Georg Simmel:
Goethes Liebe
ex: Frankfurter
Zeitung und Handelsblatt, 56. Jg., Nr. 200, Sonntag, 21. Juli 1912, 1.
Morgenblatt, S. 1-3 (Frankfurt a. M.)
Mehr als einmal habe ich von geistig
durchgebildeten und banaler Prüderie ganz fernen Persönlichkeiten die
Rolle bedauern hören, die das erotische Element in Goethes Leben gespielt
hätte.
Nicht eigentlich in dem Sinn einer
moralischen Bedenklichkeit, sondern nur so, als wäre damit das
Gleichgewicht dieses Lebens, wie seine zentrale Idee es bestimmen müsste,
durch ein übertriebenes Maß erotischen Interessiertseins und Erlebens
gestört.
Unleugbar äußert sich darin der
Instinkt für die Gefahr, die jedem im großen Stile einheitlichen und
produktiven Leben von den erotischen Mächten her droht.
Denn entweder verweben sich die Sehnsüchte
und Erfüllungen dieses Gebietes in den innersten Verlauf des Lebens -
dann kommen diesen letzteren fast unvermeidlich Störungen, Ablenkungen,
Depressionen; und zwar vor allem durch den tiefen inneren Formgegensatz:
dass die Liebe ein rastloser Prozess ist, eine pulsierende Dynamik des
Lebens, ein Hineingerissensein in die kontinuierliche Strömung der
Gattungserhaltung - während das geistige Dasein auf dem in irgend einem
Sinne Zeitlosen steht, auf den Inhalten des Lebensprozesses, nicht auf dem
Prozess selbst.
Oder, man differenziert von den übrigen
Lebensgebieten das Erotische als eine besondere Provinz, in die sich
begebend man gewissermaßen »ein anderer Mensch« ist.
Damit sind zwar jene Hemmungen und
Alterationen beseitigt, aber die Lebenstotalität ist zu einem harten
Dualismus verurteilt, der Wechseltausch aller Kräfte, in dem ihre Einheit
besteht, ist zerschnitten und wenigstens zum Teil sterilisiert.
Dies alles aber ist ersichtlich bei
Goethe nicht eingetroffen.
Weder der Größe seines Werkes, noch
der Unvergleichlichkeit seines Lebens als ganzen gegenüber, kann die
Kritik jener Bedenklichen Fuß fassen.
Das Problem für den Aufbau des Bildes
von Goethe liegt also gerade darin: wie kommt es, dass an ihm jene Folgen
eben nicht aufgetreten sind? Und die Antwort hierauf allerdings ist nur
von der fundamentalen Schicht des Goetheschen Lebens überhaupt her zu
gewinnen.
Die Wesensformel, die an Goethe ihre
reinste und stärkste historische Verwirklichung findet, ist die: dass ein
Leben, ganz dem eigenen Gesetz gehorchend, wie in einheitlich naturhaftem
Triebe sich entwickelnd, eben damit dem Gesetz der Dinge entspricht, d. h.
dass seine Erkenntnisse und Werke, reine Ausdrücke jener innerlichen, aus
sich selbst wachsenden Notwendigkeit, doch wie von den Forderungen des
Objekts und denen der Idee her gebildet sind.
Er hat jeden eigengesetzlichen
Sachgehalt durch die Tatsache, dass er ihn erlebte, so von innen her
geformt, als wäre er aus der Einheit dieses Lebens selbst geboren.
Gemäß diesem Gesamtsinn seiner
Existenz scheinen sich auch deren erotische Inhalte zu entwickeln.
Auch diese - wie sie sich in seinen
Briefen und vertrauten Äußerungen, in Dichtung und Wahrheit und seiner
Lyrik darstellen - treten auf, als wären sie von seinem Inneren und
dessen Entwicklungsnotwendigkeiten bestimmt, wie sich eine Blüte an den
Zweig ansetzt, in dem Augenblick und in der Form, wie dessen eigenste
Triebkraft es erfordert und entwickelt.
Nirgends, selbst in so extremen Fällen,
wie in der Leidenschaft für Lotte und für Ulrike von Levetzow, spüren
wir jenes Preisgegebensein, das dem erotischen Erlebnis das Symbol des
Liebestranks verschafft hat und oft den Gefühlston, als wäre es viel
eher etwas, das mit uns oder an uns vorgeht, als eine Äußerung eines
sich selbst gehörenden Lebens.
Wir hören, dass er mit all seinen
sinnlichen Hingerissenheiten doch immer Herr seiner selbst geblieben ist.
Lili erzählte später, dass sie ihm
unbedingt gehört haben würde und ihre Unberührtheit nur seiner
Selbstbeherrschung zu danken habe; über eine schöne Frau, deren Eindruck
ihm sehr naheging, schreibt er an Lavater: »Ich möchte mir solch ein
Bild nicht durch die Gemeinschaft einer flüchtigen Begierde besudeln.«
Dazu, außer manchem andern, die Äußerung zu Eckermann über seine
Reserve gegen die schönen Schauspielerinnen, die ihn äußerst anzogen
und »ihm auf halbem Wege entgegen kamen«.
Aber diese Bestimmtheit und Formung des
erotischen Erlebnisses durch seinen Willen ist doch nur das äußere und
nicht einmal entscheidend wichtige Phänomen der tieferen Tatsache, dass
es durch sein Sein bestimmt war, durch die Regel und den Sinn einer
Entwicklung, die ausschließlich der Strömung ihrer eigensten Wurzelsäfte
folgte.
Und darum war, wie seine lebenslang geübte
und verkündete »Entsagung« überhaupt nichts weniger als eine
Verarmung, sondern ein durchaus positives Formprinzip seines Lebens war,
auch diese Zurückhaltung im Erotischen kein Subtrahendum, sondern die
seiner Liebe von deren individueller Lebensquelle her eingeborene
Gestaltung.
Dies ist auch so aussprechbar.
So viel Subjektives, Momentanes,
Launisches man in seinem Leben, ja in seinem Werk finden mag - man hat
doch immer das Gefühl, dass das ganze Leben nie sein Übergewicht über
den gerade an der Oberfläche befindlichen Teil verloren hat.
Dass er in jedem Augenblick als Ganzer
in seiner Äußerung lebt, das gibt dieser die wundervolle Temperierung.
Was man als seine Kühle angesehen hat,
ist nichts als dieses Aufwiegen des Einzelnen durch die Ganzheit des
Lebens (und deshalb musste es mit dem Mehr-Werden dieses Lebens immer
zunehmen).
In diese Form ordnen sich auch die
Ereignisse seiner Liebe ein und sie ergibt bei ihm die unvergleichliche
Vereinigung, dass der ganze Mensch sich in das Gefühl hingibt, und dass
er eben weil es der ganze ist, immer Herr über das Gefühl als ein
einzelnes bleibt; dass dieses nie als eine abgelöste Wesenheit, wie das
erotische Erlebnis so oft beim Manne auftritt, sondern als ein lebendiges
Glied dieses Organismus wirkt, das immer von dessen Gesamtleben Kraft und
Norm - freilich darum noch nicht Glück - bezieht.
Im großen und ganzen mindestens besaß
er diese menschliche Vollendung: er konnte sich ganz hingeben, ganz
hingerissen werden, ohne damit aus seinem Zentrum gerückt zu werden.
Solche Autonomie des Gefühles als
Lebensprozesses bedroht freilich das Verhältnis zu seinem Gegenstand mit
einer gewissen Problematik.
Im allgemeinen wird die Liebe, auch als
bloßes Binnen-Ereignis in der einzelnen Seele, wie eine Wechselwirkung
empfunden; der Andere, sie erwidernd oder nicht, ja, um sie wissend oder
nicht, ist ein aktiver Faktor in ihr und unter seiner, wenn auch sozusagen
nur ideellen Mitwirkung entsteht im Liebenden sein Gefühl.
Aber wie in einem Gegensatz hierzu
empfindet man Goethes Erotik als ein rein immanentes Ereignis und als habe
seine Innerlichkeit dessen Kosten gleichsam allein zu tragen; und es ist
wundervoll, wie das Reservierte, Selbstsüchtige, ja Rücksichtslose, das
mit solchem solipsistischen Erleben der Liebe sich zu verbinden pflegt,
bei ihm nie spürbar wird.
»Bis ins Innerste der Existenz«,
schreibt er als 37jähriger, müssten Verhältnisse gehen, wenn »etwas
Kluges daraus werden solle«.
Und: »wenn man nicht unbedingt lieben
darf, sieht es mit der Liebe schon misslich aus.« »Zu der Zeit liebt
sich's am besten«, sagt er mit 62 Jahren, »wenn man noch denkt, dass man
allein liebt und noch kein Mensch so geliebt hat und lieben werde«. Die
Liebe sei »ein Geschenk, das man nicht zurücknehmen kann, und es würde
unmöglich sein, ein ehemals geliebtes Wesen zu beschädigen oder ungeschützt
zu lassen«. Hierin offenbart sich nun endlich jene glückselige, die
Goethesche Existenz im Tiefsten bestimmende Harmonie: der ganz freien,
gleichsam nur von sich selbst wissenden, auf sich selbst hörenden
Wesensentwicklung und den Forderungen, die von den Dingen und den Ideen
herkommen.
In Philines Wort. »wenn ich dich liebe,
was geht's dich an?« - ist die Einheit der beiden Werte, des idealen und
des personalen, auf das vollkommenste ausgedrückt.
Auf der einen Seite eine höchste
Zartheit und selbstlose Hingabe, gegen die Platos Vorstellung von der
Liebe als dem Mittleren zwischen Haben und Nichthaben als etwas
Egoistisches und Veräußerlichtes erscheint.
Er hat viele Jahre vorher diese reinste
Gestaltung der Erotik durch die Tat erwiesen: die Frankfurter Briefe an
Kestners, in denen er dauernd und ohne jeden Vorbehalt von seiner
Leidenschaft für Lotte spricht, gehören zu den allervollkommensten
Zeugnissen, die die Welt überhaupt von Reinheit, Adel der Gesinnung,
sittlich sicherem Vertrauen zu sich und anderen besitzt.
Es ist als ob die Idee der Liebe hier in
ihrer Autonomie, frei von allem Habenwollen und von allem Zufälligen im
Menschen zu Worte käme.
So kann er selbst die Äußerung
Philines auf Spinozas ganz überpersönliches Wort: Wer Gott liebt, könne
nicht wollen, dass Gott ihn wieder liebe -zurückleiten.
Aber andererseits offenbart sich damit
doch eine Liebe, die gerade aus dem Eigensten der Person, aus ihrem
absoluten Selbstsein quillt.
Wie er sein Schaffen als »Liebhaber«
und ohne Zweckrücksicht auf das, was dabei herauskäme, vollbrachte, so
war ihm auch die Liebe eine Funktion des Lebens, normiert von dessen
organischer Rhythmik, aber nicht von einer Idee, - mit der sie nun dennoch
wie durch ein tiefes ursprüngliches Einssein harmonierte.
Damit war auch das eigentümlich gefärbte
Verhältnis zu den Gegenständen seiner Lieben gegeben.
In all seinen Beziehungen zu Menschen
war ein bestimmender Zug, den man vielleicht als souveräne Zartheit
bezeichnen kann - eine innere Attitüde, da entstehend, wo die
einheitliche Ganzheit des Menschen für jedes seiner Verhältnisse dauernd
Quelle und Dominante bleibt; denn damit sind Hingebung und Distanznahme,
das tiefste Eingehen auf den andern und die beherrschende Sicherheit, sich
nie darüber zu verlieren, nur die Seiten eines einzigen Verhaltens.
Und so verschlingt sich in seinen
Beziehungen zu den geliebten Frauen jenes Leidenschaftliche, Selbstlose,
Ritterliche - mit einem eigentümlichen Cachet: als wären sie doch
eigentlich nur die Gelegenheitsursachen, an denen sich ein gerade jetzt
notwendiges Stadium seiner inneren Entwicklung verwirklichte, und als wäre
das jeweilige erotische Verhältnis die Blüte aus seinen eigenen Triebkräften,
für die die Frau nur Frühlingsluft und Frühlingsregen war.
Wenn Carl August einmal sagt, Goethe hätte
immer alles in die Frauen gelegt und nur seine Ideen in ihnen geliebt, so
liegt diesem wohl etwas plumpen Ausdruck doch schließlich dasselbe zu
Grunde, wie Goethes Äußerung zu Kestner, als jemand eine vorteilhafte
Schilderung von Lotte entworfen hatte: »Ich wußte wahrlich nicht, dass
das all in ihr war, denn ich habe sie viel zu lieb von jeher gehabt, um
auf sie acht zu haben.« Das Entscheidende ist, dass jene Wechselwirkung
zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Liebe, die sich selbst in der unglücklichen
Liebe innerhalb des liebenden Individuums abspielt, für ihn zurücktrat,
und in höherem Maße seine Liebe ein in sich kreisendes Gefühl, eine je
von seiner individuellen Entwicklung gesetzte Epoche war.
Und obgleich dies, durch die wunderbare
Einheit von subjektivem Trieb und objektiver Forderung in seinem
Existenzbild, das geliebte Wesen nichts von hingegebener Leidenschaft und
selbstloser Zartheit entbehren ließ - so erklärt sich daraus doch der häufige
Wechsel der Gegenstände seiner Neigung.
Er hat in Bezug auf sein Werk in vielen
Formen und zu vielen Zeiten ausgesprochen, es wäre eigentlich gleichgültig,
an welchem Gegenstand man tätig sei: nur darauf, dass die Kraft sich bewähre,
dass ein Maximum von Wirksamkeit erreicht werde, komme es an.
So paradox es scheint, auch diese
Grundmaxime seiner Existenz wiederholt sich an seinem Verhältnis zu der
Pluralität der Frauen.
Wie es ihm gleichgültig war, ob er »Töpfe
machte oder Schüsseln«, so war es in diesem Sinne gleichviel, ob er
Friederike liebte oder Lili, Frau v Stein oder Ulrike.
Gewiss war seine Liebe jedes Mal eine
andere, die Frau war ihm nicht etwa, wie dem Manne von roher Sinnlichkeit,
die Frau schlechthin, gleichgültig gegen ihre Individualität.
Aber dass die Liebe in diesem Augenblick
eintrat, dass sie in ihm dieses unverwechselbare Cachet hatte - das war
sozusagen nicht von jener erotischen Wechselwirkung her, sondern von dem
Periodencharakter bestimmt, den das Gesetz seiner Entwicklung eben jetzt
heraufführte.
Er war den Frauen untreu, weil er sich
selbst treu war.
Er tut einmal eine sehr merkwürdige Äußerung
über die »sogenannte größere Treue der Frauen«.
Diese entstünde nur daher, dass die
Frauen »sich selbst nicht überwinden können, und sie können es nicht,
weil sie abhängiger sind als die Männer«.
Damit will er doch der Treue den Wert
absprechen, die durch die Abhängigkeit vom Andern entsteht, die nicht aus
der vollen Freiheit des Individuums stammt; die jeweilige Empfindung muss
vielmehr dem eigenen Lebensprozess entfließen, der, wie er ihn auffasst,
eine fortwährende Selbstüberwindung ist, das Aufbauen eines höheren,
vollkommeneren Seins, gleichsam über den Trümmern des vergangenen.
Wer abhängig ist, kann sich nicht überwinden,
das heißt, ihm entwickelt nicht eigenste innerste Notwendigkeit immer
neue Inhalte, neue Wendungen, gleichgültig dagegen ob die Empfindung an
ihrem früheren Gegenstand festwurzelt und sich nur unter Schmerzen von
ihm löst: wir haben genug Beweise für die Leiden, unter denen Goethe
auch seine freiwilligsten Trennungen von den Frauen, die er liebte,
vollzog; seine Untreuen waren Selbstüberwindungen, das heißt der
Gehorsam gegen das Gesetz seines sich immer höher entwickelnden, jede
Vergangenheit überbauenden Lebens.
Wir sehen diese erotische Rhythmik in
Goethes tiefstes Lebensgefühl eingesenkt, indem wir sie noch mit einer
seiner wunderbarsten Äußerungen verbinden, die der Kanzler Müller aus
seinem 75sten Jahre mitteilt: »Als unter mancherlei ausgebrachten Toasten
auch einer der Erinnerung galt, brach Goethe mit Heftigkeit in die Worte
aus: >Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne. Was uns irgend Großes,
Schönes, Bedeutendes begegnet, muss nicht erst von außen her wieder
erinnert, gleichsam erjagt werden. Es muss sich vielmehr gleich von Anfang
her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues besseres Ich
in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. Es gibt
kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig
Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen
gestaltet.<«
In dieser Auffassung hat das Leben seine
letzte Starrheit überwunden.
Auch unsere leidenschaftlichen
Erlebnisse sind nun nicht an einer Stelle der Vergangenheit, an der wir
sie in ihrem unveränderlichen So-Gewesensein wieder zu suchen hätten,
angenagelt - und wir mit ihnen; sondern sie sind die selbst bildsamen
Elemente der Lebensgestaltung, die mit jedem Augenblick neu einsetzt.
Gut, wenn diese Gestaltung jene ungeändert
weiter bestehen macht und so die Erscheinung der Treue gegen ihren Inhalt
erzeugt; und Goethes Leben hat dies in seinen Beziehungen zu Frau von
Stein und zu Christiane erwiesen.
Aber auch wo die Entwicklung
entschiedene Wendungen fordert, ist die Untreue nun nicht eine bloße tote
Diskontinuität im Leben, sein Verlaufen wie in eine leere Sackgasse;
sondern der tiefste Zusammenhang des Lebensprozesses setzt sich gerade
durch diesen Bruch seiner Inhalte fort, der frühere ist nicht einfach
dementiert, wie es sein müsste, wenn er jenes nur erinnerbare Vergangene
wäre, sondern - weil er selbst ganz aus der Lebendigkeit des Ich bestimmt
war - kann er ewig umgestaltet und umgestaltend das »neue, bessere Ich in
uns erzeugen« helfen.
Die Frauen waren ihm Gegenstände jenes
scheinbaren Egoismus, dessen Ich in Wirklichkeit kein Genusssubjekt,
sondern eine organisch gesetzliche und deshalb auf ihren Wert vertrauende
Entwicklung ist; wie er es einmal in die kurze Maxime zusammenfasst: der Künstler
solle »höchst selbstsüchtig« verfahren.
Sein eigenes, immer produktives Lernen
und Arbeiten hat er als »eigentlich immer nur egoistisch« bezeichnet:
sich selbst habe er daran bilden wollen.
Aber seiner großartigen Objektivität
war das eigene Ich ein dem Gesamtsein verhaftetes Element, dessen
Vervollkommnung ihm Pflicht und Lebenssinn war.
Wie er als Lernender, als
Weltaufnehmender, wie er als Künstler »höchst egoistisch« war, so war
er es den Frauen gegenüber; wie aber dieser Egoismus einerseits die völlige
Hingabe an den Gegenstand einschloss, andererseits nur auf jene eigene
Vollendung zielte, die ein objektiver Wert ist und mit dessen Steigerung
den Wert des all-einen Daseins überhaupt hebt - so war auch der Egoismus
seiner Liebe.
Dennoch besteht ein Unterschied.
Ein menschliches Individuum, die Strömung
des Daseins in eine irgendwie unvergleichliche Kurve leitend und sich als
Selbstzweck fühlend, will sich nicht und, vor allem, kann sich nicht in
die harmonische Existenz eines anderen so einfügen lassen, wie das unpersönliche
Dasein.
Jene Grundformel seiner Existenz: dass
die Entwicklung seines Denkens und Schaffens, dem eigenen Gesetz allein
folgsam, zugleich den Forderungen der Gegenstände dieses Denkens und
Schaffens entsprach - diese Formel galt nicht vorbehaltlos, wo jene
Gegenstände Menschen waren; Menschen, mit ihrem schließlichen Fürsichsein,
mit zuletzt doch unbiegbaren Umrissen ihres Wesens und ihrer Schicksale,
die sich mit denen eines Andern, so ungeheuer dessen eigne Harmonie und
Harmonisierungskraft sei, nicht notwendig decken.
Gewiss hat Goethe, aus dem innersten
Triebe seiner Natur heraus und ohne dazu eines moralischen Imperativs zu
bedürfen, in seine Liebesbeziehungen alle Rücksicht und alle Selbstüberwindung,
alle Zartheit und alle hingebende und beglückende Leidenschaft
eingesetzt.
Und doch ging damit die Rechnung nicht
auf.
Fast allen Frauen, die Goethe geliebt
hat, endete dies Glück in Missklang und Leiden: für Ännchen wie für
Friederike, für Lotte wie für Lili und für Frau von Stein.
Gewiss war die Ursache solchen Ausganges
in jedem Fall eine besondere.
Allein es scheint mir zu den typischen
Formen des Menschenschicksals zu gehören: dass eine Reihe von inhaltlich
irgendwie verwandten Ereignissen jedes Mal in einen gleichen Effekt
auslaufen, jedes Mal aber aus einem neuen und von den früheren Fällen
ganz unabhängigen Grunde, der den jeweiligen Fall auch ganz zureichend
erklärt - und dass doch ihnen allen eine gemeinsame Ursache, wie aus
einer tieferen, die unmittelbare Kausalität nicht berührenden Schicht zu
Grunde liegt.
Dass Goethe eben jenes »höchst selbstsüchtige«
Leben lebte - in wie erhabenem Sinne immer, wie fern immer von der Enge
und Rücksichtslosigkeit der Genusssucht, in wie einzigartiger Harmonie
immer mit der Ganzheit des Seins und den Gesetzen der Dinge und Ideen -
das war doch wohl die tiefste metaphysische Ursache davon, dass er keiner
Frau ein dauerndes Glück bereiten konnte, selbst in dem bescheideneren
Sinne, in dem uns das erfahrene Leben schließlich den Begriff des
dauernden Glückes verstehen lehrt.
An dem definitiven Selbstsein der
menschlichen Individualität versagte, mit sozusagen formaler
Notwendigkeit, die unvergleichliche Gunst, um die er sich wohl selbst den
»Liebling der Götter« nennen durfte: die Entwicklung nach dem eigenen
Gesetz in Einheit mit dem Gesetz alles anderen Daseins zu vollziehen.
Aber noch einmal schlug diese Formel
gleichsam zurück, ihre Herrschaft noch über ihre eigene Verneinung
erstreckend: er selbst teilt das schmerzensreiche Schicksal seiner
Geliebten, ihm selbst, von den Frauen geliebt wie wohl wenige Männer,
scheint die Liebe kein Glück, außer auf rasch herabsinkenden Höhen des
Rausches, gebracht zu haben.
Er selbst bezeichnet einmal die
jugendliche Verfassung seines Innern als »liebevollen Zustand« und dass
er »das Sehnsüchtige, das in mir lag, in früheren Jahren vielleicht zu
sehr gehegt« habe.
Mit fortschreitender Männlichkeit aber
habe er statt dessen »die volle endliche Befriedigung gesucht«.
Diese Befriedigung jedoch fand er
ersichtlich nicht in der Fortentwicklung jenes »liebevollen Zustandes«,
sondern im Forschen und Wirken.
Aber mit so ungeheurer Kraft er die Bedürfnisse
seiner Natur in diese Wertrichtungen leitete - es blieb irgend etwas wie
ein Bruch und Rest, den er sich, wie er mehr als einmal andeutet,
sozusagen gewalttätig zu vergessen zwang.
Er ist ein Siebziger, als er schreibt:
»Jeder Mensch ist ein Adam; denn jeder wird einmal aus dem Paradiese -
der warmen Gefühle vertrieben.« Selbst in dem Verhältnis zu Frau von
Stein wird die Epoche des wirklichen Glückes erschreckend kurz, wenn man
die Briefe nicht nur auf ihre Oberfläche hin liest.
Und was er ihr auch an Glück verdankt,
wird reichlich durch die fürchterliche Erfahrung aufgewogen, die er während
und nach der italienischen Reise mit ihr machen musste.
An das Leiden dieser Erfahrung hat sich
- soweit man solche Unbeweisbarkeiten aussprechen darf - eine, vielleicht
die große Wendung seines Lebens geknüpft: damit erstarrte etwas in ihm,
was nicht wieder geschmolzen ist.
Der ganze Fall Christiane erscheint mir
als Ergebnis der Ermüdung und Resignation gegenüber dem so oft gesuchten
und nie gewonnenen Liebesglück, als die Flucht in die bescheidene
Sicherheit des Halbglücks.
Es ist eine eigentümliche soziale
Ironie, dass der Philister unter allen erotischen Erlebnissen Goethes den
meisten Anstoß gerade an diesem zu nehmen pflegt, das seiner inneren
Struktur nach sicher das philiströseste von allen war.
Und nun rächt sich noch einmal die zurückgeschobene,
auf das tote Gleis geratene Liebe in dem Marienbader Erlebnis.
Das Erschütternde der Elegie, das ihr
eine vielleicht einzige Stellung in der Weltliteratur gibt, ist dies: dass
ein ganz unmittelbares, in voller Lebendigkeit strömendes Fühlen sich
ausdrücken will und dafür nur die schon erstarrten, resultathaften,
sententiösen Formen vorfindet, die aus einem ganzen langen Leben
auskristallisiert sind und es verweigern, sich noch einmal zurückschmelzen
und in jenen Fluss eines aus der ersten Quelle hervorstürzenden, keiner
Formfestigkeit untertanen Prozesses von Leben und Liebe hinabziehen zu
lassen.
Dies leidenschaftlich Gegenwärtige ging
nicht in die ihm allein noch gebotene Form der Zeitlosigkeit hinein,
hinter der abgeklärten, weise gewordenen Form fühlt man die Sehnsucht
klopfen, wie einen Gefangenen an die Mauern, die ihn ersticken wollen.
Nie vielleicht hat ein anderes Gedicht
rein in seinem Stil den tragischen Kampf des Jünglings mit dem Greise zum
Austrag gebracht.
In diesem Verhängnis des Ausdrucks,
dass grade das Höchste des Stils, in dem alle Weite und Tiefe seines
Lebens sich gesammelt hatte, ihm die Möglichkeit entzog, seine Liebe, wie
er sie wirklich liebte, auszusagen - spiegelt sich das Verhängnis seiner
Wirklichkeit: dass in der Form dieses Lebens offenbar das Glück der Liebe
keine dauernde Heimat finden konnte.
- Ich sagte, dass sogar mit dem Glücksmangel
seiner Liebe die Grundgestaltung seines Daseins, wenn auch jetzt in der
Ebene der Negativität, sich bestätigte.
Ihm war gegeben, dass er alles Denken
und Leben, wie es sich aus seiner eigensten, innersten Notwendigkeit
entfaltete, an den Gegenständen dieses Denkens und Lebens die - wie er
selbst sich ausdrückte -»antwortenden Gegenbilder« fand.
Wie sein Geist sich großartig und beglückend
abrundete, Geschwister und Gegenbild der einheitlichen Totalität des
Kosmos und seiner Seligkeit, die unseren tiefsten Ahnungen, von den
Griechen her, vorschwebt - so ist das Leiden, das seine Liebe den Gegenständen
dieser Liebe brachte, nur das »antwortende Gegenbild« seines eignen
Leidens gewesen, als stiege, wie alles Helle seines Lebens und seiner
Welt, auch dieses Dunkle in ihm und in dem, was um ihn und ihm gegenüber
war, Hand in Hand aus der metaphysischen Einheit alles Seins empor. |