelöst, wie bei Rembrandt, aber das
Lebendigwerden, Prozeßwerden der Gestaltung vollzieht bei Rodin nicht
zugleich die Festigung zu dem ganz neuen Sinn und der Einreihigkeit der
Individualität.
Die Oszillierungen und
Wirbel des kosmischen Geschehens vielmehr lassen es zu dieser (ich spreche
hier von den Akten, nicht von den, kompliziertere Deutung fordernden Porträts
Rodins) nicht kommen.
Man kann die drei
Stiltypen, die hier zugleich Symbole dreier ganz allgemeiner
Lebensbegriffe sind, an ihrem Verhältnis zur Zeit charakterisieren.
Die Form der Klassik
bezeichnete ich als zeitlos, weil sie dem Nacheinander des Lebensprozesses
als die Abstraktion seiner Inhalte oder Ergebnisse gegenübersteht;
nachdem die Entwicklung der Bewegung oder des Lebens zu dieser Gestaltung
geführt hat, gibt es für diese, rein künstlerisch geformte, kein Vorher
und kein Nachher mehr.
Aber aus dem
entgegengesetzten Grunde ist in den Rodinschen Gebilden die Zeit
ausgeschaltet.
Denn damit sie für ein
Gebilde Geltung habe, muß dieses ein, in welchem Sinne immer, einheitliches
sein, an dem ein Vorher und ein Nachher irgendwie fühlbar werden
kann.
Eine Zeit, die schlechthin
nur verfließt, sozusagen gedächtnislos, wäre keine Zeit, sondern ein
ausdehnungsloses jetzt; nur wo sich eine Form bietet, In der das
Vergangene noch zu irgend einer Synthese mit dem Gegenwärtigen gelangt,
ist Zeit.
Die Welt der Rodinschen
Gestalten aber ist (ihrer Idee nach, auf die die Anschauung natürlich nur
aus einer Entfernung hinweist) gerade eine solche des absoluten Flusses,
der Aufhebung jeder Festigkeit, an der sich ein Früher und ein Später,
also eine Zeit markieren könnte.
Hier ist der vorüberfliegende
Moment des Lebens gebannt, aber so, daß man wirklich sein Vorüberfliegen
fühlt, während das Vorher wie das Nachher in undurchdringliches Dunkel
versunken bleibt.
Die absolute Bewegtheit, in
die die Seelen und die vibrierenden und sich bäumenden, zuckenden und
fliegenden Körper bei Rodin hineingerissen sind, negiert die Zeit gerade
so, wie das Zurücktreten von aller Bewegtheit in dem Formprinzip der
Klassik sie negiert hatte.
Das absolute Werden ist
genau so unhistorisch wie das absolute Nicht-Werden.
Hier liegt, was die
Rodinsche Auffassung des Menschen von der Rembrandtschen trennt.
Der Mensch bei Rodin ist in
alle Bebungen und Wehen des Werdens aufgelöst, er besteht sozusagen nur
in dem heraklitischen Momente des Werdens - aber das Gewordensein dieses
Momentes spüren wir nicht.
Auch von seiner eigenen
Vergangenheit ist er losgerissen - das will sagen, daß er keine
Individualität ist.
Den Zusammenhang zwischen
dieser und dem Historisch-Zeitlichen hat Rembrandt anschaulich gemacht.
Einerseits nämlich sind
die Momente des absoluten Werdens nur dadurch in ein Vorher und Nachher zu
gliedern, daß sie sich an einem Einheitlichen, in irgend einem Sinne
Durchhaltenden, vollziehen.
Wären sie mit ihrem
zeitlichen Vorbeisein auch radikal verschwunden, so könnte es zu jener
Ordnung und Relation, die eine gewisse Zusammenfassung voraussetzt, nicht
kommen.
Am Lebendigen erscheint die
Individualität als dieser ideelle Bestand, an dem sich die auf-
und niedertauchenden Werdensmomente gewissermaßen aufreihen, sie sind nun
nicht mehr unlokalisierte Daseinsatome, sondern als Zustände eines und
desselben Individuums (das nicht etwa als starre Substanz, sondern in der
eigentümlichen Identität des Lebendigen mit sich selbst zu deuten ist)
sind sie nun füreinander nicht verloren, wie vom Gesichtspunkte des bloß
mechanisch-kosmischen Wirbels aus, sondern das eine ist wirklich das Frühere
bzw. das Spätere des anderen.
Erst als
Entwicklungsmomente einer Individualität also sammeln und ordnen sie sich
in einer Zeitreihe.
Umgekehrt ist Individualität
ihrerseits nur durch die historische, die Absolutheit des Werdens
ablehnende Nacheinander-Reihung der Lebensmomente denkbar - immer
vorausgesetzt, daß sie nicht die Akzentuierung des Besondersseins, die
qualitative Einzigkeit besagen will, sondern, wie bei Rembrandt, die
Kontinuität eines einheitlichen Lebens, in dem jeder Augenblick alle
vergangenen voraussetzt und alle künftigen begründet und jeder die
jeweilige Form bedeutet, in der sich die Ganzheit dieses Lebens darstellt.
Dieser Sinn der
Individualität ist ersichtlich nur durch den zeitlichen Zusammenhang der
Lebensmomente zu realisieren, nicht aber bei ihrer Atomisierung in die,
gegen alle Zusammenfassung gleichgültigen, absoluten Bewegtheiten einer
heraklitisch auf gefaßten Welt.
Das Daseins- und
Schicksalsgefühl, von dem aus Rodin seine Akte gestaltet, ist aber gerade
einer solchen Welt verhaftet, es kennt deshalb, seiner Idee nach, keine
zeitliche Synthese, die sich sozusagen nur als der andere Ausdruck des
Individualitätsgedankens herausgestellt hat.
Indem die Ordnung der Zeit
die Individualität bedingt, diese aber zugleich jene, offenbart sich
beides als eine, nur von verschiedenen Seiten her betrachtete
Formung des Lebens.
Noch einmal zeigt sich
hier, wie die individualistische Auffassung des Menschen bei Rembrandt
zugleich die von der Geschichte des Menschen dominierte ist und sich
ebenso gegen die überzeitliche der Klassik wie die unzeitliche Rodins
abhebt.
Wie aber jene, in ihrer Erfüllung
durch Michelangelo, die ewige Unerlöstheit des Menschenschicksals gerade
durch die Zeitlosigkeit der Formgebung eindringlich machte, Rembrandt aber
seine Gestalten von dieser überindividuellen Weite einschloß und sie
gleichsam in ihr personales Schicksal wie in eine isolierende Membran
einschloß - so hat er sie durch den einreihig festen Ablauf ihrer
individuellen Zeitlichkeit von dem kosmischen Schicksal abgesperrt, in dem
die Rodinschen Gestalten stehen und sich freilich auflösen.
Wie die Rembrandtschen
Gestalten deshalb den michelangelesken gegenüber etwas Freies, aber dem
Allgemein-Menschlichen Unverbundenes haben, so zeigen sie den Rodinschen
gegenüber eine letzte innere Sicherheit, die diesen, vom Sturm und den
absoluten Vergewaltigungen des Daseins entwurzelten und unpersönlich
gewordenen ganz fehlt; aber immerhin ist diese Aufgelöstheit eine in den
Kosmos gehende, das kosmische Leben (dahingestellt, ob es so definitiv
richtig formuliert ist) läßt ihnen keinen Rest von Fürsichsein, sie
sind nichts als die Oszillationen in einer heraklitischen Welt, zu deren
Totalität sie die Zugehörigkeit um den Preis gewinnen, jegliche Substanz
und Lebenseinheit dem bloßen jetzt des absoluten Werdens preiszugeben.
Indem Rembrandts Gestalten
diese Einheit und selbstsichere Kontinuität bewahren, bezahlen sie
ihrerseits dafür den Preis, nicht eigentlich das Gefühl des Kosmischen
in uns zu wecken. |