Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Studien zur Philosophie der Kunst, besonders der Rembrandtschen

ex: LOGOS. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, herausgegeben von Richard Kroner und Georg Mehlis, Band v, 1914/15, Heft 3, S. 221-238, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)

I.

»Die Einheit des wohlkomponierten Renaissancebildes liegt ausserhalb des Bildinhaltes selbst, sie ist als abstrakte Form zu denken: Pyramide, Gruppensymmetrie, Kontrapost an und mit den Einzelfiguren - deren an und für sich selbständige Bedeutung auch von anderem Inhalt erfüllt werden könnte. Abgesehen aber von dieser, in einem ideellen Ausserhalb gelegenen Form, hat das Bild oft eine sehr geringe Einheit, sondern besteht in einem Nebeneinander von Teilen, die dadurch, dass sie alle gleichmässig durchgeführt sind, ganz des organischen Verhältnisses entbehren.«

Dieser Satz aus einer früheren Rembrandtstudie1)  gilt natürlich nur in sehr abgestuftem Masse für italienische Kunst überhaupt.

Bei Giotto ist keine innere Fremdheit zwischen der kompositionellen Form und dem eigenen Leben der Gestalten fühlbar, einmal, weil die letzteren überhaupt nicht stark individualisiert sind und keine Existenz beanspruchen, die über die Funktion ihrer bildmässigen Gegebenheit hinausginge; und dann, weil die Form hier noch keine geometrische, sondern eine architektonische ist.

Das geometrische Schema der späteren Kompositionen hat eine Abstraktheit, deren Leere und hart selbständiger Sinn durch keine noch so geistreiche und im einzelnen lebendige Erfüllung ganz zu überwinden ist.

Architektonisch aber wird man eine Formgebung nennen können, die zwar nicht aus einer individuellen Lebendigkeit, wohl aber aus der materialen Extensität und dynamischen Intensität ihrer Erfüllungen unmittelbar hervorgeht und mit diesen identisch ist.

Das architektonische Prinzip steht jenseits des Gegensatzes von Schematik und Leben.

Die Gruppen Giottos erwachsen nicht aus den Lebendigkeiten der Einzelgestalten, ebenso wenig aber als Ausfüllungen eines in eigener geometrischer Bedeutung vorbestehenden Schemas; sondern es ist wie ein Bauwerk, in dem kein Teil ein einzigartiges Leben hat, ein jeder aber doch eine eigentümliche Masse, Form und Kraft einsetzt und dadurch unmittelbar die mit nichts vergleichliche architektonische Einheit entstehen lässt.

In Raffaels Madonnen bestimmt zwar wesentlich das geometrische Motiv die Komposition, allein sie sind von solcher malerischen Mächtigkeit, dass - sozusagen wenigstens nachträglich - das Eigenleben der Gestalten sich ohne inneren Widerspruch und ohne Zufälligkeit dieser Form anschmiegt.

In der Madonna von Castelfranco ist der dreieckige Aufbau zweifellos etwas mechanisch und ohne rechte Beziehung zu der lyrischen Gesamtstimmung des Bildes; es ist aber interessant, wie sehr eben diese Stimmung und die vertiefte Schönheit der Gestalten über die Unbehilflichkeit der geometrischen Form Herr wird, so dass der Gesamteindruck für Viele den der entsprechenden Raffaelschen Werke übertrifft, obgleich bei diesen der geometrische Schematismus und sein lebendiger Inhalt eine viel natürlichere, harmonischere Einheit bilden.

Erst bei den minderen Meistern tritt ganz fühlbar hervor, dass das Schema und seine Erfüllung mit lebenden Wesen von ganz inkohärenten seelischen Grundstrebungen geführt und auseinandergeführt werden.

Zu leugnen aber ist nicht, dass der im romanischen Wesen gelegene rationalistische Trieb nach klar überschaulicher, in sich geschlossener Aussenform solche Schemata fördert, die durch die Selbständigkeit ihres Sinnes dem Inhalt gegenüber leer und mechanisierend wirken.

Auch die Dichtkunst scheint mir dies zu bestätigen, insofern die spezifisch romanische Versform doch wohl das Sonett ist.

Hier liegt jene anschauliche Geschlossenheit vor, die keine Fortsetzung gestattet und deshalb einerseits zeitlos-unhistorischen Charakter hat, so dass man im Sonett nichts »erzählen« kann; andererseits den Weg ins Unendliche verschliesst, der der Reichtum, vielleicht auch die Verführung der nordischen Völker ist.

(In Dantes Versform mit ihrer prinzipiellen Unabschliessbarkeit symbolisiert sich, was an gotischem Geiste in ihm ist).

Das Sonett gleicht dem klassischen Ornament mit seinen in sich zurücklaufenden Formen, gegenüber dem nordischen, das sich ins Unendliche fortsetzen will.

Diese gleichsam tendenziöse, unbarmherzig betonte Vollendetheit der Form begünstigt es, dass das Sonett die am meisten zur äusserlichen Spielerei verführende, am leichtesten leer und formalistisch wirkende Versart ist - wo nicht, genau wie bei dem geometrischen Schema der bildenden Kunst, eine singuläre Genialität dieser Gefahren Herr wird.

Bei Rembrandt nun erwächst die Gesamtform des mehrfigurigen Bildes aus dem Leben der einzelnen Figuren, d. h. daraus, dass das Leben der einzelnen, ausschliesslich von ihrem eigenen Zentrum aus bestimmt, gewissermassen über sie hinausströmt und dem der anderen begegnet, zu gegenseitiger Beeinflussung und Stärkung, Modifikation und Vermählung.

Eine übergreifende Gesamtform, die man als für sich vorstellbare und bedeutsame dem Ganzen entlesen oder als ein Schema vorzeichnen könnte, wie an geometrisch komponierten Bildern, besteht hier nicht.

Dies vielleicht trägt den unerhörten Eindruck der Nachtwache: dass die Einheit des Bildes sozusagen nichts für sich ist, nicht herauszuabstrahieren, nicht in einer Form jenseits ihrer Erfüllungen beruhend; sondern ihr Wesen und ihre Kraft ist nichts anderes als die unmittelbare Verwehung der Vitalitäten, die aus jedem Individuum herausbrechen.

Es ginge schon zu weit über diese Unmittelbarkeit hinaus, konstruierte schon eine zu abstrakte Einheit, wollte man von einem Gesamtleben sprechen, das dies Bild trüge; das Leben bleibt vielmehr in jede einzelne Figur versenkt, und indem es von einer jeden zu der anderen hinstrahlt, gibt es sein Zentrum nicht an eine darübergelegene Einheit ab.

Nur der ganze umfassende Raum kann bei dieser Konstellation wie von Lebenswellen durchflutet sein, und wenn man das Magische dieses Bildes irgendwie - mit unvermeidlich subjektiver Symbolik - zu bezeichnen wagen will, so möchte man sagen: der Raum selbst scheint hier in lebendige Bewegung geraten zu sein, nicht nur die Erscheinungen im Raum.

Denn die Totaleinheit des Bildes, die man als eine unerhört lebendige fühlt, ist nicht zu einer für sich gültigen, in Lösung von ihren Inhalten vorstellbaren Form gleichsam zugespitzt, sondern sie besteht in der Summe der Figuren, die aber dennoch nicht auseinanderfallen, sondern, wie angedeutet, mit ihren intensiven Lebendigkeiten sozusagen Adhäsion aneinander besitzen; so dass tatsächlich nur das ihnen gemeinsame Medium, der Raum, durch die sich in ihm organisierenden Lebenssphären wie eine grosse lebenerfüllte und dadurch selbst lebendig gewordene Einheit erscheint.

Man muss sich nur klarmachen, dass derjenige Wert eines Bildes, den wir als seine Einheit bezeichnen, auf viel mannigfaltigere Weise herstellbar ist, als unsere an der Klassik geschulte Denkweise es im allgemeinen anerkennt.

Dieser gewohnte Begriff heftet sich durchaus an die Form, die ihren Erfüllungen gegenüber irgendwie selbständig in sich selbst zurückläuft und dadurch gewissermassen einen einheitlichen Begriff darstellt.

Diese Art von Einheit ist aber ersichtlich nicht an organische Erfüllungen gebunden, sondern kann sich mit dem gleichen Erfolge formaler Geschlossenheit auch an unlebendigen Inhalten verwirklichen.

Im Unterschiede davon aber gibt es eine Einheitlichkeit, die unmittelbar ihren Erfüllungen verhaftet ist, die gerade nur an diesem Stoff bestehen kann und zwar, weil sie nur aus ihm erstehen kann.

Dies ist die Einheit ausschliesslich des organischen Wesens.

Die Einheit eines solchen lässt sich gar nicht als eine Form denken, die mit einem irgendwie qualitativ anderen Gehalt auszufüllen wäre.

Und aus einer Mehrheit solcher Wesen kann ein Gebilde zustande kommen, das wiederum einheitlich ist, weil es seine im vitalen Sinne einheitlichen Bestandteile in Verwebung und Verwachsung zeigt; denn es ist das Wesen des Lebens, über sich hinauszugreifen, hinauszustrahlen, ohne seine Einheit zu verlieren, sich gleichsam mit einer Sphäre über seine primäre Greifbarkeit hinaus zu umgeben, die immer an seinen Mittelpunkt gebunden bleibt, aber mit der Sphäre anderer wechselwirkt, sich durchdringt, verschmilzt.

In der deutschen Sinnesart liegt von vornherein eine andere Möglichkeit, Einheit zu empfinden, als in der klassischen.

Dürers Melancholie, Holbeins Kaufmann Gyse, viele holländische Stilleben zeigen ein Nebeneinander von einzelnen Dingen, das vom Standpunkt der klassischen Kunst aus zufällig und zusammenhanglos erscheint.

Aber obgleich es den Schöpfern selbst sicher nicht so erschien, so ist doch von da aus die Sehnsucht solcher germanischer Geister nach der klassischen Form begreiflich.

Denn das Unorganische gewinnt anschauliche Einheit nur in geometrisch abstrakten Formen, es kann nicht durch Wachstum von innen her zu sinnvoller, d. h. einheitlicher Gestaltung gelangen, es entbehrt jener bewegten Sphäre, durch die ein Lebendiges mit dem anderen zusammenfliessen kann.

Jener frühere Mangel an äusserer Zusammengefasstheit in der deutschen Kunst war also allerdings ein Widerspruch, die eigentümliche, nicht klassische Einheit, zu der diese Kunst hinstrebte, war an unorganischem Material nicht zu gewinnen.

Erst mit Rembrandt hat dieses Streben sich selbst verstanden und hat, am deutlichsten in der Nachtwache, mit dem ihm unvermeidlich scheinenden und ihm dennoch innerlich widersprechenden Ideal der klassisch geometrisierenden Form gebrochen.

Die Nachtwache ist eines der rätselhaftesten Bilder.

Wie diese wirr und planlos, und, nach den hergebrachten Begriffen, formlos nebeneinander und durcheinanderlaufenden Konfigurationen die Einheit des Ganzen ergeben können, ohne die der ungeheure Eindruck dieses Ganzen gar nicht möglich wäre - das ist nach eben jenen Begriffen nicht zu erklären.

Aber indem die Nachtwache so und so viele Lebendigkeiten und nur sie zum Bildinhalt macht und dem Geheimnis ihrer rein vitalen Wechselwirkungen anschauliche Sprache gibt, hat sie jenes alte germanische Drängen zu einer Einheit, die nicht geschlossen formmässig, nicht für sich darstellbar, sondern nur an ihren Trägern zu realisieren ist, zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst rein befriedigt.

Die Einheit ist hier, wo sie zugleich ganz tief und ganz labil ist, auf eine viel gewagtere Weise gewonnen, als im klassischen Kunstwerk, bei dem sie durch den eigenen vorbestehenden Sinn der Form eine gewisse Garantie für das Nicht-auseinanderfallen-Können und das Verstandenwerdenmüssen in sich trägt.

Hierfür ist nun ein früher schon angedeutetes Moment von der allergrössten Wichtigkeit: die Abstufung der Deutlichkeitsgrade im Rembrandtschen Gemälde.

Die Herrschaft der klassischen Form, mit ihrem Streben nach geometrisch-übersichtlicher Einfachheit, hat eben deshalb ein solches nach dem linearen Prinzip, und selbst der Kolorismus der venezianischen Kunst kann dies nicht verleugnen.

Freilich hat die Farbe, die den Rembrandtschen Deutlichkeitsunterschieden ihr eigentliches Feld eröffnet, schon an und für sich zu dem Formprinzip in seiner wesentlich linearen und plastischen Bedeutung ein tiefes Gegensatzverhältnis.

Stellt sich in der Form gewissermassen die abstrakte Idee der Erscheinung dar, so steht die Farbe sowohl diesseits wie jenseits dieser: sie ist sinnlicher und ist metaphysischer, ihre Wirkung ist einerseits unmittelbarer, andererseits tiefer und geheimnisvoller.

Ist die Form etwa als die Logik der Erscheinung zu bezeichnen, so bedeutet die Farbe eher deren psychologischen und metaphysischen Charakter - auch hier diese beiden, untereinander durchaus geschiedenen Intentionen in ihrer gemeinsamen Gegensätzlichkeit gegen das logische Prinzip erweisend; die vorwiegend logisch interessierten Denker verhalten sich deshalb häufig gleichmässig ablehnend gegen die psychologische wie gegen die metaphysische Sinnesart, und dies scheint mir der tiefere Zusammenhang zu sein, aus dem heraus Kant in seinem ästhetischen Wertsystem die Farbe eigentlich ganz zu Gunsten der Form ablehnt.

Macht man sich nun klar, dass die Farbe im Unterschied gegen die Linie - gerade wie an ihrer Stelle Psychologie und Metaphysik, im Unterschied gegen die Logik - der Ort der Graduierungen, des Stärker und Schwächer, der Valeurs mit ihren unendlichen quantitativen Möglichkeiten ist, so ist weiterhin ersichtlich, dass mit dem Vorherrschen der Form und ihrer geometrischen Intendierung die gleichmässige Durchführung aller Bildteile gegeben ist.

In dem geometrischen Gebilde ist alles gleich berechtigt; es mag in ihm Hilfslinien geben, die zum Wiederverschwinden bestimmt sind, aber diese gehen nicht das Gebilde selbst, sondern die mathematische Beweisabsicht an, die der blossen Anschaulichkeit des Kunstwerks fern liegt.

Die geometrisierende Tendenz und die scharfe Deutlichkeit alles Vorgeführten sind nur zwei Ausdrücke für dieselbe rationalistische Gesinnung.

Im tieferen Sinne entscheidend aber ist noch nicht diese Deutlichkeit, sondern vielmehr die Gleichmässigkeit der Ausführung, wobei die Malweise ebenso gut vibrierend, farbig, grenzübergreifend sein kann, wie streng linear oder kleinlich auspinselnd.

Diese Gleichmässigkeit ist nicht nur das Gegenteil des wirklichen Seherlebnisses, sie ist, viel weiter gefasst, überhaupt unorganischen, mechanischen Wesens.

Wo das Bild der Dinge vom Leben aufgenommen und in seiner Wiedergabe von diesem getränkt ist, da ist auch Ungleichmässigkeit der Durchführung gegeben, Vorder- und Hintergrund nicht nur im räumlichen, sondern auch in einem qualitativen Sinne.

Denn Leben ist Rangierung, betonte Hauptsache und vernachlässigte Nebensache, Mittelpunktsetzung und Abstufung zur Peripherie.

Insofern hat, wenn man will, das Leben der Welt gegenüber etwas Ungerechtes; aber alle Genialität lässt sich so ausdrücken, dass sie uns die Überzeugung gibt, mit dieser, unmittelbar vom Subjekt und nicht vom Objekt abhängigen Akzentverteliung dennoch eine tiefere Gerechtigkeit auch dem Objekt gegenüber realisiert zu haben - nicht freilich in seiner scharf abschneidenden Isolierung, auch vielleicht nicht in der rein kosmischen Betrachtung, die den Elementen keine Bedeutungsunterschiede lässt.

Wohl aber wird durch diese Unterschiede das Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem Objekt, das doch auch eine objektive Tatsache ist, allein angemessen ausgedrückt.

Goethe spricht einmal von »gewissen Phänomenen der Menschheit« (nämlich »Formen des lebendigen Daseins und Handelns einzelner Wesen«), die »irrtümlich nach aussen, wahrhaft nach innen seien«.

In der Abgestuftheit des Daseinsbildes, die seiner lebendigen Auffassung, im Gegensatz zu der künstlichen Gleichsetzung der mechanistischen eigen ist, liegt etwas Ähnliches vor.

Hier ist die Struktur dieses Bildes, von aussen gesehen, ungleichmässig, von innen her einheitlich.

Denn so ist das Leben selbst; sieht man es nach seinen Phänomenen, Resultaten, Ausladungen an, die das Individuum als seine Existenzinhalte gleichsam nach aussen hin deponiert, so ist es ungleichmässig und zufällig, diskontinuierlich und ungerecht; von innen her gesehen aber ist all dieses, mindestens seiner Idee nach, die kontinuierliche, notwendige, angemessene Entwicklung eines einheitlichen Keimes.

II.

Damit, dass wir die Substanz einmal auf ihr Leben hin, ein anderes Mal auf ihre Form hin ansehen, sind ihre in der Kunst wirksamen Grundkategorien nicht erschöpft.

Allenthalben wirkt die Schwere mit, und zwar zunächst in der Haftung an dem Material der dreidimensionalen Kunstwerke.

Den absoluten Schweren von Stein, Metall, Holz, Keramik, den Schwereverhältnissen der einzelnen Teile, den Gegenkräften, die die Schwere auffangen oder verteilen - entsprechen auf die rein optischen Eindrücke des Gegenstandes hin ganz spezifische innere Empfindungen.

Ob es sich dabei um blosse Assoziationen, sonst erworbene Erfahrungen von Heben, Schieben, Gedrücktwerden handelt, oder ob andere, mehr unmittelbare, noch nicht herausanalysierte Reaktionsweisen dabei im Spiele sind, bleibe jetzt ununtersucht.

Diese Schwereempfindungen fügen sich wieder, auf gleichfalls unbekannte Weise, der optischen Vorstellung ein und werden zu Elementen des ästhetisch bildhaften Eindrucks.

Sie sind aber der Art nach auch dem zweidimensionalen Kunstwerk eigen: nicht nur dem Abbild des als objektive Wirklichkeit schweren Gegenstandes fühlen wir Schwere an und lassen das so Gefühlte die rein künstlerische Wirkung mitbestimmen; sondern ganz unabhängig von irgendeinem Urbild und seiner Schwere, wirken Linienführungen, Flächen, Farben, sogar in rein dekorativer Verwendung, mit bestimmten Massen und Verhältnissen von Schwere.

Hiermit ist freilich ein innerhalb der Kunst bedeutsames Moment gegeben, das jenseits des Lebensprinzips wie des Formprinzips - in dessen gewöhnlichem Sinne - liegt, da es sich an die undifferenzierte Substanz knüpft.

Ganz genau zugesehen indes aber ist doch die Schwere in dieser Bedeutung unter die formalen Momente einzureihen.

Denn durch ein Mehr oder Weniger, durch die diesbezügliche Relation der einzelnen Teile, durch das Spiel zwischen dem Lastenden und dem Tragenden gewinnt die Schwere ästhetische Bedeutung; schliesslich ist doch auch die Schwere eine Einzelqualität der Materie, freilich ihre allgemeinste, mit ihrer Ausgedehntheit am unmittelbarsten verbundene.

In künstlerischer Hinsicht steht sie deshalb neben der Farbe, der räumlichen Form, der Oberflächenbeschaffenheit als ein diesen koordiniertes Element, als eine Einzelbestimmtheit, aber noch nicht als das Letzte, schlechthin jenseits alles einzelnen Liegende, was von der im Kunstwerk fühlbaren Materie ausgesagt werden kann.

Dies ist vielmehr die Substantialität überhaupt, das schlechthin in keine Qualität, keine Relation, keine Differenz, keine Formung eingegangene einfache Sein des Stoffes, dasjenige, was aller Formung, Bewegtheit, Lebendigkeit zugrunde liegt.

Ich lasse hier, wo es sich nur um die Explikation gefühlsmässig ästhetischer Tatsachen handelt, die Kritik dieses Begriffes dahingestellt, die die Physik und die Erkenntnistheorie üben.

Mögen diese auch die »Substanz« völlig in Relationen und Schwingungen auflösen.

Aber diese Zerlegung greift die Schicht der hier gemeinten, mit einem ganz spezifischen Gefühl wirksamen Substanz nicht an.

Alle Plastik im weitesten Sinne des Wortes geht darauf, dieses dunkel Substantielle des Daseins, das vielleicht Anaximander mit seinem apeiron meinte, durch Formung zu überwinden.

Denn ihr Gegensatz ist nicht die sinnlose Form des Gipsklumpens oder des unbearbeiteten Marmorstücks, aus der dann die sinnvolle entwickelt wird; sondern jenes absolut Formfremde, niemals Anschauliche, das mit jeder Gestaltung aufgehoben wird.

Vergleicht man etwa die Olympiaskulpturen mit denen des Parthenon, so empfindet man an den ersteren, wie sie sich sozusagen eben erst aus jenem Urgrund, jener nicht weiter beschreiblichen Substantialität alles Daseins herausheben; noch fühlbar besteht diese in ihnen, und nur an der Oberfläche hat sie die Form hergegeben, deren Differenzierung und Bewegtheit von dem Kern, dem eigentlich und einheitlich Seinshaften des Gebildes nur durch eine ideelle Linie geschieden ist.

Dagegen in den Parthenonskulpturen ist dieses von der Formung ganz und gar ergriffen und durchdrungen, die geheimnisvolle Einheit der Substanz überhaupt ist hier unfühlbar, weil sie völlig in die jeweilige, besondere Gestaltung eingegangen ist.

Man möchte die Kunst von Olympia mit den vorsokratischen Philosophen, die des Parthenon mit Plato vergleichen.

Soviel vollkommener, durchgeformter, geist- und persönlichkeitgewordener die athenischen Kulturgebilde der Blütezeit sind, als alle jene anderen, künstlerischen und denkerischen, so scheinen die letzteren doch unmittelbarer aus dem Grunde der Dinge aufgestiegen und ihm ohne Grenzstrich verhaftet zu sein.

Die athenischen Werke aber schweben wie erlöst im hellen Reiche des Geistes, bis in ihren innersten Kern hinein ganz Leben, ganz Form geworden.

Die beiden letzteren, die metaphysischen Parteien, die sonst das Wesen der gegebenen Gebilde unter sich aufteilen, erscheinen deshalb als gemeinsam gegensätzlich zu jenem freilich kaum benennbaren Grundbegriff oder Grundstoff des Seins.

Denn wie ich vorhin sagte, dass die Plastik, rein als Wille zur anschaulichen Formung verstanden, auf Überwindung dieser undifferenzierten Substantialität ginge, so scheint auch das Leben nach der gleichen Tendenz hin deutbar.

Während das dunkle substantielle Sein schlechthin in sich ruht, ist das Leben dasjenige, was in Jedem Augenblick über sich hinaus will, über sich hinaus greift; indem es die Substanz mit sich durchdringt, setzt es sie in eine innere Bewegung, der gegenüber der Mechanismus nur ein Hin- und Herschieben ist, das ihr inneres Wesen unberührt lässt.

Dass das Leben fortwährend unorganische Materie in den organischen Prozess hineinreisst, ist nur eine Seite, ein Phänomen oder ein Symbol der tieferen metaphysischen Richtung des Lebens überhaupt, mit der es das Eigenwesen seiner Substanz in sich oder durch sich auflöst.

Es ist höchst merkwürdig und bedeutet wohl eine der letztmöglichen Verbegrifflichungen des Daseins, dass dessen grosse, sinngebende Kategorien, das Leben und die Form, von einer vor aller Bezeichnung gelegenen Substanz getragen werden, die fortwährend in jenen aufgeht, fortwährend sozusagen im Leben und in der Form verschwindet, aber dennoch irgendwie hinter ihnen fühlbar ist.

Das Mass, in dem dies der Fall ist, gehört zu den entscheidenden differenziellen Eindrucksfaktoren der lebendigen Wesen und der Kunstwerke.

Auf viele Weisen schon ist es als zum Wesen der Organismen gehörig ausgesprochen worden, dass gleichsam kein Lebendiges ganz lebendig ist, dass in jedem noch etwas Dunkles, von der Lebensbewegtheit noch nicht völlig Besiegtes und Durchsetztes besteht, gleichviel wie man es benenne.

Wenn man aber von Stufen des Lebens spricht; wenn wir in gewissen Erscheinungen eine vollständigere, in sich (nicht nur nach aussen) stärkere Lebendigkeit zu sehen meinen als in anderen; wenn dies entschiedenere Leben zugleich als eine entschiedenere Individualisiertheit auftritt - so bedeutet dies alles ein entsprechendes Zurückweichen jenes unbezeichenbaren Etwas, das in das Leben erst allmählich eingeht und das als dieses immer verschwindende aber niemals verschwundene ein schlechthin Einheitliches, also von Individualisiertheit nicht Berührtes ist.

III.

Ist es ein nicht weiter diskutabler Satz, dass Rembrandt der Maler der »Individualitäten« schlechthin ist, so ist es an seiner Form der Individualisierung zuerst überraschend, bei genauerem Hinsehen aber doch begreiflich, dass Rembrandts Gesichter eigentlich weniger das zeigen, was man den »Charakter« des Menschen nennt, das dauernd Wirksame, ein für alle Mal dem Menschen Mitgegebene.

Unser Lebensverlauf, seine Aktivität wie seine Passivität, scheint uns durch diesen unvariablen Faktor unserer Seinsqualität und die peripherischen oder äusseren Wechselereignisse in Zusammenwirksamkeit bestimmt.

Die Richtung der Porträtkunst, die in Tizian aufgegipfelt und insbesondere von Lenbach wieder aufgenommen ist, sucht diesen »Charakter«, dieses subjektive Apriori des Lebensverlaufes aus der Gesamterscheinung herauszulösen und zum eigentlichen Darstellungsgegenstand zu machen.

Für Rembrandt aber ist dieses Feste, Durchhaltende, relativ Zeitlose der Persönlichkeit in den Fluss ihrer Gesamtschicksale aufgelöst.

Die Vielheit des Lebens, zu deren Entwicklung es seiner ganzen Zeitausdehnung bedarf, zerfällt für ihn nicht in jenen festen und den relativ zufälligen Bestandteil blosser, mehr oder weniger äusserlicher »Schicksale«; sondern das Leben, mag man es nun auch als eine Aufeinanderfolge von Schicksalen, seelischen Wendungen, Erlebnissen bezeichnen, wandelt sich zwar in jedem Augenblick, aber es ist in jedem Augenblick eine Einheit, in der Charakter und Geschichte sich innerlich nicht scheiden, (wie Goethe es ausdrückt: »Die Geschichte des Menschen ist sein Charakter«) - und die sich als diese Ganzheit in seiner Erscheinung, dem Gegenstand des Porträtisten, niederschlägt.

Indem der Charakter, die innerliche Zentralität des Menschen, sich nicht mehr von seinen Schicksalen sondert, werden diese ihrerseits viel tiefer in den Lebensgrund versenkt.

Tizian zeichnet mehr die charakterologische Grundlage des Gesamtlebens, Rembrandt mehr dessen Erfolg-, dazwischen liegen die einzelnen Schicksale selbst, die sich in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit der malerischen Formung entziehen; jener das Zeitlose an der Individualität, das prinzipiell, wenn auch nicht unserer wirklichen Fähigkeit nach, mit Begriffen beschrieben werden kann, wie denn die Kunst der Hochrenaissance, gerade mit Rembrandt verglichen, einen gewissen literarischen Einschlag hat; Rembrandts grössten Porträts aber gegenüber wäre man oft in Verlegenheit, wenn man irgendwie angeben oder auch nur sich innerlich klar werden sollte, welchen »Charakter« eigentlich die dargestellte Person besässe.

Es braucht wohl nicht abgewehrt zu werden, dass er seine Modelle als »charakterlos« zur Anschauung brächte; denn Charakterlosigkeit würde in dem hier fraglichen, ganz allgemeinen Sinne, ein sehr entschiedener Charakter der Person sein.

Es handelt sich nur darum, dass jenes der Lebensbewegtheit entzogene Abstraktum aus ihr, das wir den Charakter nennen, von Rembrandt nicht gesondert oder zentral betont wird.

Mag es richtig sein, dass diese Abstraktion gewissermassen auf den eisernen Fonds der Subjektivität hinweist, auf das Element, das durch alles Gewoge der Gesamtexistenz hindurch seine unveränderliche Wirksamkeit erhält.

Gewaltiger aber erscheint mir die Rembrandtsche Aufgabe, eben diese Gesamtexistenz, das »Schicksal« in der Ungeschiedenheit seiner veränderlichen und unveränderlichen Elemente an der von ihm geformten Erscheinung zu zeigen, die nun nicht nur das Symbol des ewig Gleichen dieser Individualität ist.

Im Verhältnis aber der unermesslichen Vermehrung der Elemente, die auf diese Weise in die Erscheinung wirksam eingegangen sind, steigt die Gewissheit, dass eben die gleichen sich nicht an einem zweiten Punkte des Daseins zusammenfinden werden, steigt ihre Individualität.

IV.

Ist das Fühlbarmachen des unmittelbaren flutenden Lebens einerseits, seine Bindung an die Form der Individualität andererseits, das unverkennbar Eigene der Rembrandtschen Kunst, so zeigt sich der tiefe Zusammenhang beider, der gleichsam die metaphysische Wurzel dieser Kunst bildet, in seiner letzten Periode eigentümlich gelockert.

Das Leben wird jetzt nicht mehr durch die stark individualisierte Bewegtheit einer Seele durchgeleitet, sondern verbreitet sich, über das singuläre So- und So-Sein hinweg, zu einer, alle Grenzbestimmtheiten, auch die psychologisch innerlichen, überflutenden Vibrierung dieses Menschenlebens überhaupt - oder es zieht sich in so dunkle Tiefen zurück, dass die Aussenseite wie starr, unpersönlich oder maskenhaft erscheint.

Vergleicht man den Titus beim Fürsten Jussupoff mit den Staalmeesters, in deren Linie er unzweifelhaft liegt, so sieht man in ihm noch eine Stufe über das hinaus erreicht, was man Individualisierung zu nennen pflegt - eine Stufe, auf der freilich das Besondere der Rembrandtschen Individualisierung vielleicht erst seine Vollendung erreicht; man möchte an Goethes Äusserung denken, dass alles in seiner Art Vollkommene über seine Art hinausgeht.

An den Staalmeesters tritt hervor, was etwa in Rembrandts Gestalten von singulärer Charakteristik enthalten ist, freilich ganz und gar Rembrandt, aber immerhin insoweit noch an das klassische Prinzip anklingend; immerhin kann man von ihnen noch sagen: dieser ist stolz, jener rustikal, der dritte überlegen intelligent usw. - so wenig für Rembrandt solche Typusbegriffe von sich aus als das Primäre die Darstellung des Individuums beherrschen.

Bei dem Titus fällt dies ganz fort, es ist alles strömendes, vibrierendes Leben, ohne einen begrifflich festen, angebbaren Punkt darin.

Jene psychologischen Qualitäten sind noch etwas Inhaltliches, Zeitloses, aus dem Leben Abstrahierbares, sie fallen fort, wo das Leben sich in seiner reinen Nacktheit darstellt - ebenso wie da, wo das Leben überhaupt negiert wird, in der geometrischen, rein formhaften Kunst.

Dabei kann das Leben als solches einen unterschiedlichen Charakter seiner Funktionalität tragen: es kann tragisch, langsam, unruhig verlaufen, was noch etwas anderes ist als die psychologische Bestimmtheit dessen, der dieses Leben trägt.

Die psychologische Singularität ist in weite Ferne gerückt, sie steht an der Peripherie des Lebens, dessen zentrale Verschiedenheiten nur noch die der Rhythmen seines Fliessens und seiner Kräfte sind.

Es ist hier etwas entscheidendes, das zwar in der Begrenztheit der Persönlichkeit verbleibt, aber jede benennbare Qualität gleichsam entweder in die Aussenwerke oder in das namenlose Dunkel der seelischen Substanz zurückschiebt; darf man dieses mit Worten kaum Erfassbare deshalb paradox ausdrücken, so ist es, als wäre das Leben dieser Person, zwar absolut eigenstes und von ihr nicht lösbar, über alles Einzelne, das man über sie aussagen mag, hinausgehoben; als ergösse sich hier ein Lebensstrom, seine Ufer zwar nicht überspülend und als ganzer von unwechselbarer Eigenheit, innerhalb seiner selbst aber keine Welle von singulärer Eigenform hebend.

Gewiss geht auch jedes Bild dieser Reihe immer von dem Individualitätspunkte aus; aber es ist, als ob es, weiterschreitend ohne ihn zu verlieren, in einer Schicht des allgemeinen Lebens dieser Person mündete und über die Spuren ihrer Entwicklung und ihres Schicksals, die hier wie in den anderen Porträts bewahrt sind, noch eine neue Atmosphäre ihres sozusagen absoluten Lebens legte.

Dieses hat freilich nicht die Zeitlosigkeit, die wir der Klassik zusprachen.

Wie in dieser der geistige Prozess, das logisch inhaltliche Bewusstsein seine Ewigkeitsform gefunden hat, so ist hier die Strömung des Gefühles oder Gemütes, ihre Lebendigkeit noch nicht über solche Bewusstseinshöhe leitend, gleichsam in einen See gemündet, der ihre Bewegtheiten in seine Stille hineingenommen hat.

Kann man hier von »Stimmung« der dargebotenen Erscheinung sprechen - da Stimmung doch ein Innerlich-Persönliches, vielleicht jeweils Einziges ist, das doch alle Einzelheit von Vorstellungsinhalten in sich verlöscht hat -, so charakterisieren mehrfigurige Bilder diese späte Entwicklungsstufe noch deutlicher.

Denn nun mischen sich noch jene in sich nicht mehr differenzierten Fühlbarkeiten des Lebens, in denen die Individualisierung noch einmal eine höhere Form gewinnt, ihre frühere Schärfe wie in eine schwebende Luftschicht auflösend.

In der Judenbraut sind die Gestalten wie die Töne eines Akkords, der freilich nicht irgendwie ausserhalb der einzelnen Töne ist; aber sie sind in ihm zu einem Gebilde zusammengegangen, das sich in ihnen als einzelnen nicht pro rata aufzeigen lässt.

Ein zartes, gleichsam stillhaltendes Leben, das ganz in jeder der beiden Gestalten ist, setzt sich dennoch, mit kontinuierlichem Übergang aus ihnen, in eine gemeinsame, sie umgleitende Atmosphäre fort.

Ein höheres Ganzes hat das Für-sich-Sein der Individuen aufgenommen, deren Eigenheit vor ihm zurücksinkt und es doch mit der letzten Allgemeinheit ihres Lebens speist.

Wenn irgendwo der Begriff des »Aufhebens« mit Recht seine beiden, sonst entgegengesetzten Bedeutungen vereinheitlicht, so geschieht es an dem Verhältnis, das in diesen späten Bildern die eigentliche Individualität des Menschen zu dieser aufgelösten und auflösenden, jegliche Lebenshebung und -senkung nivellierenden Sphäre besitzt, dass diese Sphäre über der Individualität ist, ist die Form, mit der sie in ihr ist.

Es wird damit auch die Entwicklung verständlich: dass die Aktualität, die einzelne Situation und Gebärde, in der die früheren Porträts oft das Modell zeigen, allmählich immer mehr zurückzutreten scheint, um dem schlechthin Innerlichen und Übermomentanen Platz zu machen.

Die äusseren Attribute, am Anfang noch mit der Bewegung, dem dargestellten Habitus der Person verbunden, erscheinen immer mehr als ein ideell gleichgültiges Hinzufügsel, das nur in rein malerischen Gründen, manchmal in bloss technischen Interessen sein Recht auf die Stelle im Bilde hat.

Die momentane Bewegung verhallt immer mehr in eine Ruhe, die freilich eine überaktuell-innerliche, sozusagen mit keiner Veränderung mehr verbundene Bewegtheit einschliesst.

Die Staalmeesters zeigen noch eine an den Augenblick geheftete Bewegung der einzelnen Gestalt.

In der Judenbraut aber haben die Gesten des Mannes und der Frau, obgleich sie, äusserlich genommen, nur vorübergehende sind, einen ganz anderen Charakter.

Wie der Mann sich zu der Frau neigt und sie umfasst, wie ihre Hand, zugleich bekräftigend und sänftigend, die seine berührt - das ist nicht eine vorübergehende Bewegung jener reinen Persönlichkeitssphäre, die in einigen der letzten Rembrandtbilder jede Einzelheit in sich aufnimmt und ausgleicht.

Dabei ist es nicht eine typische Geste, die, wie in der Klassik, ein Allgemeines jenseits dieser Persönlichkeiten zeichnete, sie kommt ganz und gar nur dem Individuum zu, bildet sich aber erst in jener Schicht, in der sein Leben, alle an Einzelnes geknüpften Bestimmungen auflösend, wie eine homogene Sphäre der Erscheinung entsteigt.

Hier nun umhüllt dieses Leben zwei verbundene Gestalten und macht seine Höhe selbst über den früheren Formen Rembrandtscher Individualisierung dadurch noch eindringlicher, dass es, logisch unausdrückbar, in ein gemeinsames Leben verschmilzt, ohne seinen Quellpunkt in jeder einzelnen Gestalt zu verlassen.

V.

Die Verwebung der Religiosität mit Lebensinhalten, die an und für sich anderen Ordnungen angehören, gibt einem Richtungsunterschied Raum, dessen Seiten sich in der einzelnen Erscheinung vielleicht nicht mit beweisbarer Sicherheit trennen lassen.

Dennoch wird ihre Auseinanderhaltung die Gestimmtheit von Rembrandts religiöser Kunst verdeutlichen helfen.

Die Frage, wie sich zu dem religiösen Grundbestand die Einzelheiten des empirischen Lebens verhalten und verhalten sollen, wird von der historisch-seelischen Tatsächlichkeit keineswegs eindeutig beantwortet.

Wo eine substantielle Objektivität des Dogmas besteht, da hat die religiöse Durchdringung des täglichen Verhaltens dieses noch immer in starren Formalismus geführt.

Ist die transzendente Bedeutung des Daseins, seine Gesamtweihe, Gefühl und Metaphysik des Universums erst einmal in die Einzelvorstellungen religiöser Dogmatik eingegangen, so klafft zwischen diesen und den Einzelelementen und praktischen Vornahmen des äusseren Lebensverlaufes ein Abgrund, den offenbar kein organisches Zusammenwachsen mehr schliessen, sondern nur eine religiös genannte Normierung dieser Vornahmen äusserlich überbrücken kann.

Ich erinnere an die Lebensweise des Brahminen, des streng rituellen Juden, vieler Mönchsorden.

Indem Speise und Trank, Zulässigkeit oder Unzulässigkeit jedes Verhaltens, die Ausführung jedes Handgriffs von religionswegen vorgeschrieben ist, bildet freilich der ganze Atomenhaufe unserer empirischen Handlungen eine religiöse Kontinuität; allein unverkennbar ist die Zufälligkeit, mit der an die jeweilige Grundüberzeugung vom Göttlichen gerade die so und so beschaffene äussere Lebensgestaltung angekettet ist.

- Soll das spezifisch Religiöse in uns sich mit dem Äusserlich-Praktischen in einem inneren Zusammenhang zeigen, so fliesst zunächst schon in dem letzteren eine Quelle religiöser Entwicklung.

Es gibt nämlich unzählige Beziehungen zwischen Menschen, deren Gefühlsseiten, ohne den empirischen Bezirk dieser Beziehungen zu verlassen, eine nur als religiös zu bezeichnende Färbung haben.

In der Erotik und in der Freundschaft, in Herrschaft und Dienst, in dem Verhältnis des Individuums zum Stamme und Familie, zum Stande und Vaterland, schliesslich zur Menschheit; dann auch in dem zum Schicksal, zum Beruf, zur Pflicht, zu Idealen - allenthalben findet sich hier eine Mischung von Hingebung und Eigenleben, von Demut und Erhebung, von sinnlich warmer Nähe und scheuer Distanzierung, von Vertrauen und Preisgegebenheit, - die nur als religiös bezeichnet werden kann.

Nicht als ob sie religiöse Fundierung oder Sanktion zu zeigen brauchten: sondern jene Gefühlselemente sind nur solche, die die religiöse Schöpfung, Gläubigkeit, Verhaltungsweise seelisch tragen, sobald sie sich nicht mehr an das Substrat jener empirischen Relationen binden, sondern sich ihren eigenen, nun transzendenten Gegenstand schaffen: den Gott oder die Götter.

In der ganzen Breite des empirischen Lebens und als seine immanenten Kräfte entwickeln sich religiöse Gefühle und Impulse, gleichviel ob sie diesen Namen tragen und ob sie sich zu den Sonderbegriff en, Sondergebilden der spezifischen »Religion« steigern und verselbständigen und sich nun von diesen ihre Weihe legitimieren lassen oder nicht.

Die Lebensinhalte und ihre Verbindungen sind hier in einem gar nicht abschätzbaren Umfang die Quellen, die sich zu de, religiösen Strömung vereinigen, diese gleicht einem chemischen Körper, dessen eigene und neue Eigenschaften sich in keinem der Elemente, die ihn zusammensetzen, finden.

Die Verknüpfung zwischen der Religion und den empirischen Einzelheiten des Lebens vollzieht sich hier von diesen her, indem Religion und Religiosität nicht von sich aus da ist, sondern als der Charakter gewisser Binnenereignisse des Lebens sich aus diesem erhebt.

Neben der so laufenden Gerichtetheit jener Verknüpfung steht ihre andere funktionelle Möglichkeit: dass eine im reinen Sinne religiöse Gestimmtheit als Lebensfundament oder als Färbung der Lebensfundamente von vornherein vorhanden ist, eine Dynamik, die nicht erst als mannigfaltigste Gefühlskategorien durch das Leben verbreitet ist und als spezifisch religiöse erst aus diesen zusammenrinnt, sondern die sogleich nur religiös ist und von sich aus das Innere des Lebens und seine Äusserungen durchdringt oder in sich einzieht.

Die Verbindung zwischen dem Religiösen und allem konkreten Tun und Geschehen wird hier von dem ersteren her geschlagen, das religiöse Verhalten und Gebilde entsteht nicht im Weiterwachsen und Sich-Vereinigen von Gefühlen und Impulsen, die das vorreligiöse, an Singularitäten sich vollziehende Dasein entwickelt, sondern nun ist es selber ein Primäres, das eben diese Singularitäten mit Richtung und Stimmung ausstattet.

Innerhalb der Kunst wird der erstere Fall sich nur in Andeutungen aufzeigen lassen.

Es gibt manche Stilleben und Landschaften, die eine Andacht zu dem dargestellten Dasein zeigen, eine Ahnung universeller Zusammenhänge, eine überschwengliche Seligkeit am Dasein, verknüpft mit einer Scheu vor seinen geheimen Tiefen - welches alles nicht aus religiösem Fundament aufzusteigen braucht, sondern entweder unmittelbar mit religiösem Wesen identisch ist oder sich zu ihm hin entwickelt.

Die religiösen Bilder Rembrandts aber offenbaren die andere Richtung, in der das singulär anschauliche Dasein sich dem religiösen verknüpft.

Dieses ist nun nicht Frucht, sondern Wurzel, und dass das Äusserliche, ja Banale der Erscheinungen religiös durchgeistet ist, ist kein ihnen selbst entsteigender Gewinn, sondern die sozusagen unvermeidliche Formung, die ihr apriorischer Wesensgrund, die Frömmigkeit, ihnen erteilt.

Wie sollte nicht aus jeglichen Lebensinhalten, die von einem religiösen Lebensprozess aufgenommen und gestaltet sind, die Religiosität wieder herausleuchten?

Hiermit ist eigentlich ausgesprochen, wo der Berührungspunkt von Rembrandts Porträtkunst und seiner religiösen Kunst liegt.

Dieser Punkt liegt ziemlich tief unter der Oberfläche der beiden Gebiete; denn auf das erste Hinsehen scheinen sie ohne stärkere Beziehung nebeneinander zu stehen.

Nun aber zeigt sich als das Gemeinsame: dass statt der gleichsam substantiellen, zu festen resultathaften Einheiten geronnenen Inhalte des Lebens, der Prozess des Lebens selbst zu Wesen und Absicht der Rembrandtschen Kunst geworden ist.

Im Fall des Porträts betraf es die einzelnen Eigenschaften, Charakterzüge, zeitlich oder zeitlos beharrende Erscheinungen, zu denen der Lebensprozess der Persönlichkeit kristallisierte - und die nun Rembrandts Menschendarstellung wie aufgelöst in den Fluktuationen eben dieses Prozesses zeigte.

Dem entspricht im religiösen Gebiet das Verhältnis der dogmatischen Formulierungen, der fixierten Typen, der transzendenten Gebilde und ihrer Symbole zu dein Prozess der Religiosität, zu dem religiösen Leben.

Dieses mag in jenen seinen Niederschlag, seine Ausdrückbarkeit, seine geschlossene Anschaulichkeit finden, Rembrandt aber fasst es in seinem seelisch früheren Stadium, in dein Status nascendi jener Inhalte - gleichviel ob es, in der historisch-psychologischen Entwicklung, ihrer als Anregungen und Wegweisungen bereits bedarf.

Nicht was der Mensch glaubt, nicht der besondere Inhalt des religiösen Lebens, sondern die Besonderheit des Lebens insoweit es religiös ist, bildet sein Problem.

Im Porträt wie im religiösen Bild ist es das von der Seele getragene Geschehen, als reine Funktionalität, was er - und er allein unter allen Malern in der vollen Eindrucksstärke gerade dieses Momentes - zum Vortrag bringt; nur dass es im Porträt die Individualität des Lebens, in diesen Bildern seine Religiosität ist.

Wie dort die Individualität nicht als zeitlose Qualifiziertheit gefasst ist, sondern als die Eigenform einer Lebensbewegtheit, die von dieser auch ideell nicht abzutrennen ist, so ist das Religiöse hier eine Art, auf die das Leben gelebt wird, in keiner Weise aber in einem Jenseits-seines-Prozesses Darstellbares.

Daraus wird ohne weiteres verständlich, dass die Gestalten dieser religiösen Bilder nicht in derselben Art und Grad individuell wirken wie die Porträts.

Denn das Leben wird hier auf eine andere der ihm immanenten Kategorien hin angesehen wie dort; das Gemeinsame aber ist, dass hier wie dort statt der Inhalte und Ergebnisse des Lebens das ganz Primäre, funktionell Bestimmende des Lebens im Mittelpunkt der künstlerischen Absicht steht.

Damit, dass in Rembrandts religiösen Bildern einfach die Frömmigkeit als ein stetiges Sosein der Menschen, an jeder beliebigen Einzelsituation bewährt, sich darstellt, wird der Religion die spezifische Wärme des Lebens gegeben, die ihr leicht entfliehen kann, wenn die Kunst sich entweder an die verselbständigten Gegenstände dieser Frömmigkeit oder an die besonders betonten Ereignisse und aufgegipfelten Lagen hält, die sich in der gleichsam äusseren Berührung des Lebens mit jenen Gegenständen ergeben.

In dieser letzteren Hinsicht ist es belehrend, sich über die innere Struktur des - ausserhalb der Sixtinischen Kapelle -grossartigsten religiösen Bildes der Klassik klarzuwerden: Lionardos Abendmahl.

Das Unvergleichliche ist hier dies.

Ein gewissermassen äusseres Ereignis - das Wort: Einer unter euch ist, der mich verraten wird - kommt zugleich über eine Anzahl durchaus verschiedenartiger Menschen und der dadurch ausgelöste Affekt bringt gerade eines jeden individuelle, charakterologische Sonderart zu höchster, unverkenntlichster Offenbarung; es ist, als wären, trotz jener Verschiedenheit, die seelisch-körperlichen Elemente in ihnen so angeordnet, dass diese eine Erschütterung, gleichsam widerstandslos durch sie hindurchgehend, gerade ihre Verschiedenheiten an ihre Oberfläche treibt.

Auf Raffaels Karton der Schlüsselverleihung ruft ebenfalls ein Wort die Ausdrucksantwort in jedem der Zwölf hervor.

Allein diese Antwort mündet nicht an der Offenbarung des eigenen letzten Wesens eines jeden, sondern macht an demjenigen Ausdruck halt, der objektiv auf die Situation passt, allenfalls mit etwas verteilten Rollen -während die Situation bei Lionardo nur die Gelegenheitsursache für das Entfalten der Individualität ist.

Der Erfolg ist, dass diese im Cenacolo viel entschiedener und differenzierter hervortritt als in Rembrandts religiösen Bildern.

Aber es ist nur wieder die Aufgipfelung zu diesem Moment oder auch zu statuarischer Zeitlosigkeit, in der diese äusserste, isolierende Charakterisierung der Einzelnen gelingt.

Rembrandt zieht den dargestellten Augenblick vielmehr in das zeitlich fliessende Gesamtleben der Personen hinein, womit freilich jene, durch den Zusammenschlag mit der Situation erreichte Pointierung wegfällt.

Gewonnen aber ist damit ein unvergleichlich gesteigerter religiöser Charakter des Werkes.

Es ist höchst bemerkenswert, dass trotz der Zusammengefasstheit durch das eine Jesuswort, das wie eine kontinuierliche Welle durch all diese Menschen läuft, und trotz des wunderbar vollkommenen Rhythmus der Gesamtkomposition, jene Einheit nicht erreicht ist, wie sie etwa in Rembrandts Emmausbildern oder in den Radierungen der Grablegung und der Predigt Christi besteht.

Die Personen ragen mit der monumental statuenhaften Aufgipfelung ihrer Individualität über die Gesamtheit hinaus, sie sind zunächst etwas für sich und werden erst nachträglich von jener, aus einer Quelle stammenden Erschüttertheit erfasst.

Allein dieses Mass, oder richtiger diese Art von Individualisierung verträgt sich nicht mit der Versenktheit in jene religiöse Stimmung, die sich über eine Gesamtheit ergiesst und den einzelnen zu ihrem Gefäss macht, das sie bis zum Rande erfüllt.

Nicht als ob etwa Religiosität Grösse und Mächtigkeit ihrer Träger an und für sich ablehnte.

Aber wie hier der auf seine Grösse und Mächtigkeit stolze Renaissancemensch (ein Stolz, der nicht im Bewusstsein, sondern unmittelbar im Sein der Person liegt) auftritt, wie er sich in der bedürfnislosen Geschlossenheit seines Soseins gibt - das ist nun einmal etwas neben dem spezifisch Religiösen.

Dieses wohnt viel eher dem bewegten Leben ein, das nicht in stilisierter Selbstigkeit dasteht; das Leben ist, als ein fliessendes, von dieser Schärfe der Umrisse frei, und dass in Rembrandts Bildern Frömmigkeit die Art ist, auf die das Individuum überhaupt lebt - das eben steht in gegenseitiger Bedingtheit mit der Einheit in ihrem Zusammengeführtsein.

Wenn ich bei dem Cenacolo von der Welle sprach, die durch die Existenzen als deren Verbindung hindurchläuft, so sind diese bei Rembrandt ganz in die Welle untergetaucht, ganz aufgelöst in die Gemeinsamkeit eines Lebens; denn schon für sich hat jeder sein jetzt entscheidendes Sein nicht in der zu der klassisch geschlossenen Linie sich hebenden Selbstheit, sondern in der Flutung des Lebensprozesses, die sich widerstandsloser mit der anderen mischt, demütiger, wenn man will, und doch ihrer Religiosität sichrer, weil diese nicht ein Zug einer sonst schon fertigen Persönlichkeit, sondern die Art ihres Lebens selbst ist.


Anmerkung:

1) LOGOS, Bd. V, Heft I. [in: GSG 13, S. 16-52]


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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