Georg Simmel:
Philosophie der Landschaft
ex: Die Güldenkammer.
Eine bremische Monatsschrift, herausgegeben von Sophie Dorothea Gallwitz,
Gustav Friedrich Hartlaub und Hermann Smidt, 3. Jg., 1913, Heft II,
S.635-644 (Bremen)
Unzählige Male gehen wir durch die
freie Natur und nehmen, mit den verschiedensten Graden der Aufmerksamkeit,
Bäume und Gewässer wahr, Wiesen und Getreidefelder, Hügel und Häuser
und allen tausendfältigen Wechsel des Lichtes und Gewölkes - aber darum,
dass wir auf dies einzelne achten oder auch dies und jenes
zusammenschauen, sind wir uns noch nicht bewusst, eine »Landschaft« zu
sehen.
Vielmehr gerade solch einzelner Inhalt
des Blickfeldes darf unsern Sinn nicht mehr fesseln.
Unser Bewusstsein muss ein neues Ganzes,
Einheitliches haben, über die Elemente hinweg, an ihre Sonderbedeutungen
nicht gebunden und aus ihnen nicht mechanisch zusammengesetzt - das erst
ist die Landschaft.
Täusche ich mich nicht, so hat man sich
selten klar gemacht, dass Landschaft noch nicht damit gegeben ist, dass
allerhand Dinge nebeneinander auf einem Stück Erdboden ausgebreitet sind
und unmittelbar angeschaut werden.
Den eigentümlichen geistigen Prozess,
der aus alledem erst die Landschaft erzeugt, versuche ich von einigen
seiner Voraussetzungen und Formen her zu deuten.
Zunächst: dass die Sichtbarkeiten auf
einem Fleck Erde »Natur« sind -, allenfalls mit Menschenwerken, die sich
ihr aber einordnen -und nicht Straßenzüge mit Warenhäusern und
Automobilen, das macht diesen Fleck noch nicht zu einer Landschaft.
Unter Natur verstehen wir den endlosen
Zusammenhang der Dinge, das ununterbrochene Gebären und Vernichten von
Formen, die flutende Einheit des Geschehens, die sich in der Kontinuität
der zeitlichen und räumlichen Existenz ausdrückt.
Bezeichnen wir ein Wirkliches als Natur,
so meinen wir entweder eine innere Qualität, seinen Unterschied gegen
Kunst und Künstliches, gegen Ideelles und Geschichtliches; oder dass es
als Vertreter und Symbol jenes Gesamtseins gelten soll, dass wir dessen
Strömung in ihm rauschen hören.
»Ein Stück Natur« ist eigentlich ein
innerer Widerspruch; die Natur hat keine Stücke, sie ist die Einheit
eines Ganzen, und in dem Augenblick, wo irgend etwas aus ihr herausgestückt
wird, ist es nicht mehr ganz und gar Natur, weil es eben nur innerhalb
jener grenzstrichlosen Einheit, nur als Welle jenes Gesamtstromes »Natur«
sein kann.
Für die Landschaft aber ist gerade die
Abgrenzung, das Befasstsein in einem momentanen oder dauernden
Gesichtskreis durchaus wesentlich; ihre materielle Basis oder ihre
einzelnen Stücke mögen schlechthin als Natur gelten - als »Landschaft«
vorgestellt, fordert sie ein vielleicht optisches, vielleicht ästhetisches,
vielleicht stimmungsmäßiges Für-sich-Sein, eine singuläre,
charakterisierende Enthobenheit aus jener unzerteilbaren Einheit der
Natur, in der jedes Stück nur ein Durchgangspunkt für die Allkräfte des
Daseins sein kann.
Ein Stück Boden mit dem, was darauf
ist, als Landschaft ansehen, heißt einen Ausschnitt aus der Natur nun
seinerseits als Einheit betrachten - was sich dem Begriff der Natur ganz
entfremdet.
Dies scheint mir die geistige Tat zu
sein, mit der der Mensch einen Erscheinungskreis in die Kategorie »Landschaft«
hineinformt: eine in sich geschlossene Anschauung als selbstgenugsame
Einheit empfunden, dennoch verflochten in ein unendlich weiter
Erstrecktes, weiter Flutendes, eingefasst in Grenzen, die für das
darunter, in anderer Schicht wohnende Gefühl des göttlich Einen, des
Naturganzen, nicht bestehen.
Fortwährend werden von diesem die
selbstgesetzten Schranken der jeweiligen Landschaft umspielt und gelöst,
wird sie, die losgerissene, verselbständigte, von dem dunkeln Wissen um
diesen unendlichen Zusammenhang durchgeistet, - wie das Werk eines
Menschen als ein objektives, selbstverantwortliches Gebilde dasteht und
dennoch in einer schwer ausdrückbaren Verflochtenheit mit der ganzen
Seele, mit der ganzen Lebendigkeit seines Schöpfers verbleibt, von ihr
getragen und noch immer fühlbar durchflutet.
Die Natur, die in ihrem tiefen Sein und
Sinn nichts von Individualität weiß, wird durch den teilenden und das
Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen
Individualität »Landschaft« umgebaut.
Man hat oft festgestellt, dass das
eigentliche »Naturgefühl« sich erst in der Neuzeit entwickelt habe und
hat dies von deren Lyrismus, Romantik usw. hergeleitet; wie ich glaube,
einigermaßen oberflächlich.
Die Religionen primitiverer Zeiten
scheinen mir gerade ein besonders tiefes Gefühl für »Natur« zu
offenbaren.
Nur die Empfindung für das besondere
Gebilde »Landschaft« ist spät gewachsen, und zwar gerade, weil dessen
Schöpfung ein Losreißen von jenem einheitlichen Fühlen der Allnatur
forderte.
Die Individualisierung der inneren und
äußeren Daseinsformen, die Auflösung der ursprünglichen Gebundenheiten
und Verbundenheiten zu differenzierten Eigenbeständen - diese große
Formel der nachmittelalterlichen Welt hat uns auch aus der Natur erst die
Landschaft heraussehen lassen.
Kein Wunder, dass die Antike und das
Mittelalter kein Gefühl für die Landschaft hatten; das Objekt selbst
bestand eben noch nicht in jener seelischen Entschiedenheit und selbständigen
Umformtheit, deren endlichen Gewinn dann die Entstehung der
Landschaftsmalerei bestätigte und sozusagen kapitalisierte.
Dass der Teil eines Ganzen zu einem
selbständigen Ganzen wird, jenem entwachsend und ein Eigenrecht ihm gegenüber
beanspruchend - das ist vielleicht die fundamentale Tragödie des Geistes
überhaupt, die in der Neuzeit zu vollem Auswirken gelangt ist und die Führung
des Kulturprozesses an sich gerissen hat.
Aus der Vielfachheit der Beziehungen, in
die sich die Menschen, die Gruppen, die Gebilde verflechten, starrt uns
allenthalben der Dualismus entgegen, dass das Einzelne ein Ganzes zu sein
begehrt und dass seine Zugehörigkeit zu größeren Ganzen ihm nur die
Rolle des Gliedes einräumen will.
Wir wissen unser Zentrum zugleich außer
uns und in uns, denn wir selbst und unser Werk sind bloße Elemente von
Ganzheiten, die uns als arbeitsteilige Einseitigkeiten fordern -und dabei
wollen wir dennoch selber ein Abgerundetes und Auf-sich-selbst-Stehendes
sein und ein solches schaffen.
Während sich hieraus unzählige Kämpfe
und Zerrissenheiten im Sozialen und im Technischen, im Geistigen und im
Sittlichen ergeben, schafft die gleiche Form der Natur gegenüber den versöhnten
Reichtum der Landschaft, die ein Individuelles, Geschlossenes,
In-sich-Befriedigtes ist, und dabei widerspruchslos dem Ganzen der Natur
und seiner Einheit verhaftet bleibt.
Zu leugnen aber ist nicht, dass »Landschaft«
nur entsteht, indem das in der Anschauung und im Gefühl pulsierende Leben
sich von der Einheitlichkeit der Natur überhaupt losreißt und das damit
geschaffene, in eine ganz neue Schicht transponierte Sondergebilde sich
sozusagen erst von sich aus jenem All-Leben wieder öffnet, in seine
undurchbrochenen Grenzen das Unbegrenzte aufnehmend.
Welches Gesetz aber, so müssen wir
weiter fragen, bestimmt diese Auswahl und diese Zusammensetzung? Denn was
wir etwa mit einem Blick oder innerhalb unseres momentanen Horizontes überschauen,
ist noch nicht Landschaft, sondern höchstens der Stoff zu ihr - wie eine
Menge nebeneinandergestellter Bücher noch nicht »eine Bibliothek« sind,
dies vielmehr, ohne dass eines dazu oder davon käme, erst werden, wenn
ein gewisser vereinheitlichender Begriff sie formend umfasst.
Nur dass die unbewusst wirksame Formel,
die die Landschaft als solche erzeugt, nicht eben so einfach aufzuweisen
ist, ja vielleicht in prinzipieller Weise überhaupt nicht.
Das Material der Landschaft, wie die bloße
Natur es liefert, ist so unendlich mannigfaltig und von Fall zu Fall
wechselnd, dass auch die Gesichtspunkte und Formen, die diese Elemente zu
je einer Eindruckseinheit zusammenschließen, sehr variable sein werden.
Der Weg, um hier wenigstens Annäherungswerte
zu erreichen, scheint mir über die Landschaft als malerisches Kunstwerk
zu führen.
Denn das Verständnis unseres ganzen
Problems hängt an dem Motiv: das Kunstwerk Landschaft entsteht als die
steigernde Fortsetzung und Reinigung des Prozesses, in dem uns allen aus
dem bloßen Eindruck einzelner Naturdinge die Landschaft - im Sinne des
gewöhnlichen Sprachgebrauchs - erwächst.
Eben das, was der Künstler tut: dass er
aus der chaotischen Strömung und Endlosigkeit der unmittelbar gegebenen
Welt ein Stück herausgrenzt, es als eine Einheit fasst und formt, die nun
ihren Sinn in sich selbst findet und die weltverbindenden Fäden
abgeschnitten und in den eigenen Mittelpunkt zurückgeknüpft hat - eben
dies tun wir in niederem, weniger prinzipiellem Maße, in
fragmentarischer, grenzunsichrerer Art, sobald wir statt einer Wiese und
eines Hauses und eines Baches und eines Wolkenzuges nun eine »Landschaft«
schauen.
Eine der tiefsten Bestimmungen alles
geistigen und produktiven Lebens wird hier offenbar.
Alles, was wir Kultur nennen, enthält
eine Reihe eigengesetzlicher Gebilde, die sich in selbstgenugsamer
Reinheit jenseits des täglichen, vielverflochtenen, in Praxis und
Subjektivität verlaufenden Lebens gestellt haben; ich nenne die
Wissenschaft, die Religion, die Kunst.
Gewiss können diese verlangen, nach
ihren für sich bestehenden, von allen Getrübtheiten des zufälligen
Lebens gelösten Ideen und Normen gepflegt und begriffen zu werden.
Dennoch läuft noch ein anderer Weg zu
ihrem Verständnis, oder richtiger, ein Weg zu einem noch anderen Verständnis
ihrer.
Das empirische, sozusagen unprinzipielle
Leben enthält nämlich fortwährend Ansätze und Elemente jener Gebilde,
die sich aus ihm zu ihrer sich selbst gehörigen, nur um die eigene Idee
kristallisierenden Entwicklung aufringen.
Nicht so, als bestünden all diese Schöpfungskomplexe
des Geistes und unser, unter irgend welchen Trieben und Zielen ablaufendes
Leben bemächtigte sich gewisser Abschnitte jener und fügte sie sich ein.
Nicht dieses, natürlich dauernd
Geschehende, ist hier gemeint, sondern das umgekehrt Gerichtete.
Das Leben erzeugt in seinem
kontinuierlichen Ablauf etwa Gefühle und Verhaltungsweisen, die man
religiös nennen muss, obgleich sie keineswegs unter dem Begriff der
Religion erlebt werden oder unter ihn gehören: Liebe und Natureindrücke,
ideale Aufschwünge und Hingebung an die weiteren und engeren
Gemeinschaften der Menschheit haben oft genug diese Färbung, die aber
nicht von der selbständig fertigen »Religion« auf sie überstrahlt.
Sondern Religion ihrerseits entsteht,
indem dies eigenartige, mit all solchen Erlebnissen mitgewachsene, die Art
ihres Erlebtwerdens mitbestimmende Element sich zu Eigenbestand erhebt,
ihren Inhalt hinter sich lässt, sich selbstschöpferisch zu den reinen
Gebilden verdichtet, die seine Ausdrücke sind: zu den Gottheiten - ganz
unabhängig davon, welche Wahrheit und Bedeutung nun dies Gebilde in
seinem Selbstleben und getrennt von all jenen Vorformen besitze.
Die Religiosität, in deren Tonart wir
unzählige Gefühle und Schicksale erleben, kommt nicht - oder sozusagen
erst nachträglich - von der Religion als einem transzendenten
Sondergebiet, sondern umgekehrt, die Religion wächst aus jener Religiosität,
insofern diese nun aus sich selbst Inhalte schafft, statt nur die vom
Leben gegebenen, in das Leben weiter verflochtenen, zu formen oder zu färben.
Mit der Wissenschaft ist es nicht
anders.
Ihre Methoden und Normen in all ihrer
unberührten Höhe und Selbstherrlichkeit sind doch die verselbständigten,
zur Alleinherrschaft gelangten Formen des alltäglichen Erkennens.
Diese freilich sind bloße Mittel der
Praxis, dienende und irgendwie zufällige Elemente, mit soundsoviel
anderen zu der empirischen Lebenstotalität verschlungen; in der
Wissenschaft aber ist das Erkennen Selbstzweck geworden, ein nach eigener
Legislatur verwaltetes Reich des Geistes - mit dieser ungeheuren Verlegung
des Zentrums und Sinnes doch nur die Reinheit und Prinzipwerdung jenes,
durch das Leben und die Welt des Alltags verstreuten Wissens.
Statt der aufklärerischen Banalität,
die die idealen Wertprovinzen aus den Niedrigkeiten des Lebens
zusammenleimen will, die Religion aus Furcht und Hoffnung und
Unwissenheit, die Erkenntnis aus den sinnlichen und nur dem Sinnlichen
dienenden Zufälligkeiten - gilt es vielmehr einzusehen, dass zu den
lebenbestimmenden Energien jene idealen von vornherein gehören; und nur
indem sie, statt fremdem Stoff sich anzuschmiegen, zu Gesetzgebern eigener
Reiche, Schöpfern eigener Inhalte werden, wachsen unsere Wertbezirke um
die Reinheit je einer Idee auf.
Und dies ist ebenso die Wesensformel der
Kunst.
Völlig töricht, sie aus dem
Nachahmungstrieb, dem Spieltrieb oder anderen psychologischen Fremdquellen
abzuleiten, die sich freilich ihrem echten Quell vermischen und ihre Äußerung
mitbestimmen mögen: Kunst als Kunst aber kann nur aus künstlerischer
Dynamik kommen.
Nicht als ob sie mit dem fertigen
Kunstwerk anfinge.
Sie kommt aus dem Leben - aber nur weil
und insofern das Leben, wie es täglich und überall gelebt wird, jene
Formungskräfte enthält, deren reine, selbständig gewordene, für sich
ihr Objekt bestimmende Auswirkung dann Kunst heißt.
Gewiss wirkt kein Begriff von »Kunst«
mit, wenn der Mensch alltäglich redet oder sich in Gesten ausdrückt oder
wenn seine Anschauung ihre Elemente nach Sinn und Einheit formt.
Aber es wirken in alledem
Gestaltungsarten, die wir gleichsam nachträglich künstlerische nennen müssen;
denn wenn sie in Eigengesetzlichkeit und gelöst von der dienenden
Verwebung in das Leben ein Objekt für sich formen, das nur ihr Produkt
ist, so ist dies eben ein »Kunstwerk«.
Auf diesem weiten Wege erst rechtfertigt
sich unsere Deutung der Landschaft aus den letzten Formungsgründen
unseres Weltbildes heraus.
Wo wir wirklich Landschaft und nicht
mehr eine Summe einzelner Naturgegenstände sehen, haben wir ein Kunstwerk
in statu nascendi.
Wenn man so auffallend oft gerade
landschaftlichen Eindrücken gegenüber von Laien die Äußerung hört:
man wünsche ein Maler zu sein, um dieses Bild festzuhalten, so bedeutet
dies sicher nicht nur den Wunsch nach fixierter Reminiszenz, der gegenüber
vielen anderen Eindrücken anderer Art ebenso wahrscheinlich wäre,
sondern mit jenem Anschauen selbst ist die künstlerische Form, wie
embryonal auch immer, in uns lebend, wirksam geworden, und, unfähig zu
eigenem Schöpfertum zu gelangen, schwingt sie wenigstens in den Wunsch,
in die innerliche Vorwegnahme eines solchen.
Dass das künstlerisch bildende Vermögen
eines jeden gerade an der Landschaft zu höherer Verwirklichung gelangt,
als etwa an der Anschauung menschlicher Individuen, hat mancherlei Gründe.
Zunächst steht uns die Landschaft in
einer Distanz der Objektivität gegenüber, die dem künstlerischen
Verhalten zugute kommt und die für die Anschauung des anderen Menschen
nicht leicht und nicht unmittelbar zu erreichen ist.
Hier hindern uns an ihr die subjektiven
Ablenkungen durch Sympathie und Antipathie, die praktischen
Verflochtenheiten und vor allem jene noch wenig betrachteten Vorgefühle:
was dieser Mensch uns wohl bedeuten würde, wenn er ein Faktor unseres
Lebens wäre - offenbar sehr dunkle und komplexe Gefühle, die mir aber
unsere ganze Betrachtung auch des fremdesten Individuums mit zu
entscheiden scheinen.
Zu dieser Schwierigkeit ruhiger
Distanznahme zu dem Menschenbilde, verglichen mit dem Landschaftsbilde,
kommt das, was man den Widerstand des ersteren gegen die künstlerische
Formung nennen muss.
Landschaftselemente kann unser Blick
bald in dieser, bald in jener Gruppierung zusammenfassen, die Akzente
unter ihnen vielfach verschieben, Zentrum und Grenzen variieren lassen.
Das Menschengebilde aber bestimmt dies
alles von sich aus, es hat durch seine eigenen Kräfte die Synthese um das
eigene Zentrum vollzogen und grenzt sich damit selbst unzweideutig ab.
Es nähert sich deshalb schon in seiner
natürlichen Konfiguration irgendwie dem Kunstwerk, und dies mag die
Ursache sein, weshalb für den minder geübten Blick die Photographie
einer Person immerhin noch eher mit der ihres Porträts verwechselt werden
mag, als eine Landschaftsphotographie mit der Reproduktion eines
Landschaftsgemäldes.
Die Neuformung der menschlichen
Erscheinung im Kunstwerk ist ja nicht diskutabel; allein sie erfolgt
sozusagen unmittelbar von der Gegebenheit dieser Erscheinung her, während
vor dem Landschaftsgemälde noch eine Zwischenstufe steht: die Formung der
Naturelemente zu der »Landschaft« im gewöhnlichen Sinne, zu der schon künstlerische
Kategorien mitwirken mussten, die insoweit also auf dem Wege zum Kunstwerk
liegt, seine Vorform darstellt.
Die Normen ihres Zustandekommens können
darum vom Kunstwerk her begriffen werden, welches dieser Normen reine,
autonom gewordene Auswirkung ist.
Viel mehr als dies Prinzipielle
festzustellen, wird freilich der augenblickliche Stand unserer Ästhetik
kaum erlauben.
Denn die Regeln, die die
Landschaftsmalerei für Wahl des Objekts und des Augenpunktes, für
Beleuchtung und Raumillusion, für Komposition und Farbenharmonie
ausgebildet hat, wären zwar ohne weiteres angebbar, aber sie betreffen
gleichsam diejenige Strecke der Entwicklung vom ersten singulären
Dingeindruck zum Landschaftsbilde, die oberhalb des Stadiums der
allgemeinen Landschaftsanschauung liegt.
Was bis zu diesem hinführt, ist von
jenen Regeln aufgenommen und unbefangen vorausgesetzt und ist deshalb,
obgleich es in der gleichen Richtung künstlerischer Gestaltung liegt, aus
ihnen, die das im engeren Sinne Künstlerische normieren, nicht abzulesen.
Einer dieser Formungsgründe freilich drängt
die Tiefe seiner Problematik ganz unüberhörbar auf.
Landschaft, sagen wir, entsteht, indem
ein auf dem Erdboden ausgebreitetes Nebeneinander natürlicher
Erscheinungen zu einer besonderen Art von Einheit zusammengefasst wird,
einer anderen als zu der der kausal denkende Gelehrte, der religiös
empfindende Naturanbeter, der teleologisch gerichtete Ackerbauer oder
Stratege eben dieses Blickfeld umgreift.
Der erheblichste Träger dieser Einheit
ist wohl das, was man die »Stimmung« der Landschaft nennt.
Denn wie wir unter Stimmung eines
Menschen das Einheitliche verstehen, das dauernd oder für jetzt die
Gesamtheit seiner seelischen Einzelinhalte färbt, nicht selbst etwas
Einzelnes, oft auch nicht an einem Einzelnen angebbar haftend, und doch
das Allgemeine, worin all dies Einzelne jetzt sich trifft - so durchdringt
die Stimmung der Landschaft alle ihre einzelnen Elemente, oft ohne dass
man ein einzelnes für sie haftbar machen könnte; in einer schwer
bezeichenbaren Weise hat ein jedes an ihr teil - aber sie besteht weder außerhalb
dieser Beiträge, noch ist sie aus ihnen zusammengesetzt.
Diese eigentümliche Schwierigkeit, die
Stimmung einer Landschaft zu lokalisieren, setzt sich in eine tiefere
Schicht mit der Frage fort: inwieweit die Stimmung der Landschaft in ihr
selbst, objektiv, begründet sei, da sie doch ein seelischer Zustand sei
und deshalb nur in dem Gefühlsreflex des Beschauers, nicht aber in den
bewusstlos äußeren Dingen wohnen könne? Und diese Probleme kreuzen sich
in dem, das uns hier eigentlich angeht: wenn die Stimmung ein wesentliches
oder vielleicht das wesentliche Moment ist, das die Teilstücke zu der
Landschaft als einer empfundenen Einheit zusammenbringt - wie kann das
sein, da doch die Landschaft gerade erst, wenn sie als Einheit erschaut
ist, und nicht vorher, in der bloßen Summe disparater Stücke, eine »Stimmung«
besitzt?
Dies sind nicht künstliche
Schwierigkeiten, sondern sie sind, wie unzählige gleicher Art,
unvermeidlich, sobald das einfache, in sich ungeschiedene Erlebnis vom
Denken in Elemente zerlegt wird und nun durch die Beziehungen und
Zusammenfügungen dieser Elemente begriffen werden soll.
Aber vielleicht hilft uns gerade diese
Einsicht weiter.
Sollte nicht wirklich die Stimmung der
Landschaft und die anschauliche Einheit der Landschaft eines und dasselbe
sein, nur von zwei Seiten betrachtet? Beides das eine, nur doppelt ausdrückbare
Mittel, durch das die betrachtende Seele aus jenem Nebeneinander von Stücken
eben Landschaft, diese jeweils bestimmte Landschaft zustande bringt? Dies
Verhalten wäre nicht ganz ohne Analogien.
Wenn wir einen Menschen lieben, scheinen
wir freilich zuerst sein irgendwie geschlossenes Bild zu haben, auf das
dann das Gefühl sich richtet.
In Wirklichkeit aber ist der zunächst
objektiv Angeschaute ein ganz anderer als der, den wir lieben; das Bild
dieses entsteht erst zugleich mit der Liebe, gerade der genau Hinfühlende
wüsste nicht zu sagen, ob das sich umgestaltende Bild die Liebe
hervorgerufen oder diese die Umgestaltung bewirkt habe.
Nicht anders, wenn wir die Empfindung
innerhalb eines lyrischen Gedichts in uns nachgestalten.
Wäre nicht in den Worten, die wir
aufnehmen, diese Empfindung für uns unmittelbar gegenwärtig, so würden
sie für uns kein Gedicht, sondern eine bloße Mitteilung darstellen -
andererseits, würden wir sie innerlich nicht als Gedicht empfangen, so könnten
wir jene Empfindung nicht in uns rege machen.
All solchem gegenüber ist ersichtlich
die Frage falsch gestellt: ob unsere einheitliche Vorstellung der Sache
oder das mit ihr auftretende Gefühl das erste oder das zweite ist.
Zwischen ihnen besteht gar nicht das
Verhältnis von Ursache und Wirkung und höchstens dürfte beides als
Ursache und beides als Wirkung gelten.
So sind die Einheit, die die Landschaft
als solche zustande bringt, und die Stimmung, die uns aus ihr entgegenschlägt
und mit der wir sie umgreifen, nur nachträgliche Zerlegungen eines und
desselben seelischen Aktes.
Und damit fällt ein Licht in die
Dunkelheit des vorhin angedeuteten Problems: mit welchem Rechte die
Stimmung, ausschließlich ein menschlicher Gefühlsvorgang, als Qualität
der Landschaft, das heißt eines Komplexes unbeseelter Naturdinge gilt?
Dies Recht wäre illusorisch, bestünde die Landschaft wirklich nur aus
solchem Nebeneinander von Bäumen und Hügeln, Gewässern und Steinen.
Aber sie ist ja selbst schon ein
geistiges Gebilde, man kann sie nirgends im bloß Äußeren tasten und
betreten, sie lebt nur durch die Vereinheitlichungskraft der Seele, als
eine durch kein mechanisches Gleichnis ausdrückbare Verschlingung des
Gegebenen mit unserem Schöpfertum.
Indem sie so ihre ganze Objektivität
als Landschaft innerhalb des Machtgebietes unseres Gestaltens besitzt, hat
die Stimmung, ein besonderer Ausdruck oder eine besondere Dynamik dieses
Gestaltens, volle Objektivität an ihr.
Ist denn innerhalb des lyrischen
Gedichts nicht das Gefühl eine unbezweifelbare Wirklichkeit, von aller
Willkür und subjektiven Laune so unabhängig wie Rhythmus und Reim selbst
- obgleich es an den einzelnen Worten, die der Naturprozess der
Sprachbildung sozusagen ahnungslos erzeugt hat und aus deren Folge das
Gedicht äußerlich besteht, keine Spur eben dieses Gefühles aufzufinden
ist? Aber weil das Gedicht eben als dieses objektive Gebilde schon ein
geisterzeugtes ist, darum ist das Gefühl ein sachlich wirkliches und so
wenig von jener Realität zu trennen, wie von den Luftschwingungen, wenn
sie einmal unser Ohr erreicht haben, der Ton zu trennen ist, mit dem sie
in uns Wirklichkeit werden.
Nur darf unter Stimmung hier freilich
keiner der abstrakten Begriffe verstanden werden, unter die wir um der
Bezeichenbarkeit willen das Allgemeine sehr mannigfaltiger Stimmungen
bringen: heiter oder ernst, heroisch oder monoton, erregt oder
melancholisch nennen wir die Landschaft und lassen damit ihre unmittelbar
eigene Stimmung in eine Schicht fließen, die auch seelisch eigentlich
sekundär ist, und die von dem ursprünglichen Leben nur die
unspezifischen Nachklänge bewahrt.
Vielmehr, die hier gemeinte Stimmung
einer Landschaft ist durchaus nur die Stimmung eben dieser Landschaft und
kann niemals die einer anderen sein, obgleich man beide vielleicht unter
den Allgemeinbegriff, zum Beispiel, des Melancholischen fassen kann.
Solche begrifflich typischen Stimmungen
freilich mag man von der zuvor fertig gewordenen Landschaft aussagen; aber
die Stimmung, die ihr unmittelbar eigen ist, und die mit der Änderung
jeder Linie eine andere würde, diese ist ihr eingeboren, ist mit dem
Entstehen ihrer Formeinheit untrennbar verwachsen.
Es gehört zu den durchgängigen
Irrungen, die das Verständnis der bildenden Kunst, ja der Anschaulichkeit
überhaupt hintanhalten, dass man die Stimmung der Landschaft nur in jenen
allgemeinen literarisch-lyrischen Gefühlsbegriffen sucht.
Die einer Landschaft wirklich und
individuell eigene Stimmung ist mit derartigen Abstraktionen so wenig zu
bezeichnen, wie ihre Anschaulichkeit selbst mit Begriffen beschrieben
werden kann.
Wäre selbst Stimmung nichts anderes als
das Gefühl, das die Landschaft in dem Beschauer auslöst, so ist doch
auch dies Gefühl in seiner wirklichen Bestimmtheit ausschließlich an
gerade und genau diese Landschaft unvertauschbar gebunden, und erst, wenn
ich das Unmittelbare und Reale seines Charakters verlösche, kann ich es
auf den Allgemeinbegriff des Melancholischen oder des Frohen, des Ernsten
oder des Erregten bringen.
Indem Stimmung also zwar das Allgemeine,
das heißt, das an keinem Einzelelement Haftende eben dieser Landschaft,
aber nicht das Allgemeine vieler Landschaften bedeutet, darf man sie und
das Werden dieser Landschaft überhaupt, das heißt die Einheitsformung
all ihrer Einzelelemente, als einen und denselben Akt bezeichnen, als sprächen
nur die mannigfaltigen Energien unserer Seele, die anschauenden und die fühlenden,
eine jede in ihrem Tone unisono eines und dasselbe Wort aus.
Gerade wo uns, wie der Landschaft gegenüber,
die Einheit des natürlichen Daseins in sich einzuweben strebt, erweist
sich die Zerreißung in ein schauendes und ein fühlendes Ich als doppelt
irrig.
Als ganze Menschen stehen wir vor der
Landschaft, der natürlichen wie der kunstgewordenen, und der Akt, der sie
für uns schafft, ist unmittelbar ein schauender und ein fühlender, erst
in der nachträglichen Reflexion in diese Gesondertheiten zerspaltener.
Der Künstler ist nur derjenige, der
diesen formenden Akt des Anschauens und Fühlens mit solcher Reinheit und
Kraft vollzieht, dass er den gegebenen Naturstoff völlig in sich einsaugt
und diesen wie von sich aus neu schafft; während wir anderen an diesen
Stoff mehr gebunden bleiben und deshalb noch immer dies und jenes
Sonderelement wahrzunehmen pflegen, wo der Künstler wirklich nur »Landschaft«
sieht und gestaltet. |