Georg Simmel:
Goethes Rechenschaft
ex: Der Tag. Moderne illustrierte
Zeitung Nr. 63, Morgenblatt vom 4. Februar 1912, Illustrierter Teil Nr.
29, S. 1-3 (Berlin)
»Er war ein Deutscher,«
sagt Goethe von Serlo, »und diese Nation gibt sich gern Rechenschaft von
dem, was sie tut.« Er spricht damit die Erfahrung über eine
entscheidende Tendenz seines eigenen Lebens aus.
Vielleicht keinem zweiten
unter den im großen Stile schöpferischen Menschen war es so natürliches
Bedürfnis, mit sich selbst abzurechnen, sich des Lebens in einer Periodik
bewusst zu sein, deren klare Überschau keinen seiner Inhalte ausließ.
Mit sehr mannigfaltigen Äußerungen
tritt dies in die Erscheinung.
In der Jugend begeht er von
Zeit zu Zeit ein »Hauptautodafé «, vernichtet mit leidenschaftlicher
Selbstkritik eine Unzahl von Produkten des letzten Zeitabschnitts; dann
wieder geschieht es in der Form geistigen Einrangierens, er sucht die
Kategorien auf, unter die seine Lebensinhalte gehören: »Ich muss nur«,
schreibt er an Schiller, »Altes und Neues, was mir in Sinn und Herzen
liegt, wieder einmal schematisieren«; und besonders bezeichnend erscheint
es mir, dass er seine Tagebücher noch einmal zu »Annalen«
zusammenfasst.
In ebendieser Tendenz liebt
er es von Jugend auf, Kunstwerke zu beschreiben und zu analysieren: er
muss sich über alles, was ihn beeindruckt und von irgendwelcher Bedeutung
für seine Entwicklung ist, Rechenschaft ablegen.
Ein merkwürdiges Beispiel
ist es, wenn er über 200 Gedichte aus »Des Knaben Wunderhorn« einzeln
charakterisiert, jedes nach seiner ideellen Bedeutung und seiner Zugehörigkeit
zu allgemeinen ästhetischen Begriffen - immer aber im Stile jemandes, der
sich über die Nuancen seines persönlichen Eindrucks Rechenschaft ablegen
will.
In den späteren Jahren
endlich sind es die immer neu begonnenen Gesamtausgaben seiner Werke, die
gleichsam als Haltepunkte dienen, um die bisherige Entwicklung zu überschauen
und mit Auswählen, Anordnen, Weglassen die Wertrechnung über diese zu
schließen.
- Welches ist nun der
Zusammenhang mit weiteren und tieferen Wesenszügen, in die sich diese
Neigung verständlich einfügt?
Täusche ich mich nicht, so
kommt auch in ihr die eine große Idee zu Worte, die sozusagen die schöpferische
Existenz Goethes formt, und die ich als die »Objektivierung des Subjekts«
bezeichne.
Gewiss ist jede künstlerische
Produktivität schließlich unter diese Formel zu bringen; allein wir
wissen von niemand, der ein so reiches subjektives Leben dauernd als eine
so objektive Gegebenheit und unter so objektiven Kategorien gelebt und
ausgeformt hätte.
Sonst fällt in der Regel
der Akzent entweder auf die subjektive Seite, auch das abgelöste
Erzeugnis ist ein unmittelbares Sichausströmen des Ichs, es tritt
sozusagen für den Schöpfer nicht aus dem Stadium des Innenerlebnisses
heraus; oder umgekehrt, es schwingt sich über das Subjekt wie über ein
bloßes Sprungbrett hinaus, und als wäre es dem Innenerlebnis fremd,
zieht es Sinn und Inhalt aus einer selbstgenugsamen Objektivität.
In der bildenden Kunst, in
der Poesie, in der Musik, ja man kann sagen: in allen Lebensäußerungen
überhaupt scheiden sich so die spezifisch lyrischen Naturen von den
spezifisch dramatischen.
Goethes Leben, als Ganzes
angesehen, hat diesen Gegensatz mehr als irgendein anderes überwunden,
und zwar nicht durch ein von vornherein festes Verhältnis der Elemente,
sondern in einer lebendigen Entwicklung, die von der dämonischen
Subjektivität seiner Jugend zu der nicht weniger dämonischen Objektivität
seines Alters führte.
Es ist aber sehr merkwürdig,
wie schon in der Jugend, in der doch die Fülle und Bewegtheit seines
Inneren mit einer ganz einzigen Unmittelbarkeit und Unabgelenktheit in Äußerungen
und Lebensgestaltung ausfloss - wie schon in ihr die Objektivierung des
Subjekts sich anzeigt.
In all dem
leidenschaftlichen Gestammel der Leipziger Briefe an Behrisch zeichnet
sich doch die Form des Werther vor, in dem die unbedingte Subjektivität
sich durch Formung zu einem objektiven Gebilde von sich selbst erlöst.
Und mitten in der
heftigsten Liebesraserei schreibt er an Behrisch: »Dieses heftige
Begehren und dieses ebenso heftige Verabscheuen, dieses Rasen und diese
Wollust werden Dir den Jüngling kenntlich machen.« Und: »Es ist wahr,
ich bin ein großer Narr, aber auch ein guter Junge.« Wenig später mit
zwanzig Jahren: »Das habe ich mit allen tragischen Helden gemein, dass
meine Leidenschaft sich gern in Tiraden ergeht.« In all dieser
jugendlichen wichtigtuerischen Selbstbespiegelung kündigt sich doch schon
die große Maxime an, alle Subjektivität des Daseins als eine objektive,
in die Kategorien übersubjektiver Welt eingeordnete Wirklichkeit
anzuschauen und zu erleben.
Man hat oft genug das
Goethische Leben als »ein Kunstwerk« bezeichnet.
Was daran mehr als eine
verschwommene Redensart ist, gründet sich in dem Wesen des Kunstwerks:
dass in ihm ein innerlicher, im persönlichsten Leben gezeugter Vorgang
eine Form anschaulichen Daseins gewinnt, als wäre diese Erscheinung
seiner nach objektiven Normen, dem Gesetz und der Idee der Sache allein
gehorsam, erwachsen.
In diesem Objektivieren des
Subjekts vollzieht sich die Arbeit Goethes an seiner eigenen »Bildung«.
Es ist häufig
ausgesprochen worden, dass Goethes ganze Entwicklung ein fortwährender
Prozess des »Sichbildens« war.
»Ich habe Natur und Kunst«,
so gesteht er im höchsten Alter, »eigentlich immer nur egoistisch
studiert, um mich zu unterrichten.
Ich schrieb auch nur darüber,
um mich weiterzubilden.
Was die Leute daraus
machen, ist mir einerlei.« Schon 48 Jahre vorher ist er sich darüber
ganz klar: »Meine Sachen gehen ordentlich und gut«, schreibt er an Frau
von Stein, »es ist freilich nichts Wichtiges noch Schweres, indessen da
ich, wie Du weißt, alles als Übung behandle, so hat auch dies Reiz genug
für mich.« Alle Inhalte des Daseins leitete er in sich hinein, um sein
Ich an ihnen aufwärts zu bilden.
Allein an diesem »Egoismus«
haftete nichts sittlich Fragwürdiges, denn die Vollendung seiner Person
war ihm eine objektive sittliche Aufgabe, so gut wie eine auf andere
Personen gerichtete es sein konnte.
Die eigene Bildung
bedeutete für ihn keineswegs nur die wachsende Aufnahme an Stoffen des
Wissens und Könnens, sondern bedeutete, dass er mit deren Hilfe immer
mehr zum »Gebilde« wurde, das heißt, zu einer Existenz, die, wie
anderen, so auch sich selbst als ein objektives Weltelement gegenüberstand.
Er wusste sehr wohl, dass
der Mensch als subjektives, auf sich selbst gerichtetes Wesen, nicht
gleichsam aus sich selbst zu dieser objektiven Bedeutsamkeit, sich selbst
als Weltelement zu wissen, gelangen kann; dass er sich dazu vielmehr erst
zum Gefäß der Welt, das aufnimmt und abgibt, machen muss.
Darum musste er rastlos
lernen und rastlos schaffen.
Je mehr sein Subjekt sich
mit Weltstoff erfüllte, je reicher und treuer sich das Dasein in ihm
spiegelte, um so mehr wurde es selbst zum Objekt, desto verwandter, desto
zugeordneter wurde es diesem objektiven Dasein selbst.
Der Doppelsinn von »Bildung«
kam hier zu seinem Rechte: dadurch, dass er lernend, forschend,
produzierend sich selbst bildete, »bildete« er sich, das heißt, formte
er sein Subjekt zu einer objektiven Gestaltung, die er nicht nur war,
sondern die er als geformten Inhalt sich gegenüber sah.
Dieses sublime Bewusstsein
gestattete ihm in demselben Sinne, in dem er vorhin von seinem »egoistischen«
Lernen gesprochen hatte, seine Werke als eine bloß persönliche
Konfession zu bezeichnen.
»Meine Arbeiten sind immer
nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens«, schreibt er in
seinem 26. Jahre - und 40 Jahre später: »Meine ernstlichste Betrachtung
ist jetzt die neueste Ausgabe meiner Lebensspuren, welche man, damit das
Kind einen Namen habe, Werke zu nennen pflegt.« Nur wer sein Subjekt als
etwas so Objektives weiß, wird seine objektive Leistung als etwas so
Subjektives ansprechen.
Und darum ist es nicht der
geringste Widerspruch gegen die letzte Äußerung, wenn er, gleichfalls im
hohen Alter, das scheinbar Entgegengesetzte ausspricht: »Was bin ich
selbst? Was habe ich getan? Ich habe alles, was ich gesehen, gehört,
beobachtet habe, gesammelt und benutzt. Meine Werke sind von tausend
verschiedenen Individuen genährt; Unwissende und Weise, Geistreiche und
Dummköpfe, die Kindheit, das reife Alter, das Greisentum haben mir ihre
Gedanken, ihre Fähigkeiten, ihre Hoffnung, ihre Seinsart dargeboten; ich
habe oft die Ernte gesammelt, die andere gesät haben. Mein Werk ist das
eines Kollektivwesens und trägt den Namen Goethe.«
In höherem Alter erreicht
die Einheit von Subjekt und Objekt, die zu leben und zu verkünden den
metaphysischen Sinn seiner Existenz ausmacht, ihre höchste und reinste
Reife.
Nachdem der Akzent in all
seinem Denken und Verhalten ganz auf die Objektseite der Gleichung gerückt
war, kann nun von da aus wieder das Subjekt die umfassendste Bedeutung
erhalten, können nun, wie man weiß, selbst seine Berichte über die
sachlichsten naturwissenschaftlichen Studien autobiographische Form
erhalten.
In der Jugend wäre das
eine Subjektivierung gewesen; jetzt ist davon keine Rede, sein Subjekt ist
nur der Sammelpunkt von Sachlichkeiten, er, inbegriffen alle Inhalte, alle
Schicksale, alle Erfahrungen, ist sich ein Gegenstand objektiven
Beobachtens und Erlebens.
Dieser autobiographische
Ton des Goethischen Alters ist eine besondere Form jener Konfession, zu
der das Alter der Künstler überhaupt zu neigen scheint: Shakespeares »Sturm«
und Ibsens Stücke vom »Solneß« an, Beethovens letzte Quartette,
Michelangelos späte Gedichte und Pietà Rondanini und Rembrandts letzte
Selbstporträte - alles dies ist wie Beichte, wie ein Herausstellen des
subjektivsten Seelenkernes, um den keine Hülle und Scham mehr ist, weil
das Subjekt sich seiner Subjektivität enthoben und schon einer höheren
geahnten oder innerlich geschauten Ordnung zugehörig fühlt.
»Alter«, sagt Goethe
einmal, »ist stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung« - und das
kann ebenso bedeuten, dass das Wesen die Hülle fallen lässt, wie, dass
es sich aus allem Offenbarsein in ein letztes Geheimnis zurückzieht; und
vielleicht kann das erste gelten, da doch das zweite gilt.
In so tiefer und sich mit
den Jahren immer vertiefender Einheit empfindet Goethe seine persönliche
Existenz mit der Natur und Idee der Dinge, dass jede Mitteilung natur
–oder kunstwissenschaftlicher Art den Stil und Ton eines mitgeteilten
persönlichen Erlebnisses annimmt, als sei jeder Sachverhalt, der sich ihm
neu aufschließt, eine neue Stufe seiner innerlichsten Entwicklung.
»Der Mensch«, sagt er in
dieser späten Zeit, »wird die Welt nur in sich und sich nur in der Welt
gewahr.
Jeder neue Gegenstand, wohl
beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.« Und nur von der anderen
Seite her offenbart sich diese höchste Einheit darin, dass die Art, wie
Goethe seinem eigenen Leben im Alter gegenüberstand, die großartigste
Objektivierung des Subjekts ist, von der wir wissen.
Denn nicht nur die
Vergangenheit, die er als abgeschlossen ansehen konnte, war ihm ein reines
Bild geworden.
Sondern der eben erlebte
Tag war ein solches, ja, der Moment des Erlebens selbst war ihm ein
objektives Geschehen - nicht nur im Sinne der gleichzeitigen
Selbstbeobachtung, der Spaltung des Bewusstseins, die sicher oft gar nicht
bestand, wenigstens nicht mehr als bei vielen anderen Menschen auch;
vielmehr, der innere Ton des Erlebens, die Art, wie es subjektiv
unmittelbar vorging, hatte den Charakter der Objektivität.
Was er dachte und fühlte,
war ihm Ereignis, wie Sonnenaufgang oder das Reifen der Früchte, er
stellte das Ich nicht nur als ein wissendes den Erlebnissen als dem
Gewussten gegenüber, sondern von vornherein war das Erleben dem
kosmischen Geschehen eingeordnet; was vielleicht die Gestalt Makariens in
absoluter Vollendung symbolisiert.
Nicht nur einzelne
Lebensinhalte waren ihm objektiv geworden, sondern sozusagen der
Lebensprozess selbst - er bedurfte für die Objektivität nicht mehr der
Form des Gegenüber.
Diese Gegensatzschärfe war
der Kategorie genommen, unter der er sich erlebte, als eben derselben,
unter der die Ereignisse des Kosmos selbstgenugsam abrollen.
Diese Einheit aber enthält
ein Element oder eine Voraussetzung, die auf den ersten Blick gerade der
Tiefe ihrer Wurzelung widerstreitet.
Durch das Goethische Leben
geht von sehr früh an ein Zug von Resignation, dem er oft Ausdruck und
Nachdruck gibt.
Die Eingeordnetheit in
Wirklichkeit und Idee des Seinsganzen, das unmittelbare Sich-Hingeben und
– Ausgeben des Lebens, sicher, dass damit der Norm der sachlichen
Ordnungen genügt werde - diese Grundformel der Goethischen Existenz
scheint durch das Gefühl fortwährend nötigen Verzichtes, Zurückhaltens
und Beherrschens seiner selbst durchbrochen zu sein.
Eine Äußerung aus seinem
33. Jahre weist vielleicht, wenn auch nicht in gerader Linie, auf die Lösung
des Widerspruchs hin: »So viel kann ich Sie versichern, dass ich mitten
im Glück in einem anhaltenden Entsagen lebe und täglich bei aller Mühe
und Arbeit sehe, dass nicht mein Wille, sondern der Wille einer höheren
Macht geschieht, deren Gedanken nicht meine Gedanken sind.« Hier liegen
die Elemente freilich noch in ungelöster Problematik zusammen: ein
subjektives Wollen und Fühlen, das sich zur Einfügung in eine jenseits
seiner gelegene, objektiv höhere Ordnung aufgerufen fühlt und dies nur
in der Form des Verzichts erreicht.
Der Sinn aber dieses
Verzichtens in dem allgemeinsten, sein Leben durchziehenden Sinne scheint
mir kein anderer zu sein, als dass ihm nur auf diesem Wege jene
Objektivierung seines Subjekts gelang.
Er musste sich dauernd überwinden,
damit die Intensität, die unmittelbare, selig-unselige Strömung seines
Lebens gegenständlich werden konnte.
Die Selbstüberwindung und
die Vergegenständlichung waren nicht ein Nacheinander zweier Akte,
sondern einer und derselbe, von zwei Seiten gesehen.
All dem Glühen und Drängen
seiner Seele war die Selbstüberwindung sehr früh zugewachsen, damit es
Form werden konnte.
Für seine Seele war es die
Vollendung, dass sie über die bloße subjektive Lebendigkeit hinaus sich
selbst zum Objekt, ja sozusagen an und für sich zum Objekt wurde; und
dies errang sie in der Form eines dauernden Sichselbstüberwindens, einer
immer bewussten Herrschaft über sich selbst.
Dies ist keine Zerreißung
seines Lebens, sondern dessen ganz einheitlicher Charakter.
Auch sein Verhältnis zur
Natur, mit seinem treuen Eifer und enthusiastischen Eindringen und dem
gleichzeitigen Haltmachen vor den letzten Geheimnissen, der Überzeugung,
dass ein Unerforschliches da sei, das sich uns versage, - ist die
Lebenseinheit von Hingebung und Resignation.
Das Vonsichwegtreten, mit
dem er sein eigenes Objektsein gewann, war zugleich ein Vonsichabsehen,
ein Verzicht auf das, was das Subjekt, solange es in sich selbst
verbleibt, zu sein und zu genießen begehrte.
Vielleicht aber sind diese
Lebenswerte innerlich in umgekehrter Richtung verbunden.
Vielleicht - dies lässt
sich nur wie aus der Ferne andeuten - ist ihm Selbstüberwindung und
Entsagung das Urphänomen seiner sittlichen Menschlichkeit und alles, was
ich die Objektivierung seines Subjekts nannte, nur eine Folge, eine
Erscheinung, ein anschaulich Positives zu diesem Letzten - ein Positives,
in dem sich die besondere Wertart dieser Resignation äußern musste, da
sie doch nicht Askese war.
Wir pflegen in der
Resignation vor allem das Moment des Leidens zu betonen und zu empfinden.
Aber dieser Gefühlsreflex
ist für Goethe ganz unwesentlich.
Der »Entsagende« ist der
Mensch, der seinem subjektiven Dasein die Form gibt, mit der es sich der
objektiven Ordnung der Gesellschaft oder des Kosmos überhaupt einfügen
kann; oder, in der anderen Richtung gesehen, sobald der Mensch sich über
das bloße Ausströmen seiner Existenz hinaus eine Form geben will, in der
er sich selbst als Objekt, als ein Weltelement anschaut, - so muss er
entsagen.
Jede Form ist Begrenzung,
ist Verzicht auf das, was jenseits der Grenze ist; und nur durch Formung
entsteht jedes feste, weltmässige Sein, das dem Subjekt gegenübersteht,
und zu dem es sich selbst zu gestalten hat.
Das Sichselbstbeherrschen
und Entsagen, das ohne Beziehung auf dies oder jenes Bestimmte und ohne
jede Leidseligkeit, sondern als eine allgemeine Bestimmung der Existenz
Goethes Lebensentwicklung durchzieht, enthüllt sich so als die ethische
Basis oder die ethische Seite jener allgemeinsten Formel seiner
Entwicklung.
Und damit laufen nun
endlich all diese Fäden in seinem dauernden Sichrechenschaftgeben
zusammen.
Kein anderer Begriff verknüpft
so unmittelbar wie dieser das theoretischobjektive Bild mit der sittlichen
Wertung; Sichrechenschaftgeben heißt: die Einheit von Sichwissen und
Sichbeurteilen verwirklichen, und heißt, sich von der Grenze aus sehen,
diesseits derer wir uns zu bescheiden haben und jenseits derer der
Verzicht liegt.
Der metaphysische
Grundwille, sein Subjekt als ein objektives anzuschauen und zu erleben,
konnte seine ethische Spannung nicht tiefer und vollkommener spiegeln als
in der Rechenschaft über sich selbst, in der sein Bewusstsein der eigenen
Wirklichkeit und das der Grenze, deren strenge Bescheidung dem Leben Wert
und Form bestimmte, sich in einem lebenslangen Akte vollzog. |