Georg Simmel: Das Geheimnis
Eine sozialpsychologische Skizze
ex: Der Tag, No. 626
vom 10. Dezember 1907, Erster Teil: Illustrierte Zeitung (Berlin)
Das Geheimnis - das durch
positive oder negative Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten - ist
eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit.
Gegenüber dem kindischen
Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes
Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine
ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil viele seiner Inhalte bei völliger
Publizität überhaupt nicht auftauchen könnten.
Das Geheimnis bietet
sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren, und
diese wird von jener aufs stärkste beeinflusst.
Es charakterisiert jedes
Verhältnis zwischen zwei Menschen oder zwischen zwei Gruppen, ob und wie
viel Geheimnis in ihm ist.
Die Entwicklung der
Gesellschaft ist in vielen Teilen dadurch bezeichnend, dass früher
Offenbares in den Schutz des Geheimnisses tritt und, umgekehrt, früher
Geheimes dieses Schutzes entbehren kann - vergleichbar jener anderen
Evolution des Geistes: dass zuerst bewusst Ausgeführtes zu unbewusst
mechanischer Übung herabsinkt, und andererseits früheres
Unbewusst-instinktives in die Helle des Bewusstseins aufsteigt.
Wie sich dies auf die
verschiedenen Formungen des privaten und des öffentlichen Lebens
verteilt; wie jene Evolution zu immer zweckmäßigeren Zuständen führt,
indem das Geheimnis zuerst oft, ungeschickt und undifferenziert, viel zu
weit ausgedehnt wird, andererseits für vieles der Nutzen der
Verborgenheit erst spät erkannt wird - das lässt schon als bloße Frage
die soziale Bedeutung des Geheimnisses hervorleuchten.
Es ist eine soziologische
Form, die völlig neutral auch über den ethischen Bedeutungen ihrer
Inhalte steht.
Sie nimmt einmal die höchsten
Werte in sich auf: so die feine Scham der vornehmen Seele, die gerade ihr
Bestes verbirgt, um es sich nicht durch Lob und Lohn bezahlen zu lassen;
denn hiernach besitzt man zwar das Entgelt, aber nicht den eigentlichen
Wert selbst mehr.
Dann aber steht das
Geheimnis zwar nicht mit dem Bösen, aber das Böse mit dem Geheimnis in
unmittelbarem Zusammenhang.
Denn aus naheliegenden Gründen
versteckt sich das Unsittliche - wenngleich die klassische Sentenz:
niemand sei so schlecht, dass er auch noch schlecht scheinen wolle, den
Tatsachen widerstreitet.
Denn Trotz und Zynismus
lassen es allerdings oft nicht zur Verhüllung der Schlechtigkeit kommen,
ja sie können sie zu einer Steigerung der Persönlichkeit ausnutzen, bis
zur Prahlerei mit gar nicht vorhandenen Immoralitäten.
Nicht ganz so offenbar wie
die Verwendung des Geheimnisses als einer Technik, ohne die man innerhalb
eines sozialen Milieus gewisse Zwecke überhaupt nicht erreichen kann,
sind die Reize und Werte, die es über seine Bedeutung als Mittel hinaus
besitzt, die eigentümliche Attraktion des formal geheimnisvollen
Verhaltens.
Zunächst gibt der stark
betonte Ausschluss aller Draussenstehenden ein entsprechend stark betontes
Eigentumsgefühl.
Für viele Naturen gewinnt
eben der Besitz seine rechte Bedeutung nicht schon durch das Haben,
sondern durch das Bewusstsein, dass andere ihn entbehren müssen.
Und da das
Ausgeschlossensein der andern von einem Besitz insbesondere bei großem
Werte desselben eintreten wird, liegt psychologisch die Umkehrung nahe,
dass das vielen Versagte etwas besonders Wertvolles sein müsse.
So gewinnt auch das innere
Eigentum einen entschiedeneren Wertakzent durch die Form des Geheimnisses,
vor dem die inhaltliche Bedeutung der verschwiegenen Tatsachen oft genug
ganz zurücktritt.
Unter Kindern gründet sich
oft ein Stolz und Sich-Berühmen darauf, dass das eine zum andern sagen
kann: »Ich weiß doch was, was du nicht weißt.« Von den kleinsten bis
zu den größten Verhältnissen zeigt sich diese Eifersucht auf das Wissen
um eine anderen verborgene Tatsache.
Die englischen
Parlamentsverhandlungen waren lange geheim, und noch unter Georg III.
wurden Mitteilungen über sie durch die Presse strafrechtlich verfolgt,
und zwar ausdrücklich als Verletzung der parlamentarischen Privilegien.
Das Geheimnis gibt der Persönlichkeit
eine Ausnahmestellung, es wirkt als ein sozial bestimmter Reiz, der von
seinem jeweiligen Inhalt prinzipiell unabhängig ist, aber natürlich in
dem Maße steigt, in dem das besessene Geheimnis bedeutsam und umfassend
ist.
Und auch hierzu wirkt
wieder eine psychologische Umkehrung.
Jede höhere Persönlichkeit
und alle höheren Leistungen haben für den Durchschnitt der Menschen
etwas Geheimnisvolles.
Gewiss quillt alles
menschliche Sein und Tun aus unenträtselten Kräften.
Allein bei
durchschnittlicher Gleichheit des Niveaus von Qualitäten und Werten macht
dies noch nicht den einen zum Problem für den anderen, insbesondere, weil
auf jene Gleichheit hin ein gewisses unmittelbares, nicht vom Intellekt
getragenes, gegenseitiges Verstehen stattfindet.
Zu diesem aber lässt es
wesentliche Ungleichheit nicht kommen, und in der Form des individuellen
Unterschiedes wird sogleich jene generelle Rätselhaftigkeit wirksam -
ungefähr wie man, immer in derselben Landschaft lebend, gar nicht auf das
Problem unserer Beeinflusstheit durch das landschaftliche Milieu kommen
mag, das sich aber aufdrängt, sobald wir die Umgebung wechseln und der
Unterschied des Lebensgefühles uns jetzt auf dieses verursachende Moment
des letzteren überhaupt aufmerksam macht.
Aus dem Geheimnis nun, das
alles Tiefere und Bedeutende beschattet, wächst die typische Irrung:
alles Geheimnisvolle ist etwas Wesentliches und Bedeutsames.
Der natürliche
Idealisierungstrieb und die natürliche Furchtsamkeit des Menschen wirken
dem Unbekannten gegenüber zu dem gleichen Ziele, es durch die Phantasie
zu steigern und ihm einen Aufmerksamkeitston zuzuwenden, den die
offenbarte Wirklichkeit meistens nicht gewonnen hätte.
Mit diesen Attraktionen des
Geheimnisses vereinigen sich nun eigentümlicherweise die seines logischen
Gegensatzes: des Verrates.
Das Geheimnis enthält eine
Spannung, die im Augenblick der Offenbarung ihre Lösung findet.
Dieser bildet die Peripetie
in der Entwicklung des Geheimnisses, in ihm sammeln und gipfeln sich noch
einmal dessen ganze Reize - wie der Moment des Verschwendens den Wert des
Objektes in äußerster Zuspitzung genießen lässt: das mit dem
Geldbesitz gegebene Machtgefühl konzentriert sich für die Seele des
Verschwenders am vollständigsten und lustvollsten in dem Augenblick, wo
er diese Macht aus Händen gibt.
Auch das Geheimnis ist
getragen von dem Bewusstsein, es verraten zu können und damit die Macht
zu Schicksalswendungen und Überraschungen, zu Freuden und Zerstörungen,
wenn auch vielleicht nur zur Selbstzerstörung, in der Hand zu haben.
Darum umspielt Möglichkeit
und Versuchung des Verrates das Geheimnis, und mit der äußeren Gefahr
des Entdecktwerdens verschlingt sich die innere des Sichentdeckens, die
der Anziehungskraft des Abgrundes gleicht.
Und so findet die
praktische Bedeutung des Geheimnisses ihr Maß, den Modus ihrer
Verwirklichung, erst an der Fähigkeit oder Neigung der Subjekte, es auch
bei sich zu behalten - und an ihrem Widerstand oder ihrer Schwäche gegenüber
der Versuchung zum Verrat.
Wenn jede Beziehung
zwischen Menschen eine ihrer Charakterisierungen daran hat, wie viel
Geheimnis in ihr oder um sie ist, so bestimmt sich ihre Weiterentwicklung
in dieser Hinsicht nach dem Mischungsmaß der festhaltenden und der
nachlassenden Energien - jene getragen durch das praktische Interesse und
die formalen Reize des Geheimnisses, diese durch die Unfähigkeit, die
Anspannung des Geheimhaltens länger zu leisten, oft aber auch durch die
Lust der Beichte, die das Machtgefühl des Geheimnisses in negativer und
perverser Form, als Selbsterniedrigung und Zerknirschung, enthalten kann.
Die »geheimen
Gesellschaften«, deren Verbreitung durch die ganze, uns bekannte
Sozialgeschichte an allen Orten und zu allen Zeiten eine ungeheure, noch
kaum je auch nur quantitativ gewürdigte ist - mussten deshalb die
mannigfaltigsten Mittel ausbilden, um die Verschwiegenheit ihrer
Mitglieder psychologisch zu sichern.
Vom Eid und der
Strafandrohung braucht hier nicht gesprochen zu werden.
Interessant aber ist die öfters
begegnende Technik, den Novizen überhaupt erst einmal systematisch
schweigen zu lehren.
Angesichts namentlich der
leicht ansprechenden Verbindung, die auf primitiven geistigen Stufen
zwischen Gedanken und Äußerung besteht - bei Kindern und bei vielen
Naturvölkern ist Denken und Sprechen fast eins - bedarf es tatsächlich
zunächst des Schweigen-Lernens überhaupt, ehe das Verschweigen einzelner
bestimmter Vorstellungen erwartet werden kann.
So hören wir von einem
Geheimbund auf der Molukkeninsel Ceram, dass dem aufnahmesuchenden Jüngling
nicht nur Schweigen über alles, was er beim Eintritt erlebt, auferlegt
wird, sondern er darf wochenlang überhaupt mit niemand, auch in seiner
Familie, ein Wort sprechen.
Hier wirkt sicher nicht nur
das erzieherische Moment des durchgehenden Schweigens, sondern es
entspricht eben der seelischen Undifferenziertheit dieser Stufe, in einer
Periode, wo etwas Bestimmtes verschwiegen werden soll, das Sprechen überhaupt
zu verbieten - mit demselben Radikalismus, mit dem unentwickelte Völker
leicht zur Todesstrafe greifen, wo später für eine partielle Sünde eine
partielle Strafe gesetzt wird.
Wenn dagegen der Geheimbund
der Pythagoreer für den Novizen ein mehrjähriges Schweigen vorschrieb,
so griff die Absicht wahrscheinlich auch hier über die bloße Erziehung
zum Verschweigen der Bundesgeheimnisse hinaus, aber nur nicht wegen jener
primitiven Ungeschicklichkeit, der noch die differenzierte Technik für
die einzelne Aufgabe fehlt; sondern gerade weil man die besondere Aufgabe
in ihrer eigenen Richtung erweiterte: nicht nur Bestimmtes zu
verschweigen, sollte der Adept lernen, sondern überhaupt sich zu
beherrschen.
Der Bund ging auf eine
strenge Selbstdisziplin und stilisierte Reinheit des Lebens, und wer es über
sich brachte, jahrelang zu schweigen, war wohl noch anderen Verführungen
als denen der Schwatzhaftigkeit gewachsen.
In dem weitesten Umfange
aber markiert das Geheimnis die Stadien sozialer Kultur, wenn man auf sein
Verhältnis zu der Größe des gesellschaftlichen Milieus achtet.
In einem kleinen und eng
geschlossenen Kreise wird Ausbildung und Bewahrung von Geheimnissen schon
technisch erschwert sein, weil die Menschen einander zu nahe stehen und
die Häufigkeit ihres Sich-Berührens zuviel Verführungen zur Enthüllung
mit sich bringt.
Es bedarf aber hier auch
nicht des Geheimnisses in erheblichem Maße, weil der Struktur eng
begrenzter Kreise jene Besonderheiten des Seins, Tuns und Habens
widerstreben, deren Konservierung so oft die Form des Geheimnisses
verlangt, die aber erst in merklich erweiterten Kreisen hervorzutreten
pflegen.
Hier wie sonst offenbaren
die Verhältnisse der Geldwirtschaft am deutlichsten die spezifischen Züge
des großen Kreises.
Seit sich der ökonomische
Verkehr mittels des Geldes vollzieht, ist in ihm eine sonst unerreichbare
Heimlichkeit möglich geworden.
Drei Eigenschaften der
Geldform der Werte werden hier wichtig: seine Komprimierbarkeit, die es
gestattet, jemand mit einem Scheck, den man unbemerkt in seine Hand
gleiten lässt, zum reichen Manne zu machen; seine Abstraktheit und Qualitätslosigkeit,
vermöge deren Erwerb und Besitzwechsel in einer Weise versteckt und
unkenntlich gemacht werden können, wie sie bei extensiven, unzweideutig
greifbaren Objekten untunlich ist; endlich seine Fernwirkung, durch die
man es in den entferntesten und in fortwährend wechselnden Werten
investieren und es so dem Auge der nächsten Umgebung ganz entziehen kann.
Die Verbergungsmöglichkeiten,
in dem Maß der Vergrößerung geldwirtschaftlicher Verhältnisse sich
ergebend und ihre Gefahren besonders bei dem Wirtschaften mit fremdem
Gelde entfaltend, haben als Schutzmaßregel die Öffentlichkeit in den
Finanzgebarungen der Aktiengesellschaften und der Staaten hervorgerufen.
Dies deutet auf die oben
berührte Entwicklungsformel zurück: dass mit fortschreitender Kultur
ursprünglich Offenbares geheim wird, ursprünglich Geheimes seine Verhüllung
abwirft.
Tatsächlich scheint es,
als ob die Angelegenheiten der Allgemeinheit immer öffentlicher, die der
Individuen immer sekreter würden.
In unentwickelteren Zuständen
können sich die Verhältnisse der Einzelpersonen nicht so vor dem
gegenseitigen Hineinsehen und Sich-Hineinmischen schützen, wie innerhalb
des modernen Lebensstiles, insbesondere des großstädtischen.
Dagegen pflegen die Träger
der öffentlichen Interessen sich im Staatswesen früherer Zeit in eine
mystische Autorität zu hüllen, während ihnen in reiferen Verhältnissen
durch die Ausdehnung ihres Herrschaftsbezirkes, durch die Sachlichkeit
ihrer Technik, durch die Distanz von jeder Einzelperson eine Sicherheit
und Würde zuwächst, die sie die Öffentlichkeit ihres Gebarens vertragen
lässt.
Jene Heimlichkeit der öffentlichen
Angelegenheiten aber zeigte ihren inneren Widerspruch darin, dass sie
sogleich die Gegenbewegungen des Verrates und der Spionage erzeugte.
Noch im 17. und 18.
Jahrhundert verschwiegen die Regierungen aufs ängstlichste die Beträge
der Staatsschulden, die Steuerverhältnisse, die Kopfzahl des Militärs -
infolge wovon die Gesandten vielfach nichts besseres zu tun hatten, als zu
kundschaften, Briefe zu unterschlagen, Personen, die irgend etwas »wussten«,
bis zum Dienstpersonal herunter, zum Ausplaudern zu bringen. Im 19.
Jahrhundert aber erobert sich die Publizität die Staatsangelegenheiten in
dem Maße, dass nun die Regierungen selbst die Daten offiziell veröffentlichen,
ohne deren Geheimhaltung bis dahin überhaupt kein Regime möglich schien.
So haben Politik,
Verwaltung, Gericht ihre Heimlichkeit und Unzugänglichkeit in demselben
Maße verloren, in dem das Individuum die Möglichkeit immer vollständigerer
Reserviertheit gewann, in dem das moderne Leben eine Technik der
Diskretion, der Sekretierung von Privatangelegenheiten inmitten der großstädtischen
Zusammengedrängtheit ausbildete, wie sie früher allein durch räumliche
Einsamkeit herstellbar war.
Angesichts dieser
Entwicklungen könnte man auf die paradoxe Idee kommen, das menschliche
Zusammensein bedürfe unter sonst gleichen Umständen eines bestimmten Maßes
von Geheimnis, als einer Form, die nur ihren Inhalt wechsle: indem das
Geheimnis das eine Gebiet verlasse, ergreife es das andere und erhalte
unter diesem Tausch die Unveränderlichkeit seines Maßes.
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