Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: L'art pour l'art

ex: Der Tag, Nr. 5, 4. Januar 1914, Ausgabe A, Morgenausgabe, Illustrierter Teil, Nr. 3 (Berlin)

In der kunstwissenschaftlichen Betrachtung der letzten Jahrzehnte ist eine mechanisierende, mathematisierende Tendenz unverkennbar.

Alle Rekonstruktion dessen, was man die »Rechnung« des Künstlers nennt: die genaue Scheidung der »Pläne«, die Schematik der Horizontalen und Vertikalen, der Dreiecke und Vierecke in der Komposition, die Feststellung des Kontrapost, die Theorien vom goldenen Schnitt, von der bildenden Kunst als »Raumgestaltung«, bis zu denen der Komplementärfarben - alles dies zerlegt das Kunstwerk in einzelne Momente und Elemente und strebt dahin, es aus den partiellen Gesetzlichkeiten und Forderungen dieser wieder zusammenzusetzen, zu »erklären«.

Genau angesehen handelt es sich um solche Bestimmungen, die diesen Einzelmomenten des Kunstwerks zukommen, insoweit sie für sich, das heisst ausserhalb des jeweiligen Gesamtzusammenhanges des Kunstwerks, betrachtet werden - genau wie man den Organismus nach den physikalischen und chemischen Formeln konstruieren wollte, denen seine Elemente in Herausgelöstheit aus der Lebensform und -bewegtheit gehorchen.

Zweifellos also befindet sich damit die Kunstwissenschaft in einem Stadium, das der mechanistischen Naturwissenschaft analog ist.

Und wie diese den ungeheuren Fortschritt bedeutete: die Naturbetrachtung aus der mittelalterlichen Metaphysik und Theologie zu befreien, die die Natur von einer ihr ganz abgelegenen Richtung her deduzieren wollten - so war diese mechanistische Kunstbetrachtung die Erlösung aus der literarischen, tendenzhaften, anekdotischen Gerichtetheit, die sonst weithin herrschte.

Wie es aber scheint, als wäre die mechanistische Epoche, mindestens für die Wissenschaft vom Organismus, vorüber und als begönne man diesen aus seiner Ganzheit und Einheit heraus zu betrachten und verstehen zu wollen - so wird wohl auch das Entsprechende in der Kunstwissenschaft eintreten.

Die Feststellung geometrischer Verhältnisse betrifft nur Formen, die aus dem Kunstwerk abstrahiert sind; Eindruck und Bedeutung, die ihnen innerhalb des Kunstwerks, von dessen Zentrum oder Einheit her und in seinem kontinuierlichen, fliessenden Leben gesehen, zukommen, sind von den provinziell abgeschlossenen Bildern und Regeln ihres abgelösten Fürsichseins her gar nicht zu präjudizieren.

Nur was jene Entwicklung der Naturwissenschaft dauernd gewonnen hat: die Autonomie der Naturerklärung, dass die Erscheinungen der Natur auf natürliche Weise begriffen werden müssen - das kann entsprechend auch der Kunst nicht wieder verloren gehen.

Wenn nun aber die Kunst, ihrer Ausübung, ihrem Genossenwerden, ihrem Verständnis nach so auf ihren eigenen Wurzelboden beschränkt, von der eigenen Wesenslinie umschlossen bleibt, so bedeutet das keineswegs ihre definitive Abschnürung von den anderen Mächten und Provinzen des Daseins, von der Totalität des Lebens; sondern nun ist im Gegenteil erst die Basis da, von der aus die Kunst in das Leben sicher eingeordnet und in ihrem Bezogensein auf all das anerkannt werden kann, was sozusagen oberhalb und unterhalb ihrer ist.

Die Kunst als Ganzes und das einzelne Kunstwerk stellen sich in ein typisches Verhältnis ein, das man wohl als ein Urphänomen der geistigen Welt bezeichnen kann: dass ein Glied, Element oder Teil eines einheitlichen Ganzen selbst ein einheitliches, in sich geschlossenes Ganzes ist oder zu sein beansprucht.

In den sozialen Organisationen, deren Arbeitsteilung dem Individuum die Gerundetheit seiner persönlichen Entwicklung versagen will; in kirchlichen Bildungen, für die der Einzelne nur eine Welle des zu Gott aufrauschenden Gesamtlebens ist, während er doch für sich ganz allein ein unmittelbares Verhältnis zum Absoluten begehrt; innerhalb der Seele selbst, wo einzelne Interessen oder Begabungen alle Kräfte des Menschen für sich beanspruchen möchten, während die Totalströmung des Lebens alle Einzelheiten sich unterzuordnen strebt - in alledem lebt die Form, für die der Organismus das Bild ist: ein Ganzes aus Teilen, deren jeder eine gewisse Selbständigkeit der Funktion, ja der Existenz besitzt, so dass einerseits die Einheit des Ganzen sich aus den Funktionen und Wechselwirkungen der Glieder zusammenwebt, andererseits das Leben der Glieder aus dem des Ganzen gespeist und von ihm bestimmt wird.

Für all jene Verhältnisse, die hieran ihre Analogie finden, ergibt sich daraus etwas, was man den Umweg über das Ganze nennen könnte: dass die Vollendung eines Gebildes, so sehr sie nur seine eigene, in sich geschlossene ist, nicht durch eine schlechthin auf dieses Gebilde beschränkte Entwicklung zu gewinnen ist; sondern erst eine bestimmte Steigerung und Intensivierung des Gesamtwesens und seines Wertes, alle die Teile jenseits jenes Sondergebildes einschliessend, strömt in dieses ein und hebt es zu einer Vollkommenheit, zu der die Kräfte innerhalb seiner eigenen Peripherie, sich allein überlassen, es nicht gebracht hätten.

So mag ein Mensch eine ganz spezialisierte Leistung, zu der er sich unter Gleichgültigkeit gegen sein sonstiges Menschentum und Atrophierung seiner sonstigen Interessen und Kräfte erzogen hat, zu einer gewissen Vollkommenheit bringen; allein, wo es sich nicht etwa nur um körperliche Geschicklichkeit handelt, wird er die allerhöchste Vollkommenheit so nicht erreichen, sondern nur dann, wenn der innere Bezirk der speziellen Leistung gleichsam nach allen Seiten hin offene Türen zu dem seelischen Gesamtbezirk hat, aus dem ihm Kräfte, Bewegungen, Bedeutsamkeiten zuströmen und ihn nähren.

Die Vollkommenheit, zu der eine Partialleistung um den Preis der Verkümmerung des ganzen Menschen kommen kann, hat eine sehr bestimmte Grenze, die äusserste Höhe solcher Leistung wird immer nur auf dem Umwege über die Höhe der ganzen sie umschliessenden Existenz erreichbar sein.

Hier formuliert sich das Verhältnis zwischen der Ganzheit des Lebens und seiner Zuspitzung zu einzelnen Werten.

Wer nur ethisch bestrebt ist, aber weder intellektuell noch religiös noch nach der Rhythmik der ganzen Persönlichkeit irgendwie wert- und kraftvoll, der bringt es vielleicht zu einem hohen, aber sicher nicht zum höchsten Grad des Ethischen.

Sehr eingreifend tritt dies an der Intellektualität hervor: Die Leistungen der nur klugen Menschen, so erstaunlich sie sein mögen, bleiben doch auch als intellektuelle oft hinter denen zurück, die aus einer breiter angelegten Persönlichkeit kommen, auch wenn deren intellektuelle Fähigkeit, für sich betrachtet, hinter jenen zurücksteht.

Wer nur klug ist, ist nicht einmal vollkommen klug.

Auf dem Gebiet der Kunst scheint es zunächst erweislich, dass - wo nicht etwa reine Reproduktion und reiner Mechanismus in Frage steht - auch die bloss technische Seite der Leistung nicht bei den blossen, wenn auch noch so vollkommenen Technikern der Kunst ihre letzte Höhe gewinnt, sondern erst da, wo jene von andersartigen, weiter ausladenden Fähigkeiten umgriffen ist: wo die Technik Hauptsache und Endziel ist, da ist, selbst bei der grössten Begabung für sie, nicht einmal sie vollkommen.

Die geschichtlichen Tatsachen bestätigen die Formel noch viel prinzipieller: Die grossen Künstler sind sozusagen immer noch mehr als grosse Künstler gewesen; selbst wo ihre ganze Lebensenergie so absolut auf die Kunstübung konzentriert ist und in ihr so aufgeht, dass der übrige Mensch, wenigstens für unseren Blick, dahinter unsichtbar wird, wie es bei Rembrandt der Fall ist, spüren wir dennoch eine ungeheure Schwingungsweite und Intensität des Gesamtlebens; so sehr dieses sich nur in der Form der bestimmten Kunst äussert, so fühlen wir es doch in eben jener Weite und Bewegtheit als von dieser Äusserungsform gewissermassen unabhängig und als wäre es eigentlich zufällig, dass es gerade an diesem Talent seinen Kanal gefunden hat.

Jene für alle lebendige Geisteswelt typische Grundform, dass das Teilgebilde eines Gesamtgebildes selber ein Ganzes wird und die Selbstgenügsamkeit seiner Existenz mit seiner Gliedstellung innerhalb des Ganzen in ein höchst variables Verhältnis tritt - sie findet hier eine sehr harmonische Lösung, indem die ganz selbständige Bedeutung des künstlerischen Leistens ihre sachliche Vollendung gerade daran bindet, dass sie von einem mehr als künstlerischen Ganzen der Persönlichkeit umgriffen ist.

Wenn man vielfach in den grossen Künstlern irgendein anderswo nicht findbares Mass menschlicher Perfektion zu erblicken meinte, so ist wohl die dafür entscheidende Formel: die Seite, Teil, Funktion der Persönlichkeit, die, um ein sachliches Zentrum bewegt, von einer eigenen Peripherie umschlossen wird, braucht ihre Selbständigkeit hier nicht in Konkurrenz mit dem Gesamtleben, dessen sie ein Teil ist, zu wahren, und die Einheit dieses Lebens leidet nicht unter der Einheit jener für sich seienden, dem eigenen Gesetz gehorsamen Betätigung.

Mag solche Störung auf niederer Stufe des Künstlertums eintreten, mögen auch die höchsten nicht immer von ihr verschont sein - in den reinsten und sozusagen prinzipiellsten Fällen scheint die Vollkommenheit des Künstlers rein als Künstler daran gebunden, dass er mehr als Künstler ist, dass gerade die individuelle Stärke dieser zu völlig verselbständigten Werken sich erhebenden Wesensäusserung aus ihrer gliedmässigen Verbundenheit mit dem Mikrokosmos der ganzen Persönlichkeit genährt wird.

Solche Bedeutung der Kunst und des einzelnen Kunstwerks: ein Ganzes und zugleich Element eines übergreifenden Ganzen, Wellenhöhe eines Gesamtlebens zu sein, ist auch für den Beschauer, den Geniessenden wirksam.

Das Erlösende in der Hingabe an ein Kunstwerk liegt darin, dass sie einem in sich ganz Geschlossenen, der Welt Unbedürftigen, auch dem Geniessenden gegenüber Souveränen und Selbstgenügsamen gilt.

Das Kunstwerk nimmt uns in einen Bezirk hinein, dessen Rahmen alle umgebende Weltwirklichkeit, und damit uns selbst, insoweit wir deren Teil sind, von sich ausschliesst.

In diese, um uns und alle Verflechtungen der Realität unbekümmerte Welt eintretend, sind wir gleichsam von uns selbst und unserem, in diesen Verflechtungen ablaufenden Leben befreit.

Zugleich aber ist das Erlebnis des Kunstwerks doch in unser Leben eingestellt und von ihm umfasst; das Ausserhalb unseres Lebens, zu dem uns das Kunstwerk erlöst, ist doch eine Form dieses Lebens selbst, das Genossenwerden dieses vom Leben Befreiten und Befreienden ist doch ein Stück Leben selbst, das mit seinem Vorher und Nachher zu dessen Ganzheit kontinuierlich verschmilzt.

So paradox oder widerspruchsvoll auch in ihrem logischen Ausdruck die Doppelstellung des Kunstwerks sei: tatsächlich ist es das gänzlich Insichgeschlossene, vom Leben eximierte Gebilde und zugleich gebettet in den vollen Strom des Lebens, ihn von Seiten des Schöpfers her in sich aufnehmend, nach der Seite des Geniessenden ihn von sich entlassend.

Dies gleichzeitige Gelöstsein und Umfasstsein, Ausserhalbstehen und Innerhalbstehen, ein einheitliches Ganzes und der Pulsschlag eines viel weiter sich spannenden Ganzen - dies ist vielleicht ein in sich ganz einheitliches Verhalten, das wir nur gleichsam nachträglich, mit unseren Kategorien von Auffassung und Beziehung an die Kunst herantretend, in jene Zweiheit spalten.

An der scheinbaren Unvereinbarkeit solcher Bestimmungen erwiese sich das Kunstwerk nur als eines jener Gebilde, die wir zwar, wenn sie einmal da sind, in eine Mehrheit von Elementen zerlegen können, aber sie aus diesen nicht wieder zusammensetzen; denn ausserhalb ihrer ursprünglichen Einheit und zu Selbständigkeiten geworden, sind diese Elemente etwas ganz anderes als innerhalb ihrer ursprünglichen Ungetrenntheit, -gerade wie eben die chemischen Stoffe, die man aus einem lebendigen Körper herausanalysiert, in der Retorte etwas ganz anderes sind als in dem lebendigen Zusammenhänge des Organismus, und sich deshalb dem Versuche, diesen wieder aus ihnen zusammenzubauen, gänzlich versagen.

An jenem Widerspruch aber blieb die Theorie des L'art pour l'art hängen, die ich hier nicht in ihrem historisch ursprünglichen Sinne, sondern in jenem weiteren nehme, mit dem sie von jeglicher Bedeutung für Wesen und Wert des Kunstwerks alles das grundsätzlich ausschloss, was nicht selbst ganz und gar innerhalb der Kunstsphäre liegt.

Dass dieser Ausschluss geschah, war von unersetzlichem und unverlierbarem Wert.

Es übte für die Kunst überhaupt dieselbe reinigende Wirkung, die ich am Anfang dieser Zeilen den »rechnerischen« Bemühungen in der Deutung der Malerei zuschrieb.

Es löste die trüben Verschmelzungen der Kunst mit literarischen und ethischen, religiösen und sensuellen Werten.

Dies im vollsten Mass anerkennend und bewahrend, dürfen wir nun doch aussprechen, dass die L'art-pour-l'art-Theorie in einen gewissen Rationalismus (ihrem französischen Ursprung entsprechend) gebannt ist; sie kommt nicht über jenen Gegensatz zwischen dem Ganzen und dem Teil, der selbst Ganzheitsrecht hat, fort - über die Schwierigkeit, die logisch vielleicht unüberwindlich, vom Leben aber fortwährend überwunden ist.

Es ist ein ästhetischer Rigorismus, der genau dem ethischen Rigorismus Kants entspricht.

Denn dieser entriss den sittlichen Wert dem Gesamtzusammenhange des Lebens und stellte ihn freilich auf eine reine Höhe, in der er allen Legierungen mit unechten Triebfedern enthoben und in seiner ganzen erhabenen Strenge sichtbar wurde.

Aber diese nun unverlierbare Strenge des Moralbegriffs wurde zur Starrheit, weil Kant den Rückweg in das Leben nicht fand, nicht sehen wollte, dass eine Tat innerhalb der fliessenden Einheit der Lebenstotalität noch eine andere Wertbedeutung hat, als in der Abschnürung und Isolierung durch die rein moralische Betrachtung.

Wie Kunst mehr ist als Kunst, so ist auch Moral mehr als Moral, insofern sie von dem Ideal der Gesamtvollendung des Menschen umgriffen wird.

Dies gehört zu der jetzt allenthalben durchbrechenden Erkenntnis, dass, innerhalb des ganzen Zusammenhanges des organischen Lebens wie der Welt überhaupt, die Elemente ein anderes Wesen, eine andere Bedeutung haben, als in ihrer Herausgetrenntheit durch die mechanistische, atomisierende Betrachtung; und dass ihre Bilder, auf dem letzteren Wege gewonnen, erst von dem umflutenden Gesamtstrom genährt werden müssen, gleichzeitig in ihn aufgehend und ihn in sich aufnehmend, um selbst in ihrem eigensten und reinsten Wesen ganz begriffen zu werden.

Der neue Begriff vom Verhältnis des Lebens zu seinen Elementen und Inhalten wird uns lehren, was dem Rationalismus nicht gelang: die ganze Sauberkeit und Geschlossenheit des rein artistischen Standpunktes, die Befreiung der Kunst von allem, was ihr Wesen als Kunst verfälscht, zu bewahren - und sie mit alledem als Welle in dem Lebensstrom zu begreifen, der seine Ganzheit als historischer und als religiöser, als seelischer und als metaphysischer entwickelt.

Von diesem Ganzen getragen und es tragend, bleibt die Kunst jene Welt für sich, wie das L'art pour l'art sie verkündet, obgleich und weil sich als dessen tiefere Deutung la vie pour l'art und l'art pour la vie offenbart.


 

Editorial:

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