Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Das Problem des Stiles

ex: Dekorative Kunst. Illustrierte Zeitschrift für Angewandte Kunst, hrsg. von H. Bruckmann, 11. Jg., No. 7 (April 1908), Bd. 16, S.307-316 (München)

Es ist lange ausgesprochen, dass das praktische Dasein der Menschheit in dem Kampf zwischen der Individualität und der Allgemeinheit aufgeht, dass fast an jedem Punkt unserer Existenz der Gehorsam gegen ein für alle gültiges Gesetz - äußerlicher oder innerlicher Art - in den Konflikt mit ihrer Bestimmtheit rein von innen heraus tritt, mit der nur dem eigenen Lebenssinne gehorsamen Selbständigkeit der Person.

Aber es dürfte paradox erscheinen, dass in diesen Kollisionen der politischen, wirtschaftlichen, sittlichen Gebiete sich nur eine viel allgemeinere Gegensatzform ausgestaltet, die nicht weniger das Wesen des künstlerischen Stiles auf seinen fundamentalen Ausdruck zu bringen gestattet.

Ich beginne mit einer ganz einfachen kunstpsychologischen Erfahrung.

Je tiefer und einzigartiger der Eindruck eines Kunstwerkes auf uns ist, desto weniger pflegt die Frage nach dem Stil des Werkes eine Rolle in diesem Eindruck zu spielen.

Bei irgend einer der zahllosen, wenig erfreulichen Statuen des 17.Jahrhunderts kommt uns vor allem ihr Barock-Charakter zum Bewusstsein, bei den antikisierenden Porträts um 18oo herum denken wir vor allem an den Zeitstil, an unzähligen, ganz gleichgültigen Bildern der Gegenwart erregt nichts anderes, als dass sie den naturalistischen Stil zeigen, allenfalls noch unsere Aufmerksamkeit.

Gegenüber aber einer Plastik von Michelangelo, einem religiösen Bilde von Rembrandt, einem Porträt von Velasquez wird uns die Stilfrage völlig gleichgültig, das Kunstwerk in seiner einheitlichen Ganzheit, mit der es vor uns steht, nimmt uns völlig gefangen, und ob es außerdem noch in irgend einen Zeitstil hineingehört, ist eine Frage, die mindestens dem bloß ästhetisch interessierten Beschauer gar nicht in den Sinn kommt.

Nur wo eine große Fremdheit der Empfindungsweise uns überhaupt nicht am Kunstwerke seine eigentliche Individualität erfassen lässt, so dass wir nur bis zu dem Allgemeineren und Typischen an ihm vordringen - wie es für uns z. B. vielfach bei der orientalischen Kunst der Fall ist - da bleibt auch ganz großen Werken gegenüber das Bewusstsein ihres Stiles lebendig und in besonderer Weise wirksam.

Denn das Entscheidende ist nun dies: Stil ist immer diejenige Formgebung, die, soweit sie den Eindruck des Kunstwerkes trägt oder tragen hilft, dessen ganz individuelles Wesen und Wert, seine Einzigkeitsbedeutung verneint; vermöge des Stiles wird die Besonderheit des einzelnen Werkes einem allgemeinen Formgesetz untertan, das auch für andere gilt, es wird sozusagen seiner absoluten Selbstverantwortlichkeit enthoben, weil es die Art oder einen Teil seiner Gestaltung mit anderen teilt und dadurch auf eine gemeinsame Wurzel hinweist, die überhaupt jenseits des einzelnen Werkes liegt - im Gegensatz zu den Werken, die völlig aus sich selbst, d. h. aus der rätselhaften, absoluten Einheit der künstlerischen Persönlichkeit und ihrer nur für sich selbst stehenden Einzigkeit gewachsen sind.

Und wie die Stilisiertheit des Werkes den Ton einer Allgemeinheit enthält, eines Gesetzes für Anschauung und Empfindung, das über die einzelne Künstlerindividualität hinaus gilt - so bedeutet sie eben dasselbe, vom Gegenstand des Kunstwerkes her gesehen.

Eine stilisierte Rose soll, im Unterschied gegen die individuelle Wirklichkeit der einzelnen Rose, das Allgemeine aller Rosen, den Typus Rose darbieten.

Verschiedene Künstler werden dies durch ganz verschiedene Gestaltungen zu erreichen suchen, - wie für verschiedene Philosophen dasjenige, was ihnen als das Gemeinsame aller Wirklichkeiten erscheint, etwas durchaus Verschiedenes, ja Entgegengesetztes ist.

Bei einem indischen Künstler, einem gotischen, einem Empirekünstler wird solche Stilisierung deshalb zu sehr heterogenen Erscheinungen führen.

Allein der Sinn einer jeden ist dennoch, nicht die einzelne Rose, sondern das Bildungsgesetz der Rose fühlbar zu machen, gleichsam jene Wurzel ihrer Form, die in aller Mannigfaltigkeit ihrer Formen als das alle zusammenhaltende Allgemeine wirksam ist.

Hier aber scheint ein Einwurf unvermeidlich.

Wir sprechen doch von dem Stil Botticellis oder Michelangelos, Goethes oder Beethovens.

Das Recht dazu ist dies: dass diese Großen sich eine, aus ihrem ganz individuellen Genie quellende Ausdrucksweise geschaffen haben, die wir nun als das Allgemeine in all ihren einzelnen Werken empfinden.

Dann mag solcher Stil eines individuellen Meisters von andern aufgenommen werden, so dass er der Gemeinbesitz vieler Künstlerpersönlichkeiten wird; an diesen andern äußert er sein Verhängnis als Stil, etwas neben oder über dem Persönlichkeitsausdruck zu sein, so dass die Sprache richtig sagt: diese habenden Stil Michelangelos, wie man einen Besitz hat, der nicht aus uns selbst hervorgewachsen, sondern von außen erworben und sozusagen erst nachträglich dem Umkreis unseres Ich hinzu gefügt ist.

Dagegen Michelangelo selbst ist dieser Stil, er ist mit dem eigenen Sein Michelangelos identisch und ist dadurch zwar das Allgemeine, das in allen künstlerischen Äußerungen Michelangelos zum Ausdruck kommt und sie färbt, aber nur weil er die Wurzelkraft dieser Werke und nur ihrer ist und deshalb sozusagen logisch, aber nicht sachlich von dem, was dem einzelnen Werke als solchem eigen ist, unterschieden werden kann.

In diesem Falle hat der Satz, dass der Stil der Mensch ist, seinen guten Sinn, freilich deutlicher so, dass der Mensch der Stil ist - während er in den Fällen des von außen kommenden Stiles, des mit andern und der Zeit geteilten, höchstens die Bedeutung hat, dass dieser zeigt, wo die Originalitätsgrenze des Individuums liegt.

Aus diesem Grundmotiv: dass der Stil ein Allgemeinheitsprinzip ist, das sich mit dem Individualitätsprinzip entweder mischt oder es verdrängt oder vertritt - entwickeln sich alle einzelnen Züge des Stiles als einer seelisch-künstlerischen Tatsächlichkeit.

Insbesondere zeichnet sich daran der prinzipielle Unterschied zwischen Kunstgewerbe und Kunst.

Das Wesen des kunstgewerblichen Gegenstandes ist, dass er viele Male existiert, seine Verbreitung ist der quantitative Ausdruck seiner Zweckmäßigkeit, denn er dient immer einem Zweck, den viele Menschen haben.

Das Wesen des Kunstwerks dagegen ist Einzigkeit: ein Kunstwerk und seine Kopie sind etwas völlig anderes als ein Modell und seine Ausführung, als die nach einem Muster hergestellen Exemplare eines Stoffes oder eines Schmuckstückes.

Dass aber unzählige Stoffe und Schmuckstücke, Stühle und Bucheinbände, Leuchter und Trinkgläser nach je einem Modell unterschiedslos produziert werden -

dies ist das Symbol dafür, dass jedes dieser Dinge sein Gesetz außerhalb seiner selbst hat, nur das zufällige Beispiel eines Allgemeinen ist, kurz, dass sein Formsinn der Stil ist und nicht die Einzigkeit, durch die eine Seele nach dem, was an ihr einzig ist, gerade in diesem einen Objekt zum Ausdruck kommt. Dies ist durchaus keine Deklassierung des Kunstgewerbes, so wenig überhaupt das Allgemeinheitsprinzip und das Individualitätsprinzip eine Rangordnung untereinander besitzen.

Sie sind vielmehr die Pole der menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten, von denen keiner entbehrt werden kann, und von denen jeder nur im Zusammenwirken mit dem andern, wenn auch in unendlich abgestuften Mischungen, das Leben, das innere wie das äußere, das aktive wie das genießende, an jedem seiner Punkte festlegt.

Und wir werden die vitalen Bedürfnisse kennen lernen, denen gerade nur die stilisierte, nicht aber die künstlerisch-individuelle Gerätschaft genügen kann.

Wie sich aber vorhin dem Begriff der künstlerischen Individualgestaltung gegenüber der Einwand regte, dass doch auch die großen Künstler einen Stil haben - nämlich den ihrigen, ein Gesetz zwar, und darum Stil, aber ein individuelles Gesetz - so hier der entsprechende: wir sehen doch auch, namentlich neuerdings, wie die Gegenstände des Kunstgewerbes individuell gestaltet werden, von ausgesprochenen Persönlichkeiten, mit dem unverkennbaren, unverwechselbaren Cachet eben dieser, wir sehen den einzelnen Gegenstand oft nur in einem einzigen Exemplar, vielleicht nur für einen einzigen Benutzer hergestellt.

Aber ein eigentümlicher, hier nur anzudeutender Zusammenhang lässt dies nicht zu einer Gegeninstanz werden. Wenn man von gewissen Dingen sagt, sie seien einzig, von anderen, sie seien ein einzelnes von vielen - so hat

"Daher hat auch das Material eine so große Stilbedeutung: die menschliche Gestalt z. B. fordert einen andern Stil der Darstellung, wenn man sie in Porzellan oder in Bronze, in Holz oder in Marmor vorführt. Denn das Material ist tatsächlich das Allgemeine, das sich gleichmäßig einer beliebigen Anzahl von besonderen Formen bietet, und das diese deshalb als ihre allgemeine Voraussetzung bestimmt."

dies oft, und sicher in diesem Falle, nur symbolische Bedeutung.

Wir meinen damit eine gewisse Qualität, die dem Dinge eigen ist und die seiner Existenz den Sinn der Einmaligkeit oder der Wiederholtheit gibt, ohne dass sein zufälliges äußeres Schicksal diesen ins Quantitative gewendeten Ausdruck seines Wesens immer realisierte.

Wir haben alle die Erfahrung gemacht, dass ein Satz, den wir vernehmen, uns als banal anwidert - ohne dass wir doch behaupten könnten, ihn schon oft oder vielleicht überhaupt schon gehört zu haben - er ist eben innerlich, qualitativ, abgegriffene Münze, auch wenn noch niemand sonst mit ihm hantiert hätte, er ist banal, weil er banal zu sein verdiente.

Und umgekehrt haben wir von manchen Leistungen und von manchen Menschen den gar nicht widerleglichen Eindruck, dass sie einzig sind - mögen die zufälligen Kombinationen des Daseins auch wirklich noch ein oder viele genau gleiche Dinge oder Seelen produzieren.

Das berührt keine von diesen, denn es ist ihr Sinn, sozusagen ihr Recht, einzig zu sein, oder vielmehr diese numerische Bestimmung ist nur der Ausdruck etwa für eine qualitative Vornehmheit des Wesens, deren Lebensgefühl Unvergleichbarkeit ist, auch wenn sie Pairs neben sich sieht.

Und entsprechend steht es mit den Singularitäten des Kunstgewerbes: weil ihr Wesen der Stil ist, weil die allgemeine künstlerische Substanz, aus der ihre besondere Gestalt gebildet ist, immer an ihnen fühlbar bleibt, ist es ihr Sinn, reproduziert zu werden, sind sie von innen her auf Vielmaligkeit angelegt, wenn auch Kostbarkeit, Kapriziosität oder eifersüchtige Ausschließung sie zufällig nur einmal wirklich werden lassen.

Anders aber steht es mit denjenigen künstlerisch gestalteten Gebrauchsgegenständen, die tatsächlich durch ihre Formgebung diese Stilbedeutung ablehnen und als individuelle Kunstwerke wirken wollen oder auch tatsächlich wirken.

Und gegen diese Tendenz des Kunstgewerbes möchte ich den schärfsten Protest einlegen.

Seine Gegenstände sind dazu bestimmt, in das Leben einbezogen zu werden, einem von außen gegebenen Zweck zu dienen.

Damit stehen sie in völligem Gegensatz zum Kunstwerk, das selbstherrlich in sich geschlossen ist, jedes eine Welt für sich, Zweck in sich selbst, schon durch

seinen Rahmen symbolisierend, dass es jedes dienende Eingehen in die Bewegungen eines ihm äußeren und praktischen Lebens ablehnt.

Ein Stuhl ist da, damit man darauf sitzt, ein Glas, damit man es voll Wein schenke und in die Hand nehme; machen beide nun durch ihre Formgebung den Eindruck jener selbstgenugsamen, nur dem eigenen Gesetz folgenden, die Autonomie der Seele ganz in sich ausdrückenden Kunstmäßigkeit - so entsteht der widrigste Konflikt.

Auf einem Kunstwerk zu sitzen, mit einem Kunstwerk zu hantieren, ein Kunstwerk für die Bedürfnisse der Praxis zu gebrauchen - das ist wie Menschenfresserei, die Entwürdigung des Herrn zum Sklaven - und zwar nicht eines Herrn, der es durch die zufällige Gunst des Schicksals, sondern von innen her, nach dem Gesetze seiner Natur ist.

Die Theoretiker, die man in einem Atem verkünden hört, dass das Kunstgewerbestück ein Kunstwerk sein solle, und dass sein höchstes Prinzip die Zweckmäßigkeit sei, scheinen den Widerspruch nicht zu fühlen: dass das Zweckmäßige ein Mittel ist - das also seinen Zweck außer sich hat - das Kunstwerk aber nie Mittel, sondern in sich beschlossenes Werk, niemals, wie jenes »Zweckmäßige«, sein Recht von etwas entlehnt, was nicht es selbst ist.

Das Prinzip, dass möglichst jedes Gebrauchsstück ein individuelles Kunstwerk sei, wie der Moses von Michelangelo oder der Jan Six von Rembrandt, ist vielleicht das karikierendste Missverständnis des modernen Individualismus.

Es will den Dingen, die für andere und anderes da sind, die Form derer geben, deren Sinn in dem Stolze des Für-sich-seins liegt; den Dingen, die gebraucht und verbraucht, gerückt und herumgereicht werden, die Form derer, die wie eine selige Insel unbewegt allen Trubel der Praxis überdauern; endlich den Dingen, die sich wegen ihres praktischen Gebrauchszweckes an das Allgemeine, Generelle in uns wenden, an das mit vielen Geteilte, will es die Form derer geben, die einzig sind, weil eine individuelle Seele ihre Einzigkeit in ihnen verkörpert hat, und die deshalb auch auf den Einzigkeitspunkt in uns gravitieren, auf den, wo jeder Mensch mit sich allein ist.

Und hier liegt nun endlich der Grund, weshalb alle diese Bedingtheit des Kunstgewerbes nicht etwa eine Herabsetzung bedeutet.

Statt des Charakters der Individualität soll es den Charakter des Stiles haben, der breiten Allgemeinheit – womit natürlich keine absolut breite gemeint ist, die jedem Banausen oder auch nur jeder Geschmacksrichtung zugängig wäre – und es vertritt damit innerhalb der ästhetischen Sphäre ein anderes, aber kein minderwertiges Lebensprinzip als die eigentliche Kunst.

Über dieses Anderssein darf es nicht täuschen, dass die subjektive Leistung seines Schöpfers dieselbe Feinheit und Größe, Vertiefung und Erfindungskraft zeigen kann, wie die des Malers oder des Bildhauers.

Daraus, dass der Stil sich auch im Beschauer an die Schichten jenseits der rein individuellen wendet, an die breiten, den allgemeinen Lebensgesetzen Untertanen Gefühlskategorien in uns, stammt die Beruhigung, das Gefühl von Sicherheit und Unaufgestörtheit, das der streng stilisierte Gegenstand uns gewährt.

Von den Erregungspunkten der Individualität, an die das Kunstwerk so oft appelliert, steigt dem stilisierten Gebilde gegenüber das Leben in die befriedeteren Schichten, in denen man sich nicht mehr allein fühlt, und wo - so wenigstens werden sich diese unbewussten Vorgänge deuten lassen - die überindividuelle Gesetzlichkeit der objektiven Gestaltung vor uns ihr Gegenbild indem Gefühl findet, dass wir auch unsererseits mit dem Überindividuellen, dem Allgemein-Gesetzlichen in uns selbst reagieren und uns damit von der absoluten Selbstverantwortlichkeit, dem Balancieren auf der Schmalheit der bloßen Individualität erlösen.

Dies ist die tiefere Veranlassung, weshalb die Dinge, die uns als Hintergrund oder Basis des täglichen Lebens umgeben, stilisiert sein sollen.

Denn in seinen Zimmern ist der Mensch die Hauptsache, sozusagen die Pointe, die, damit ein organisches und harmonisches Gesamtgefühl entstehe, auf breiteren, weniger individuellen, sich unterordnen den Schichten ruhen und sich von ihnen abheben muss.

Das Kunstwerk, das im Rahmen an der Wand hängt, auf dem Sockel steht, in der Mappe liegt, zeigt schon durch diese räumliche Abschließung, dass es sich nicht in das unmittelbare Leben mischt, wie Tisch und Glas, Lampe und Teppich, dass es der Persönlichkeit nicht den Dienst der »notwendigen Nebensache« leisten kann.

- Das Prinzip der Ruhe, das die häusliche Umgebung des Menschen tragen muss, hat mit wunderbarer instinktiver Zweckmäßigkeit zu der Stilisierung dieser Umgebung geführt: von allen Gegenständen unseres Gebrauches sind es wohl die Möbel, die am durchgehendsten das Cachet irgend eines »Stiles« tragen.

Am fühlbarsten wird dies am Esszimmer, das schon aus physiologischen Motiven die Ausspannung, das Herabsteigen aus den Erregungen und dem Wogen des einzelnen Tages in eine breitere, mit anderen geteilte Behaglichkeit begünstigen soll.

Ohne sich dieses Grundes bewusst zu sein, hat die ästhetische Tendenz von jeher gerade das Esszimmer besonders »stilisiert« haben wollen und hat die in den siebziger Jahren beginnende Stilbewegung in Deutschland zu allererst das Esszimmer ergriffen.

Wie aber allenthalben das Prinzip des Stiles ebenso wie das der Formeinzigkeit irgend eine Mischung und Versöhnung mit dem je entgegengesetzten aufzeigte - so rektifiziert sich von einer höheren Instanz aus auch die Reserve der Wohnungseinrichtung gegenüber der individuell-künstlerischen Gestaltung und die Forderung ihrer Stilisiertheit.

Eigentümlicherweise nämlich besteht - für den modernen Menschen - diese Stilforderung eigentlich nur für die einzelnen Gegenstände seiner Umgebung, keineswegs aber ebenso für die Umgebung als Ganzes.

Die Wohnung, wie sie der einzelne nach seinem Geschmack und seinen Bedürfnissen einrichtet, kann durchaus jene persönliche, unverwechselbare, aus der Besonderheit dieses Individuums quellende Färbung haben, die dennoch unerträglich wäre, wenn jeder konkrete Gegenstand in ihr dieselbe Individualität verriete.

Dies mag auf den ersten Blick sehr paradox erscheinen.

Aber angenommen, es gälte, so würde es zunächst erklären, weshalb Zimmer, die ganz streng in einem bestimmten historischen Stil gehalten sind, zum Bewohnen für uns etwas eigentümlich Unbehagliches, Fremdes, Kaltes haben - während solche, die aus einzelnen Stücken verschiedener, aber nicht weniger strenger Stile nach einem individuellen Geschmack, der freilich ein ganz fester und einheitlicher sein muss, komponiert sind, im höchsten Maße wohnlich und warm wirken können.

Ein Umkreis von Dingen, die völlig eines historischen Stiles sind, gehen eben zu einer in sich geschlossenen Einheit zusammen, die das darin wohnende Individuum sozusagen von sich ausschließt, es findet keine Lücke, in der sein persönliches, jenem vergangenen Stile fremdes Leben sich in ihn ergießen oder mit ihm vermählen könnte.

Dies wird aber merkwürdigerweise ganz anders, sobald das Individuum sich aus mannigfach stilisierten Objekten seine Umgebung nach seinem Geschmack zusammensetzt; dadurch bekommen sie ein neues Zentrum, das in keinem von ihnen für sich liegt, das sie nun aber durch die besondere Art ihrer Zusammenfügung offenbaren, eine subjektive Einheit, ein ihnen jetzt anfühlbares Erlebtsein durch eine persönliche Seele und eine Assimilation an diese.

Dies ist der unersetzliche Reiz, weshalb wir unsere Räume mit Gegenständen vergangener Zeiten ausstatten, und aus solchen, deren jeder das beruhigte Glück des Stiles, d. h. eines überindividuellen Formgesetzes trägt, ein neues Ganzes herstellen, dessen Synthese und Gesamtform nun dennoch durchaus individuellen Wesens und auf eine und nur eine besonders gestimmte Persönlichkeit eingestellt ist.

Was den modernen Menschen so stark zum Stil treibt, ist die Entlastung und Verhüllung des Persönlichen, die das Wesen des Stiles ist.

Der Subjektivismus und die Individualität hat sich bis zum Umbrechen zugespitzt, und in den stilisierten Formgebungen, von denen des Benehmens bis zur Wohnungseinrichtung, liegt eine Milderung und Abtönung dieser akuten Personalität zu einem Allgemeinen und seinem Gesetz.

Es ist, als ob das Ich sich doch nicht mehr allein tragen könnte oder sich wenigstens nicht mehr zeigen wollte und so ein generelles, mehr typisches, mit einem Worte: ein stilisiertes Gewand umtut.

Eine ganz feine Scham liegt darin, dass eine überindividuelle Form und Gesetz zwischen die subjektive Persönlichkeit und ihre menschliche und sachliche Umgebung gestellt wird; die stilisierte Äußerung, Lebensform, Geschmack - alles dies sind Schranken und Distanzierungen, an denen der exaggerierte Subjektivismus der Zeit ein Gegengewicht und eine Hülle findet.

Die Neigung des modernen Menschen, sich mit Antiquitäten zu umgeben - also mit Dingen, an denen der Stil, das Zeitgepräge, die allgemeine Stimmung,

die sie umschwebt, das Wesentliche ist - ist doch nicht nur ein zufälliger Snobismus, sondern geht auf jenes tiefe Bedürfnis zurück, dem individuell überspitzten Leben einen Beisatz von ruhiger Breite, typischer Gesetzmäßigkeit zu geben.

Frühere Zeiten, die nur einen und darum selbstverständlichen Stil besaßen, waren in diesen diffizilen Lebensfragen ganz anders gestellt.

Wo nur ein Stil in Frage kommt, wächst jede individuelle Äußerung organisch aus ihm heraus, sie muss sich nicht erst ihre Wurzel suchen, das Allgemeine und das Persönliche gehen in der Leistung konfliktlos zusammen.

Was wir an Einheitlichkeit und Mangel an Problematik dem Griechentum und manchen Epochen des Mittelalters beneiden, ruht auf solcher Fraglosigkeit der allgemeinen Lebensgrundlage, d.h. des Stiles, die dessen Verhältnis zu der einzelnen Produktion sehr viel einfacher und widerspruchsloser gestaltete, als es für uns liegt, die wir auf allen Gebieten über eine große Anzahl von Stilen verfügen, so dass die individuelle Leistung, Verhalten, Geschmack sozusagen in einem lockeren Wahlverhältnis zu dem weiten Fundament, zu dem allgemeinen Gesetz steht, dessen sie doch bedarf.

Deshalb wirken die Erzeugnisse früherer Zeiten oft so viel stilvoller, als die unsrigen.

Denn stillos nennen wir doch ein Tun oder sein Produkt, wenn es nur einer momentanen, isolierten, gleichsam punktuellen Regung entsprungen scheint, ohne durch ein allgemeineres Empfinden, eine überzufällige Norm fundamentiert zu sein.

Dieses Notwendige, Grundlegende kann auch durchaus das sein, was ich als den individuellen Stil bezeichnete.

Bei dem großen und schöpferischen Menschen strömt die einzelne Leistung aus einer solchen umfassenden Tiefe des eigenen Seins, dass sie in diesem eben die Festigkeit, Fundamentierung, das Mehr als jetzt und Hier findet, das der Leistung des Geringeren aus dem von auswärts aufgenommenen Stil kommt.

Hier ist das Individuelle der Fall eines individuellen Gesetzes; wer dazu nicht stark genug ist, muss sich an ein allgemeines Gesetz halten; tut er das nicht, so wird seine Leistung stillos, - was, wie nun leicht begriffen wird, eigentlich nur in Zeiten mehrfacher Stilmöglichkeiten geschehen kann.

Schließlich ist der Stil der ästhetische Lösungsversuch des großen Lebensproblems: wie ein einzelnes Werk oder Verhalten, das ein Ganzes, in sich Geschlossenes ist, zugleich einem höheren Ganzen, einem übergreifend einheitlichen Zusammenhange angehören könne.

Indem sich von dem individuellen Stil der ganz Großen der allgemeine der Geringeren abhebt, drückt sich daran jene weite praktische Norm aus: »- und kannst du selber kein Ganzes - Werden, als dienendes Glied schließ' an ein Ganzes dich an.« - drückt sich in der Sprache der Kunst aus, die freilich auch der geringsten Leistung noch einen Strahl von Selbstherrlichkeit und Ganzheit lässt, der in der praktischen Welt nur über den Größten leuchtet.


 

Editorial:

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