Georg Simmel:
Rembrandt und die Schönheit
ex: Vossische
Zeitung, Nr. 655, 2 5. Dezember 1914, Morgenausgabe, 4. Beilage (Berlin)
Dass wir für unsere
Kriegsgegner die »Barbaren« sind, beweist nicht nur die fürchterliche
Macht der Schlagworte, in die das Empfinden der Massen sich ergiesst wie
in bereitstehende Kanäle, die die von allerwärts strömenden Wasser in
ihre Richtung leiten.
Es kommt vielmehr bei den
Franzosen - die allein in Frage stehen, da die anderen Parteien es ihnen
nur nachreden - ein ganz tiefer, über die jetzigen Ereignisse weit
hinausreichender Gegensatz zwischen germanischem und romanischem Wesen
darin zum Ausbruch.
Für den Romanen ist der
Barbar vor allem der, dessen Sein und Tun und Schaffen »hässlich« ist.
In all diesem »schön« zu
sein, ist ihm der erste und entscheidende Sinn von »Kultur«.
Die urteilsfähigen
Franzosen (und ebenso die Italiener) haben uns in mehr als einer Richtung
geschätzt, ja, bewundert.
Aber an irgend einer Ecke
kam es heraus, dass sie alles, was im eigentlichsten Sinne unser war, für
hässlich hielten, unsere Menschen und unsere Landschaft, unsere
Bewegungen und was wir damit schufen, unser Fühlen und unsere
Ausdrucksweise.
Nur darum war das erste
Wort, das sich ihrem neuen Hass gegen uns bot: Barbarei.
Es geht dies aber nicht
einfach darauf zurück, dass ihr Schönheitsbegriff etwa von dem unseren
abweiche.
Mag dies für einzelne
Punkte zutreffen, mag auf einigen Höhen des deutschen Geistes ein Schönheitsideal
ganz anderer, vielleicht noch nicht formulierbarer Art erwachsen: in der
Hauptsache gilt, was die Romanen unter Schönheit verstehen, auch für
unsere »allgemeine Bildung«.
Nicht im Inhalt des
Begriffes, sondern in der Stellung, die ihm unsere Weltanschauung gibt,
liegt die wesentliche, die vielleicht unversöhnliche Differenz.
Wenn man von langer
Beeindrucktheit durch Rembrandtsche Kunst zu der klassisch-romanischen
Kunst hinkommt, so möchte es scheinen, als wäre, was wir Schönheit
nennen, eigentlich nur eine äusserliche Zufügung zum Wesen des Menschen,
die an seiner Oberflächenschicht hängen geblieben ist -, nicht aus dem
innersten Quellpunkt des Wesens mit dem Leben selbst entwickelt, sondern
etwas wie ein Rahmen oder eine Schematik, in die der Mensch hineingestellt
ist.
Gewiss gibt es andere,
zurecht bestehende Auffassungen der Schönheit, die sie dem Leben tiefer
verbinden.
Allein es ist doch eine
eigentümliche Tatsache, dass von allen grossen Werten, mit denen unser
Geist dem Dasein Bedeutung gibt, nur die Schönheit sich auch am
Unlebendigen verwirklicht.
Nur das Beseelte kann
sittliche Werte erzeugen, nur für den Geist kann es Wahrheit geben, nur
das Lebendige kann Kraft in einem tieferen, wertmässigen Sinne - im
Unterschied gegen die blossen Energiesummen mechanischer Bewegung -
erzeugen; Schönheit aber kann an dem Stein, an dem Wassersturz und seinem
Regenbogen, an dem Zug und der Färbung der Wolken haften, am
Unorganischen wie am Organischen.
Wo das Spezifische des
Lebens seinen unmittelbaren Ausdruck sucht wie bei Rembrandt, da ist die
Schönheit etwas zu Weites, das Leben als solches zu sehr Übergreifendes,
um das Gebilde an sie zu binden.
Und wo Schönheit am
tiefsten erfasst wird, da ist sie zwar das Symbol letzter Daseinswerte,
sittlicher, vitaler, gattungsmässiger Art, aber immerhin ein Symbol, mag
dies auch auf den tiefsten Grund der Dinge hinweisen.
Rembrandts künstlerisches
Wesen aber wird gerade durch den Verzicht auf alle Symbolik bezeichnet,
durch ein unmittelbares Erfassen des Lebens.
In dieser Unmittelbarkeit,
mit der die Rembrandtschen Menschen ihr Leben fühlen lassen, liegt das,
was man seinen Realismus nennen könnte und was ihn gegen das Spezifische
der Schönheit gleichgültig macht.
Denn alle ausschliesslich
auf diese hingebende Kunst ist entweder flach oder, wo sie Tiefe hat, ist
sie symbolisch, das heisst, sie entfernt sich von dessen Unmittelbarkeit,
um uns Werte und Bedeutsamkeiten in der Form von Ahnung oder Gleichnis,
von Idee oder Stimmung zuzuführen.
So mag es zusammenhängen,
dass die Rembrandtschen Gestalten, deren ungeheure Bedeutsamkeit und
Beeindruckung sich aus dem Wurzelpunkt des Lebens, seinen Triebkräften
allein überlassen, entwickelt, mit alle dem nicht zur »Schönheit« geführt
sind.
Es ist doch kein
historischer Zufall, dass unser Schönheitsbegriff im grossen und ganzen
und beliebig viele Ausnahmen zugegeben, von dem klassischen Formideal
ressortiert, von jener Klassik, deren Sinn nicht auf die schöpferische
Strömung des Lebens, sondern auf die formalen Verhältnisse seiner nach
aussen abgelagerten Erscheinung geht.
Wenn Rembrandts Menschen,
an diesem Ideal gemessen, So vielfach »hässlich« sind, so hat dies den
tieferen Grund, dass die ganze Schicht, als deren ideale Norm unser
konventioneller Schönheitsbegriff entstanden ist, überhaupt nicht der
Ort seiner bildnerischen Intention ist.
Damit ist nicht nur die »Schönheit«
der menschlichen Gestalten gemeint, die innerhalb des Kunstwerks für den
nicht besonders kritischen Standpunkt überhaupt eine eigentümlich
zweideutige Rolle spielt.
Soweit ein solcher der unkünstlerisch
populäre ist, ist die Schönheit oder Unschönheit der Bildgestalt
einfach gleich der Schönheit oder Unschönheit des wirklichen lebendigen
Menschen, den die Phantasie als das Urbild jenes vorstellt.
Umgekehrt, der Formalismus
des Artistentums verzichtet auf jegliche Beziehung des Kunstwerks auf eine
ausserhalb seines Rahmens gelegene Realität, der Mensch innerhalb seiner
bedeutet ihm genau nur das auf der Leinwand Sichtbare, und seine Schönheit
oder Unschönheit ist die ganz unmittelbare der Linien und Farben,
gleichviel ob diese ausserdem einen Menschen darstellen oder ein Ornament.
Unserer tatsächlichen
Empfindung des Kunstwerkes indes und seiner inneren Absicht scheint ein
Drittes zugrunde zu liegen.
Die von dem Kunstgebilde
wirklich und wirksam erregte Vorstellung bringt jene beiden
Einseitigkeiten in einer vorläufig nicht recht beschreiblichen Art
zusammen.
Wir sehen, insoweit wir künstlerisch
sehen, weder den Menschen jenseits der Farbflecke, die ihn bedeuten, noch
die Farbflecke jenseits des Menschen, den sie bedeuten, sondern ein neues
Gebilde, dessen Einheit die alte Ahnung bewahrheitet, dass in der Kunst
der Gegensatz von blossem Denken und blosser Sinnlichkeit aufgehoben ist.
Es vollzieht sich damit das
Wunder, dass eine Anzahl nebeneinander gesetzter Farbflecke ein zentral
zusammengehaltenes Leben bekommen, welches ein anderes ist, als wenn wir
es als ein wirkliches vorstellen.
Wenn wir auch nicht, wie es
die Naivität meint und wie die Photographie es erfüllt, durch das Porträt
hindurch einfach den Menschen sehen, den es darstellt, so sehen wir
dennoch tatsächlich etwas anderes, als wenn wir überhaupt nicht wüssten,
was ein Mensch ist.
Die populäre wie die rein
artistische Betrachtung sind tatsächlich Abstraktionen aus diesem
einheitlichen Gebilde: dem Menschen, insoweit er Kunstwerk ist - welches
koordiniert neben dem anderen steht: dem Menschen, insoweit er empirische
Wirklichkeit ist.
Dennoch wird unleugbar
dieses zentrale Kunsterlebnis von jenen einseitigen wie von Verdunstungen,
die seine Einheit an ihrer Peripherie zerlegen, umgeben.
So wird niemand in
Rembrandts Bildern eine - freilich nach Epochen sehr verschiedene - Freude
an der farbigen Erscheinung rein als solcher verkennen.
Seine Leidenschaft für die
Schönheit der schönen Dinge, für Waffen und Geschmeide, für alte
Gewebe mit ihren gebrochenen und ihren 9,lühenden Farben, für die
sinnlich erregenden exotischen Kuriositäten - diese Leidenschaft verlangt
auch von der Bildfläche, als Farbensinfonie, eine gegen alle »Bedeutung«,
allen mit ihr ausgedrückten Sinn ihrer Objekte gleichgültige Schönheit.
Hier macht sich ein reines,
von dem zentralen oder Gesamtwert des Werkes unabhängiges Artistentum
geltend, hier sucht er die über den Abgründen schwebende, ganz im Phänomen
aufgehende Schönheit.
Allein zunächst scheint
es, als ob mit steigendem Alter und wachsender Vertiefung diese Richtung
sich verloren, höchstens in der Form wechselnder, technisch malerischer
Sonderprobleme weitergelebt hätte und sich schliesslich in Bildern wie
der Judenbraut und dem Braunschweiger Familienbild in das vibrierende,
alle Einzelqualität ablehnende Leben der Gesamtgestaltung ohne Rückstand
aufgelöst hätte.
In dem, freilich nur wenig
früheren, Saul und David (im Haag) zeigen diese Elemente einen gewissen
Dualismus.
Hier ist ein Sprühen und
ein Rausch von Stoffen und Farben, sozusagen eine eudämonistische Schönheit
und rein malerische Vollendung, die pointiert und um ihrer selbst willen
gesucht erscheint.
Und nun eine tiefste
seelische Erschütterung, ein nacktes Hervorbrechen des innersten Lebens,
von dem all jene Pracht überflutet wird und vor dem sie verblasst.
Auf das bloss Prinzipielle
angesehen, ist hiermit der Konflikt gegeben, der Michelangelos Leben
spaltete: die Leidenschaft für die sinnliche Schönheit im Dasein und das
Durchdrungensein davon, dass seine innerlichen und transzendenten Werte,
die es in letzter Instanz retten oder vernichten, davon nicht berührt
werden, ja dass die Wegrichtung auf das erscheinungshaft Schöne die
andere, auf die Seele und ihre Entscheidung gerichtete, ablenke und lähme.
Zu dieser Schärfe steigert
sich der Gegensatz, den wir, hier und da, Rembrandts Schöpfungen
entnehmen können, an keiner Stelle.
Denn er forderte niemals
der Schönheit die entscheidenden seelischen Werte ab, wie es Michelangelo
tat, der an der Uneinlösbarkeit dieser Forderung zerbrach.
So mächtig ihn, wenigstens
zeitweise, die anschauliche Schönheit bezauberte, sie blieb ihm als
solche immer etwas Äusserliches, das die Seele in ihrem sich selbst gehörenden
Leben und ihrem Ausdruck gewissermassen nicht berührte und sich gerade
deshalb friedlicher mit ihr vertrug.
Dieses Nebeneinander des
Artistisch-Sinnlichen und des Seelisch-Intensiven bedeutet eine grössere
Fremdheit zwischen ihnen, als ihre furchtbare und tragische Spannung, die
Michelangelo erlebte und mit der Gewalt seines Schöpfertums zu Werken bändigte.
Unleugbar steht in manchen
Werken Rembrandts jene Freude an der Köstlichkeit des Sichtbaren und des
Malerischen als solchen ziemlich unvermittelt neben dem Ausdruck des
innerlichsten, aus schlechthin unsinnlichen Tiefen hervorbrechenden
Lebens.
Mag dies neben der Einheit,
zu der Michelangelo die Gegensätze der Daseinswerte zusammenzwang, als
eine Unvollkommenheit erscheinen: es ist ein sehr singuläres, sozusagen
handgreifliches Symbol jener Einstellung Rembrandts auf das, was nur er
sagen konnte, und was in seinen einheitlichsten Werken den Willen zur Schönheit
als etwas innerlichst Gleichgültiges ablehnt.
Es besteht, wie ich schon
andeutete, ein Zusammenhang zwischen der Schönheit, die das Kunstwerk von
dem übernommenen oder umstilisierten Gegenstand entlehnt und die für
Rembrandt gleichgültig ist, auf der einen Seite - und der
Verallgemeinerung, der überindividuellen Typisierung, die nicht weniger
jenseits seines Weges liegt, auf der anderen.
Hier kann ein Gegensatz,
der sonst mit Recht als veraltet gilt, doch noch Aufklärungsdienste tun.
Man unterschied früher
zwischen dem Schönen und dem Charakteristischen in der Kunst, und immer
hat, solange dies galt, Rembrandt als der Maler des Charakteristischen
gegolten.
Nichts anderes aber kann
dies bedeuten, als dass in gewissen Kunstwerken die Oberfläche der
Erscheinung von dem inneren Wurzelpunkt des Wesens her, den wir eben
seinen Charakter nennen, bestimmt wird; und dass in anderen die führende,
wertgebende Norm anderswoher kommt.
Und diese, also an der
anderen Seite der Erscheinung gelegen, kann nun ersichtlich nur das
Typisch-Allgemeine, Über-Einzelne, das irgendwie ausserhalb der inneren
Individualität Bestehende sein.
Indem dies der Ort der Schönheit
als Kunstprinzips ist, ist ihr Gegensatz das Individuelle: der Ort des
Charakteristischen als Kunstprinzips.
Damit wird begreiflich,
wieso die ganze Tiefe, Eindruckskraft, Zusammengehaltenheit, zu der
Rembrandt den Menschen entwickelt - besonders kommen hier seine religiösen
Bilder in Betracht -, diese Entwicklung nicht zu der Form, die wir Schönheit
nennen, hinführt.
Schönheit, in unserer
durchgängigen Auffassung des Wortes, ist eben keineswegs ein völlig
abstrakter, an jeder Auffassungsweise der menschlichen Erscheinungen
realisierbarer Begriff.
Sondern unter deren Schönheit
verstehen wir, eigentlich durchgehendes, die klassische Formgebung.
Und alle anderen Schönheitstypen,
die wir durch Zusätze wie interessant, pikant, dämonisch und ähnlich
charakterisieren, sind Grenzerscheinungen und Gemischtheiten mit anderen
Bedeutungsrichtungen.
Aus jener Formgebung
spricht die Weltanschauung, die in dem Allgemeinen (wie die Herrschaft des
Typus in dem individuellen Phänomen sie offenbart) und in der
Gesetzlichkeit der Formen (die die Elemente der Erscheinung unmittelbar
untereinander und gleichsam freischwebend verbindet) - absolute Werte
sieht.
Darum kann Schönheit nicht
das letzte Absehen von Rembrandt sein, dem der Individualitätspunkt das
Entscheidende des menschlichen Phänomens ist, und der dieses aus der
flutenden Lebendigkeit der Gesamtpersönlichkeit entwickelt.
Es ist, als müsste die Schönheit
jenes gleichsam plastisch ruhenden Sehens deshalb als eine Abstraktion und
etwas Oberflächliches erscheinen, in einem Sinne, der keineswegs ein
Werturteil, sondern ein Seinsurteil bedeutet.
Diese Betrachtungen waren
im wesentlichen abgeschlossen, als der Krieg ausbrach; und so sehr wir
auch nur auf das Eine hinhören, das uns jetzt alles ist, wage ich es
doch, sie zu veröffentlichen, weil sie wenigstens in eine Ecke der
geistigen Ebene zu gehören scheinen, in der sich die grossen realen
Ereignisse spiegeln.
Denn diese Ereignisse gehen
doch wohl dahin: das deutsche Wesen endgültig durch seinen Gegensatz zu
dem romanischen, dem slawischen, dem englischen festzustellen.
Es wird hoffentlich nicht nötig
sein, die Macht und die Kultur Deutschlands dauernd mit Kampf und Hass
gegen die Verlockungen wie gegen die Bedrohungen seitens dieser Mächte zu
behaupten.
Aber Einmal scheint es
solchen Kampfes zu bedürfen, damit das Deutschtum nun für immer seine
Reinheit und selbständige Entschiedenheit bewahre.
Haben die Waffen hierfür
getan, was durch sie geschehen kann, so wird sich die Aufgabe dann ins
Geistige umsetzen.
Eine lange Arbeit steht uns
bevor: das Selbstbewusstsein des deutschen Wesens zu gewinnen, nicht im
Sinne chauvinistischen Hochmuts, sondern einfach als Wissen um das, was
wir denn eigentlich sind.
Die politische Einsamkeit,
in die uns dieser Krieg stellt, gibt gewissermassen die Vorzeichnung und
Aufforderung, uns auf die Schärfe unserer geistigen Umrisslinien zu
besinnen.
Der Weg dazu, von manchem
schon zuvor begonnen, ist weit und in unzählige Nebenstrassen verzweigt,
er führt durch das ungeheure Gebiet, auf dem seit jeher der germanische
Geist sich dem klassisch-romanischen entgegenstellt, allzu oft in Kämpfen,
die für das deutsche Wesen tragisch verlaufen sind.
Da mag uns denn tieferes
Verstehen und höherer Mut auch aus solchem Blick auf Rembrandt kommen,
den sein radikaler, aus den letzten Wesensgründen gewachsener Gegensatz
zu der klassisch-romanischen Kunst nicht gehindert hat, indem er das grösste
malerische Genie der germanischen Völker gewesen ist, vielleicht das grösste
malerische Genie aller Völker überhaupt zu sein. |