Georg Simmel: Brücke und Tür
ex: Der Tag. Moderne illustrierte
Zeitung Nr. 683, Morgenblatt vom 15. September 1909, Illustrierter Teil
Nr. 216, S. 1-3 (Berlin)
Das Bild der äußeren Dinge hat für uns die
Zweideutigkeit, dass in der äußeren Natur alles als verbunden, aber
auch alles als getrennt gelten kann.
Die ununterbrochenen Umsetzungen der Stoffe wie der
Energien bringen jedes in Beziehung zu jedem und machen aus allen
Einzelheiten einen Kosmos.
Andererseits aber bleiben die Gegenstände in das
unbarmherzige Außereinander des Raumes gebannt, keinem Materienteil
kann sein Raum mit einem anderen gemeinsam sein, eine wirkliche Einheit
des Mannigfaltigen gibt es im Raume nicht.
Und durch diesen gleichen Anspruch an sich
ausschließende Begriffe scheint das natürliche Dasein sich ihrer
Anwendung überhaupt zu entziehen.
Nur dem Menschen ist es, der Natur gegenüber,
gegeben, zu binden und zu lösen, und zwar in der eigentümlichen Weise,
dass eines immer die Voraussetzung des anderen ist.
Indem wir aus der ungestörten Lagerung der
natürlichen Dinge zwei herausgreifen, um sie als »getrennt« zu
bezeichnen, haben wir sie schon in unserem Bewusstsein aufeinander
bezogen, haben diese beiden gemeinsam gegen das Dazwischenliegende
abgehoben.
Und umgekehrt: als verbunden empfinden wir nur, was
wir erst irgendwie gegeneinander isoliert haben, die Dinge müssen erst
außereinander sein, um miteinander zu sein.
Praktisch wie logisch wäre es sinnlos, zu verbinden,
was nicht getrennt war, ja, was nicht in irgendeinem Sinne auch getrennt
bleibt.
Nach welcher Formel nun in den menschlichen Vornahmen
beide Wirksamkeiten sich zusammenfinden, ob die Verbundenheit oder ob
die Getrenntheit als das natürlich Gegebene empfunden wird, und das
jeweilig andere als die uns gestellte Aufgabe - danach lässt sich all
unser Tun gliedern.
Im unmittelbaren wie im symbolischen, im
körperlichen wie im geistigen Sinne sind wir in jedem Augenblicke
solche, die Verbundenes trennen oder die Getrenntes verbinden.
Die Menschen, die zuerst einen Weg zwischen zwei
Orten anlegten, vollbrachten eine der größten menschlichen Leistungen.
Sie mochten noch so oft zwischen beiden hin und her
gegangen sein und sie damit sozusagen subjektiv verbunden haben: erst
indem sie der Erdoberfläche den Weg sichtbar einprägten, waren die
Orte objektiv verbunden, der Verbindungswille war zu einer Gestaltung
der Dinge geworden, die sich diesem Willen zu jeder Wiederholung darbot,
ohne von deren Häufigkeit oder Seltenheit noch abhängig zu sein.
Der Wegebau ist sozusagen eine spezifisch menschliche
Leistung; auch das Tier überwindet fortwährend und oft in der
geschicktesten und schwierigsten Weise einen Abstand, aber dessen Anfang
und Ende bleiben unverbunden, es bewirkt nicht das Wunder des Weges: die
Bewegung zu einem festen Gebilde, das von ihr ausgeht und in das sie
eingeht, gerinnen zu lassen.
Im Bau der Brücke gewinnt diese Leistung ihren
Höhepunkt.
Hier scheint nicht nur der passive Widerstand des
räumlichen Außereinander, sondern der aktive einer besonderen
Konfiguration sich dem menschlichen Verbindungswillen entgegenzustellen.
Dieses Hindernis überwindend, symbolisiert die
Brücke die Ausbreitung unserer Willenssphäre über den Raum.
Nur für uns sind die Ufer des Flusses nicht bloß
außereinander, sondern »getrennt«; wenn wir sie nicht zunächst in
unseren Zweckgedanken, unseren Bedürfnissen, unserer Phantasie
verbänden, so hätte der Trennungsbegriff keine Bedeutung.
Aber nun kommt die natürliche Form hier diesem
Begriff wie mit positiver Absicht entgegen, hier scheint zwischen den
Elementen an und für sich die Trennung gesetzt zu sein, über die jetzt
der Geist versöhnend, vereinigend hinübergreift.
Zu einem ästhetischen Wert wird die Brücke nun,
indem sie die Verbindung des Getrennten nicht nur in der Wirklichkeit
und zur Erfüllung praktischer Zwecke zustande bringt, sondern sie
unmittelbar anschaulich macht.
Die Brücke gibt dem Auge denselben Anhalt, die
Seiten der Landschaft zu verbinden, wie sie ihn für die praktische
Realität den Körpern gibt.
Die bloße Dynamik der Bewegung, in deren jeweiliger
Realität sich der »Zweck« der Brücke erschöpft, ist zu etwas
Anschaulich-Dauerndem geworden, wie das Porträt den körperlich
seelischen Lebensprozess, mit dem die Realität des Menschen sich
vollzieht, sozusagen zum Stehen bringt und in einer einzigen, zeitlos
stabilen Anschauung, die die Wirklichkeit niemals zeigt und zeigen kann,
die ganze in der Zeit fließende und verfließende Bewegtheit dieser
Wirklichkeit sammelt.
Die Brücke verleiht einem letzten, über alle
Sinnlichkeit erhabenen Sinn eine einzelne, durch keine abstrakte
Reflexion vermittelte Erscheinung, die die praktische Zweckbedeutung der
Brücke so in sich einzieht und in eine anschauliche Form bringt, wie
das Kunstwerk es mit seinem »Gegenstand« tut.
Ihren Unterschied gegen das Kunstwerk aber zeigt die
Brücke darin, dass sie mit all ihrer über die Natur hinausreichenden
Synthese sich nun doch dem Naturbild einordnet.
Sie steht für das Auge in einem viel engeren und
viel weniger zufälligen Verhältnis zu den Ufern, die sie verbindet,
als etwa ein Haus zu seinem Grund und Boden, der unter ihm für das Auge
verschwindet.
Ganz allgemein empfindet man eine Brücke in einer
Landschaft als ein »malerisches« Element; denn mit ihr wird die
Zufälligkeit des Naturgegebenen in eine Einheit erhoben, die zwar
völlig geistiger Art ist.
Allein sie besitzt durch ihre räumlich-unmittelbare
Anschaulichkeit eben den ästhetischen Wert, dessen Reinheit die Kunst
darstellt, wenn sie die geistgewonnene Einheit des bloß Natürlichen in
ihre inselhafte ideale Abgeschlossenheit rückt.
Während in der Korrelation von Getrenntheit und
Vereinigung die Brücke den Akzent auf die letztere fallen lässt, und
den Abstand ihrer Fußpunkte, den sie anschaulich und messbar macht,
zugleich überwindet, stellt die Tür in entschiedenerer Weise dar, wie
das Trennen und das Verbinden nur die zwei Seiten eben desselben Aktes
sind.
Der Mensch, der zuerst eine Hütte errichtete,
offenbarte, wie der erste Wegebauer, das spezifisch menschliche Können
gegenüber der Natur, indem er aus der Kontinuität und Unendlichkeit
des Raumes eine Parzelle herausschnitt und diese einem Sinne gemäß zu
einer besonderen Einheit gestaltete.
Ein Stück des Raumes war damit in sich verbunden und
von der ganzen übrigen Welt getrennt.
Dadurch, dass die Tür gleichsam ein Gelenk zwischen
den Raum des Menschen und alles, was außerhalb desselben ist, setzt,
hebt sie die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen auf.
Grade weil sie auch geöffnet werden kann, gibt ihre
Geschlossenheit das Gefühl eines stärkeren Abgeschlossenseins gegen
alles Jenseits dieses Raumes, als die bloße ungegliederte Wand.
Diese ist stumm, aber die Tür spricht.
Es ist dem Menschen im Tiefsten wesentlich, dass er
sich selbst eine Begrenzung setze, aber mit Freiheit, d. h. so, dass er
diese Begrenzung auch wieder aufheben, sich außerhalb ihrer stellen
kann.
Die Endlichkeit, in die wir uns begeben haben, grenzt
immer irgendwo an das Unendliche des physischen oder metaphysischen
Seins.
Damit wird die Tür zum Bilde des Grenzpunktes, an
dem der Mensch eigentlich dauernd steht oder stehen kann.
Die endliche Einheit, zu der wir ein für uns
designiertes Stück des unendlichen Raumes verbunden haben, verbindet
sie aufs neue mit diesem letzteren, mit ihr grenzen das Begrenzte und
das Grenzenlose aneinander, aber nicht in der toten geometrischen Form
einer bloßen Scheidewand, sondern als die Möglichkeit dauernden
Wechseltausches - im Unterschiede gegen die Brücke, die Endliches mit
Endlichem verbindet; dafür enthebt sie uns im Beschreiten freilich
diesen Festigkeiten und muss vor der Abstumpfung durch tägliche
Gewöhnung das wunderliche Gefühl gewährt haben, einen Augenblick
zwischen Erde und Himmel zu schweben.
Während die Brücke, als die zwischen zwei Punkten
gespannte Linie, die unbedingte Sicherheit der Richtung vorschreibt,
ergießt sich von der Tür aus das Leben aus der Beschränktheit
abgesonderten Fürsichseins in die Unbegrenztheit aller Wegerichtungen
überhaupt.
Wenn in der Brücke die Momente von Getrenntheit und
Verbundenheit sich so treffen, dass jenes mehr als Sache der Natur,
dieses mehr als Sache des Menschen erscheint, so drängt sich mit der
Tür beides gleichmäßiger in die menschliche Leistung, als menschliche
Leistung zusammen.
Darauf beruht die reichere und lebendigere Bedeutung
der Tür gegenüber der Brücke, die sich sogleich darin offenbart, dass
es keinen Unterschied des Sinnes macht, in welcher Richtung man eine
Brücke überschreitet, während die Tür mit dem Hinein und Hinaus
einen völligen Unterschied der Intention anzeigt.
Dies hebt sie auch von dem Sinne des Fensters ganz
ab, das sonst, als Verbindung des Innenraums mit der äußeren Welt, der
Tür verwandt ist.
Allein das teleologische Gefühl dem Fenster
gegenüber geht fast ausschließlich von innen nach außen: es ist für
das Hinaussehen da, nicht für das Hineinsehen.
Es stellt die Verbindung zwischen dem Inneren und dem
Äußeren zwar vermöge seiner Durchsichtigkeit gleichsam chronisch und
kontinuierlich her; aber die einseitige Richtung, in der diese
Verbindung läuft, ebenso wie seine Beschränkung darauf, ein Weg nur
für das Auge zu sein, lässt dem Fenster nur einen Teil der tiefen und
prinzipiellen Bedeutung der Tür zukommen.
Freilich kann die besondere Situation auch von ihr
die eine Richtung ihrer Funktion mehr als die andere betonen.
Wenn an romanischen und gotischen Domen die
Maueröffnungen sich allmählich zu der eigentlichen Tür hin verengern
und man diese zwischen immer näher aneinander rückenden Halbsäulen
und Figuren erreicht, so ist damit der Sinn dieser Türen ersichtlich
als ein Hineinführen, nicht aber als ein Hinausführen - dieses
vielmehr nur als ein leidig unvermeidliches Akzidens - gemeint.
Jene Struktur führt den Hineingehenden mit
Sicherheit und wie mit sachtem, selbstverständlichem Zwang auf den
rechten Weg.
Diese Bedeutung setzt, was ich der Analogie wegen
anführe, die Reihung der Pfeiler zwischen Tür und Hochaltar fort.
Durch ihr perspektivisches Aneinanderrücken zeigen
sie den Weg, führen uns hin, gestatten kein Schwanken - was nicht der
Fall wäre, wenn wir die tatsächliche Parallelität der Pfeiler
wirklich sähen; dann zeigte der Punkt des Endes keinen Unterschied
gegen den des Anfangs, es wäre nicht markiert, dass wir bei dem einen
beginnen und an dem anderen enden müssen.
Allein so wunderbar hier die Perspektive für die
innere Wegerichtung der Kirche benutzt ist, so gibt sie sich
schließlich auch zu der umgekehrten her und lässt die Pfeilerreihe
durch die gleiche Verengerung auch vom Altar zur Tür, wie zu ihrer
Pointe, hinführen.
Nur jene äußere konische Form der Tür macht das
Hinein im Gegensatz zum Hinaus zu ihrem ganz unzweideutigen Sinn.
Aber das ist eben eine ganz einzigartige Situation,
die es symbolisiert, dass an der Kirche die Bewegung des Lebens, die
gleichberechtigt von innen nach außen wie von außen nach innen geht,
endet und von der einzigen Richtung abgelöst wird, die allein not tut.
Das Leben in der irdischen Ebene aber, wie es in
jedem Augenblick eine Brücke zwischen den Unverbundenheiten der Dinge
schlägt, steht ebenso in jedem innerhalb oder außerhalb der Tür,
durch die es sich von seinem Fürsichsein in die Welt, aber auch von der
Welt in sein Fürsichsein hineinbewegt.
Die Formen, die die Dynamik unseres Lebens
beherrschen, werden so durch Brücke und Tür in die feste Dauer
anschaulicher Gestaltung übergeführt.
Das bloß Funktionelle und Teleologische unserer
Bewegungen wird von ihnen nicht nur als von Werkzeugen getragen, sondern
es gerinnt sozusagen in ihrer Form zu unmittelbar überzeugender
Plastik.
Auf die gegensätzlichen Betonungen angesehen, die in
ihrem Eindruck herrschen, zeigt die Brücke, wie der Mensch die
Geschiedenheit des bloß natürlichen Seins vereinheitlicht, die Tür,
wie er die uniforme, kontinuierliche Einheit des natürlichen Seins
scheidet.
In der allgemein ästhetischen Bedeutung, die sie
durch diese Veranschaulichung eines Metaphysischen, diese Stabilisierung
eines nur Funktionellen gewinnen, liegt der Grund ihres speziellen
Wertes für die bildende Kunst.
Wenn man die Häufigkeit, mit der die Malerei beide
verwendet, auch dem artistischen Werte ihrer bloßen Form zuschreiben
mag, so besteht doch auch hier jenes geheimnisvolle Zusammentreffen, mit
dem sich die rein artistische Bedeutung und Vollendung eines Gebildes
immer zugleich als der erschöpfendste Ausdruck eines an sich
unanschaulichen, seelischen oder metaphysischen Sinnes zeigt: dem rein
malerischen, nur auf Form und Farbe gehenden Interesse etwa am
menschlichen Gesicht ist dann im äußersten Maße genügt, wenn dessen
Darstellung das Äußerste an Beseeltheit und geistiger
Charakterisiertheit einschließt.
Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer
trennen muss und ohne zu trennen nicht verbinden kann - darum müssen
wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst geistig als eine
Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden.
Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine
Grenze hat.
Der Abschluss seines Zu hauseseins durch die Tür
bedeutet zwar, dass er aus der ununterbrochenen Einheit des natürlichen
Seins ein Stück heraustrennt.
Aber wie die formlose Unendlichkeit des Seins erst an
seiner Fähigkeit der Begrenzung zu einer Gestalt kommt, so findet seine
Begrenztheit ihren Sinn und ihre Würde erst an dem, was die
Beweglichkeit der Tür versinnlicht: an der Möglichkeit, aus dieser
Begrenzung in jedem Augenblick in die Freiheit hinauszutreten.
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