Georg Simmel:
Nietzsches Moral
ex: Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung Nr.225,
Morgenblatt vom 4.Mai 1911, Illustrierter Teil Nr. 104, S. 1-3, Berlin
Solange Menschen über Moral
philosophieren, das heißt, solange sie die sittlichen Werte, die tatsächlich
empfundenen, die praktisch ausgeübten, oder die bloß geforderten in ein
einheitliches Bild, in ein begriffliches Prinzip fassen wollen - so lange
suchen sie einem tiefen Dualismus den Boden für einen solchen Bau
abzuringen.
Wir empfinden das Leben als ein
absatzloses Gleiten durch eine Unübersehbarkeit höchst entgegengesetzter
Zustände, eine fortwährende Anpassung an unberechenbare Situationen,
eine nach oben und unten schwankende Entwicklung, für die erst der Tod
ein Definitivum gibt.
Und diesem wogenden Rhythmus der
Lebenswirklichkeit stellen nun die Moralprinzipien ein Sollen gegenüber,
in feste Begriffe gebannt, einen unbeweglichen Imperativ, eine Forderung,
die dem gegebenen Dasein mit seinen Instinkten, Kräften und Nöten nicht
nur inhaltlich ganz entgegengesetzt ist - dies würde in dem legitimen,
unverwischlichen Gegensatz von Wirklichkeit und Ideal unterkommen -
sondern gerade seiner Form, seiner ganzen inneren Wesenheit nach.
Mag das sittliche Sollen religiös oder
sozial, vernunftmäßig oder naturalistisch, auf Glück oder auf Aszese
gerichtet sein, immer tritt es mit einer Abgeschlossenheit, einer
selbstgenugsamen Einheit auf, die eine tiefe Fremdheit, etwas wie eine
Unberührsamkeit zwischen all jenen Moralprinzipien und der
unbeschreiblichen, nur zu erlebenden Bewegtheit des Lebens selbst stiftet.
Von jeher hat man deshalb in der
philosophischen Ethik etwas eigentlich Unlebendiges empfunden, als träfen
ihre Normen nicht oder nur ausnahmsweise den Punkt, an dem sie unsere
Wirklichkeit ergreifen und gestalten, und von dem aus sie sich als Ideale
eben dieser Wirklichkeit offenbaren könnten.
Hier setzt die Leistung Nietzsches ein;
deren letzte Absicht ist, die Ideale, die Werte, das Sollen des Lebens aus
dem Leben selbst zu entwickeln.
Er macht nicht den aussichtslosen
Versuch des Naturalismus: den Dualismus der Wirklichkeit und des Wertes
des Lebens in Abrede zu stellen und den Menschen in die einreihige
Existenz des Tieres und der Pflanze zu bannen, über die er doch tatsächlich
in jedem Augenblick die Reihe der Werte und der in irgendeinem Sinne
idealen Forderungen setzt; aber er wehrt sich ebenso gegen die christliche
und Kantische Moral, die dem Leben ein Gesetz aus einer, seiner eigenen
Bewegung und Bedeutung fremden, ihm jenseitigen Welt aufdrängen will.
Er sucht eine dritte Möglichkeit: dem
Leben selbst sein Sollen, sein Ideal abzugewinnen, ohne es doch mit dessen
einfach gegebener Tatsächlichkeit zusammenfallen zu lassen. Er stellt
eine neue Tafel über das Leben - eine Tafel aber, deren Inhalt das Leben
selbst ist.
Dies setzt allerdings die besondere
Vorstellung voraus, die er vom Leben als solchem hat. Leben ist ihm Häufung
von Kräften, von Kämpfen und Siegen, freilich auch von Leiden und
Niederlagen - und eben damit ein fortwährendes Aneignen, Vergewaltigen,
Insicheinziehen.
Leben ist unaufhörliches Verbrauchen
von dem, was um das Leben herum ist, auch anderer Leben; und der Verzicht
auf Kampf, Unterdrückung, Ausnutzung bedeutet so viel wie Verzicht auf
das Leben selbst.
Es ist sein Wesen, sich über sich
selbst emporzustrecken, weiter, stärker, voller zu werden und eben damit:
anderes zu verbrauchen, sich von anderem zu nähren, sich über anderes zu
erheben.
Leben, könnte man sagen, heißt für
ihn Mehr-Leben, und darum ist es unmittelbar Wille zur Macht. Ist Leben
der absolute Wert des Lebens, so kann es dies nur sein, wenn es über sich
das Ideal jener Erhebung seiner selbst hat, das nur durch die Aufgipfelung
über andere zu verwirklichen ist, durch Bekämpfen, Besiegen,
Leidenmachen.
Das Leben ist also seinem tieferen und
vollen Sinne nach eine aristokratische Existenzform, und das Nivellement,
das jede Erhöhung auf Kosten anderer, jedes Mehr, das das Weniger anderer
voraussetzt, jede Aneignung, mit der seine Fülle sich speise und wachse,
grundsätzlich verhindert, ist ihm deshalb eine Sünde gegen den
Fundamentalwert des Lebens - eben gegen das Leben selbst.
In dieser Bedeutung, nicht in der beschränkten
darwinistischen, ist das Leben »Entwicklung«, ist die Steigerung das
heisst das Mehrleben der Gattung, des Typus Mensch, die mit dem Leben
selbst, als das Leben selbst gegebene moralische Forderung.
Dass in dem Menschen der Übermensch
lebt als seine Zukunft, sein Auftrag, seine Hoffnung - das ist nichts als
der in der Form des Menschentums verkörperte Gedanke, dass das Leben
seinem Wesen und Begriff nach ein Über-Leben in sich trägt.
Darum sind alle demokratisch
christlichen Ideale: Selbstlosigkeit, Demut, Entsagung, Sichhingeben an
die Zukurzgekommenen, die Seligpreisung der Elenden und Schwachen - diese
sind ihm das schlechthin Kontraideale, der Verfall des Lebens, sein Verrat
an sich selbst.
Es kann seinen jeweiligen Höhepunkt nur
an seinen jeweilig höchsten Exemplaren haben, weil es seiner Struktur
nach jede Höhe nur durch die Tiefe anderer, nur durch Herrschaft, durch
irgendeine Art von Ausbeutung (in welchem sublimen Sinne immer), durch
Machtübung gewinnen kann.
Wo also die starken und aufrechten, die
vornehmen und siegenden Naturen darauf verzichten, sich durchzusetzen,
wenn sie statt der Kraft und Schönheit, der Feinheit und Freiheit, kurz
statt der Steigerung des Lebens nur die Eigenschaften ausbilden, die der
Masse, das heißt den hinter ihnen Zurückgebliebenen, nützen, so müssen
jene Anlagen sich zurückbilden.
Christentum und Demokratie zielen darauf
ab, die Schwachen und Unbegabten, die Kranken und Mitleidswürdigen zu
konservieren, den Lebensprozess der Menschheit, der auf deren Vernichtung
und Ausstoßung geht, rückläufig zu machen.
Diese Moral also, in der die im Lauf der
Geschichte erwachsene Präponderanz der Masse sich ausdrückt, ist es,
gegen die sein ganzer Hass sich richtet, und der er, da sie als »die
Moral schlechthin« gilt, seinen Immoralismus entgegenstellt: nicht als
die Leugnung eines Ideals über der bloßen Tatsächlichkeit des Lebens;
sondern nur einer solchen, mit der die niederziehenden, das Leben
herabsetzenden, weil seiner aristokratischen Struktur widersprechenden
Wertungen inthronisiert sind.
Wenn aber das Leben in diesem strengen
Sinne das Ideal des Lebens ist, so kann die Wertfrage sich nur auf die
Beschaffenheit, auf das Sein des Menschen richten, aber nicht auf seine
Wirkungen.
Hier liegt ein Missverständnis aus den
Gewohnheiten der Moralen, die Nietzsche gerade zurückweist, besonders
nahe. Es gibt genug aristokratische Wertsetzungen in unserer Kultur.
Ihr moralisches Recht aber holen sie
sich alle daraus, dass aus der innerlichen und äußerlichen Bevorzugtheit
von Individuen die wertvollsten und wohltätigsten Erfolge für die
anderen, für die weniger Begünstigten, für die Gesamtheit hervorgehen
sollen, dass der mächtige und begünstigte Mensch das beste Mittel für
die Zwecke sei, die unterhalb seiner oder wenigstens außerhalb seiner
liegen.
Aber indem so dem Starken und
Herrschenden ein schlechtes Gewissen imputiert wird, falls er sein Sein,
seine Stellung, seine Taten nicht durch ihre Bedeutung für die Schwachen
und Beherrschten legitimiert und sozusagen entschuldigt, wird ja gerade
der Wert des Lebens, der nichts ist als der Eigenwert des jeweils höchsten
Lebens, wieder verneint! Der Wert des höchsten, stärksten, lebendigsten,
wenn man will: ununterdrücktesten Menschen liegt für Nietzsche ausschließlich
darin, dass das Leben es zu dieser Höhe seiner selbst gebracht hat, in
seinem Sein, nicht in seinen Ergebnissen, in denen erst das Sekundäre des
Lebens steckt, er bewirkt nicht - wonach jene anderen Moralen ihn schätzen
- den Fortschritt, sondern er ist der Fortschritt.
Nietzsche ist nichts weniger als ein »Sozialaristokrat«.
Vielmehr: die Ausbildung des aristokratischen Menschen ist ihm die
Rechtfertigung, dass überhaupt eine Gesellschaft besteht, und nicht
umgekehrt.
An dieser völligen Ablehnung eines
sozialen Effektes der Aristokratie zeigt sich die Verschiedenheit des
sozialen Interesses gegen das Interesse an der Gattung, an dem Typus
Mensch, die das moderne Empfinden ohne weiteres für solidarisch zu halten
pflegt.
Ganz unbefangen glauben wir die
absoluten Werte der Menschheit damit gefördert, dass die sozialen, die
der Massen, des Durchschnitts, der unteren Stände gehoben werden.
Möglich, dass dieser Glaube richtig
ist; aber selbstverständlich ist er nicht. Er bedarf des Beweises - der
freilich so wenig wie der des Gegenteils zu führen sein dürfte - gegenüber
dem anderen, dass das Leben unserer Gattung seinen eigentlichen Wert nur
in der Höhe der Eigenschaften hat, die ihre höchsten Exemplare
ausbilden.
Wenn Nietzsche es deshalb als den größten
Irrtum bekämpft, das Wesentliche und Wertvolle eines großen Mannes in
die Erfolge seines Tuns zu setzen, statt in die Stufe des Lebens, zu der
mit ihm die Gattung erhoben ist - so muss sich diese Ablehnung des bloßen
Wirkungswertes auch nach innen wenden.
Wenn es den Wert des großen Menschen
nichts angeht, was andere davon haben, so auch nichts, was er selbst als
Subjekt davon hat; jener Wert ist von dem Reflex, den er im Lust- oder
Leidempfinden des Menschen selbst findet, völlig unabhängig. An diesem
Punkte ist die Nietzschische Moral auf das schlimmste, ja empörendste
missverstanden worden.
Weil nur an der Einzelperson die Fülle,
Hoheit, Kraft, das Sichselbstgenügen, kurz, der ganze Wert alles Lebens
überhaupt besteht, weil er ihr das Recht zu jedem Sieg, Herrschaft, noch
so gewalttätiger Steigerung ihres in sich wertvollen Lebens zusprach -
hat man ihn für einen Lehrer des persönlichen Genusses, des subjektiv
egoistischen »Sichauslebens« verleumdet, ihn, dem der Mensch nur wichtig
ist, insoweit der objektive Wert des gesteigerten Lebens, der Gewinn einer
höheren Stufe unseres Gattungslebens in ihm erscheint; und der gerade
dazu die strengste Zucht, die Ausübung der Vorrechte als Pflichten, die
Schule des tiefsten Leidens verlangt.
Wenn Glück das Echo bedeutet, das die
innere und äußere Schönheit, die Vertiefung, Kraft und Eigenart des
Wesens, kurz unsere objektiven Werte in unserem Gefühlsleben finden, so
gehört es natürlich zu unserer Vollkommenheit; und ebenso, wenn aus ihm
Mut und Schwungkraft und Helligkeit auf unser Tun und Sein zurückstrahlen.
Aber Lust und Glück zu einem Ziel und
Eigenwert des Lebens zu machen - das erscheint ihm als die niedrigste
Weichlichkeit der Seele. Die bürgerlich enge Alternative freilich: ob man
für das eigene Wohl oder das Wohl der anderen sorgen solle, lässt
Nietzsche weit hinter sich.
Wie vollendet der Mensch sei, in welcher
objektiven Höhe seine Beschaffenheit stehe, das ist ihm die letzte Frage
der Moral, der gegenüber alles Ergehen, alle bloßen Gefühle der
Subjekte etwas Sekundäres sind; gerade wie er die Wirkungen unserer
Existenz, so eng und bedeutsam sie auch der Tatsache nach mit dieser verknüpft
seien, als einen bloß sekundären Abglanz des eigentlich moralischen
Wertes: dessen, was wir sind - erkannt hatte; womit er die andere
Alternative überwand, in der noch Kant befangen war: wenn der Wert
unseres Lebens nicht in unserem Tun liegt, so muss er in unserem Genießen
liegen.
An diesem Punkt wohnt das zutiefst
Originelle der Nietzscheschen Ethik. Wo sonst die Einzelpersönlichkeit
das Interessenzentrum ausmacht, und wo statt eines Imperativs, der den
sittlichen Wert an einen bestimmten Inhalt oder eine abstrakte Formel
bindet, das bewegte Leben selbst zu unserer Triebfeder wurde, da schien überall
das Subjekt, der Egoismus, das Glücksempfinden das praktische Dasein zu
leiten.
Nietzsche erst hat verkündet, dass in
der reinen Beschaffenheit der Einzelperson und ohne, dass sie den Boden
des Lebens für eine transzendente Abstraktion preiszugeben brauchte, ein
objektiver Wert ruhen kann, erhaben über alles Geniessenwollen, über
allen Egoismus des Subjekts.
Indem das Leben der höchste Wert ist
und dessen Forderung in sich selbst trägt, ist der höchste Mensch als
Existenz, als Gipfel des Typus Mensch eben der höchste, objektive Wert,
ganz unabhängig davon, ob in diesem Menschen selbst dies gesteigerte,
herrschende, die Menschheit eine Stufe emporreissende Leben sich als Lust
oder als Leid reflektiert.
Der Lebensbegriff ist die Brücke, über
die hin Nietzsche das Sein und Beschaffensein des einzelnen Menschen mit
der absoluten Objektivität des Wertes, über alle bloße Wirkungs- und
alle bloße Genussfrage erhaben, verbindet.
Und nun ein Letztes. Es besteht ein tatsächliches,
ethisch gültiges Verhalten, in dem diese Elemente, wie die
Moralphilosophie Nietzsches sie zusammenfügt, in der Naivität der Praxis
oder eines organischen Wachstums sich als eine Einheit offenbaren: die
Tatsache der Vornehmheit.
Denn sie bedeutet doch wohl dies: dass
der objektive Wert der Person empfunden wird, dass die Persönlichkeit
sich selbst in der Unmittelbarkeit ihres Seins und Verhaltens als etwas
Wertvolles fühlt.'
' Ich entnehme diese Sätze der ausführlicheren,
wenngleich nach einem etwas anderen Gesichtspunkt orientierten Darstellung
in meinem Buch: »Schopenhauer und Nietzsche« [in: GSG 10, S.167-408].
Der Aristokrat mag meinen, dass Menschen
und Dinge ihm schlechthin zu dienen haben; vom Parvenü und bloß
egoistischen Genüssling unterscheidet es ihn, dass er ganz von innen her,
nicht nur in aufgeblasener Illusion, die doch immer eine geheime
Unsicherheit enthält, dies durch die Qualität seiner Person nach
sachlicher Gerechtigkeit zu verdienen glaubt und sich auch demgemäss verhält;
nur dass die Pflicht, mit der er diesen Rechten entspricht, sich zunächst
auf ihn selbst richtet: er ist verpflichtet, sein Sein so zu gestalten
oder zu bewahren, dass ihm von diesem her seine Rechte zukommen.
Auf die Form dieser Empfindungsweise
geht die ganze Wertrangierung hin, die uns an Nietzsche entgegentritt: die
unbedingte Konzentrierung des Wertes auf das Individuum, die weder seinem
äußeren Tun, noch seinem subjektiven Genießen zukommt, sondern der
Bedeutung seines Seins als einer Stufe des ins Unendliche aufschreitenden
Lebens.
Darum ist es auch gleichgültig, welcher
Preis an individuellen Existenzen, an subjektivem Leiden, an Opfern durch
Härte und Unterdrückung gezahlt werden muss, damit das Leben zu seinen Höhepunkten
gelange, die als solche über seinen Wert entscheiden: der vornehme Mensch
fragt nicht, »was es kostet« - weder was es andere, noch was es ihn
selbst kostet.
Es ist das Wesen des vornehmen Menschen,
dass er sich nur vor sich selbst verantwortlich fühlt, vor der Idee
seines eigenen Seins und dessen Würde.
Das aber ist der tiefste moralische Sinn
jenes Begriffes vom Leben, wie er Nietzsches Ethik fundamentiert: das
Leben ist keiner Instanz jenseits seiner selbst verantwortlich, weder vor
einem Gott, noch vor einer Idee, weder vor dem Glücksbedürfnis des
Menschen, noch vor den äußeren Folgen seines Tuns.
Alles dies dependiert erst davon, dass
das Leben sein letztes Ideal in sich selbst trägt, seine Wirklichkeit die
Forderung einer höheren Wirklichkeit seiner selbst.
Nur vor diesem, ihm selbst immanenten
Imperativ seiner eigenen Steigerung, Entwicklung, seines Stärker-, Schöner-,
Reicher-, Freier-Werdens, kurz vor dem Imperativ, mehr Leben zu sein, ist
das Leben verantwortlich.
Indem das Vornehmheitsideal das Ideal
dieses Lebens gleichsam anschaulich macht, ist es mit der absoluten
Strenge seiner auf sich selbst allein eingestellten Forderung die Gewähr,
dass dieses Ideal des Lebens sich weder in naturalistische Formlosigkeit,
noch in die Subjektivität eines bloßen Selbstgenusses verliere. |