Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Die Frau und die Mode

ex: Das Magazin. Monatszeitschrift für Literatur, Musik, Kunst und Kultur, hrsg. von Herwarth Walden, 77. Jg., No.5 (Februar 1908), S.82-83 (Leipzig)

Wenn die Mode den Egalisierungs- und den Individualisierungstrieb, den Reiz der Nachahmung und den der Auszeichnung zugleich zum Ausdruck bringt und betont, so erklärt dies vielleicht, weshalb die Frauen im allgemeinen der Mode besonders stark anhängen.

Aus der Schwäche der sozialen Position nämlich, zu der die Frauen den weit überwiegenden Teil der Geschichte hindurch verurteilt waren, ergibt sich ihre enge Beziehung zu allem, was »Sitte« ist, zu dem, »was sich ziemt«, zu der allgemein gültigen und gebilligten Daseinsform.

Denn der Schwache vermeidet die Individualisierung, das Auf-sich-ruhen mit seinen Verantwortlichkeiten und seiner Notwendigkeit, sich ganz allein mit eigenen Kräften zu verteidigen.

Ihm gewährt gerade nur die typische Lebensform Schutz, die den Starken an der Ausnutzung seiner exzeptionellen Kräfte hindert.

Auf diesem festgehaltenen Boden der Sitte aber, des Durchschnittlichen, des allgemeinen Niveaus streben die Frauen nun stark zu der so noch möglichen relativen Individualisierung und Auszeichnung der Einzelpersönlichkeit.

Die Mode bietet ihnen gerade diese Kombination aufs glücklichste: einerseits ein Gebiet allgemeiner Nachahmung, ein Schwimmen im breitesten sozialen Fahrwasser, eine Entlastung des Individuums von der Verantwortlichkeit für seinen Geschmack und sein Tun - andererseits doch eine Auszeichnung, eine Betonung, eine individuelle Geschmücktheit der Persönlichkeit.

Es scheint, dass für jede Klasse von Menschen, ja wahrscheinlich für jedes Individuum ein bestimmtes quantitatives Verhältnis zwischen dem Triebe zur Individualisierung und dem zum Untertauchen in die Kollektivität bestünde, so dass, wenn auf einem bestimmten Lebensgebiete das Ausleben des einen Triebes behindert ist, er sich ein anderes sucht, auf dem er nun das Mass, dessen er bedarf, erfüllt.

So scheint es, als wäre die Mode gleichsam das Ventil, aus dem das Bedürfnis der Frauen nach irgend einem Mass von Auszeichnung und individueller Hervorgehobenheit ausbräche, wenn ihnen dessen Befriedigung auf anderen Gebieten mehr versagt ist.

Im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert zeigt Deutschland eine ausserordentlich starke Entwickelung der Individualität.

Die kollektivistischen Ordnungen des Mittelalters wurden durch die Freiheit der Einzelpersönlichkeit in hohem Masse durchbrochen.

Innerhalb dieser individualistischen Entwickelung aber fanden die Frauen noch keinen Platz, ihnen wurde noch die Freiheit persönlicher Bewegung und Entfaltung versagt.

Sie entschädigten sich dafür durch die denkbar extravagantesten und hypertrophischsten Kleidermoden.

Umgekehrt sehen wir, dass in Italien die gleiche Epoche den Frauen den Spielraum für individuelle Entwickelung gewährt.

Die Frauen der Renaissance hatten so viele Möglichkeiten der Bildung, der Betätigung nach aussen hin, der persönlichen Differenzierung, wie sie ihnen dann wieder fast Jahrhunderte hindurch nicht gegönnt waren, die Erziehung und die Bewegungsfreiheit war besonders in den höheren Schichten der Gesellschaft für beide Geschlechter fast die gleiche.

Aber nun wird auch aus Italien von keinerlei besonderen Extravaganzen der weiblichen Mode aus dieser Zeit berichtet.

Das Bedürfnis, sich auf diesem Gebiete individuell zu bewähren und eine Art von Ausgezeichnetheit zu gewinnen, bleibt aus, weil der hierin sich äussernde Trieb auf anderen Gebieten seine hinreichende Befriedigung gefunden hat.

Im allgemeinen zeigt die Geschichte der Frauen in ihrem äusseren wie inneren Leben, in dem Individuum ebenso wie in ihrer Gesamtheit eine vergleichsweise so grosse Einheitlichkeit, Nivellement, Gleichmässigkeit, dass sie wenigstens auf dem Gebiete der Moden, das das der Abwechselung schlechthin ist, einer lebhafteren Betätigung bedürfen, um sich und ihrem Leben - sowohl für das eigene Gefühl wie für andere - einen Reiz hinzuzufügen.

Wie zwischen Individualisierung und Kollektivierung, so besteht zwischen Gleichmässigkeit und Abwechselung der Lebensinhalte eine bestimmte Proportion der Bedürfnisse, die auf den verschiedenen Gebieten hin- und hergeschoben wird, die die Versagtheit auf dem einen durch eine irgendwie erzwungene Gewährung auf dem andern auszugleichen sucht.

Im ganzen wird man sagen können, dass die Frau, mit dem Manne verglichen, das treuere Wesen ist; eben die Treue, die die Gleichmässigkeit und Einheitlichkeit des Wesens nach der Seite des Gemütes hin ausdrückt, verlangt doch eben um jener Balancierung der Lebenstendenzen willen irgend eine lebhaftere Abwechselung auf mehr abseits gelegenen Gebieten.

Der Mann umgekehrt, der seiner Natur nach untreuer ist, der die Bindung an das einmal eingegangene Gemütsverhältnis typischerweise nicht mit derselben Unbedingtheit und Konzentrierung aller Lebensinteressen auf dieses eine zu bewahren pflegt, wird infolgedessen weniger jener äusseren Abwechselungsform bedürfen.

Ja, das Abweisen der Veränderungen auf äusseren Gebieten, die Gleichgültigkeit gegen die Moden der äusseren Erscheinung ist spezifisch männlich - nicht weil er das einheitlichere, sondern grade weil er im Grunde das vielfältigere Wesen ist und deshalb jener äusseren Abwechselungen eher entraten mag.

Darum betont die emanzipierte Frau der Gegenwart, die sich dem männlichen Wesen, seiner Differenziertheit, Personalität, Bewegtheit anzunähern sucht, auch grade ihre Gleichgültigkeit gegen die Mode.

Auch bildet die Mode für die Frauen in gewissem Sinne einen Ersatz für die Stellung innerhalb eines Berufsstandes.

Der Mann, der in einen solchen hineingewachsen ist, hat sich damit freilich in einen Kreis relativen Nivellements begeben, er ist innerhalb dieses Standes vielen anderen gleich, er ist vielfach nur ein Exemplar für den Begriff dieses Standes oder Berufes.

Andrerseits und wie zur Entschädigung hierfür ist er doch nun auch mit der ganzen Bedeutung, mit der sachlichen wie sozialen Kraft dieses Standes geschmückt, seiner individuellen Bedeutung wird die seiner Standeszugehörigkeit hinzugefügt, die oft die Mängel und Unzulänglichkeiten des rein persönlichen Daseins decken kann.

Eben dies nun leistet an so ganz anderen Inhalten die Mode, auch sie ergänzt die Unbedeutendheit der Person, ihre Unfähigkeit, rein aus sich heraus die Existenz zu individualisieren, durch die Zugehörigkeit zu einem durch eben die Mode charakterisierten, herausgehobenen, für das öffentliche Bewusstsein irgendwie zusammengehörigen Kreis.

Auch hier wird freilich die Persönlichkeit als solche in ein allgemeines Schema eingefügt, allein dieses Schema selbst hat in sozialer Hinsicht eine individuelle Färbung und ersetzt so auf dem sozialen Umwege gerade das, was der Persönlichkeit auf rein individuellem Wege zu erreichen versagt ist.

Dass die Demimonde vielfach die Bahnbrecherin für die neue Mode ist, liegt an ihrer eigentümlich entwurzelten Lebensform; das Pariadasein, das die Gesellschaft ihr anweist, erzeugt in ihr einen offenen oder latenten Hass gegen alles bereits Legalisierte, gefestigt Bestehende, einen Hass, der in dem Drängen auf immer neue Erscheinungsformen seinen noch relativ unschuldigsten Ausdruck findet; in dem fortwährenden Streben nach neuen, bisher unerhörten Moden, in der Rücksichtslosigkeit, mit der gerade die der bisherigen entgegengesetzteste leidenschaftlich ergriffen wird, liegt eine ästhetische Form des Zerstörungstriebes, der allen Pariaexistenzen, soweit sie nicht innerlich völlig versklavt sind, eigen zu sein scheint.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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