Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Zur Philosophie der Herrschaft

Bruchstücke aus einer Soziologie

ex: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (Des »Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reiches« Neue Folge), hrsg. von Gustav Schmoller, 31.Jg., 2. Heft (April-Juni 1907), S. 1-33 (Leipzig) Inhaltsverzeichnis

Fälle eines allgemeinen Superioritätscharakters der Gruppe, ohne korrelative Unterordnung.

Befreiung von Unterordnung als Gewinn von Überordnung: die Gleichheit als Durchgangspunkt der Pleonexie.

Die eigne Jurisdiktion der Teilgruppen.

Das gemeinsame Aufsteigen von Gruppen, die schon Über- und Unterordnung einschließen.

Die Beseitigung von Über- und Unterordnung durch Differenzierung von Persönlichkeit und Leistung durch Wechselseitigkeit des Herrschens.

Das Verhältnis der persönlichen Qualität zu der sozialen Höhe in historischer und prinzipieller Hinsicht.

Die »Herrschaft der Besten« und die Notwendigkeit der Herrschaft überhaupt.

Die unvermeidliche Diskrepanz zwischen der Fähigkeit zur höhern Position und der Möglichkeit ihres Gewinnes.

Wo in einer Gruppe vielfache und energische Über- und Unterordnungen bestehen - sei es als einheitlicher hierarchischer Aufbau, sei es als eine Mannigfaltigkeit nebeneinander bestehender Herrschaftsverhältnisse - wird die Gruppe als ganze ihren Charakter wesentlich der Unterordnung entlehnen, wie es besonders klar in bürokratisch regierten Staaten hervortritt. Denn die Schichten dehnen sich nach unten zu in rascher Proportion aus.

Wo also Über- und Unterordnung überhaupt im Vordergrunde des formal soziologischen Bewusstseins steht, wird die quantitativ überwiegende Seite dieser Korrelation, die der Unterordnung, die Gesamtheit des Bildes färben.

Auf ganz besondere Kombinationen hin kann allerdings auch der Eindruck und das Gefühl einer allgemeinen Überordnung einer Gruppe entstehen.

Der Stolz und die Arbeitsverachtung der Spanier entsprang daraus, dass sie lange Zeit die unterworfenen Mauren zu ihren Arbeiten hatten; als sie diese und die Juden später vernichtet oder ausgetrieben hatten, blieb ihnen nun freilich noch das Air der Übergeordneten, während gar kein Untergeordneter mehr da war, der das Korrelat dazu bildete.

Zur Zeit ihres höchsten Glanzes wurde es unter den Spaniern direkt ausgesprochen, dass sie als Nation in der Welt die Stelle einnehmen wollten, die im einzelnen Staate die Edelleute, Offiziere und Beamten einnehmen.

Etwas Ähnliches, nur auf soliderer Grundlage, war schon in der spartanischen Kriegerdemokratie aufgetreten.

Denn indem sie die benachbarten Stämme unterwarf, sie aber nicht versklavte, sondern ihnen ihr Land ließ, und sie nur als Hörige behandelte, wuchsen diese zu einer niedern Schicht zusammen, der gegenüber die Gesamtheit der Vollbürger einen Herrenstand bildete - so sehr sie unter sich demokratisch verfuhren.

Dies war nicht eine einfache Aristokratie, die von vornherein mit den rechtlosern Elementen zusammen eine Gruppeneinheit bildete.

Sondern es war tatsächlich der ganze ursprüngliche Staat, der, im Status quo verharrend, durch den Unterbau jener Schicht die Totalität seiner Mitglieder sozusagen zu einem Adel machte.

Auch in speziellerer Hinsicht wiederholten die Spartaner dies Prinzip der allgemeinen Überordnung: das spartanische Heer war so abgestuft, dass es zum großen Teil aus Befehlshabern bestand.

Hier tritt der eigentümliche soziologische Formtypus auf: dass Bestimmungen eines Elementes, die nur in dessen Beziehung zu einem andern entstehen konnten und an dieser ihren Inhalt und Sinn besitzen, dennoch zu selbständigen, von aller Wechselwirkung unabhängigen Qualitäten jenes Elementes werden.

Dass man der Herrschende ist, setzt ein Objekt der Beherrschung voraus; allein die seelische Wirklichkeit kann diese begriffliche Notwendigkeit bis zu einem gewissen Grade umgehen.

Das eine, innere, Motiv dazu deutet schon Plato an.

Zwischen den nach Umfang und Inhalt unendlich verschiedenen Gebieten von Herrschaft sei in Hinsicht der Herrschaft als solcher, als Funktion, kein Unterschied: es sei ein und dieselbe Fähigkeit, zu befehlen, die der p o l i t i k o V wie der b a s i l e u V , der d e s p o t h V wie der o i k k o m o V besitzen müssen.

Darum ist für ihn der eigentliche p o l i t i k o V nicht notwendig der Ausüber der höchsten Staatsgewalt, sondern derjenige, der die »Befehlswissenschaft« besitzt - gleichviel ob er etwas zu befehlen hat oder nicht.

Hier wird also auf den subjektiven Grund des Herrschaftsverhältnisses zurückgegangen, der sich nicht erst in der realen Korrelation eines Herrschaftsverhältnisses erzeugt, sondern unabhängig von dessen Existenz besteht.

Der »geborene König« bedarf sozusagen keines Landes, er ist König, er braucht es nicht zu werden.

Wenn die Spartaner unter sich keinen Adel ausbildeten, aber sich dennoch adlig fühlten, die Spanier das Bewusstsein der Herren hatten, auch als sie keine Diener mehr hatten - so hat dies jenen tiefern Sinn: dass die Wechselwirkung des Herrschaftsverhältnisses der soziologische Ausdruck oder die Aktualisierung innerer, im Subjekt beschlossener Qualitäten ist; wer diese besitzt, ist d u n m e i Herrscher, aus dem zweiseitigen Verhältnis ist sozusagen die eine Seite ausgefallen, und es besteht nur in ideeller Form, ohne dass die andre darum die ihr von innen her in dem Verhältnis zukommende Bedeutung verlöre.

Indem dies nun bei sämtlichen Mitgliedern einer grösseren Gruppe stattfindet, drückt es sich darin aus, dass sie sich überhaupt nur als untereinander »Gleiche« bezeichnen, ohne in ihrer Benennung besonders hervorzuheben, in bezug worauf sie gleich sind.

Die stimmfähigen Vollbürger Spartas hießen die o m o i o i schlechthin.

Der Aristokratismus ihrer politischen und ökonomischen Stellung den andern Ständen gegenüber ist völlig selbstverständlich, so dass sie als Bezeichnung für sich nur ihr formales Verhältnis zueinander verwenden und das zu den andern Ständen, das doch eigentlich den Inhalt einer Standesbezeichnung ausmachen musste, gar nicht erwähnen.

Ein ähnliches Gefühl liegt überall zu Grunde, wo die Aristokratie sich als die Pairs bezeichnet.

Sie existieren sozusagen nur für einander, die andern gehen sie nicht einmal soviel an, um in der Kollektivbezeichnung ihre Überlegenheit über diese zum Ausdruck zu bringen - um derentwillen es doch überhaupt nur einer derartigen Bezeichnung bedarf.1)

Die andre Art, den Begriff der Überordnung ohne das logisch erforderte Korrelat der entsprechenden Unterordnung zu realisieren, liegt in der Übertragung von Formen, die sich innerhalb eines großen Kreises gebildet haben, auf einen kleinen, dessen Verhältnisse sie von sich aus nicht rechtfertigen.

Bestimmte Stellungen in einem ausgedehnten Kreise schließen eine Macht, ein Überordnungsquantum, eine Bedeutung in sich, die sie verlieren, sobald sie, ohne ihre Form zu wechseln, in einem kleinern wiederholt werden.

Dennoch bringen sie auch in diesen den Ton von Superiorität und Befehlshabertum mit sich, den sie dort besaßen, und der sozusagen zu einer substantiellen, von der Relation, die sie trug, unabhängigen Bestimmung solcher Stellung geworden ist.

Das Vermittelnde ist hier oft ein »Titel«, dem enge Verhältnisse kaum eine Spur der Machtbedeutung lassen, deren Aplomb ihm doch noch von seinem Ursprung in einer weiten Gruppe her geblieben ist.

Die holländischen Rederykers, eine Art Meistersinger im 15. Jahrhundert, hatten in jeder ihrer vielen Gruppen Könige, Prinzen, Archidiakone usw. Ich erinnere an die »Offiziere« der Heilsarmee, an die »Hochgrade« der Freimaurerei: ein Freimaurerkapitel in Frankreich erklärte, 1756, seine Mitglieder für »souveräne und geborne Fürsten des gesamten Ordens«, ein andrer, wenig spätrer, nannte sich Conseil des Empereurs d'Orient et d'Occident.

Es ist natürlich nicht nur die rein extensiv-numerische Größe der Gruppen, deren Wandlungen die Transposition einer ursprünglich übergeordneten Stellung in Verhältnisse bewirken, die die logisch erforderte Unterordnung von ihr lösen und ihr trotzdem das Cachet der Überordnung lassen.

Kontraktionen des Gruppenlebens im Sinne der Intensität können dies ebenso bedingen.

Was die ganze hellenische Existenz während der Kaiserzeit zerstörte, war die Beschränktheit ihrer Bedeutungssphäre, die Entleerung von allem tiefern oder ausgreifenden Inhalt - während ein Gefühl, noch irgend eine Superiorität bewahren zu können oder zu müssen, ein Ehrgeiz, der seine Ideale von der großen Vergangenheit zu Lehen trug, diese Vergangenheit überlebt hatte.

Damit entstand jene leere Ambition, die schließlich dem Sieger in den Festspielen, dem Beamten einer bedeutungslosen Kommune, dem Inhaber eines Ehrensitzes oder einer Anerkennung durch Statuensetzung, dem Redner, der mangels jedes politischen Einflusses nur noch für seine Wortkünste von einem Publikum von Tagedieben bejubelt wurde - die Ambition entstand, die allen diesen ein Gefühl von Bedeutung und Prärogative ohne jede reale Superiorität suggerierte.

Die Höhe über dem Durchschnittsniveau, in welche sich die sozialen Bevorzugungen und Vorrechte dieser Schicht von Personen erhoben, hätte die damalige griechische Gesellschaft aus ihrer realen Struktur gar nicht aufbringen können.

Der ehemaligen Bedeutung vom Gemeinwesen entstammend, die überhaupt derartigen Superioritäten ein Fundament gab, waren sie nun, ohne ihre Dimensionen zu ändern, in viel kleinere Proportionen eingesetzt und ermöglichten gerade wegen ihrer Inhaltslosigkeit eine allgemeine Sucht nach sozialen Höhelagen, denen das Korrelat nach unten fehlte.

Und es wirkt hier, gewissermaßen rückläufig, ein merkwürdiger, in menschliches Tun vielfach verflochtener Zug mit, den die primitive, »sympathische Zauberei« in großer Reinheit zeigt: man glaubt, Erscheinungen, die außerhalb der menschlichen Machtsphäre liegen, dadurch hervorrufen zu können, dass man sie in geringern Maßen selbst hervorbringt.

So ist bei vielerlei Völkern das Ausgießen von Wasser ein starker Regenzauber.

Die Macht des Allgemeinbegriffes ist allenthalben so weitgreifend, dass man mit irgend einer minimalen oder einseitigen Realisierung seiner ihn überhaupt, also auch seine Wirklichkeit auf viel höhern Stufen der Extensität und Intensität gewonnen zu haben meint.

Eine Erscheinung der »Autorität« zeigt den uns hier interessierenden Typus dieses Verhaltens in einer besondern Modifikation.

Das innere Übergewicht, das jemand auf Grund einer einseitigen Leistung oder Qualität gewonnen hat, verhilft ihm sehr oft zur »Autorität« in Fragen und Angelegenheiten und nach Seiten hin, die mit jenem wirklich bewährten Vorzug seiner gar nichts zu tun haben.

Auch hier also wird die partiell bestehende und gerechtfertigte »Überordnung« auf ein Gesamtverhältnis übertragen, auf dem es ihr an dem Korrelat eines wirklich »beherrschten« Gebietes fehlt.

Nur wie in eine andre Dimension ist hier die paradoxe Erscheinung der absolut gewordenen Überordnungsschicht übergegangen, für die die logisch erforderte Unterordnungsschicht mangelt, die diese gleichsam aufgesogen hat oder sie nur ideell besitzt.

Ich ging davon aus, dass eine Gruppe als Ganzes den Charakter der Unterordnung tragen kann, ohne dass das eigentlich entsprechende Maß von Überordnung in ihr praktisch und fassbar bestände; das Gegenstück bilden die hier behandelten Fälle, in denen eine Überordnung wie eine absolute Qualität zu bestehen scheint, die auf keinem korrespondierenden Unterordnungsquantum beruht.

Allein dies ist eine seltene Form; als der Gegensatz der ersteren erscheint vielmehr im allgemeinen die Freiheit aller.

Sieht man nun näher zu, so zeigt die Befreiung von Unterordnung sich fast immer zugleich als der Gewinn irgend einer Herrschaft - sei es den bisher Übergeordneten gegenüber, sei es einer neugebildeten, jetzt zu definitiver Unterordnung bestimmten Schicht.

So bemerkt der größte englische Verfassungshistoriker über den Quarrel of Puritanism einmal: Like every other struggle for liberty it ended in being a struggle for supremacy.

Dies allgemeine Schema nun verwirklicht sich natürlich nicht oft in ganz reiner Art, vielmehr meistens als eine Tendenz unter vielen gleichzeitig wirkenden, in fragmentarischen, abgelenkten, modifizierten Formen, aus denen dennoch jener Grundwille: der Freiheit die Überordnung zu substituieren, immer herauserkennbar ist, und deren wesentlichen Typen ich mich jetzt zuwende.

Für den griechischen Bürger waren beide Werte auf dem politischen Gebiet überhaupt nicht scharf zu trennen.

Es fehlte ihm die individuelle Rechtssphäre, die ihn vor den Ansprüchen und der Willkür auch der Allgemeinheit geschützt und ihm eine wirklich unabhängige Existenz, die konstitutionelle Freiheit auch gegenüber dem Staate gewährleistet hätte.

Darum gab es Freiheit eigentlich nur in einer Form: als Anteil an der Staatsherrschaft selbst.

Dies entspricht im soziologischen Typus genau den kommunistischen Bewegungen des Altertums, in denen es auch nicht auf Abschaffung des Privateigentums, sondern auf grösseren Anteil an ihm seitens der Enterbten abgesehen war.

Und endlich auf der niedrigsten Stufe, auf der vom Gewinn einer Superiorität nicht die Rede sein kann, wiederholt sich doch diese prinzipielle Form des Verhaltens: die griechischen Sklavenaufstände gehen kaum je auf die Sprengung der Sklavenfesseln überhaupt, sondern auf einen geringern, erträglichern Druck dieser, sie entspringen mehr der Empörung gegen den individuellen Missbrauch der Institution, als dem Verlangen ihrer grundsätzlichen Abschaffung.

Es ist ein typischer Unterschied, ob der Schutz vor Gefahren, die Abstellung von Missständen, der Gewinn ersehnter Werte durch Abschaffung der soziologischen Form, die der Träger all jener Negativitäten war, oder noch innerhalb dieser bewahrten Form erreicht werden soll.

Wo auf Über- und Unterordnung gebaute Gesamtverhältnisse sehr fest sind, wird die Befreiung der Untergeordneten oft gar nicht die generelle Freiheit bedeuten, die eine Änderung der Sozialform von Grund aus voraussetzte, sondern nur ein Aufsteigen jener in die Schicht der Herrschenden; zu welchen praktischen Widersprüchen der hierin enthaltene logische führt, ist nachher zu beleuchten.

Der Erfolg der französischen Revolution für den dritten Stand - scheinbar seine bloße Befreiung von den Privilegien der Privilegierten - bedeutete den Gewinn einer Überordnung in den beiden oben angeführten Bedeutungen: er machte durch seine ökonomischen Machtmittel die bisher höheren Stände von sich abhängig, dann aber war dies und seine ganze Emanzipation nur dadurch inhalt- und folgenreich, dass ein vierter Stand da war bzw. sich in dem gleichen Prozess bildete, den der dritte ausbeuten, über den er sich erheben konnte.

Deshalb kann man keineswegs die einfache Analogie ziehen, dass der vierte Stand heute tun wollte, was damals der dritte getan hätte.

Dies ist ein Punkt, an dem die Freiheit ihre Beziehung zur Gleichheit, freilich auch das notwendige Auseinanderbrechen dieser Beziehung zeigt.

Wenn allgemeine Freiheit herrscht, so besteht insoweit auch allgemeine Gleichheit; denn mit jener ist nur das Negative gesetzt, dass keinerlei Herrschaft besteht - eine Bestimmung, die eben ihrer Negativität wegen den sonst differenziertesten Elementen gemeinsam sein kann.

Die Gleichheit aber, die so als die erste Folge oder Akzidenz der Freiheit auftritt, ist in Wirklichkeit nur der Durchgangspunkt, den die Pleonexie der Menschen passieren muss, sobald sie die unterdrückten Massen ergreift.

Niemand begnügt sich, typischer Weise, mit der Stellung, die er seinen Mitgeschöpfen gegenüber einnimmt, sondern jeder will eine in irgend einem Sinne günstigere erobern.

Wenn nun die zu kurz gekommene Majorität den Wunsch nach erhöhter Lebenshaltung empfindet, so wird der nächstliegende Ausdruck dafür sein, dass sie dasselbe haben und sein will, wie die obern Zehntausend.

Die Gleichheit mit den Höhern ist der erste sich darbietende Inhalt, mit dem sich der Trieb eigner Erhöhung erfüllt, wie es sich in jedem beliebigen engern Kreise zeigt, mag es eine Schulklasse, ein Kaufmannsstand, eine Beamtenhierarchie sein.

Das gehört zu den Gründen der Tatsache, dass der Groll des Proletariers sich meistens nicht gegen die höchsten Stände, sondern gegen den Bourgeois wendet; denn diesen sieht er unmittelbar über sich, er bezeichnet für ihn diejenige Stufe der Glücksleiter, die er zunächst zu ersteigen hat, und auf die sich deshalb für den Augenblick sein Bewusstsein und sein Wunsch nach Erhöhung konzentriert.

Der Niedre will zunächst dem Höhern gleich sein; ist er ihm aber gleich, so zeigt tausendfache Erfahrung, dass dieser Zustand, früher der Inbegriff seines Strebens, nichts weiter als der Ausgangspunkt eines weiteren ist, nur die erste Station des ins Unendliche gehenden Weges zur begünstigtsten Stellung.

Überall, wo man die Gleichmachung zu verwirklichen suchte, hat sich von diesem neuen Boden aus das Streben des einzelnen, die andern zu überflügeln, in jeder möglichen Weise geltend gemacht.1

1 Ich entnehme diese Sätze meiner »Sozialen Differenzierung«, S. 232 f.

Das Gleichsein, das die Freiheit logisch mit sich führt, solange sie in ihrem reinen und negativen Sinn als Nicht-Beherrschtwerden gilt, ist keineswegs ihr definitives Absehen - so oft auch die Neigung des Menschen, die nächst erforderliche oder erreichbare Stufe seiner Willensreihen für die abschließend befriedigende zu halten, ihm dies vorgespiegelt hat.

Ja, die naive Unklarheit verlegt die Superiorität, zu der die Freiheit, über das Stadium der Gleichheit hinweg, drängt, schon unmittelbar in dieses hinein; denn, ob wirklich getan oder nicht, von typischer Wahrheit jedenfalls ist die Äußerung einer Kohlenträgerin zu einer reichgekleideten Dame im Jahre 1848: »Ja, Madame, jetzt wird alles gleich werden: ich werde in Seide gehen, und Sie werden Kohlen tragen.«

Dies ist der unvermeidliche Erfolg davon, dass man die Freiheit doch nicht nur haben, sondern sie auch zu etwas benutzen will.

So pflegt die »Freiheit der Kirche« keineswegs bloß in der Befreiung von übergeordneten irdischen Mächten, sondern eben damit in einer Beherrschung derselben zu bestehen: die Lehrfreiheit der Kirche z. B. bedeutet, dass der Staat Bürger erhält, die von ihr imprägniert sind und unter ihrer Suggestion stehen, wodurch er dann oft genug unter ihre Herrschaft geraten ist.

Über die Klassenprivilegien des Mittelalters ist gesagt worden, dass sie oft ein Mittel waren, bei einem auf alle wirkenden tyrannischen Druck die Freiheit aller, auch der Nicht-Privilegierten, gewinnen zu helfen.

Ist dies aber erreicht, so wirkt nun das Weiterbestehen des Privilegs in einem Sinne, der die Freiheit aller wieder beeinträchtigt.

Die Freiheit der Privilegierten erzeugt einen Zustand, dessen innere Struktur zwar die Freiheit aller als seine Folge oder Bedingung mit sich bringt; aber diese Freiheit trägt latent in sich die Bevorzugung jener Elemente, von der sie ausgegangen ist, und die im Lauf der Zeit, unter der jetzt gewonnenen Bewegungsfreiheit, wieder aktuell wird, d. h. die Freiheit aller übrigen wieder herabdrückt.

Diese Ergänzung der Freiheit durch die Herrschaft gewinnt eine besondre Form da, wo die Freiheit einer Teilgruppe innerhalb eines grösseren, insbesondere des staatlichen Verbandes in Frage steht.

Solche Freiheit stellt sich historisch vielfach als mehr oder weniger ausgedehnte, eigne Jurisdiktion jener Gruppe dar.

Damit also bedeutet die Freiheit, dass die Gruppe als Ganzes, als überindividuelle Einheit, zum Herrn über ihre einzelnen Mitglieder gesetzt ist.

Das Entscheidende ist, dass der Sonderkreis nicht ein Recht auf irgend welches Belieben hat - dies würde ihm seine Mitglieder noch nicht prinzipiell unterordnen -, sondern ein Recht auf eignes Recht; denn dies koordiniert sie dem großen, sie umgebenden Kreise, der im übrigen das Recht verwaltet und damit jeden ihm Zugehörigen bedingungslos unterwirft.

Die engere Gruppe pflegt dann mit äußerster Strenge darauf zu halten, dass ihr Mitglied sich auch ihrem Gericht unterwirft, weil sie ihre Freiheit darauf beruhen weiß.

Im mittelalterlichen Dänemark darf ein Gildebruder sein Recht gegen den andern nur vor dem Gildegericht suchen.

Er ist äußerlich nicht gehindert, dies auch vor dem öffentlichen, dem Königs- oder Bischofsgericht zu tun; allein dies gilt - wo nicht etwa die Gilde es ausdrücklich gestattet hat - als ein Unrecht sowohl gegen sie wie gegen den betreffenden Gildebruder und wird deshalb mit Bußen an beide heimgesucht.

Die Stadt Frankfurt hatte von den Kaisern das Privileg erhalten, dass gegen ihre Bürger niemals ein auswärtiges Gericht angerufen werden sollte; daraufhin wurde 1396 ein Frankfurter Bürger verhaftet, weil er andre Frankfurter, die ihm Geld schuldeten, vor einem auswärtigen Gerichte verklagt hatte.

Da Freiheit immer die beiden Seiten haben kann: einerseits ein Geachtetsein, ein Recht, eine Macht vorzustellen, anderseits eine Ausschließung, eine verächtliche Gleichgültigkeit seitens der höhern Macht - so ist es keine Gegeninstanz, dass die eigne Jurisdiktion, die die mittelalterlichen Juden bei Rechtsstreitigkeiten untereinander genossen, eher eine Deklassierung und Vernachlässigung bedeutet zu haben scheint.

Ganz anders lag es bei den oströmischen Juden der Kaiserzeit; von den alexandrinischen z. B. erzählt Strabo, dass sie einen eignen Oberrichter hätten, der ihre Prozesse entschiede.

Und zwar geschah dies, weil die Juden behaupteten, ihre Religion fordere eine besondre, nur ihnen eigne Rechtsprechung.

Und tatsächlich war diese rechtliche Sonderstellung der Juden im Orient mindestens eine Quelle des Judenhasses.

Der einzelne war dabei gewiss nicht freier als auch unter der Herrschaft des gemeinen Rechts; allein ihre Gesamtheit genoss damit eine Freiheit, die die übrigen Staatsbürger als eine ostentative Exemtion empfanden.

Es gründet sich eben der Vorzug eines Kreises mit eigner Rechtsprechung keineswegs auf den besondern Inhalt des von ihm verwalteten Rechts; dass seine Mitglieder eben nur ihm unterworfen sind, ist schon als Form eine Freiheit.

Die Zunftmeister kämpften gegen die genossenschaftliche Gerichtsbarkeit der Gesellenverbände, auch wo deren inhaltliches Gebiet ganz gering war und etwa nur die Aufrechterhaltung des Anstandes und der guten Sitte einschloss.

Denn sie wussten sehr wohl, dass die von den Gesellenverbänden kodifizierte und geübte Sittenpolizei ihnen ein Bewusstsein der Solidarität, der Standesehre, der organisierten Unabhängigkeit gab, das als Rückhalt und feste Zusammengehörigkeit den Meistern gegenüber wirkte.

Und sie wussten, dass diese soziologische Form das Wesentliche war und, wenn sie einmal konzediert war, die weitere Ausdehnung ihrer Inhalte nur noch von den jeweiligen Macht- und Wirtschaftsverhältnissen abhing.

Der generelle Inhalt dieser Freiheit des Ganzen ist die Unterworfenheit des einzelnen - womit dann das oben Angedeutete schon gegeben ist, dass sie in keiner Weise eine materiell größere Freiheit des Individuums zu bedeuten braucht.

Die Lehre der Volkssouveränität, gegenüber der fürstlichen, wie sie im Mittelalter auftaucht, besagte durchaus nicht die Freiheit des Individuums, sondern die der Kirche, anstelle des Staates über das Individuum zu herrschen; und als im 16. Jahrhundert die Monarchomachen den Gedanken des souveränen Volkes aufnehmen und die Herrschaft auf eine Art privatrechtlichen Vertrags zwischen Fürsten und Volk gründen, soll auch nicht das Individuum frei werden, sondern es soll grade der Herrschaft seiner Konfession und der gesellschaftlichen Stände unterworfen sein.

Ja, das eminente Interesse des relativen Ganzen an der Herrschaft über seine Individuen, die exponierte Stellung solcher besonders abgegrenzter und bevorrechteter Kreise führt oft dazu, dass Sondergerichtsbarkeiten rigoroser sind als der große umgebende Kreis, der ihnen diese Exemtion gestattet, es in seinem Rechte ist. Die dänischen Gilden, von denen ich schon sprach, bestimmten, dass wenn ein Gildebruder den mit einem andern abgeschlossenen Kaufvertrag bricht, er, als Verkäufer, zweimal soviel an den Käufer büßen soll, als er an des Königs Beamten büßen müsste, wenn er nicht Gildebruder wäre, und zweimal soviel an alle Gildebrüder, als er an die Stadt büßen müsste.

Die Struktur des grösseren Kreises als solchen gestattet ihm, dem Individuum mehr Freiheit zu geben als der kleinere, dessen Bestand unmittelbarer von dem ihm zuträglichen Verhalten jedes einzelnen Mitgliedes abhängt; auch muss er durch die Strenge seiner Rechtsprechung immer von neuem beweisen, dass er die ihm anvertraute Herrschaft über seine Mitglieder auch fest und würdig ausübt und der Staatsgewalt keine Veranlassung zu korrigierendem Eingreifen gibt.

Aber dieses Regime über seine Mitglieder, in dem seine Freiheit besteht, kann zu Schlimmerem als zu rechtlicher Härte werden.

Die große Selbständigkeit der deutschen Städte hat freilich bis ins 16. Jahrhundert hinein ihre Entwicklung äußerst gefördert, dann aber eine oligarchische Klassen- und Vetternherrschaft erzeugt, die alle nicht am Regiment Teilhabenden aufs härteste bedrückte; erst die aufkommenden Staatsgewalten haben, in nahezu zweihundertjährigem Kampfe, dieser tyrannischen Ausnutzung der städtischen Freiheit Einhalt tun und die Freiheit des Individuums ihr gegenüber wieder garantieren können.

Die Selbstverwaltung, deren Segen im Prinzip erwiesen ist, birgt eben doch die Gefahr lokaler Parlamente, in denen egoistische Klasseninteressen dominieren.

In diese gleichsam pathologische Übertreibung schlägt die Korrelation um, die den Gewinn der Freiheit von dem Gewinn der Herrschaft wie von ihrer Ergänzung und ihrem Inhalt begleiten lässt.

Nach einer ganz andern Seite hin gestaltet sich der hier fragliche Typus: die Entwicklung jeder gruppenmässigen, für viele gleichmäßigen, keiner Unterordnung andrer bedürftigen Befreiung oder Erhöhung zu dem Erstreben oder Gewinnen einer Überordnung - wenn wir die Differenzierung beobachten, die über eine tiefstehende Schicht bei ihrem Aufsteigen zu freiern oder überhaupt bessern Lebensbedingungen zu kommen pflegt.

Der Erfolg ist sehr oft der, dass zwar gewisse Teile der gleichmäßig in die Höhe strebenden Gruppe wirklich in die Höhe kommen, was aber nur bedeutet, dass sie ein Teil der schon vorher übergeordneten Schichten werden und die übrigbleibenden untergeordnet bleiben.

Insbesondre tritt dies natürlich da ein, wo innerhalb der emporstrebenden Schichten schon eine Scheidung Übergeordneter und Untergeordneter besteht; da wird, nachdem die Rebellion gegen die ihnen gemeinsam übergebaute Schicht beendet ist, jener während der Bewegung in den Hintergrund getretene Unterschied der Rebellen sogleich wieder hervortreten und bewirken, dass die schon vorher Höherstehenden sich jetzt jener höchsten Schicht assimilieren, ihre frühern Mitstreiter aber um so tiefer herabgedrückt werden.

Nach diesem Typus vollzog sich ein Teil der englischen Arbeiterrevolution von 1830.

Die Arbeiter bildeten, um das parlamentarische Wahlrecht für sich zu gewinnen, eine Vereinigung mit der Reformpartei und den Mittelklassen; das Ergebnis war die Durchbringung eines Gesetzes, das allen Klassen das Wahlrecht verlieh - nur grade den Arbeitern nicht.

Nach der gleichen Formel war, etwa im 4. Jahrhundert v. Chr., schon der Ständekampf in Rom verlaufen.

Die reichen Plebejer, die das Konnubium und eine demokratischere Ämterbesetzung in dem Interesse ihrer Schicht wünschten, schlossen ein Bündnis mit dem Mittelstand und den tiefern Schichten.

Der Erfolg der Gesamtbewegung war, dass jene Punkte ihres Programms, die hauptsächlich die Großbürger angingen, erreicht wurden, die Reformen aber, die dem Mittelstand und den Kleinbauern aufhelfen sollten, sich bald im Sande verliefen.

Und ebenso entwickelte sich die böhmische Revolution von 1848, in der die Bauern die letzten Reste der Fronverfassung beseitigten.

Sowie dies erreicht war, machten sich sofort die Unterschiede in der Lage der Bauern geltend, die vor und während der Revolution auf Grund der gemeinsamen Untertänigkeit zurückgetreten waren.

Die niedern Klassen der ländlichen Bevölkerung verlangten Teilung der Gemeindegründe.

In den wohlhabenderen Bauern weckte dies sogleich alle konservativen Instinkte, und sie sträubten sich gegen die Ansprüche des ländlichen Proletariats, mit dem zusammen sie eben gegen die Herren gesiegt hatten, ebenso wie diese sich gegen die ihrigen gesträubt hatten.

Es ist ein ganz typisches Vorkommnis: dass der Stärkere, der allerdings vielleicht am meisten getan hat, dann die Früchte des Sieges allein ernten möchte; der relativ überwiegende Anteil am Gewinne wächst zu dem Anspruch auf absolut überwiegenden Anteil am Gewonnenen aus.

Dieses Schema findet für seine Verwirklichung eine große soziologische Hülfe an dem bereits Hervorgehobenen: dass eine, im weitesten Sinne, standesmässige Schichtung vorliegt und aus der als Ganzes gehobenen tiefern Schicht die in ihr kräftigern Elemente den Anschluss an die höhere, bisher bekriegte Schicht gewinnen.

Damit wird die bisher relative Differenz zwischen den besser und den schlechter gestellten Elementen jenes Standes zu einer sozusagen absoluten, das Quantum errungener Vorteile hat bei den ersteren die Schwelle erreicht, an der es in eine neue Vorteilsqualität übergeht..

In formal ähnlichem Sinne wurde gelegentlich im spanischen Amerika verfahren, wenn sich unter seiner farbigen Bevölkerung ein besonders begabter Kopf zeigte, der eine freiere und bessere Stellung seiner Rasse entweder schon involvierte oder befürchten ließ.

Diesem erteilte man dann ein Patent, »dass er für weiß gelten sollte«.

Indem man ihn der herrschenden Schicht assimilierte, trat an die Stelle der Gleichheit mit dieser, die er eventuell für seine Rasse und erst dadurch auch für sich hätte gewinnen können, die Superiorität seinen Rassegenossen gegenüber.

Aus dem Gefühl für diesen soziologischen Typus heraus sind z. B. in Österreich grade von arbeiterfreundlichen Politikern Bedenken gegen die Arbeiterausschüsse erhoben worden, durch die man doch die Unterdrückung der Arbeiter mildern will.

Man fürchtet, dass diese Ausschüsse zu einer Arbeiteraristokratie werden könnten, die durch ihre dem Unternehmer sich nähernde Machtstellung von diesem leichter in seine Interessen hineingezogen werden würden, und dass so die übrige Arbeiterschaft durch diesen scheinbaren Fortschritt noch mehr preisgegeben wäre.

So ist auch im allgemeinen die Chance der besten Arbeiter, in die besitzende Klasse aufzusteigen, auf den ersten Blick eine Dokumentierung des Fortschritts der Arbeiterklasse als ganzer, ihr in Wirklichkeit keineswegs günstig.

Denn sie wird dadurch ihrer besten und führenden Elemente beraubt, diese absolute Erhöhung ihrer Mitglieder ist zugleich eine relative Erhöhung dieser über die Klasse, und damit eine Abtrennung von ihr, ein regelmäßiger Aderlass, der sie ihres besten Blutes beraubt.

Darum ist es für eine Obrigkeit, gegen die eine Masse sich empört, von vornherein günstig, wenn es ihr gelingt, diese zur Wahl von Vertretern zu bewegen, die die Verhandlungen führen sollen.

Dadurch wird jedenfalls der überwältigende, überrennende Ansturm der Masse als solcher gebrochen, sie wird zunächst durch ihre eignen Anführer nun so im Zaum gehalten, wie es der Obrigkeit selbst nicht mehr gelingt, jene üben ihr gegenüber die formale Funktion dieser, und bereiten dadurch das Wiedereintreten der letzteren in das Regiment vor.

In all diesen, nach den verschiedensten Seiten hin ausladen den Erscheinungen bleibt ein immer gleicher soziologischer Kern: dass das Erstreben und Gewinnen von Freiheit, in ihren mannigfachen, negativen und positiven Bedeutungen, sogleich das Erstreben und Gewinnen von Herrschaft zum Korrelat oder zur Folge hat.

Der Sozialismus wie der Anarchismus werden die Notwendigkeit dieses Zusammenhanges leugnen.

Während das dynamische Gleichgewicht der Individuen, das man als soziale Freiheit bezeichnen kann, hier nur als ein Durchgangspunkt - realen oder sogar nur ideellen Wesens - erscheint, über den hinaus die Waage sogleich wieder nach einer Seite ausschlägt, werden sie seine Stabilität für möglich erklären, sobald nur die soziale Organisation überhaupt nicht mehr als Über- und Unterordnung, sondern als Koordination aller Elemente gestaltet wäre.

Die Gründe, die man gegen diese Möglichkeit anzuführen pflegt, die aber hier nicht zur Diskussion stehen, sind als die des terminus a quo und die des terminus ad quem zusammenzufassen: die natürliche und durch keinerlei Maßregeln zu beseitigende Verschiedenheit der Menschen werde sich ihren Ausdruck in einer Rangierung nach Oben und Unten, nach Befehlenden und Gehorchenden nicht nehmen lassen; und die Technik kultivierter Arbeit fordere zu ihrer großen Vollkommenheit einen hierarchischen Bau der Gesellschaft, den »einen Geist für tausend Hände«, die Struktur aus Anführenden und Ausführenden.

Dass so die Konstitution der Subjekte und die Ansprüche der objektiven Leistung, die Träger der Arbeit und die Vollendung ihrer Ziele sich in der Notwendigkeit von Herrschaft und Unterordnung begegnen, Kausalität und Teleologie gleichmäßig auf diese Form dringen, das gerade sei ihre entschiedenste und entscheidendste Rechtfertigung und Unentbehrlichkeit.

Es treten indes in der geschichtlichen Entwicklung sporadische Ansätze zu einer Sozialform auf, deren prinzipielle Vollendung das Weiterbestehen von Über- und Unterordnung mit den Freiheitswerten vereinigen könnte, um derentwillen Sozialismus und Anarchismus für die Abschaffung jener eintreten.

Das Motiv zu solcher Bestrebung liegt doch ausschließlich in den Gefühlszuständen der Subjekte, in dem Bewusstsein von Entwürdigung und Unterdrücktheit, in dem Herabziehen des ganzen Ich in die Niedrigkeit der sozialen Stufe, in dem persönlichen Hochmut, zu dem die äußerlich führende Stellung das Selbstgefühl steigert.

Könnte irgend eine Organisation der Gesellschaft diese psychologischen Folgeerscheinungen der sozialen Ungleichheit vermeiden, so könnte eine solche ohne weiteres fortbestehen.

Man übersieht vielfach den rein technischen Charakter des Sozialismus: dass er ein Mittel zur Herbeiführung gewisser subjektiver Reaktionen ist, dass seine letzte Instanz in den Menschen und ihrem, von ihm auszulösenden Lebensgefühl liegt.

Freilich ist, wie es nun einmal unsere seelische Art ist, das Mittel vielfach zum Zweck ausgewachsen, die rationelle Organisation der Gesellschaft und die Aufhebung von Befehl und Unterworfenheit erscheint als nicht über sich hinausfragender Wert, der ganz ohne Rücksicht auf jene personal-eudämonistischen Erfolge Realisierung fordert.

In diesen aber liegt dennoch die eigentliche psychologische Kraft, die der Sozialismus in die historische Bewegung einzusetzen hat.

Als bloßes Mittel aber unterliegt er dem Verhängnis jedes Mittels: prinzipiell nie das einzige zu sein; da mannigfaltige Ursachen die gleiche Wirkung haben können, so ist es niemals ausgeschlossen, dass der gleiche Zweck durch verschiedene Mittel erreicht werden kann.

Der Sozialismus, insoweit er eine vom Willen der Menschen abhängende Einrichtung ist, ist nur der erste Vorschlag zur Beseitigung jener aus der historischen Ungleichheit entspringenden eudämonistischen Unvollkommenheiten und darum mit der Sehnsucht nach deren Aufhebung so eng assoziiert, dass er mit ihr solidarisch erscheint.

Es gibt aber keinen logischen Grund, das definitiv entscheidende Gefühl von Würde und sich selbst gehörendem Leben ausschließlich an ihn zu knüpfen, sobald es nur möglich wäre, die entsprechende Assoziation auszulösen: zwischen der Über- und Unterordnung einerseits und dem Gefühl von persönlicher Entwertung und Unterdrücktheit anderseits.

Vielleicht gelingt dies einem Wachstum der psychologischen Unabhängigkeit des individuellen Lebensgefühls von der äußern Tätigkeit überhaupt und der Stellung, die der einzelne innerhalb dieser einnimmt.

Es ließe sich denken, dass im Laufe der Kultur die Produktionstätigkeit immer mehr bloße Technik wird, immer vollständiger ihre Folgen für die Innerlichkeit und Persönlichkeit des Menschen verliert.

Tatsächlich finden wir die Annäherung an diese Scheidung als den soziologischen Typus von vielerlei Entwicklungen.

Wenn Persönlichkeit und Leistung ursprünglich eng verschmolzen sind, so bewirkt dann die Arbeitsteilung und die Herstellung der Produkte für den Markt, d. h. für gänzlich unbekannte und gleichgültige Konsumenten, dass die Persönlichkeit sich immer mehr aus der Leistung heraus und auf sich selbst zurückzieht.

Nun mag der geforderte Gehorsam noch so unbedingt sein - er dringt mindestens nicht mehr in die für das Lebensgefühl und den Persönlichkeitswert entscheidende Schicht, weil er nur eine technische Notwendigkeit ist, eine Organisationsform, die ebenso auf dem abgegrenzten Gebiet der Äußerlichkeiten verbleibt, wie die manuelle Arbeit selbst.

Diese Differenzierung der objektiven und der subjektiven Lebenselemente, bei der die Unterordnung in ihrem technisch-organisatorischen Werte erhalten bleibt, aber ihre personal und innerlich deprimierenden und deklassierenden Folgen abwirft - ist selbstverständlich keine Panacée gegen sämtliche Schwierigkeiten und Leiden, die das Herrschen und Gehorchen auf allen Gebieten mit sich bringt; sie ist an dieser Stelle nur der prinzipielle Ausdruck einer sehr partiell wirksamen Tendenz, die in der Wirklichkeit niemals zu einer unabgelenkten und abschließenden Leistung kommt.

Eines der reinsten Beispiele bietet der Freiwilligendienst des heutigen Militärs.

Der geistig und sozial höchststehende Mann mag sich hier dem Unteroffizier unterordnen, ja eine Behandlung ertragen, die ihn, wenn sie wirklich sein Ich und sein Ehrgefühl träfe, zu den verzweifeltsten Reaktionen bewegen würde.

Aber das Bewusstsein, dass er gar nicht als individuelle Persönlichkeit, sondern nur als unpersönliches Glied sich einer objektiven, solche Disziplin fordernden Technik zu beugen hat, lässt es zu dem Gefühl der Entwürdigung und Unterdrückung - mindestens in vielen Fällen - nicht kommen.

Innerhalb der Wirtschaft ist es insbesondere der Übergang der Lohnarbeit zur Maschinenarbeit und der Naturalentlohnung zum Geldlohn, der dies Objektivwerden der Über- und Unterordnung begünstigt, gegenüber dem Gesellenverhältnis, in dem sich die Aufsicht und Herrschaft des Meisters auf alle Lebensbeziehungen des Gesellen, ganz über die rein im Arbeitsverhältnis gelegene Prärogative hinaus, erstreckte.

Dem gleichen Entwicklungsziel könnte ein weiterer wichtiger Typus soziologischer Formung dienen.

Proudhon will bekanntlich alle Über- und Unterordnung aufheben, indem er diejenigen regierenden Gebilde, welche sich unter Wechselwirkung der Individuen als Träger der sozialen Kräfte herausdifferenziert haben, auflösen und alle Ordnung und allen Zusammenhalt wieder auf die unmittelbare Wechselwirkung zwischen freien, koordinierten Individuen gründen will.

Nun ist aber diese Koordination vielleicht auch bei Weiterbestehen von Über- und Unterordnung zu erreichen, wenn diese nämlich eine wechselseitige ist; eine ideale Verfassung, in der A. dem B. in einer Beziehung oder zu einer Zeit übergeordnet ist, in einer andern Beziehung oder zu einer andern Zeit aber B. dem A.

Damit wäre der organisatorische Wert der Über- und Unterordnung gewahrt, während ihre Bedrückung, Einseitigkeit und Ungerechtigkeit fortfiele.

Es gibt nun tatsächlich außerordentlich viele Erscheinungen des Gesellschaftslebens in denen dieser Formtypus sich verwirklicht, wenn auch nur in embryonaler, verstümmelter und verdeckter Art.

Ein Beispiel in engem Rahmen ist etwa eine Produktivassoziation von Arbeitern zu einem Betrieb, für den sie einen Meister und Werkführer wählen.

Während sie diesem in der Technik des Betriebes untergeordnet sind, sind sie ihm doch in bezug auf dessen allgemeine Leitung und Ergebnisse übergeordnet.

Indem alle Gruppen, in denen der Führer entweder durch häufigere Wahl oder nach regelmäßigem Turnus wechselt - bis herab zu dem Vorsitz in geselligen Vereinen -, diese Vereinigung von Über-und Unterordnung aus der homochronen Form in die zeitliche Alternierung übertragen, gewinnen sie die technischen Vorteile der Über- und Unterordnung unter Vermeidung ihrer personalen Nachteile.

Alle entschiedenen Demokratien suchen dies durch die kurze Funktionsdauer ihrer Beamten zu erreichen.

Hierdurch wird das Ideal, dass jeder einmal an die Reihe kommt, möglichst erreicht; daher auch das häufige Verbot der Wiederwahl.

Die gleichzeitige Über- und Unterordnung ist eine der kraftvollsten Formen der Wechselwirkung und kann, in richtiger Verteilung auf die verschiedensten Gebiete, schon durch die enge Wechselwirkung, die sie bedeutet, ein sehr starkes Band zwischen Individuen bilden.

Stirner sieht hierin das Wesentliche des Konstitutionalismus: »Die Minister dominieren über ihren Herrn, den Fürsten, die Deputierten über ihren Herrn, das Volk.« Und noch in einem tiefem Sinne enthält der Parlamentarismus diese Korrelationsform.

Wenn die moderne Jurisprudenz alle Rechtsverhältnisse in solche der Gleichordnung und solche der Über- und Unterordnung teilt, so dürften auch die erstem vielfach solche von Über- und Unterordnung, aber in wechselseitiger Ausübung, sein.

Die Gleichordnung zweier Bürger mag darin bestehen, dass keiner eine Prärogative vor dem andern besitzt.

Aber indem jeder einen Abgeordneten wählt, und dieser über Gesetze, die auch für den andern gelten, mitzubestimmen hat, entsteht ein Verhältnis wechselseitiger Über- und Unterordnung, und zwar als Ausdruck der Koordination.

Für die Verfassungsfragen ist diese Form überhaupt von entscheidender Bedeutung, wie schon Aristoteles erkannt hat, wenn er den Anteil an der Staatsgewalt dem Rechte nach von dem Anteil an der Staatsgewalt der Ausübung nach unterscheidet.

Dadurch, dass ein Bürger, im Gegensatz zu den Nicht-Bürgern, ein Träger der Staatsgewalt ist, ist noch nicht gesagt, dass er nicht etwa innerhalb der Organisation dieser lediglich und dauernd zu den bloß Gehorchenden gehört.

Wer in bezug auf die Frage der Bürgerwehrfähigkeit zu den o l i g o i , zu den Besitzenden, zählen mag, kann hinsichtlich des Anteils an der Ausübung der Staatsgewalt zu den weniger Besitzenden, dem d h m o V gehören, indem zu Ämtern etwa nur Leute mit hoher Schätzung wählbar sind, niedrigere Schätzung aber lediglich zur Teilnahme an der e k k l h s i a berechtigt.

Ein Staat, welcher sich in Richtung auf das erste Verhältnis vielleicht als o l i a r c i a darstellte, ist in bezug auf das zweite unter Umständen Demokratie.

Der Beamte ist hier der allgemeinen Staatsgewalt unterworfen, deren Träger in der praktischen Organisation ihm wieder unterworfen sind.

Man hat dieses Verhältnis zugleich verfeinerter und allgemeiner ausgedrückt, Individuum als allen andern koordiniertes Glied des Staates gegenüberstellte: der einzelne sei in jener Hinsicht Pflichtobjekt, in dieser Rechtsobjekt.

Und zwar steigert sich diese Differenzierung und zugleich die durch die Wechselseitigkeit der Über-und Unterordnung bewirkte Einheitlichkeit des Gruppenlebens noch, wenn man auf gewisse Inhalte achtet, auf die sich diese Form bezieht.

Man hat als die Stärke der Demokratie hervorgehoben - mit vollem Bewusstsein der darin gelegenen indem man das Volk als Objekt des Imperiums dem Individuum als allen andern koordiniertes Glied des Staates gegenüberstellte: der einzelne sei in jener Hinsicht Pflichtobjekt, in dieser Rechtsobjekt.

Und zwar steigert sich diese Differenzierung und zugleich die durch die Wechselseitigkeit der Über-und Unterordnung bewirkte Einheitlichkeit des Gruppenlebens noch, wenn man auf gewisse Inhalte achtet, auf die sich diese Form bezieht.

Man hat als die Stärke der Demokratie hervorgehoben - mit vollem Bewusstsein der darin gelegenen Paradoxie- dass ein jeder in den Dingen Diener ist, in denen er die genaueste Sachkenntnis besitzt, nämlich in den beruflichen, wo er den Wünschen der Konsumenten, den Anweisungen des Unternehmers oder sonstigen Auftragerteilenden gehorchen muss - während er in den allgemeinen bzw. politischen Interessen der Gesamtheit mit Herr ist, von denen er kein spezielles, sondern nur das allen andern auch eigene Verständnis hat.

Wo der in letzter Instanz Herrschende zugleich der Sachverständige ist, da sei die absolute Unterdrückung der Tieferstehenden ganz unvermeidlich; und wenn in der Demokratie die jeweilige Zahlenmajorität diese Konzentration von Wissen und Macht besäße, würde sie keine weniger schädliche Tyrannei als die Autokratie üben.

Um es zu dieser Spaltung zwischen Oben und Unten nicht kommen zu lassen, sondern eine Einheit des Ganzen zu bewahren, bedürfe es dieser eigentümlichen Verschränkung, mit der die höchste Macht denen anvertraut sei, die in Hinsicht des Sachverständnisses subaltern wären! Auf der Verflechtung von alternierenden Über-und Unterordnungen zwischen denselben Potenzen ruhte nicht weniger die Einheit des Staatsgedankens, zu der nach der glorreichen Revolution in England die parlamentarische und die Kirchenverfassung zusammenwuchsen.

Die Geistlichkeit hatte eine tiefe Abneigung gegen das parlamentarische Regime und vor allem gegen die Prärogative, die dieses auch ihr gegenüber verlangte.

Der Friedensschluss kam - den Hauptsachen nach - so zustande, dass die Kirche eine besondre Gerichtsgewalt über Ehe und Testamente behielt und ihre Strafbestimmungen über Katholiken und Nicht-Kirchenbesucher.

Dafür vergaß sie ihre Lehre vom unabänderlichen »Gehorsam« und erkannte an, dass die göttliche Weltordnung Platz für eine parlamentarische hatte, deren besondern Bestimmungen auch die Geistlichkeit unterworfen sei.

Wiederum aber dominierte die Kirche das Parlament, indem zum Eintritt in dieses Eide erforderlich waren, die nur die Staatskirchler ohne weiteres, Dissenters auf Umwegen, Andersgläubige überhaupt nicht ablegen durften.

Die regierende geistliche und weltliche Klasse verkettete sich in der Weise, dass die Erzbischöfe ihren Platz im Oberhause über den Herzögen, die Bischöfe über den Lords behielten, während sich alle Pfarren dem Patronat der weltlichen regierenden Klasse unterordneten.

Dafür überließ man den Ortsgeistlichen wieder die Leitung der Ortsgemeindeversammlung.

Dies war die Wechselwirkungsform, die die sonst einander widerstrebenden Machtfaktoren gewinnen konnten, damit die Staatskirche des 18. Jahrhunderts und eine einheitliche Organisation des englischen Lebens überhaupt zustande kam.

So verdankt das eheliche Verhältnis seine innere und äußere Festigkeit und Einheit wenigstens zum Teil der Tatsache, dass es eine große Anzahl von Interessengebieten umfasst und auf manchen derselben der eine Teil, auf andern der andre übergeordnet ist.

Dadurch entsteht ein Ineinanderwachsen, eine Einheitlichkeit und zugleich doch innere Lebendigkeit des Verhältnisses, wie sie bei andern soziologischen Formen kaum zu erreichen ist.

Was man die »Gleichberechtigung« von Mann und Frau in der Ehe nennt - als Tatsache oder als frommer Wunsch - wird sich wohl zum großen Teil als solche alternierende Über- und Unterordnung herausstellen.

Wenigstens ergäbe sich hierbei, insbesondere wenn man auf die tausend feinen, nicht in Prinzipien zu fassenden Beziehungen des täglichen Lebens achtet, ein mehr organisches Verhältnis, als bei einer mechanischen Gleichheit im unmittelbaren Sinn; jene Alternierung brächte es schon mit sich, dass die jeweilige Überordnung nicht als brutaler Befehl auftritt.

Diese Verhältnisform bildete auch eines der festesten Bänder für die Armee Cromwells.

Derselbe Soldat, der in militärischen Angelegenheiten seinem Vorgesetzten blind gehorchte, machte sich oft in der Gebetstunde zum Sittenprediger diesem Vorgesetzten gegenüber, ein Korporal konnte die Andacht leiten, an der sein Hauptmann nur ebenso wie alle Gemeinen teilnahm, die Armee, die ihrem Führer unbedingt folgte, wenn einmal ein politischer Zweck akzeptiert war, fasste vorher doch ihrerseits politische Entschlüsse, denen sich die Führer unterordnen mussten.

Durch diese Wechselseitigkeit von Über- und Unterordnung erhielt die puritanische Armee, solange sie bestand, eine außerordentliche Festigkeit.

Nun ist dieser günstige Erfolg der in Frage stehenden Vergesellschaftungsform aber davon abhängig, dass die Sphäre, innerhalb deren das eine Sozialelement übergeordnet ist, sehr genau und unzweideutig von denjenigen abgegrenzt ist, in denen das andere übergeordnet ist.

Sobald dies nicht der Fall ist, werden fortwährende Kompetenzkonflikte entstehen, und der Erfolg wird nicht Stärkung, sondern Schwächung der Verbindung sein.

Insbesondere wo ein im allgemeinen Untergeordneter gelegentlich eine Überordnung erringt, die auf dem Gebiet seiner sonstigen Unterordnung bleibt, da wird teils durch den Charakter des Rebellentums, den dieser Zustand meistenteils tragen wird, teils durch die mangelnde Fähigkeit des immer Untergeordneten zur Überordnung auf dem gleichen Gebiete - die Festigkeit der Gruppe leiden.

So brachen zur Zeit der Weltmacht Spaniens im spanischen Heer, z. B. in den Niederlanden, periodische Rebellionen aus.

Mit so furchtbarer Disziplin es im ganzen zusammengehalten wurde, so zeigte es doch gelegentlich eine ununterdrückbare demokratische Energie.

In gewissen, fast berechenbaren Zwischenräumen rebellierten sie gegen die Offiziere, setzten sie ab und wählten eigne Offiziere, die aber unter Aufsicht der Soldaten standen und nichts tun durften, was nicht alle Untergebenen billigten.

Die Schädlichkeit solchen Durcheinandergehens von Über- und Unterordnung auf einem und demselben Gebiete bedarf keiner Erörterung.

Sie liegt in indirekter Form ebenso in der kurzen Amtsdauer wählbarer Beamten vieler Demokratien; es wird dadurch allerdings erreicht, dass eine möglichst große Anzahl von Bürgern einmal in eine führende Stellung gelangt - aber anderseits werden langsichtige Pläne, kontinuierliche Aktionen, konsequent durchgeführte Maßregeln, technische Vollkommenheit oft genug dadurch verhindert.

In den antiken Republiken freilich war dieses rasche Alternieren noch nicht in diesem Maße schädlich, insoweit ihre Verwaltung einfach und durchsichtig war, und die meisten Bürger die für die Ämter erforderlichen Kenntnisse und Schulung besaßen.

Die soziologische Form jener Vorkommnisse im spanischen Heere zeigten, bei sehr verschiedenem Inhalt, die großen Unzuträglichkeiten, die sich im Anfang dieses Jahrhunderts in der amerikanischen Episkopalkirche herausstellten.

Die Gemeinden wurden nämlich von einer fieberhaften Leidenschaft ergriffen, eine Kontrolle über ihre Geistlichen auszuüben, die doch grade um der sittlichen und kirchlichen Kontrolle über die Gemeinde willen angestellt waren! In Nachwirkung dieser Aufsässigkeit der Gemeinden wurden in Virginien noch lange Zeit nachher die Geistlichen immer nur auf ein Jahr angestellt.

Mit einer kleinen Verschiebung, in der Hauptsache aber doch formal gleich, tritt dies soziologische Vorkommnis in Beamtenhierarchien ein, wo der Vorgesetzte technisch vom Untergebenen abhängig ist.

Dem höhern Beamten fehlt oft die Kenntnis der technischen Details oder der aktuellen Sachlage.

Der untere Beamte bewegt sich meistens sein Leben lang in demselben Kreise von Aufgaben und gewinnt dadurch eine spezialistische Kenntnis seines engen Gebietes, die demjenigen entgeht, der rasch durch verschiedene Stufen vorwärts eilt - während seine Beschlüsse doch nicht ohne jene Detailkenntnisse ausgeführt werden können.

Bei dem Vorrecht zum Staatsdienst, das in der römischen Kaiserzeit Ritter und Senatoren hatten, gab man sich mit keiner theoretischen Vorbildung zu ihm ab, sondern überließ den Erwerb der erforderlichen Kenntnisse einfach der Praxis.

Dies hatte aber - schon in den letzten Zeiten der Republik - die Folge gehabt, dass die höhern Beamten von ihrem Unterpersonal abhängig waren, welches, nicht ständig wechselnd, sich eine gewisse Geschäftsroutine zu verschaffen in der Lage war.

Dies ist in Russland eine durchgehende Erscheinung, die durch die dortige Art der Ämterbesetzung besonders begünstigt wird.

Das Avancement findet dort nach Rangklassen statt, aber nicht nur innerhalb derselben Ressorts, sondern wer eine bestimmte Klasse erreicht hat, wird oft - auf seinen Wunsch oder den des Vorgesetzten - mit eben dem selben Rang in ein ganz anderes versetzt werden.

So war es, wenigstens bis vor kurzem, kein seltner Fall, dass der graduierte Student nach sechsmonatiger Dienstleistung in der Front ohne weiteres Offizier wird, ein Offizier dagegen unter Übertritt in die seiner militärischen Charge entsprechende Beamtenrangstufe irgend ein ihm mehr zusagendes Amt im Zivilstaatsdienst erhält.

Wie sich dann beide mit ihrer den neuen Verhältnissen nicht angepassten Vorbildung zurechtfinden, bleibt ihnen überlassen.

Mit unvermeidlicher Häufigkeit muss hieraus technische Unkenntnis des höhern Beamten für seine Stelle hervorgehen, die ihn ebenso unvermeidlich von seinem Untergebenen und dessen Sachkenntnis abhängig macht.

Diese Reziprozität von Über- und Unterordnung lässt also oft den tatsächlich Leitenden als den Untergeordneten, den tatsächlich nur Ausführenden als den Übergeordneten erscheinen und schädigt damit die Gediegenheit der Organisation ebenso, wie eine zweckmäßig verteilte Alternierung von Über- und Unterordnung sie stützen kann.

Jenseits dieser speziellern Formungen stellt die Tatsache der Herrschaft folgendes ganz allgemeine soziologische Problem.

Über- und Unterordnung bilden einerseits eine Form der objektiven Organisation der Gesellschaft; sie sind anderseits der Ausdruck der persönlichen Qualitätsunterschiede zwischen den Menschen.

Wie verhalten sich nun diese beiden Bestimmungen zueinander, und wie wird die Form der Vergesellschaftung durch die Verschiedenheiten dieses Verhältnisses beeinflusst?

Am Anfang der gesellschaftlichen Entwicklung muss die Überordnung einer Persönlichkeit über andre der adäquate Ausdruck und Folge persönlicher Überlegenheit gewesen sein.

Es liegt gar kein Grund vor, weshalb in einem sozialen Zustande ohne feste Organisation, die dem einzelnen a priori seine Stelle anweist, irgend jemand sich dem andern unterordnen sollte, wenn ihn nicht Gewalt, Pietät, körperliche, geistige oder willensmässige Überlegenheit, Suggestion, kurz das Verhältnis seines persönlichen Seins zu dem des andren dazu bestimmte.

Wenigstens müssen wir, da uns das Anfangsstadium gesellschaftlicher Bildung historisch unzugängig ist, aus methodischem Prinzip die möglichst einfache Annahme: einer annähernden Gleichgewichtslage, machen.

Dies verhält sich wie mit den kosmologischen Herleitungen.

Weil wir den Ausgangszustand des Weltprozesses nicht kennen, musste man sich bemühen, von dem möglichst Einfachen, der Homogenität und Gleichgewichtslage der Weltelemente aus, Beginn und Fortschritt der Mannigfaltigkeiten und Differenzierungen zu deduzieren.

Nun ist freilich kein Zweifel, dass wenn jene Voraussetzungen im absoluten Sinne gemacht werden, kein Weltprozess beginnen konnte, weil sie keine Ursache für Bewegung und Besonderung bieten: vielmehr muss irgend ein differentielles Verhalten von Elementen, wie minimal auch immer, an den Anfangszustand gesetzt werden, um von ihm aus die weitern Differenzierungen begreiflich zu machen.

So sind wir auch genötigt, in der Entwicklung der sozialen Mannigfaltigkeiten von einem fiktiven einfachsten Zustande auszugehen; das Minimum von Mannigfaltigkeit, dessen es als des Keimes aller spätern Differenzierungen bedarf, wird wohl in die rein personalen Unterschiedenheiten innerhalb der Anlagen der Individuen gesetzt werden müssen.

Die nach außen gerichteten Unterschiedlichkeiten der Menschen in den auf einander bezüglichen Positionen werden also zu aller erst von solchen qualitativen Individualisierungen abzuleiten sein.

So werden von dem Fürsten in primitiven Zeiten Vollkommenheiten gefordert oder vorausgesetzt, die in ihrem Grade oder in ihrer Vereinigung ungewöhnlich sind.

Der griechische König der heroischen Zeit muss nicht nur tapfer, weise und beredt sein, sondern auch hervorragend in den athletischen Übungen und möglichst auch ein vortrefflicher Zimmermann, Schiffsbauer und Ackersmann.

Die Stellung des Königs David beruhte, wie man hervorgehoben hat, zum großen Teil darauf, dass er zugleich Sänger und Kriegsmann, Laie und Prophet war und die Fähigkeiten dazu besaß, die weltliche Staatsmacht mit der geistlichen Theokratie zu verschmelzen.

Aus diesem Ursprung von Über- und Unterordnung, der natürlich noch in jedem Augenblick innerhalb der Gesellschaft wirksam ist und fortwährend neue Verhältnisse stiftet, entwickeln sich nun aber feststehende Organisationen von Über- und Unterordnung, in welche die Individuen entweder hineingeboren werden, oder in denen sie die einzelnen Positionen auf Grund ganz andrer Qualitäten erringen, als die sind, welche die fragliche Über- und Unterordnung ursprünglich begründet haben.

Dieser Übergang vom Subjektivismus der Herrschaftsverhältnisse zu einer objektiven Formation und Fixierung wird durch die rein quantitative Erweiterung der Herrschaftsgebiete bewirkt.

Für diese allenthalben bemerkbare Beziehung zwischen der steigenden Quantität von Elementen und der Objektivität der für sie gültigen Normierungen sind zwei eigentlich entgegengesetzte Motive von Bedeutung.

Die Vermehrung von Elementen enthält zugleich eine Vermehrung der in ihnen vorkommenden qualitativen Besonderheiten.

Damit steigt die Unwahrscheinlichkeit, dass irgend ein Element von subjektiver Individualität ein gleiches oder ein gleichmäßig genügendes Verhältnis zu jedem von ihnen habe.

In dem Maß, in dem die Differenzen innerhalb des Herrschafts- oder Normierungsgebietes zunehmen, muss der Herrscher oder die Norm ihren Individualcharakter abzutun und einen allgemeinen, über die Fluktuierungen des Subjektiven erhabnen anzunehmen suchen.

Anderseits führt eben die selbe Erweiterung des Kreises auf Arbeitsteilung und Differenzierung unter ihren führenden Elementen.

Der Herrscher einer großen Gruppe kann nicht mehr wie der griechische König für alle ihre wesentlichen Interessen Maß und Führer sein; es bedarf vielmehr einer vielfältigen Spezialisierung und sachmässigen Einteilung des Regimes.

Arbeitsteilung aber steht überall in Wechselbeziehung mit der Objektivierung des Handelns und der Verhältnisse, sie rückt die Leistung des einzelnen in einen außerhalb seiner Sphäre gelegnen Zusammenhang, die Persönlichkeit als ganze und innere stellt sich jenseits ihres einseitigen Tuns, dessen rein sachlich umschriebne Resultate sich erst mit denen andrer Persönlichkeiten wieder zu einer Ganzheit zusammentun.

Der Umkreis solcher Ursachen wird die von Fall zu Fall, von Person zu Person entstehenden Herrschaftsverhältnisse in die objektive Form übergeführt haben, in der sozusagen nicht der Mensch, sondern die Stellung das Übergeordnete ist.

Das Apriori der Beziehung sind jetzt nicht mehr die Menschen mit ihren Eigenschaften, aus denen die soziale Relation entsteht, sondern diese Relationen als objektive Formen, »Stellungen«, gleichsam leere Räume und Umrisse, die erst von Individuen »ausgefüllt« werden sollen.

Je fester und technisch ausgearbeiteter die Organisation der Gruppe ist, desto objektiver und formaler bieten sich die Schemata der Über- und Unterordnung dar, zu denen dann erst nachträglich die geeigneten Personen gesucht werden, oder die durch die bloßen Zufälle der Geburt und sonstiger Chancen ihre Ausfüllungen finden.

Hierbei ist keineswegs nur an die Hierarchie staatlicher Stellungen zu denken.

Die Geldwirtschaft schafft auf den von ihr beherrschten Gebieten eine ganz ähnliche Formung der Gesellschaft.

Der Besitz oder der Mangel einer bestimmten Geldsumme bedeutet eine bestimmte soziale Stellung, fast ganz unabhängig von den personalen Qualitäten dessen, der sie ausfüllt.

Das Geld hat die vorhin betonte Scheidung zwischen dem Menschen als Persönlichkeit und als Träger einer bestimmten Einzelleistung oder -bedeutung auf den Gipfel gehoben; sein Besitz gewährt jedem, der ihn erobern oder irgendwie erwerben kann, eine Macht und eine Stellung, die mit dem Innehaben dieses Besitzes, nicht aber mit der Persönlichkeit und ihren Eigenschaften auftritt und verschwindet.

Die Menschen traversieren durch die Positionen, die bestimmten Geldbesitzen entsprechen, wie rein zufällige Ausfüllungen durch feste, gegebene Formen hindurchgehen.

Dass übrigens die moderne Gesellschaft diese Diskrepanz zwischen Stellung und Persönlichkeit nicht etwa durchgehend aufweist, bedarf keiner Betonung.

Vielmehr wird sich vielfach sogar durch die Lösung des objektiven Inhaltes der Position von der Persönlichkeit als solcher eine gewisse Gelenkigkeit ihrer Zuordnung herstellen, die die angemessene Proportion auf neuer, oft rationellerer Basis realisiert - ganz abgesehen von den ungeheuer gesteigerten Möglichkeiten, die die liberalen Ordnungen überhaupt für den Gewinn der den Kräften entsprechenden Stellung geben: wenngleich die hier in Frage kommenden Kräfte oft so spezialistische sind, dass die durch sie gewonnene Überordnung dennoch der Persönlichkeit nach ihrem Gesamtwert nicht zukommt.

Grade an gewissen mittlern Gestaltungen, wie der ständischen und der zünftischen, wird jene Diskrepanz gelegentlich ihr Maximum erreichen.

Man hat mit Recht hervorgehoben, dass das System der Großindustrie dem ausnehmend begabten Manne mehr Gelegenheit gebe, sich auszuzeichnen, als er vordem besaß.

Das Zahlenverhältnis von Werkführern und Aufsehern zu Arbeitern sei zwar heutzutage kleiner, als das Zahlenverhältnis von Kleinmeistern zu Lohnarbeitern vor zweihundert Jahren.

Aber das besondre Talent könne viel sichrer zu höherer Stellung aufsteigen.

Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist nur die eigentümliche Chance des Auseinanderfallens der personalen Qualität und ihrer Stellung nach Herrschen oder Beherrscht werden, die durch die Objektivierung der Stellungen, durch ihre Differenzierung von dem rein Personalen der Individualität gegeben ist.

So sehr der Sozialismus dieses blind zufällige Verhältnis zwischen der objektiven Stufenfolge der Positionen und den Qualifikationen der Personen perhorresziert, so kommen doch seine Organisationsvorschläge auf dieselbe soziologische Gestaltung heraus.

Denn er fordert eine absolut zentralisierte, also notwendigerweise streng gegliederte und hierarchische Verfassung und Verwaltung, setzt aber alle Individuen als a priori gleich befähigt voraus, jede beliebige Stelle dieser Hierarchie auszufüllen.

Damit aber wird grade das, was an den jetzigen Zuständen als sinnlos erschien, mindestens nach einer Seite hin zum Prinzip erhoben.

Denn dass, in der reinen demokratischen Konsequenz, die Geleiteten den Leiter wählen, bietet keine Garantie gegen die Zufälligkeit des Verhältnisses zwischen Person und Stellung, nicht nur weil man, um den besten Sachkenner zu wählen, selbst Sachkenner sein muss; sondern weil das Prinzip der Wahl von unten her in allen weit ausgedehnten Kreisen durchaus zufällige Resultate liefert; ausgenommen hiervon sind reine Parteiwahlen, bei denen aber grade das Moment, für das Sinn oder Zufall hier in Frage steht, ausgeschaltet ist: denn die Parteiwahl als solche gilt doch nicht der Person, weil sie diese bestimmten persönlichen Qualitäten besitzt, sondern weil sie der - extrem gesprochen - anonyme Vertreter eines bestimmten objektiven Prinzips ist.

Die Form der Kreierung des Führers, zu der der Sozialismus folgerichtig greifen müsste, ist die Auslosung der Positionen.

Viel mehr als der Turnus, der in ausgedehnten Verhältnissen doch nie vollständig durchzuführen ist, bringt die Losung den ideellen Anspruch eines jeden zum Ausdruck.

Sie ist deshalb keineswegs an sich demokratisch; nicht nur, weil sie auch in einer herrschenden Aristokratie gelten kann und als reines Formprinzip ganz jenseits dieser Gegensätze steht; sondern vor allem, weil die Demokratie die reale Mitwirksamkeit aller bedeutet, die Auslosung führender Positionen aber diese grade in eine ideelle umsetzt, in das bloß potentielle Recht jedes einzelnen, in eine leitende Stellung zu gelangen.

Das Losprinzip schneidet die Vermittlung subjektiver Geeignetheit zwischen dem Menschen und seiner Stellung völlig durch, mit ihm ist die formal-organisatorische Forderung der Oberund Unterordnung überhaupt völlig Herr über die personalen Qualitäten geworden, von denen sie ausgegangen war.

An dem Problem des Verhältnisses zwischen personaler und nur stellungsmässiger Superiorität scheiden sich zwei bedeutsame soziologische Formgedanken.

In Anbetracht der tatsächlichen und nur in einer Utopie zu beseitigenden Ungleichheit in den Qualitäten der Menschen ist die »Herrschaft der Besten« jedenfalls diejenige Verfassung, die das innere und ideelle Verhältnis der Menschen am genausten und zweckmäßigsten in ihrem Äußern zum Ausdruck bringt.

Dies ist vielleicht der tiefste Grund, aus dem Künstler so oft aristokratisch gesonnen sind; denn alles Künstlertum ruht auf der Voraussetzung, dass der innere Sinn der Dinge sich in ihrer Erscheinung adäquat offenbare, wenn man diese nur richtig und vollständig zu sehn verstände; die Trennung der Welt von ihrem Werte, der Erscheinung von ihrer Bedeutung ist die schlechthin antikünstlerische Sinnesart - so sehr der Künstler auch die unmittelbare Gegebenheit umgestalten muss, damit sie ihre wahre, überzufällige Form hergebe, die nun aber zugleich das Wort für ihren seelischen oder metaphysischen Sinn ist.

Der psychologische und historische Zusammenhang zwischen aristokratischer und künstlerischer Lebensauffassung dürfte so mindestens zum Teil darauf zurückgehen, dass nur eine aristokratische Ordnung den innern Wertrelationen der Menschen eine sichtbare Form, sozusagen ihr ästhetisches Symbol verschafft.

Nun aber ist eine Aristokratie in diesem reinen Sinne, als die Herrschaft der Besten, wie Plato sie dachte, empirisch nicht zu realisieren.

Zunächst, weil bisher kein Verfahren gefunden worden ist, durch das »die Besten« mit Sicherheit erkannt und an ihren Platz gestellt würden; weder die apriorische Methode der Züchtung einer herrschenden Kaste, noch die aposteriorische der natürlichen Auslese im freien Kampf um die begünstigte Stellung, noch die gewissermaßen mittlere der Personenwahl von unten oder von oben her haben sich als dafür zugänglich erwiesen.

Indem zu diesen Schwierigkeiten der Voraussetzung noch die weitern kommen: dass die Menschen sich mit der Superiorität selbst des Besten unter ihnen selten beruhigen, weil sie überhaupt keine Superiorität wollen oder wenigstens keine, an der sie nicht selbst teil hätten; und ferner dass der Besitz der Macht, auch der ursprünglich mit Recht verdiente, zu demoralisieren pflegt, freilich nicht immer das Individuum, aber fast immer Körperschaften und Klassen - so wird die Meinung des Aristoteles begreiflich: es komme zwar, vom abstrakten Standpunkt aus, dem einzelnen oder dem Geschlecht, das etwa alle andern a n a r e t h überrage, die absolute Herrschaft über diese andern zu; von den Anforderungen der Praxis aus sei dagegen eine Mischung dieser Herrschaft mit der der Masse zu empfehlen; deren numerisches Übergewicht müsse mit jenem qualitativen zusammenwirken.

Über diesen vermittelnden Gedanken hinaus aber können die hervorgehobnen Schwierigkeiten einer »Herrschaft der Besten« zu der Resignation führen, die allgemeine Gleichheit als die praktische Regulative gelten zu lassen, weil sie jenem Nachteile der - logisch allein gerechtfertigten - Aristokratie gegenüber das geringere Übel darstelle.

Da es nun doch einmal unmöglich sei, die subjektiven Differenzen mit Sicherheit und Dauer in objektiven Herrschaftsverhältnissen auszudrücken, so solle man sie überhaupt aus der Bestimmung der sozialen Struktur ausschalten und diese so regulieren, als ob jene nicht existiere.

Die gleiche pessimistische Stimmung indes kann, da die Frage des größeren oder kleinern Übels in der Regel nur nach persönlicher Schätzung zu entscheiden ist, zu der genau entgegengesetzten Überzeugung gelangen: dass überhaupt nur regiert werden muss - in großen wie in kleinen Kreisen -, besser von ungeeigneten Personen als gar nicht; dass die gesellschaftliche Gruppe die Form der Über- und Unterordnung aus innerer und objektiver Notwendigkeit heraus annehmen muss, so dass es dann sozusagen nur ein wünschenswertes Akzidenz ist, wenn an der mit objektiver Notwendigkeit präformierten Stelle auch das subjektiv zulängliche Individuum steht.

Diese Tendenz geht von ganz primitiven Erfahrungen und Notwendigkeiten aus.

Zunächst davon, dass die Herrschaftsform eine Verbindung bedeutet oder schafft: unbehilflichere, über keine Vielheit von Wechselwirkungsformen verfügende Zeiten haben oft kein andres Mittel, die formale Zugehörigkeit zum Ganzen zu bewirken, als die Unterordnung der ihm nicht unmittelbar verbundnen Individuen unter seine a priori ihm zugehörigen Mitglieder.

In der Zeit, als in Deutschland die frühste Verfassung völliger personalen und Besitzgleichheit in der Gemeinde aufgehört hatte, fehlen dem landlosen Manne die aktiven Freiheitsrechte - wenn er nicht ohne jede Verbindung mit dem Gemeinwesen bleiben wollte, musste er sich einem Herrn anschließen, um so mittelbar als Schutzgenosse an den öffentlichen Verbänden teilzunehmen.

Daran, dass er dies tat, hatte die Gesamtheit ein Interesse, denn sie konnte keinen unverbundnen Mann in ihrem Gebiete dulden, und deshalb machte das angelsächsische Gesetz dem Landlosen ausdrücklich zur Pflicht, sich zu »verherren«.

Ebenso fordert im mittelalterlichen England das Interesse der Gemeinde, dass der Fremde sich einem Schutzherrn unterstelle.

Man gehörte zur Gruppe, wenn einem ein Stück ihres Geländes gehörte: wer dessen ermangelte und doch zu ihr gehören wollte, der musste selbst jemandem gehören, der auf jene primäre Weise zu ihr gehörte.

Die generelle Wichtigkeit führender Persönlichkeiten, bei einer relativen Gleichgültigkeit gegen deren personale Qualifikation, wiederholt sich formal ähnlich an manchen frühen Erscheinungen des Wahlprinzips.

Die Wahlen zum mittelalterlichen englischen Parlament z. B. scheinen mit erstaunlicher Fahrlässigkeit und Indifferenz geführt worden zu sein: nur darauf, dass der Bezirk ein Parlamentsmitglied designierte, scheint es angekommen zu sein, wer es war, tritt an Wichtigkeit dagegen zurück - was sich nicht weniger an der Gleichgültigkeit gegen die Qualifikation der Wähler zeigte, die im Mittelalter vielfach auffällt.

Wer grade anwesend ist, wählt mit, auf Legitimation oder auf eine bestimmte Anzahl der Wähler scheint oft kein Wert gelegt worden zu sein.

Ersichtlich ist diese Unbekümmertheit um die Wahlkörper nur der Ausdruck für die Unbekümmertheit um die qualitativ-personalen Resultate der Wahl. –

Ganz allgemein endlich wirkt in dem gleichen Sinn die Überzeugung von der Notwendigkeit des Zwanges, den die menschliche Natur nun einmal brauche, um nicht völliger Zweck- und Formlosigkeit des Handelns zu verfallen.

Es ist für den generellen Charakter dieses Postulats gleichviel, ob die Unterordnung unter eine Person und ihre Willkür oder unter ein Gesetz erfolgt: gewisse extreme Fälle vorbehalten, in denen der Wert der Unterordnung als Form über den Widersinn ihres Inhalts nicht mehr Herr werden kann, ist es nur ein sekundäres Interesse, ob das Gesetz inhaltlich etwas besser oder schlechter ist, grade wie es sich mit der Qualität der herrschenden Persönlichkeit verhielt.

Man konnte hier auf die Vorzüge des erblichen - also von den Qualitäten der Person bis zu einem gewissen Grade unabhängigen - Despotismus hinweisen, insbesondre wo es sich um das einheitliche politische und kulturelle Leben großer Gebiete handelt, und wo er so vor der freien Föderation manches voraus hat, was der Prärogative der Ehe über die freie Liebe ähnlich ist.

Niemand kann leugnen, dass der Zwang des Rechts und der Sitte unzählige Ehen zusammenhält, die sittlicherweise auseinander gehen müssten: die Personen ordnen sich hier einem Gesetz unter, das für ihren Fall eben nicht passt.

In andern aber ist der gleiche Zwang, so hart er momentan und subjektiv empfunden werde, ein unersetzlicher Wert, weil er diejenigen zusammenhält, die sittlicherweise zusammenbleiben sollen, aber in irgend einer augenblicklichen Verstimmung, Gereiztheit oder Gefühlsschwankung auseinandergehen würden, wenn sie nur könnten und damit ihr Leben irreparabel verarmen oder zerstören würden.

Das Ehegesetz mag inhaltlich gut oder schlecht, für den jeweiligen Fall passend oder nicht sein: der bloße Zwang des Zusammenbleibens, der von ihm ausgeht, entwickelt individuelle Werte eudämonistischer und ethischer Art - von denen der sozialen Zweckmäßigkeit noch ganz abgesehen -, die für den hier vorausgesetzten, vielleicht einseitig pessimistischen Standpunkt, bei Fortfall jedes Zwanges überhaupt nicht zu realisieren wären.

Schon das Bewusstsein eines jeden, dass er an den andern zwangsmäßig gebunden ist, mag in manchen Fällen dem Zusammensein seine äußerste Unerträglichkeit geben; in andern aber wird es eine Nachgiebigkeit, Selbstbeherrschung, Durchbildung der Seele mit sich bringen, zu der bei jederzeit möglichem Auseinandergehen sich niemand bewogen fühlen würde, sondern die nur der Wunsch hervorlockt, die nun doch einmal unvermeidliche Gemeinsamkeit der Existenz wenigstens so erträglich wie möglich zu gestalten.

Das Bewusstsein, überhaupt unter einem Zwänge zu stehen, einer übergeordneten Instanz unterworfen zu sein - mag diese ein ideelles oder ein soziales Gesetz sein, eine willkürlich schaltende Persönlichkeit oder ein Verwalter höherer Normen -, dieses Bewusstsein ist gelegentlich revoltierend oder erdrückend, wahrscheinlich aber für die Mehrzahl der Menschen ein unersetzlicher Halt und Zusammenhalt des innern und äußern Lebens.

Unsre Seele scheint - in dem unvermeidlich symbolischen Ausdruck aller Psychologie - in zwei Schichten zu leben: einer tiefen, schwer oder gar nicht beweglichen, die den wirklichen Sinn oder Substanz unsers Daseins trägt, während die andre sich aus im Moment herrschenden Impulsen und isolierten Reizbarkeiten zusammensetzt.

Die zweite würde nun noch öfter, als es tatsächlich geschieht, den Sieg über die erste davontragen und durch das Sichdrängen und rasche Sichablösen ihrer Glieder jener keine Lücke lassen, an die Oberfläche zu treten, wenn nicht das Gefühl eines von irgendwoher eingreifenden Zwanges ihre Strömung staute, ihre Schwankungen und Launenhaftigkeiten bräche und damit der beharrenden Unterströmung immer wieder Raum und Übergewicht verschaffte.

Gegenüber dieser funktionellen Bedeutung des Zwanges als solchen ist sein besonderer Inhalt erst von sekundärer Wichtigkeit.

Der sinnlose mag von einem sinnvollen abgelöst werden, aber auch dieser hat seine jetzt fragliche Bedeutung nur in dem, was er mit jenem teilt; ja, nicht nur das Dulden des Zwanges, sondern auch die Opposition gegen ihn, gegen den ungerechten wie gegen den gerechtfertigten, übt an dem Rhythmus unsers Oberflächenlebens diese Funktion der Hemmung und Unterbrechung, wodurch denn die tiefern und überhaupt nicht von außen zu hemmenden Strömungen des eigensten und substantiellen Lebens zu Bewusstsein und Wirksamkeit gelangen.

Insofern nun der Zwang mit irgend einer Art von Herrschaft identisch ist, zeigt dieser Zusammenhang das Element in ihr auf, das gegen die Qualität des Herrschenden, gegen das Recht seiner Individualität auf Herrschaft gewissermaßen gleichgültig ist, und das so den tiefern Sinn einer Forderung von Autorität schlechthin offenbart.

Ja, dass persönliche Qualifikation und soziale Stellung in der Reihe der Über- und Unterordnungen sich durchgehends und restlos entsprächen, ist prinzipiell unmöglich, welche Organisation man auch zu diesem Zwecke vorschlagen möge.

Und zwar auf Grund der Tatsache, dass es immer mehr Menschen gibt, die zu übergeordneten Stellungen qualifiziert sind, als es übergeordnete Stellungen gibt.

Von den gewöhnlichen Arbeitern einer Fabrik gibt es sicher sehr viele, die ebenso gut Werkführer oder Unternehmer sein könnten; von den gemeinen Soldaten sehr viele, die die volle Befähigung zum Offizier besäßen; von den Millionen Untertanen eines Fürsten zweifellos eine große Anzahl, die eben so gute oder bessre Fürsten sein würden.

Das Gottesgnadentum ist grade der Ausdruck dafür, dass die subjektive Qualität nicht entscheiden soll, sondern eine andre, über die menschlichen Maßstäbe erhabne Instanz.

Der Bruch zwischen den zu einer leitenden Stellung Gelangten und den zu ihr Befähigten darf auch nicht etwa daraufhin größer angesetzt werden, dass es umgekehrt vielerlei Personen in übergeordneten Stellen gibt, die für sie nicht qualifiziert sind.

Denn diese Richtung des Missverhältnisses zwischen Person und Stellung erscheint aus mancherlei Gründen erheblicher, als sie in Wirklichkeit ist.

Zunächst tritt die Unfähigkeit innerhalb einer Stellung, von der aus andre geleitet werden, besonders grell hervor, lässt sich aus naheliegenden Ursachen schwerer verheimlichen, als sehr viele andre menschliche Unzulänglichkeiten - und zwar insbesondre, weil ebenso viele andre, wahrhaft zu der Stellung qualifizierte, untergeordnet daneben stehen.

Ferner entsteht diese Unangemessenheit vielfach gar nicht aus individuellen Mängeln, sondern aus den widerspruchsvollen Anforderungen des Amtes, deren unvermeidlicher Erfolg dennoch leicht dem Inhaber des Amtes als subjektive Schuld zugerechnet wird.

Die moderne »Staatsregierung« z. B. hat ihrem Begriffe nach eine Unfehlbarkeit, die der Ausdruck ihrer - prinzipiell - absoluten Objektivität ist.

An dieser ideellen Unfehlbarkeit gemessen, erscheinen ihre realen Träger natürlich oft unzureichend.

In Wirklichkeit sind die rein individuellen Unzulänglichkeiten leitender Persönlichkeiten relativ selten.

Bedenkt man die unsinnigen und unkontrollierbaren Zufälle, durch die die Menschen auf allen Gebieten in ihre Positionen gelangen, so wäre es ein unbegreifliches Wunder, dass nicht eine sehr viel größte Summe von Unfähigkeit in deren Ausfüllung hervortritt, wenn man nicht annehmen müsste, dass die latenten Qualifikationen für die Stellungen in sehr großer Verbreitung vorhanden sind.

Es ruht auf dieser Voraussetzung, dass republikanische Verfassungen manchmal bei der Kreierung ihrer Beamten nur nach negativen Instanzen fragen, d. h. danach, ob der Anwärter sich durch irgend etwas des Amtes unwürdig gemacht hätte - wenn also etwa in Athen die Ernennung durch das Los geschah und nur untersucht wurde, ob der Betreffende seine Eltern gut behandelt, seine Steuern bezahlt habe usw. -, also nur, ob etwas gegen ihn vorlag, so dass vorausgesetzt wurde, dass a prioi jeder würdig wäre.

Dies ist das tiefe Recht des Sprichworts: wem Gott gibt ein Amt, dem gibt er auch den Verstand.

Denn der zur Ausfüllung höherer Stellungen erforderte »Verstand« ist eben bei vielen Menschen vorhanden, aber er bewährt, entwickelt, offenbart sich erst, wenn sie die Stellung einnehmen.

Diese Inkommensurabilität zwischen dem Quantum der Befähigungen zur Überordnung und dem ihrer möglichen Betätigungen erklärt sich vielleicht aus dem Unterschiede zwischen dem Charakter des Menschen als Gruppenwesen und als Individuum.

Die Gruppe als solche ist niedrig und führungsbedürftig, die Eigenschaften, die sie als die schlechthin gemeinsamen entfaltet, sind nur die sicher vererbten, also die primitivern und undifferenzierten, oder die leicht suggerierbaren, also die »untergeordneten«.

Sobald also überhaupt eine Gruppenbildung größeren Maßes stattfindet, ist es zweckmäßig, dass die ganze Masse sich in der Form der Unterordnung unter wenige organisiere.

Das verhindert aber ersichtlich nicht, dass jeder einzelne aus dieser Masse höhere und feinere Eigenschaften besitze.

Nun sind diese individueller Art, gehen nach verschiednen Seiten über den Gemeinbesitz hinaus und helfen deshalb der Niedrigkeit derjenigen Qualitäten nicht auf, in denen sich alle mit Sicherheit begegnen.

Aus diesem Verhältnis folgt, dass einerseits die Gruppe als ganze des Führers bedarf, und es also viele Untergeordnete und nur wenige Übergeordnete geben kann, anderseits aber jeder einzelne aus der Gruppe höher qualifiziert ist denn als Gruppenelement und also als Untergeordneter.

Mit diesem, allen sozialen Bildungen eignen Widerspruch zwischen dem gerechten Anspruch auf übergeordnete Stellung und der technischen Unmöglichkeit, ihm zu genügen, findet sich das ständische Prinzip und die jetzige Ordnung ab, indem sie Klassen pyramidenförmig mit einer immer geringern Mitgliederzahl übereinander bauen und dadurch die Zahl der zu leitenden Stellungen »Qualifizierten« a priori einschränken.

Diese Auswahl richtet sich nicht nach den gegebenen Individuen, sondern, umgekehrt, sie präjudiziert diese.

Aus einer Menge von Gleichen kann man nicht jeden in die verdiente Stellung bringen.

Darum könnten jene Ordnungen als der Versuch gelten, umgekehrt vom Gesichtspunkt der vorherbestimmten Stellung aus die Individuen für diese zu züchten.

Statt der Langsamkeit, mit der dies der Vererbung und der Standesmässigen Erziehung gelingen kann, werden auch sozusagen akute Verfahren angewendet, die die Persönlichkeiten, gleichgültig gegen deren bisherige Qualität, durch autoritative oder mystische Satzung zu der Fähigkeit des Führens und Herrschens emporheben.

Für den Bevormundungsstaat des 17. und 18. Jahrhunderts war der Untertan zu keinerlei Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten fähig; in politischer Hinsicht blieb er dauernd führungsbedürftig.

In dem Augenblick aber, in dem er in ein Staatsamt eintrat, erhielt er mit einem Schlage die höhern Einsichten und den Gemeinsinn, die ihn zur Lenkung der Allgemeinheit befähigten - als ob durch die Beamtung aus dem Unmündigen wie durch generatio aequivoca nicht nur der Mündige, sondern der Führer, mit allen erforderlichen Eigenschaften des Intellekts und Charakters, entsprungen wäre.

Die Spannung zwischen der apriorischen Unqualifiziertheit eines jeden zu einer bestimmten Superiorität und der absoluten Qualifikation, die er a posteriori durch die Einwirkung einer höhern Instanz erwirbt, erreicht ihr Maximum innerhalb des katholischen Priesterstandes.

Hier spielt keine Familientradition, keine von Kindheit an wirkende Erziehung mit, ja die persönliche Qualität des Kandidaten ist prinzipiell unwichtig gegenüber dem in mystischer Objektivität bestehenden Geiste, mit dem die Priesterweihe ihn begabt.

Die superiore Leistung wird ihm nicht übertragen, weil grade nur er von Natur zu ihr bestimmt ist (obgleich dies natürlich mitwirken kann und eine gewisse Unterschiedlichkeit der Zugelassnen begründet), auch nicht auf die Chance hin, ob er nun von vornherein ein Berufner oder Nichtberufner ist - sondern die Weihe schafft, weil sie den Geist überträgt, die besondre Qualifikation für die Leistung, zu der sie beruft.

Dass Gott dem, dem er ein Amt gibt, auch den Verstand dazu gibt - dies Prinzip ist nach seinen beiden Seiten: der vorherigen Ungeeignetheit und der nachherigen, durch das »Amt« geschaffnen Geeignetheit hier aufs radikalste realisiert.


Anmerkung:

1) Dies ist nur ein Beispiel für ein allgemeines soziologisches Vorkommnis. Eine Anzahl von Elementen haben die gleiche Relation zu einer bestimmten Bedingung, welch letztre dem gerade fraglichen Gruppeninteresse Inhalt und Bedeutung gibt. Nun kommt es vor, dass dieser entscheidende Punkt, auf den die Elemente konvergieren, aus der Bezeichnung, ja vielleicht aus dem Bewusstsein entschwindet, und nur die Tatsache der Gleichheit der Elemente - so sehr sie ausschließlich in bezug auf jenen Punkt stattfindet - Hervorhebung findet. So hat sich nicht nur, wie erwähnt, der Adel oft als die Pairs bezeichnet; sondern mit demselben Namen benannten viele französische Städte im 12. und 13. Jahrhundert ihre Geschwornen und Schöffen. Als die »Gesellschaft für ethische Kultur« in Berlin begründet werden sollte, erschien darüber eine Broschüre unter dem Titel: »Vorbereitende Mitteilungen eines Kreises gleichgesinnter Männer und Frauen«. Mit keinem Worte war ausgesprochen, in bezug worauf eigentlich die Gleichheit der Gesinnung bestand. Eine Parteigruppe der Münchener Künstlergenossenschaft in den neunziger Jahren nannte sich »die Gruppe der Kollegen«, ohne diesem ganz offiziell gebrauchten Titel hinzuzufügen, was denn den Inhalt dieser Kollegialität ausmachte, und diese Vereinigung von einer Kollegenvereinigung unter Schullehrern oder Schauspielern, Agenten oder Redakteuren unterschied. Diese unscheinbaren Vorkommnisse enthalten die soziologisch höchst markante Tatsache, dass die formale Relation gewisser Individuen Herr über den Inhalt und Zweck dieser Relation werden kann; denn dies könnte nicht in all jenen Benennungen geschehen, wenn diese nicht die Richtung des soziologischen Bewusstseins irgendwie verrieten. Dass die Elemente einer Gruppe gleichberechtigt, dass sie gleichgesinnt, dass sie Kollegen sind, hat gegenüber der Materie, die sich in diese soziologischen Formen kleidet und in Hinsicht auf die die letztern überhaupt erst einen Sinn haben, eine außerordentliche Wichtigkeit gewonnen. Und so sehr das praktische Verhalten durch diese, aus der Titulatur ausgeschaltete Materie bestimmt wird, so zeigt doch auch dies sich, bei genauerem Hinsehen auf solche Gruppierungen, unzählige Male durch die Berücksichtigung und die Wirksamkeit jener reinen Relationsarten und formalen Strukturen mitbestimmt.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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