Georg Simmel: Die Ruine
Ein ästhetischer Versuch
ex: Der Tag, No. 96 vom 22. Februar
1907, Erster Teil: Illustrierte Zeitung (Berlin)
Der große Kampf zwischen
dem Willen des Geistes und der Notwendigkeit der Natur ist zu einem
wirklichen Frieden, die Abrechnung zwischen der nach oben strebenden Seele
und der nach unten strebenden Schwere zu einer genauen Gleichung nur in
einer einzigen Kunst gekommen: in der Baukunst.
Die Eigengesetzlichkeit des
Materials in der Poesie, Malerei, Musik muss dem künstlerischen Gedanken
stumm dienen, er hat in dem vollendeten Werk den Stoff in sich eingesogen,
ihn wie unsichtbar gemacht.
Selbst in der Plastik ist
das tastbare Stück Marmor nicht das Kunstwerk; was zu diesem der Stein
oder die Bronze an Eignem dazugeben, wirkt nur als ein Ausdrucksmittel der
seelisch-schöpferischen Anschauung.
Die Baukunst aber benutzt
und verteilt zwar die Schwere und die Tragkraft der Materie nach einem nur
in der Seele möglichen Plane, allein innerhalb dieses wirkt der Stoff mit
seinem unmittelbaren Wesen, er führt gleichsam jenen Plan mit seinen
eigenen Kräften aus.
Es ist der sublimste Sieg
des Geistes über die Natur - wie wenn man einen Menschen so zu leiten
versteht, dass unser Wollen von ihm nicht unter Überwältigung seines
eigenen Willens, sondern durch diesen selbst realisiert wird, dass die
Richtung seiner Eigengesetzlichkeit unsern Plan trägt.
Diese einzigartige Balance
zwischen der mechanischen, lastenden, dem Druck passiv widerstehenden
Materie und der formenden, aufwärts drängenden Geistigkeit zerbricht
aber in dem Augenblick, in dem das Gebäude verfällt.
Denn dies bedeutet nichts
anderes, als dass die bloß natürlichen Kräfte über das Menschenwerk
Herr zu werden beginnen: die Gleichung zwischen Natur und Geist, die das
Bauwerk darstellte, verschiebt sich zugunsten der Natur.
Diese Verschiebung schlägt
in eine kosmische Tragik aus, die für unser Empfinden jede Ruine in den
Schatten der Wehmut rückt, denn jetzt erscheint der Verfall als die Rache
der Natur für die Vergewaltigung, die der Geist ihr durch die Formung
nach seinem Bilde angetan hat.
Der ganze geschichtliche
Prozess der Menschheit ist ein allmähliches Herrwerden des Geistes über
die Natur, die er außer sich - aber in gewissem Sinne auch in sich -
vorfindet.
Hat er in den anderen Künsten
die Formen und Ereignisse dieser Natur seinem Gebote gebeugt, so formt die
Architektur deren Massen und unmittelbar eignen Kräfte, bis sie wie von
sich aus die Sichtbarkeit der Idee hergeben.
Aber nur solange das Werk
in seiner Vollendung besteht, fügen sich die Notwendigkeiten der Materie
in die Freiheit des Geistes, drückt die Lebendigkeit des Geistes sich in
den bloß lastenden und tragenden Kräften jener restlos aus.
In dem Augenblick aber, wo
der Verfall des Gebäudes die Geschlossenheit der Form zerstört, treten
die Parteien wieder auseinander und offenbaren ihre weltdurchziehende
ursprüngliche Feindschaft: als sei die künstlerische Formung nur eine
Gewalttat des Geistes gewesen, der sich der Stein widerwillig unterworfen
hat, als schüttle er dieses Joch nun allmählich ab und kehre wieder in
die selbständige Gesetzlichkeit seiner Kräfte zurück.
Aber damit wird dennoch die
Ruine zu einer sinnvolleren, bedeutsameren Erscheinung, als es die
Fragmente andrer zerstörter Kunstwerke sind.
Ein Gemälde, von dem
Farbenteilchen abgefallen sind, eine Statue mit verstümmelten Gliedern,
ein antiker Dichtertext, aus dem Worte und Zeilen verloren sind - alle
diese wirken nur nach dem, was noch an künstlerischer Formung an ihnen
vorhanden ist oder was sich von ihr, auf diese Reste hin, die Phantasie
konstruieren kann: ihr unmittelbarer Anblick ist keine ästhetische
Einheit, er bietet nichts als ein um bestimmte Teile vermindertes
Kunstwerk.
Die Ruine des Bauwerks aber
bedeutet, dass in das Verschwundene und Zerstörte des Kunstwerks andere
Kräfte und Formen, die der Natur, nachgewachsen sind und so aus dem, was
noch von Kunst in ihr lebt und was schon von Natur in ihr lebt, ein neues
Ganzes, eine charakteristische Einheit geworden ist.
Gewiss ist vom Standpunkt
des Zweckes aus, den der Geist in dem Palast und der Kirche, der Burg und
der Halle, dem Aquädukt und der Denksäule verkörpert hat, ihre
Verfallsgestalt ein sinnloser Zufall; allein ein neuer Sinn nimmt diesen
Zufall auf, ihn und die geistige Gestaltung in eins umfassend, nicht mehr
in menschlicher Zweckmäßigkeit, sondern in der Tiefe gegründet, wo
diese und das Weben der unbewussten Naturkräfte ihrer gemeinsamen Wurzel
entwachsen.
Anders ausgedrückt, ist es
der Reiz der Ruine, dass hier ein Menschenwerk ganz wie ein Naturprodukt
empfunden wird.
Dieselben Kräfte, die
durch Verwitterung, Ausspülung, Zusammenstürzen, Ansetzen von Vegetation
dem Berge seine Gestalt verschaffen, haben sich hier an dem Gemäuer
wirksam erwiesen.
Schon der Reiz der alpinen
Formen, die doch meistens plump, zufällig, künstlerisch ungenießbar
sind, beruht auf dem gefühlten Gegenspiel zweier kosmischer Richtungen:
vulkanische Erhebung oder allmähliche Schichtung haben den Berg nach oben
gebaut, Regen und Schnee, Verwitterung und Abfall, chemische Auflösung
und die Wirkung sich eindrängender Vegetation haben den obern Rand zersägt
und ausgehöhlt, haben Teile des nach oben Gehobenen nach unten stürzen
lassen und so dem Umriss seine Form gegeben.
In ihr fühlen wir so die
Lebendigkeit jener richtungsverschiedenen Energien und, über alles
Formal-Ästhetische hinaus, genießen wir, diese Gegensätze in uns selbst
instinktiv nachempfindend, die Bedeutsamkeit der Gestalt, zu deren ruhiger
Einheit sie sich zusammengefunden haben.
In der Ruine nun sind sie
auf noch weiter gespannte Parteien des Daseins verteilt.
Was den Bau nach oben geführt
hat, ist der menschliche Wille, was ihm sein jetziges Aussehen gibt, ist
die mechanische, nach unten ziehende, zernagende und zertrümmernde
Naturgewalt.
Aber sie lässt das Werk
dennoch nicht, solange man überhaupt noch von Ruine und nicht von einem
Steinhaufen spricht, in die Formlosigkeit bloßer Materie sinken, es
entsteht eine neue Form, die vom Standpunkt der Natur aus durchaus
sinnvoll, begreiflich, differenziert ist.
Die Natur hat das Kunstwerk
zum Material ihrer Formung gemacht, wie vorher die Kunst sich der Natur
als ihres Stoffes bedient hatte.
Die eigentümliche
Proportion, die die kosmischen Energien von Seele und Natur an diesem
Gebilde erreicht haben, gestattet uns, es ästhetisch vom Blickpunkte des
bloß natürlichen Seins anzusehen, als ein Spiel der Kräfte, die, wie
sie den Umriss des Berges und das Ufer des Flusses geformt haben, hier die
Gegebenheit des vom Menschen nach seinem Bilde Hochgeführten in den
Frieden und den nur zu ahnenden Sinn ihrer still wirkenden Gesetzlichkeit
übergeführt haben.
So geht von der Ruine eine
Stimmung des Friedens aus, weil in ihr das Gegenstreben jener beiden
Weltpotenzen als ein ruhendes Bild rein naturhaften Daseins wirkt; weshalb
denn auch die Ruine sich der umgebenden Landschaft einheitlich und, wie
Baum und Stein mit ihr verwachsen, einordnet, während der Palast, die
Villa und selbst das Bauernhaus, noch wo sie sich am besten der Stimmung
ihrer Landschaft fügen, immer einer andern Ordnung der Dinge entstammen
und mit der der Natur nur wie nachträglich zusammengehen.
An dem sehr alten Gebäude
im freien Lande, ganz aber erst an der Ruine, bemerkt man oft eine eigentümliche
koloristische Gleichheit mit den Tönen des Bodens um sie herum.
Die Ursache muss irgendwie
der analog sein, die auch den Reiz alter Stoffe ausmacht, so heterogen
ihre Farben in frischem Zustande waren: die langen gemeinsamen Schicksale,
Trockenheit und Feuchtigkeit, Hitze und Kälte, äußere Reibung und
innere Zermürbung, Jahrhunderte hindurch sie alle treffend, haben eine
Einheitlichkeit der Tönung, eine Patina von überall gleicher
Wirksamkeit, eine Reduktion auf den gleichen koloristischen Generalnenner
mit sich gebracht, die kein neuer Stoff imitieren kann.
Ungefähr so müssen die
Einflüsse von Regen und Sonnenschein, Vegetationsansatz, Hitze und Kälte
das ihnen überlassene Gebäude dem Farbenton des denselben Schicksalen
unterliegenden Landes angeähnlicht haben; sie haben sein ehemaliges
gegensätzliches Sichherausheben in die friedliche Einheit des Dazugehörens
gesenkt.
Und noch von einer andern
Seite her trägt die Ruine den Eindruck des Friedens.
Auf der einen Seite jenes
typischen Konfliktes stand seine rein äußerliche Form oder Symbolik: der
durch Aufbau und Einstürzen bestimmte Umriss des Berges.
Nach dem andern Pole des
Daseins aber hin gerichtet lebt er ganz innerhalb der menschlichen Seele,
diesem Kampfplatz zwischen der Natur, die sie selbst ist, und dem Geiste,
der sie selbst ist.
An unsrer Seele bauen fortwährend
die Kräfte, die man nur mit dem räumlichen Gleichnis des Aufwärtsstrebens
benennen kann, fortwährend durchbrochen, abgelenkt, niedergeworfen von
den andern, die als unser Dumpfes und Gemeines und im schlechten Sinne »Nur-Natürliches«
in uns wirken.
Wie sich diese beiden nach
Maß und Art wechselnd mischen, das ergibt in jedem Augenblick die Form
unserer Seele.
Allein niemals gelangt sie,
weder mit dem entschiedensten Sieg der einen Partei noch mit einem
Kompromiss beider, zu einem endgültigen Zustand.
Denn nicht nur die unruhige
Rhythmik der Seele duldet keinen solchen; sondern vor allem: hinter jedem
Einzelereignis, jedem Einzelimpulse aus der einen oder der andern Richtung
steht etwas Weiterlebendes, stehen Forderungen, die die jetzige
Entscheidung nicht zur Ruhe bringen.
Dadurch bekommt der
Antagonismus beider Prinzipien etwas Unabschließbares, Formloses, jeden
Rahmen Sprengendes.
In dieser Unbeendbarkeit
des sittlichen Prozesses, in diesem tiefen Mangel abgerundeter, zu
plastischer Ruhe gelangender Gestaltung, den die unendlichen Ansprüche
beider Parteien der Seele auferlegen, besteht vielleicht der letzte
formale Grund für die Feindschaft der ästhetischen Naturen gegen die
ethischen.
Wo wir ästhetisch
anschauen, verlangen wir, dass die Gegensatzkräfte des Daseins zu irgend
einem Gleichgewicht, der Kampf zwischen Oben und Unten zum Stehen gekommen
sei; aber gegen diese, allein eine Anschauung gewährende Form wehrt sich
der sittlich-seelische Prozess mit seinem unaufhörlichen Auf und Nieder,
seinen steten Grenzverschiebungen, mit der Unerschöpflichkeit der in ihm
gegenspielenden Kräfte.
Den tiefen Frieden aber,
der wie ein heiliger Bannkreis die Ruine umgibt, trägt diese
Konstellation: dass der dunkle Antagonismus, der die Form alles Daseins
bedingt - einmal innerhalb der bloßen Naturkräfte wirksam, ein anderes
Mal innerhalb des seelischen Lebens für sich allein, ein drittes Mal, wie
an unserm Gegenstand, zwischen Natur und Materie sich abspielend - dass
dieser Antagonismus hier gleichfalls nicht zum Gleichgewicht versöhnt
ist, sondern die eine Seite überwiegen, die andere in Vernichtung sinken
lässt und dabei dennoch ein formsicheres, ruhig verharrendes Bild bietet.
Der ästhetische Wert der
Ruine vereint die Unausgeglichenheit, das ewige Werden der gegen sich
selbst ringenden Seele mit der formalen Befriedigtheit, der festen
Umgrenztheit des Kunstwerks.
Man wird freilich ihre
Friedlichkeit gern einem andern Motiv zuschreiben: dem
Vergangenheitscharakter der Ruine.
Sie ist die Stätte des
Lebens, aus der das Leben geschieden ist - aber dies ist nichts bloß
Negatives und Dazugedachtes, wie bei den unzähligen, ehemals im Leben
schwimmenden Dingen, die zufällig an sein Ufer geworfen sind, aber ihrem
Wesen nach ebenso wieder von seiner Strömung ergriffen werden können.
Sondern dass das Leben mit
seinem Reichtum und seinen Wechseln hier einmal gewohnt hat, das ist
unmittelbar anschauliche Gegenwart.
Die Ruine schafft die
gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens, nicht nach seinen Inhalten
oder Resten, sondern nach seiner Vergangenheit als solcher.
Dies ist auch der Reiz der
Altertümer, von denen nur eine bornierte Logik behaupten kann, dass eine
absolut genaue Imitation ihnen an ästhetischem Wert gleichkäme.
Gleichviel, ob wir im
einzelnen Falle betrogen sind - mit diesem Stück, das wir in der Hand
halten, beherrschen wir geistig die ganze Zeitspanne seit seiner
Entstehung.
Die Vergangenheit mit ihren
Schicksalen und Wandlungen ist in den Punkt ästhetisch anschaulicher
Gegenwart gesammelt.
Hier wie gegenüber der
Ruine, dieser äußersten Steigerung und Erfüllung der Gegenwartsform der
Vergangenheit, spielen so tiefe und zusammenfassende Energien unserer
Seele, dass die scharfe Scheidung zwischen Anschauung und Gedanke völlig
unzureichend wird.
Hier wirkt eine seelische
Ganzheit und befasst, wie ihr Objekt die Gegensätze von Vergangenheit und
Gegenwart in eine Einheitsform verschmilzt, die ganze Spannweite des körperlichen
und des geistigen Sehens in die Einheit ästhetischen Genießens, das ja
immer in einer tieferen als der ästhetischen Einheit wurzelt.
So lösen Zweck und Zufall,
Natur und Geist, Vergangenheit und Gegenwart an diesem Punkte die Spannung
ihrer Gegensätze, oder vielmehr, diese Spannungen bewahrend, führen sie
dennoch zu einer Einheit des äußeren Bildes, der inneren Wirkung.
Es ist, als müsste ein Stück
des Daseins erst verfallen, um gegen alle, von allen Windrichtungen der
Wirklichkeit herkommenden Strömungen und Mächte so widerstandslos zu
werden.
Vielleicht ist dies der
Reiz des Verfalles, der Dekadenz überhaupt, der über ihr bloßes
Negatives, ihre bloße Herabgesetztheit hinausreicht.
Die reiche und vielseitige
Kultur, die unbegrenzte Beeindruckbarkeit und das überallhin offene
Verstehen, das dekadenten Epochen eigen ist, bedeutet eben doch jenes
Sichzusammenfinden aller Gegenstrebungen.
Eine ausgleichende
Gerechtigkeit knüpft das hemmungslose Zusammen alles auseinander und
gegeneinander Wachsenden an den Verfall jener Menschen und jenes
Menschenwerkes, die jetzt nur noch nachgeben, aber sich nicht mehr aus
ihrer eigenen Kraft heraus ihre eigenen Formen schaffen und erhalten können.
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