Georg Simmel:
Polarität und Gleichgewicht bei Goethe
ex: Vossische
Zeitung. Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und
gelehrten Sachen Nr. 478, Morgenausgabe, 19. September 1912 (Berlin)
Goethe hat das Bild des Daseins nach
einer Reihe von Maximen geformt, in denen letzte Erfahrungen persönlichen
Lebensgefühles und deutende Beobachtung der objektiven Welt sich in eine
Einheit, die die Geistesgeschichte sonst nicht kennt, miteinander
verweben.
Einige davon gehören zu dem Bestande
populärer Goethe-Kenntnis.
Täusche ich mich nicht, so befindet
sich unter diesen nicht das Prinzip der Polarität, das in den tieferen
Schichten seiner Geistigkeit fortwährend lebendig war - die Idee jener
Einheit, die das Dasein gerade in der Form der Bewegung und Gegenbewegung,
des Positiven und Negativen, des »Einatmens und Ausatmens«, gewinnt.
Alle Dinge leben in einer unaufhörlichen
Entzweiung mit sich selbst und mit anderen, die sich unaufhörlich versöhnt,
um sich wieder zu spalten: »Der mindeste Wechsel einer Bedingung, jeder
Hauch manifestiert gleich in den Körpern Polarität, die eigentlich in
ihnen allen schlummert.« Ein Inhalt, ein Zustand, ein Geschehen fordert
seinen Gegensatz, und diese Spannung oder Alternierung offenbart eben
dasselbe Leben, das sich im nächsten Augenblick als Einheit der Gegensätze
dokumentiert.
Er bestimmt Polarität als die
Erscheinung des Zwiefachen, ja Mehrfachen, in einer entschiedenen Einheit.
»Das Geeinte zu entzweien, das
Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole
und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der
Welt, in der wir leben, weben und sind.« Dieses Wirklichkeitsverhältnis
wendet sich in das Verhalten der Betrachtung: »Jedes Existierende ist ein
Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu
gleicher Zeit gesondert und verknüpft.« Damit offenbart sich nun die
Einheit gleichsam in höherer Instanz.
Sie legt sich nicht nur in Gegensätze
und polare Getrenntheiten auseinander, mit dieser Korrelation sich in
latentem Zustand zeigend und in der Wiedervereinigung sich verwirklichend;
sondern Entzweiung und Vereinigung sind selbst Pole und Pendelschwingungen
der höchsten, innigsten Lebenseinheit! Antithesis und Synthesis sind erst
Momente der eigentlichen und absoluten Synthese, die absolute Einheit von
Dasein, Leben, Seele, steht über der relativen, die ihre Ergänzung, ihr
Korrelat in der Antithesis findet.
Hier wie sonst werden sich die Elemente
seiner Weltanschauung nach demselben Gesetz erwachsen zeigen, das sein
persönliches Leben formte.
Aber hier wie sonst handelt es sich
nicht um einen Egomorphismus, bei dem das Phänomen, das der Mensch sich
selbst bietet, die Art, wie er sich subjektiv anschaut, ihm zum Modell
seines Weltvorstellens wird.
Vielmehr: die objektive, wesenhafte
Kaft, die das »Persönliche« seines Charakters und seines Erlebens in
die Erscheinung ruft, formt auch seine Intellektualität, bestimmt den
Brechungswinkel, mit dem sich die Objekte in ihm spiegeln und zum Weltbild
zusammengehen.
So hat die Systole und Diastole, deren
Wechsel ihm als Weltformel erscheint, auch sein subjektives Dasein
rhythmisiert.
Es lag in seinem Wesen, wie er selbst
und andere es aussprachen, von einem Extrem ins andere umzuspringen: »Wie
oft sah ich ihn schmelzend und wütend in einer Viertelstunde«, berichtet
Stolberg im Jahre 1776.
In einer Äußerung mehr als 20 Jahre später
erscheint die Spaltung seines Wesens sozusagen mehr formal und ihr Wechsel
mit dessen Einheitlichkeit tritt hervor.
Die Philosophie lehre ihn mehr und mehr,
sich von sich selbst zu scheiden, »das ich um so mehr tun kann, als meine
Natur wie getrennte Quecksilberkügelchen sich so leicht und schnell
wieder vereinigt.« Ersichtlich aber werden nicht nur die Perioden der
inneren Getrenntheit einfach von denen der Vereinigtheit abgelöst,
sondern Getrenntheit und Vereinigtheit bilden zusammen wieder eine
Periode, eine Pendelschwingung des tiefsten Lebens, zusammengehalten von
dem Gefühl einer Lebenseinheit, die die Vielheit und die Einheit als
relative Gegensätze gleichmäßig dominiert.
Ja, sogar das Schicksal hilft durch die
Art der Menschen, mit denen es ihn zusammenführte, diese Formel
vollstrecken.
Naturen wie Herder, der Herzog, die
Stein, machten ein ganz kontinuierliches, in dem gleichen Nähemaß
verbleibendes Verhältnis schwer möglich; in all diesen Beziehungen war
zwar wohl ein »Urphänomen« enthalten, allein dies lebte sich in einem häufigen
Wechsel von Angezogen- und Abgestoßenwerden aus, von Sympathie und
Verstimmung, von Gefühl des Zusammengehörens und empfundener Distanz.
Antithesis und Synthesis sind bei ihm
nicht definitive Parteien; wie sich vielmehr in ihnen nur eine höchste
Lebenssynthese auseinander- und wieder zusammenlebt, deutet schon eine
jugendliche Äußerung über Wieland an: er liebe ihn und er hasse ihn -
das sei eigentlich eins -, er nehme eben Anteil an ihm.
Jene höchste Einheit kann sich nicht
unmittelbar, sondern nur in der Rhythmik relativer Synkrisis und relativer
Diakrisis zeigen - und so ist diese ganze Gegensätzlichkeit in Sein,
Stimmung, Verhältnissen, das Symbol jenes Abschließenden, das er in der
Wirklichkeitserkenntnis zu suchen bekennt, des »Gesetzes, von dem in der
Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind!«
Die Polarität aber ergänzt sich durch
das Gleichgewicht, als eine andere Hauptkategorie der Goetheschen
Weltanschauung.
All deren große Maximen finden ihren
Generalnenner in der der Einheit und bilden gewissermaßen die ideellen
Kanäle, durch die die Besonderheiten und durch- und gegeneinander
spielenden Lebendigkeiten der Welt in deren geheimnisvoll göttliche
Einheit zurückfließen.
Das Gleichgewicht jedes Wesens in sich
ist das Symbol jener absoluten Einheit, mit ihm spricht sich diese in der
Sprache der in lauter Relationen lebenden Welt aus.
Goethe hat offenbar die Vorstellung
gehabt, dass jedem Wesen ein bestimmtes Maß von Kraft, Vitalität,
Bedeutung, oder wie man die innere Lebenssubstanz nennen mag, zugeteilt
ist, ein Maß, das eine gewisse Schwankungsbreite und innerhalb dieser ein
Optimum besitzt.
Wo nun die Verteilung der Eigenschaften
und Betätigungen eines Wesens dieses Optimum, die für das Wesen »richtige«
Lebenssumme darbietet, da befinden sich die einzelnen Elemente im »Gleichgewicht«.
So fasst er das Wesen der Organisation
auf:
»Siehst du also dem einen Geschöpf
besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur gleich: Wo leidet es
etwa Mangel anderswo? -
Finden wirst du sogleich zu aller
Bildung den Schlüssel.«
Es kommt nicht darauf an, ob er für
dieses Verhältnis überall das Wort Gleichgewicht gebraucht, sondern
darauf, dass der Sache nach diese Kategorie für ihn besteht, als
gestaltende, ordnende, wertbestimmende Form in seiner Weltanschauung.
Dass zwei Organe oder Funktionen sich im
Gleichgewicht befinden, ist ihnen unmittelbar nicht anzusehen; denn es
gibt für sie, als lebendige, keine Waage und keinen Meterstab, an dem
ihre Größen sich miteinander konfrontieren ließen.
Das Gleich-Gewichtige an ihnen ist, dass
das eine in seinem bestimmten Maße genau so wichtig für die
Gesamtexistenz des Wesens ist, wie das andere. Jenes durch »besonderen
Vorzug« bezeichnete Organ des Geschöpfes befindet sich mit dem »Mangel
leidenden« dennoch im Gleichgewicht, weil sie in Hinsicht des Dienstes,
den sie beide üben, gleichmäßig richtig, gleichmäßig wichtig sind.
Eine andere Art, die Stellung eines
Weltelementes vom Motiv des Gleichgewichtes her zu bestimmen, schließt
sich an.
Vielleicht jedes Wesen, mindestens aber
der Mensch, steht seiner Idee nach gleichsam im Mittelpunkte vieler
Linien, deren jede diesseits und jenseits seiner in einem absoluten Pol
abschließt.
Er hat seine richtige Stellung immer
zwischen zwei einander entgegengesetzten Extremen; und der Punkt dieses »Gleichgewichts«
wird nicht, wie es vorher schien, durch sein sonst gegebenes Lebensoptimum
bestimmt, so dass er bei den verschiedensten Lagen auf jenen Linien noch
immer der richtige sein könnte, sondern umgekehrt, nur die objektiv
gleiche Distanz von jedem Pol bestimmt nun seine Richtigkeit.
So also:
»Wiege zwischen Kälte Und Überspannung dich im Gleichgewicht.«
Eine andere Polarität, jetzt im
negativen Ausdruck:
»Unsrer Krankheit schwer Geheimnis
Schwankt zwischen Übereilung Und zwischen Versäumnis.«
Aus dem Ethischen erweitert sich dies
zur allgemeinen geistigen Norm: »Wie wir Menschen in allem Praktischen
auf ein gewisses Mittleres angewiesen sind, so ist es auch im Erkennen.
Die Mitte, von da aus gerechnet, wo wir stehen, erlaubt wohl auf- und abwärts
mit Blick und Handeln uns zu bewegen.
Nur Anfang und Ende erreichen wir nie,
weder mit Gedanken noch Tun, daher es rätlich ist, sich zeitig davon
loszusagen.« Im ganz Persönlichen (aber mit unverkennbarer Andeutung
eines Typischen) spricht er einmal gelegentlich des Verhältnisses zu zwei
Freunden von »dem Allgemeinen, das mir gemäß war« - und
charakterisiert dies als ein Mittleres, da von diesem aus der eine ganz in
das Einzelne ging, der andere ganz in ein Allgemeinstes, »wohin ich ihm
nicht folgen konnte«.
Der aristotelische Gedanke, die Tugend
sei immer ein Mittleres zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, scheint
hier in sehr vertiefter Gestalt aufzuleben.
Denn während Aristoteles jede objektive
und überindividuelle Bestimmung dieser »Mitte« ausdrücklich ablehnt,
steht offenbar vor Goethes Augen ein ideeller, geistig-sittlicher Kosmos,
auf dessen Mittelpunkt der Mensch angewiesen ist (um andere Wesen mag sich
ein anderer bauen) - vielleicht von dem Gefühle aus, dass wir die Totalität
des Daseins doch am weitesten beherrschen, wenn wir uns in ihrer Mitte
halten.
In ein Extrem schwingend, mögen wir
nach dieser einen Seite ins Weite und Weiteste gelangen; aber dies muss
mit so großer Einbuße an der entgegengesetzten Richtung bezahlt werden,
dass in der Schlussbilanz der Verlust den Gewinn überwiegt.
Hier zeigt sich der tiefste Sinn jener
»Ausgeglichenheit«, die, wenn nicht die Wirklichkeit, so doch die Norm
des Goetheschen Lebens gewesen ist, und die dem oberflächlichen Blick als
Kühle erschienen ist, als Versicherung gegen die Gefahr der Extreme, als
Harmonisierung um jeden Preis und aus einem ästhetisierenden und
wohlweisen Klassizismus heraus.
In Wahrheit gibt das von ihm gepriesene
und erstrebte »Gleichgewicht«, das »Mittlere«, den Punkt der Souveränität
an, von dem aus die Gebiete des Lebens am weitesten beherrschbar, seine Kräfte
am vollkommensten verfügbar sind: ein Herrscher pflegt auch nicht an der
Grenze seines Landes, sondern, aus den entsprechenden Gründen, möglichst
in seinem Zentrum zu residieren.
Indem ihm das objektive und das
subjektive Sein in Polaritäten auseinandergeht und dies freilich schon
ein einheitliches Formprinzip bezeichnet, zieht sich dies sozusagen
praktisch in den beiden Bedeutungen des »Gleichgewichts« noch einmal zu
großen Maximen zusammen: dem Vitalitätsmaß, das jedem Wesen nach seiner
Grundform, seinem Typus eignet, und das sich gleichmäßig durch alle
Formverschiebung seiner Organe hindurch erhält - und der menschlichen
Angewiesenheit auf das »Mittlere« als auf die zentrale Position, von der
sich nach den jeweils entgegengesetzten Polen des Lebens ein Maximum
beherrschten und bereicherten Gebietes spannt.
In den mannigfaltigsten, auch negativen
Formen ist in seiner persönlichen Lebenskonfiguration das »Gleichgewicht«
nach diesen beiden Bedeutungen zu erkennen.
So, wenn er angesichts der Lücken
seiner Begabung die Totalität und Ausgeglichenheit seines Wesens
wenigstens ideell herstellt: »Ich hörte mich anklagen, als sei ich ein
Feind der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher schätzen kann
als ich, da sie gerade das leistet, was mir zu bewirken völlig versagt
worden.«
»Je weniger mir eine natürliche Anlage
zur bildenden Kunst geworden war, desto mehr sah ich mich nach Gesetzen
und Regeln um; ja ich achtete weit mehr auf das Technische der Malerei,
als auf das Technische der Dichtkunst; wie man denn durch Verstand und
Einsicht dasjenige auszufüllen sucht, was die Natur Lückenhaftes an uns
gelassen hat.«
Und nach der anderen Seite hin: »In den
hundert Dingen, die mich interessieren, konstituiert sich immer eins in
der Mitte als Hauptplanet, und das übrige Quodlibet meines Lebens treibt
sich indessen in vielseitiger Mondgestalt umher, bis es einem und dem
anderen auch gelingt, gleichfalls in die Mitte zu rücken.«
Er fühlte sich sozusagen immer im
Mittelpunkte seiner Existenz.
Er selbst deutet öfters an, wie leicht
sein Geist in die eine oder andere Tendenz oder Interessiertheit
hineinglitt, jedes Mal damit gleichsam ein besonderes Geistesorgan
ausbildend, und wie leicht er von diesen einseitigen Bewegtheiten sich
wieder zu Zentralität und Gleichgewicht herstellte.
Er hat die Welt gleichsam ohne Stockung
durch sich hindurch geleitet, das Gleichgewicht seines inneren Daseins war
nichts anderes, als das Gleichgewicht in seiner aufnehmenden und
abgebenden Beziehung zur Welt.
Und so wird er das Gleichgewicht nicht
als eine kosmische Idee statuiert haben, weil er es zufällig in seinem
Subjekt besaß, sondern dieser Besitz war nur die Innenseite seines
Lebensverhältnisses zur Welt, und erst damit der Rechtstitel dazu, einen
persönlichen Zustand zur Maxime des Weltverständnisses zu machen. |