Georg Simmel: Bemerkung über Goethe
ex: Der Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur, begründet und hrsg. von Werner Sombart zusammen mit Richard Strauss, Georg Brandes und Richard Muther unter Mitwirkung von Hugo von Hofmannsthal Jg. No. 13 vom 6. September 1907, S.
393-395 (Berlin)
Es ist die allgemeine
Meinung, dass Goethe ein großer Vergesser war: mit dem Vergangenen
abgefunden, ruhig alle Schwierigkeiten abstreifend, zu denen die
Konsequenzen unserer Taten werden, alles Nachrückwärtssehen, Nachrückwärtsempfinden
vermeidend, sobald es den Blick und Schritt nach vorwärts hemmen wollte.
Dass man ihn so von dem
frei glaubt, was man gern die überflüssigen Schmerzen nennt - weil sie
freilich für die Lebenszwecke der meisten Menschen nicht notwendig sind,
- das ist wohl das wesentliche Ingrediens der Bewunderung einerseits, der
moralischen Reserve andererseits, denen die »Lebenskunst« Goethes
begegnet.
Ich glaube, dass man damit
in Goethe eine Oberflächlichkeit hineingedeutet hat, die vielmehr auf der
Seite dieser Deutung zu suchen ist; dass ganz umgekehrt Goethe so tief und
schwer an Vergangenheiten gelitten, die Folgen seines Tuns so bannend und
lastend empfunden hat, wie es wenigen auferlegt ist.
Durch seine Gedankenwelt
geht dauernd das Motiv von den Geistern, die man nicht los wird, wenn man
sie einmal gerufen hat; von dem Zweiten, bei dem wir Knechte sind, wenn
uns auch das Erste freigestanden hat; von den Dämonen, die man »schwerlich
los wird«: »das geistig strenge Band ist nicht zu trennen«; und eine
wenig bekannte Stelle aus den »Maskenzügen«, wo er von »Geistern«
spricht:
»- wenn man sie nicht
stracks vertreibt, Sie ziehen fort, ein und der andre bleibt In irgend einem Winkel hängen, Und hat er noch so still getan, Er kommt hervor in wunderlichen Fällen.«
Die Zahl solcher Äußerungen
- weit über diese im Augenblick bereiten hinaus - kann nicht Zufall sein.
Sie haben vielmehr alle
innerhalb ihrer Umgebungen den eigentümlichen Charakter, den man an
manchen Harmonien oder Takten bei Beethoven findet: jeder gehört völlig
in den sozusagen objektiven Zusammenhang des Stückes hinein, ist durch
dessen rein musikalische Logik völlig begreiflich und notwendig -
zugleich aber weist er noch in eine ganz andere Dimension, in die des
Subjekts; während er nur um seines Vorher und seines Nachher willen
dazustehen scheint, schreit doch wie von unten und von innen her gerade in
ihm die Seele auf, in die rein künstlerisch-musikalische Kontinuität,
die sich auch durch ihn hindurch knüpft, reißt er zugleich ein
Loch, durch das man unmittelbar in die Qual der darunter lebenden Seele
hinabblickt.
So wirken bei Goethe diese
Stellen, deren jede freilich ihre notwendige Rolle in dem ganzen Kunstwerk
spielt, in denen aber zugleich ein Erleben jenseits der Kunst
hervorbricht.
Und derselbe Ton klingt,
wenn er einmal ganz aphoristisch, ohne jede Begründung oder Folgerung,
schreibt: »Wir leben alle vom Vergangenen und gehen am Vergangenen
zugrunde«; so dass die »Lebensregel«: »Willst du dir ein hübsch Leben
zimmern. Musst dich ums Vergangene nicht bekümmern« - wie die meisten
Lebensregeln aus der bitteren Erfahrung des Gegenteils gequollen ist.
Oder glaubt man im Ernst,
dass Goethe seine eigene Existenz als »ein hübsch Leben« bezeichnen
wollte?
In Goethes Leben begegnet
der merkwürdige Instinkt, lange nach dem Bruch mit früheren
Geliebten sie wiedersehen zu wollen; so Friederike, so Lili.
Sollte das wirklich nur das
ästhetische Bedürfnis nach einem »harmonischen Abschlusse« sein?
Dieser etwas äußerliche
Ästhetizismus liegt sonst nicht in Goethes Wesen.
Ich möchte es umgekehrt
auf jenes Leiden an den »Gespenstern« zurückführen.
Für diesen Menschen einer
unvergleichlich anschaulichen Phantasie, deren Grenze gegen die
Halluzination manchmal zu verschwimmen scheint, lebte das Gewesene in der
Form der »Dämonen«, der »Geister«, deren quälende Gegenwart man
nicht los wird.
Gegen Geister aber gibt es
kein besseres Mittel als Wirklichkeit.
Vielfach ist beobachtet,
wie man eine Melodie, die uns in den Ohren klingt und uns verfolgend
peinigt, nur los wird, wenn man sie spielt.
Von dem, was uns in der
Form des Gespenstes ängstet, erlöst uns oft eben dasselbe, sobald wir
ihm in der Form der Wirklichkeit begegnen. -
Das fortwährende Drängen
auf Anschauung, das Goethes seelisches Leben durchzieht, ist nicht nur der
Ausdruck seines Künstlertums, das im Anschauen der Welt noch einmal die
Einheit mit ihr sozusagen physisch vollzieht, die das metaphysische Wesen
des Genies ausmacht; sondern es war zugleich das Gegengewicht gegen die
dunkeln Mächte des Innern, das Gegenwartslicht, das die Schatten der
Vergangenheit auflöste.
Wo er von der Anschauung
spricht und von der Lebendigkeit des Gegenwärtigen, ist es immer wie ein
Aufatmen und eine Befreiung.
Den Druck, unter den die
Erschütterungen seines Erlebens auch nach dessen Erinnerungen und
Weiterwirksamkeiten stellten, hat man übersehen, weil man nur die
ungeheure Gegenkraft bemerkte, die freilich in seinem Schaffen, in dem
sichtbaren Ausgang des Kampfes, den Sieg behielt.
Man hat mit Recht betont,
dass Goethe der »historische Sinn« fehlte.
Der Wert der Geschichte, wo
immer er von ihm spricht, ist ihm nur die sachliche Bedeutung von Dingen
und Menschen, die sich zufällig auf verschiedene Zeiten verteilen, nur
der Ertrag, den die unmittelbare Gegenwart als Frucht der Vergangenheit
erntet.
Dass die Geschichte eine
besondere Form des Geistes ist, eine einzigartige Anordnung und
Entwicklung von Lebensinhalten, bedeutsam noch jenseits des weiterlebenden
Wertes dieser einzelnen - das war ihm verschlossen.
Aber das ist nicht einfach
eine Lücke seiner Intelligenz.
Die ungeheure Positivität
dieser Natur bewirkt, dass alles, was ihr fehlt, nur die Rückseite von
etwas ist, was sie besitzt.
In Goethe war nicht nur
Gleichgültigkeit gegen die Geschichte, sondern - wenn man es etwas stark
ausdrücken darf - ein Hass gegen sie.
In dem Gedicht an die
Vereinigten Staaten bricht er aus: das »unnütze Erinnern« ist ihnen
erspart, die »verfallenen Schlösser«; und in diesem Zusammenhang wünscht
er ihren künftigen Dichtern, vor »Gespenstergeschichten« bewahrt zu
bleiben.
Sein Lebensgefühl hatte
eine unvergleichliche »Gegenwärtigkeit«, was nicht als Kraftquelle in
die Leistung des Augenblicks einfloss, empfand er als einen Fremdkörper
im Leben, das Sichforterbende leicht als eine »ewige Krankheit«.
Mit der größten Tiefe und
Klarheit sagte er einmal, nach dem Bericht des Kanzlers Müller, er
statuiere keine eigentliche Erinnerung; unsere Erlebnisse vielmehr müssten
sich gleich von Anfang an in unser Inneres verweben und fortbildend ein
neues Ich in uns erzeugen.»
Es gibt gar kein
Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues,
das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet.« Wenn
nun aber das wirkliche innere Leben sich dieser Forderung aus seinem
letzten Sinn heraus dennoch nicht fügte, wenn die Vergangenheit in
starrer Beharrlichkeit hineinragte, so wird begreiflich, dass er sie als
das Ungehörige, als das Gespenst empfand, als den Dämon, den man nicht
los wird, nachdem ihm das »Erste«, seine ehemalige Wirklichkeit in
unserem Leben, Macht über uns gegeben hat.
Wenn einem solchen Geist
der »historische Sinn« fehlt, so ist das sicher mit seinen tiefsten,
unmittelbar nur im Gefühl ansprechenden Seinsbeschaffenheiten verwachsen.
Und mir scheint, dass die
ungeheure Qual, die die irgend weiterlebende Vergangenheit für ihn
bedeutete, der Widerspruch, der von dorther den Rhythmus seines Wesens lähmte,
der letzte Grund jenes Mangels war.
Er konnte das Dasein
nicht historisch begreifen, konnte ihm nicht die abgeklärte, beruhigt
ideelle Form geben, die es innerhalb der Kategorie des Historischen erfährt,
weil alles Vergangene, das nicht verschwunden war, durch seine
leidenschaftlich anschauliche Phantasie immer eine Wirklichkeit behielt;
damit wurde sie ihm zum Gespenst, das Ja nichts ist als das Unwirkliche,
das sich das Dasein und die Kraft des Wirklichen anmaßt. -
Es ist sehr merkwürdig,
wie sich an dem Bilde Goethes selbst der Irrtum wiederholt hat, den er
selbst am Bilde des Griechentums beging.
Denn dass dieses hundert
Jahre hindurch als die Vollendung innerer Harmonie, glücklicher
Ausgeglichenheit, »klassischer Ruhe« erschienen ist - das geht auf
Goethes Auffassung von ihm zurück.
Wir wissen jetzt, dass dies
eben das Andere des griechischen Lebens war, die künstlerische Erlösung
von seiner Rastlosigkeit, seinen Gefahren, seinen Widersprüchen, seiner
Problematik, ja, seinem Pessimismus.
Und wie eine
weltgeschichtliche Rache für dieses Missverständnis ist es, wenn Goethe
allgemein als der »Olympier« gilt, der in kühler Helle wandelte, in ästhetischem
Gleichgewicht und mit der leicht geübten Kunst des Vergessens alles Trübe
und die ganze innere Hexenküche des Lebens hinter sich lassend.
Auch ihm gegenüber wird
diese Oberfläche nicht lange mehr sein wirklich gelebtes Sein zu
offenbaren scheinen.
|