Georg Simmel: Das Christentum und die Kunst
ex: Morgen - Wochenzeitschrift für deutsche Kultur,
begründet von Werner Sombart 1. Jg. Nr. 8 (2.August) 1907; 234-243 (Verlag Marquart & Co. Berlin)
Die geschichtlichen Fäden,
die sich zwischen Religion und Kunst spinnen, sind unzählige Male
verfolgt worden: wie die Kultzwecke das Götterbild entstehen ließen, wie
sich aus der religiösen Feier und der Anrufung der Götter die poetischen
Formen entwickelten, wie die Erhebungen und wie der Verfall der Religion
die Kunst oft in gleichem, oft in völlig entgegengesetztem Sinn
beeinflussten - alles dies ist zu begriffenen Tatsachen der
Kulturgeschichte geworden.
Allein die Motive, mit
denen aus dem Wesen der Sache heraus das eine das andre anzieht
oder abstößt, durch die all jene historischen Verknüpftheiten nur als
die mehr oder weniger vollkommenen Verwirklichungen tieferer und
prinzipieller Zusammenhänge erscheinen diese Motive harren noch ihrer Klärung.
In das räumliche Gleichnis
von Nähe und Distanz müssen wir unzählige Male das Verhältnis
seelischer Inhalte bannen, dessen innerliches Wesen diesem Symbol mit
seiner äußeren Messbarkeit schließlich ganz fremd ist.
Auf seine Verständlichkeit
dennoch rechnend, kann man die Gemeinsamkeit des religiösen und des künstlerischen
Verhaltens so bezeichnen: dass das eine wie das andre seinen Gegenstand in
eine Distanz, weit jenseits aller unmittelbaren Wirklichkeit hinausrückt
- um ihn uns ganz nahe zu bringen, näher, als je eine unmittelbare
Wirklichkeit ihn uns bringen kann.
In dem Maß, in dem eine
Religion wirklich ihrem reinen Begriff entspricht und nicht von andern
Seelenprovinzen her mit allerhand Bedürftigkeiten und Beschränktheiten
gemischt ist, drängt sie den Gott ins "Jenseits", sein Abstand
von allem Greifbaren und von der Welt unsrer Wirklichkeiten ist die
absolute Steigerung jener "Distanz", in der der hohe und überlegene
Mensch alle ihm Nicht-gleichen hält.
Aber der Gott, in dieser
Distanz verbleibend, bleibt zugleich nicht in ihr, sondern als wäre jene
nur ein Anlaufrückschritt, bemächtigt sich die Seele seiner als des Nächsten
und Vertrautesten, bis zur mystischen Einswerdung mit ihm.
Dieses Doppelverhältnis zu
unserer Wirklichkeit wiederholt die Kunst. Sie ist das Andere des
Lebens, die Erlösung von ihm durch seinen Gegensatz, in dem die reinen
Formen der Dinge, gleichgültig gegen ihr subjektives Genossen- oder
Nichtgenossen-Werden, jede Berührung durch unsere Wirklichkeit ablehnen.
Aber indem die Inhalte des
Seins und der Phantasie in diese Distanz rücken, kommen sie uns näher,
als sie es in der Form der Wirklichkeit konnten.
Während alle Dinge der
realen Welt in unser Leben als Mittel und Material einbezogen werden können,
ist das Kunstwerk schlechthin für sich. Aber all jene Wirklichkeiten
behalten dabei eine letzte, tiefe Fremdheit gegen uns; und selbst zwischen
unserer Seele und der des andern findet unsere Sehnsucht des Nehmens und
des Gebens eine hoffnungslose Unüberbrückbarkeit.
Das Kunstwerk allein kann
ganz unser werden, in seine Form gegossen ist allein eine Seele uns ganz
zugängig: indem es mehr für sich ist, als alles andere, ist es mehr für
uns als alles andere.
Von den Inhalten des Lebens
als solchen pflegen wir zu empfinden, dass es irgend einer Bewegung des
Daseins, irgend eines "Schicksals" bedurfte, um sie uns nahe zu
bringen, dass sie durch ihr bloßes Dasein noch nicht zu uns gehören.
Nur der Gott, an den wir
glauben, und die Kunst, die wir genießen, sind von vornherein und bloß
dadurch, dass sie da sind, für unsere Seele bestimmt.
Und wenn auch die große
Liebe sich solcher Vorbestimmtheit füreinander bewusst ist, die das
zusammenführende Schicksal nur vollstrecken kann, so unterscheidet sie
von jenen beiden ihr völlig individuelles Wesen: nur mit diesem einen
Menschen und weil er gerade dieser eine ist, ist ihm die andere Seele rein
von sich aus verbunden.
Wenn aber der Gläubige
schon durch seine Existenz sich mit seinem Gotte eins weiß, wenn der vom
Kunstwerk Ergriffene dies wie seine eigne innere Notwendigkeit empfindet -
so sind hier nicht mehr individuelle Besonderheiten am Werke, sondern jene
tiefen Schichten, in denen der Mensch zwar sein ganzes Ich wirksam, dieses
aber doch als den Träger einer überpersönlichen, seine Sondergestaltung
hinter sich lassenden Gesetzlichkeit und Seinsbedeutung fühlt.
Und dies erscheint mir als
die tiefste Formgleichheit, aus der heraus die Religion allenthalben als
der Vorläufer der Kunst, die Kunst allenthalben als die Erregerin religiöser
Stimmung auftritt: dass nur diese beiden ein absolut für sich
existierendes Sein zum innersten und wie selbstverständlichen, wie
vorbestimmten Besitztum der Seele machen.
Diese prinzipielle
Beziehung zwischen der Form des religiösen Lebens und der der Kunst
realisiert sich in den verschiedenen Kulturen in sehr mannigfaltigen
Arten.
Es ist gewissermaßen ihre
eigene Steigerung, durch die sie im Christentum manchmal in ihr Gegenteil
umzuschlagen scheint.
Sicher ist hier unter allen
bekannten Religionen die Spannung zwischen der Entferntheit und der Nähe
des Gottes die allerenergischste, aber auch die versöhnteste, weil hier
eine Beziehung des Herzens zu dem Gotte besteht, die an der
Unendlichkeit der metaphysischen Distanz gegen ihn ihre ganze siegende
Kraft zeigt.
Hiermit scheint das Bedürfnis
mancher Seelen, einen Lebensinhalt sich ganz ferne zu rücken, um ihn dann
ganz in sich einzuziehen, so völlig gedeckt, dass die Kunst in ihrer
parallelen Leistung als überflüssig, ja als ein unzulässiger Wettbewerb
erscheint.
Dass das Christentum so oft
die Kunst unmittelbar abgelehnt hat, ist weder immer asketische Verwerfung
des Sinnenreizes, noch immer ästhetische Unkultur, sondern geht, neben
manchen andern Motiven, auf diesen Instinkt zurück: dass die Seele der
Kunst nicht mehr bedarf, weil sie alle Ausdehnung in das Reich jenseits
des Gegebenen und alles Wiedereinbeziehen dieses in sie hinein - bereits
besitzt.
Andrerseits bietet das
Christentum ebenso durch die Personen und Geschehnisse seiner Tradition
wie durch den körperlichen Ausdruck, zu dem die ihm eigenen Gemütsverfassungen
drängen, Motive dar, die wie auf die Formgebungen der bildenden Kunst
angelegt erscheinen.
Die Demut, das Gebet, das
innige Insichverzücktsein - alles dies bringt den Körper besonders gut
in sich zusammen, hält die Extremitäten an den Rumpf und begünstigt
damit die Geschlossenheit und anschauliche Einheit des Körpers.
Selbst das Ausstrecken der
Arme zum Gebet ist etwas völlig anderes als das Abspreizen, das die
Konzentriertheit der Erscheinung auflöst.
Denn entweder sind die Hände
vereinigt, was eine sehr entschiedene Zusammengefasstheit des Bildes
ergibt, oder, selbst wenn sie sich breiten, streben sie einem ideellen
Brennpunkt zu, in dem die Richtungen ihrer inneren Bewegtheit sich
begegnen - wie man von parallelen Linien sagt, dass sie sich im
"Unendlichen" treffen.
Dass in aller guten Kunst
der Körper in seinem ganzen Umriss streng zusammengehalten ist, gehört
zu den Forderungen, mit denen der Reiz der bloßen Anschaulichkeit zum
Sinnbild innerlich-seelischer Normen wird.
Denn wir verlangen von dem
Individuum, dass all seine Äußerungen von einem Mittelpunkte her
beherrscht und charakterisiert seien, und nicht anarchisch, ohne Beziehung
auf die Einheit der Person, zerlaufen; so fordern wir von der plastischen
Erscheinung des Menschen, dass seine Glieder jedem Impuls seiner zentralen
Einheit absolut gehorsam erscheinen, keines dem durch das Ganze kreisenden
Lebensstrome entzogen sei.
Dass die Seele den Körper
einheitlich durchdringt und ihn damit zum Träger der" Persönlichkeit"
macht, wird vermittels jener Geschlossenheit des Umrisses, vermittels der
gefühlten Beherrschtheit jedes Gliedes durch die Innervation vom Zentrum
her in die sinnliche Anschauung erhoben.
Was wir die
"Beseeltheit" des Körpers nennen, ist nur ein anderer Ausdruck
für die artistische Forderung seiner Zusammengehaltenheit.
Die unbedingte Herrschaft
der Seele, für die das Christentum lebt, drückt sich deshalb adäquat in
all jenen Attitüden aus, die, dieser Forderung von sich aus genugtuend,
schon in ihrer Wirklichkeit die Kunstform vorbereiten.
Die besondere Bedeutung,
die die Anschauungsform hier als Ausdruck des seelischen Zustandes
gewinnt, liegt darin, dass diese Formen strenger Zusammengehaltenheit
gerade von einer starken inneren Bewegtheit durchströmt werden - im
Gegensatz etwa zu den Buddhagestalten der indischen und japanischen
Plastik, in denen die künstlerische Geschlossenheit der Erscheinung eine
ganz vollkommene ist, ohne dass die damit ausgedrückte Seelenhaftigkeit
eine eigentlich bewegte wäre.
Sie ist vielmehr die der
absoluten Resignation, des Zurückziehens der Seele in das schlechthin
Bewegungslose, das freilich die reine Einheit ist, weil das Leben hier
jede Expansion verloren hat; jene für das Christentum charakteristischen
Gesten aber verraten gerade eine weit ausgreifende Leidenschaft, die nun
durchaus auf einen einzigen, innersten und entscheidenden Punkt hin
orientiert ist.
Dies findet eine höchst
wirkungsvolle Zuspitzung oder Besonderung in der Erscheinung der
christlichen Mythologie, die der künstlerische Instinkt von Anfang an in
ihrer formal künstlerischen Bedeutung erkannt hat: in der Maria mit dem
Kinde.
Jene Verknüpftheit aller
Wesenselemente nach innen zu, jene konzentrierte Einheit des Lebens, von
der ich sprach, ist am unmittelbarsten innerhalb der Weiblichkeit gegeben.
Die Frau wird - ob überall
und dauernd mit Recht, bleibe dahingestellt - als das undifferenziertere
Wesen empfunden, als dasjenige, dessen Kräfte und Triebe enger und
einheitlicher als beim Manne in sich gesammelt, solidarischer von e i n e
m Punkte aus erregbar sind.
Dem entspricht es, dass von
ihrer körperlichen Erscheinung, in der Natur und noch stärker in der
Kunst, völlige Geschlossenheit und Zentripetalität erwartet wird, nicht
die weit ausladende, sondern die zusammengehaltene Gebärde, die immer,
wenn sie auch unmittelbar sich nach außen richtet, nach innen weist und
mit allem, was sie hat, jedes Mal den Kreis ihres Wesens schließt.
Indem die Madonna nun mit
dem Kinde verbunden ist, wird dies scheinbar aufgelöst, sie findet jetzt
den Sinn ihrer Existenz in einem Wesen außerhalb ihrer.
Dass dies dennoch ihre
Einheit nicht zerstört, dass das Kind zwar ihr Nicht-Ich und doch ihr Ich
ist, bedeutet das eigentliche Mysterium der Mütterlichkeit. Hier ist
der Gegensatz des Fürsichseins und Für-einenandern-seins überwunden,
nicht im Sinne des Egoismus, der oft einen geliebten Menschen in sich
einbezieht, sich um ihn erweitert, aber dabei immer Egoismus bleibt;
sondern hier offenbart sich eine höhere Bedeutung des Lebens, die seiner
Gesammeltheit nach innen erst durch diese Richtung auf seinen, zu e i g e
n e m S e i n aufgewachsenen Sinn die volle Kraft und Weihe gibt. Indem
durch die Konzentriertheit auf das Kind die Wesenseinheit der Mutter
scheinbar durchbrochen ist, ist sie in Wirklichkeit erst ganz gewahrt.
Diese seelische Struktur
der Mütterlichkeit gibt den Darstellungen der Maria mit dem Kinde ihre höchste
formale Aufgabe.
Wo sie gelöst ist, da ist
die Erscheinung der Frau, während sie m i t dem Kinde
zusammen die artistisch geschlossene Anschauung gewährt, doch in
sich absolut einheitlich.
Dass ein Wesen, indem es
mit einem andern zu einer Einheit zusammengeht, darum kein bloßes Glied
und Bruchstück ist, sondern gerade so zu seiner höchsten eigenen
Geschlossenheit gelangt - dies ist hier für die ästhetische Anschauung völlig
verwirklicht.
Gerade durch die
Eigenbedeutung des Jesuskindes, die das animalische Dazugehören des
Kindes zur Mutter, als wäre es noch immer ein pars viscerum, ausschließt,
gipfelt sich die Spannung zwischen beiden und das Problem, dem religiös-metaphysischen
Verhältnis der Madonna zum Kinde eine Anschaulichkeit zu schaffen.
Mit seiner Lösung begann
die Kunst, ein völlig neues Reich von Formen auszubilden - von Formen,
die die Darstellung eines Individuums gerade an seinem Verhältnis zu
einem andern auf ihre höchste Eigenbedeutung zu bringen gestatteten.
Dies ist die allgemeine
Konfiguration der christlichen Mythologie, durch die sie sich von der
antiken scheidet: dass jede Einzelperson in ihr in einer wesentlichen,
ihre Bedeutung bestimmenden Beziehung zu anderen steht. Johannes ist
um Jesu willen da - wie, auf anderen Stufen, Maria und wie die Engel -,
Jesus ist für alle da, die Heiligen um der Gläubigen oder der Ungläubigen
willen, die Kirche umschlingt die gesamten Stufen des christlichen Lebens
in einem Organismus wechselwirkender Glieder.
Ein Netzwerk von
gegenseitigen Relationen durchzieht hier den Bezirk heiliger Persönlichkeiten,
aus ihrem tiefsten religiösen Wesen quellend oder es bestimmend, während
die Beziehungen der klassischen Götter und Heroen entweder äußerlich-verwandtschaftlicher
oder anekdotischer Art sind und die eigentlich religiöse Bedeutung der
einzelnen wenig berühren.
Daher ist für die
christliche religiöse Kunst die Malerei ebenso charakteristisch, wie für
die antike die Plastik, weil jene die Darstellungsformen für die
Relationen mehrerer Persönlichkeiten bietet, diese aber für die sich
selbst genügende Einzelgestalt.
Nicht weniger revolutionär,
wie das Problem der Madonna innerhalb der artistischen Formenentwicklung
wirkt, tritt das Problem des Kindes auf: ein kindlicher Körper mit seiner
quantitativen Geringfügigkeit, seiner Undifferenziertheit, seiner
geringen Fähigkeit zu starkem und eindringlichem Ausdruck- soll dennoch
anschaulich als das legitime Zentrum des Bildes, als die beherrschende,
sinngebende Potenz innerhalb desselben auftreten.
Es ist höchst interessant,
die Mittel zu verfolgen, mit denen die Maler diesen Widerspruch überwinden.
Botticelli gibt z.B. in dem herrlichen Berliner Tondo dem Kinde dadurch
eine exzeptionelle Betonung, dass er es in die Horizontale legt, während
alle andern Figuren des Bildes aufrecht stehen.
Andrea del Sarto erreicht
das gleiche in der großen Madonna der Uffizien, indem das Kind das
einzige lebhaft bewegte Element unter lauter ruhig dastehenden Gestalten
ist. In manchen Fällen ist es die Nacktheit des Kindes, die es vor den
andern, bekleideten Gestalten sinnlich stark heraushebt.
Michelangelo verwendet in
dem Tribunabild ein mehr psychologisches als formales Mittel: er lässt fühlen,
dass dieses Kind für diese Eltern die Hauptsache ist, wodurch es denn auf
die natürliche Weise zur Hauptsache des ganzen Bildes wird.
Hier wie sonst häufig nötigt
die auf das Kind hin orientierte Attitüde der andern Personen dem
Beschauer den Rückschluss auf: da dieses kleine Wesen als das Zentrum
seiner Umgebung situiert und verehrt ist, so muss es ja wohl die
Superiorität besitzen, die solches rechtfertigt.
Dieser Schwierigkeit
korrespondiert eine ähnliche, die an dem andern Pol der Lebensgeschichte
Jesu auftaucht. Der gekreuzigte oder vom Kreuz genommene Christus
scheint nicht die Kraft zu haben, mit der er als das bewegende Zentrum der
lebhaften Erregungen um ihn herum wirken könnte.
Der Leichnam, der
anschaulich nur wie ein Stück Materie der bloßen Gravitation folgt, dem
die Richtung des Geistes: nach oben, zur Besiegung der stofflichen Schwere
- fehlt, macht die Superiorität nicht sinnlich begreifbar, die er dennoch
ausüben soll.
Die malerischen Mittel zur
Überwindung dieses Widerspruchs ähneln denen des vorigen Problems. Vor
allem wirkt auch hier die Nacktheit als ein akzentuierender Faktor; dann,
dass dieser Körper gerade der einzig unbewegte, unter lauter
leidenschaftlich bewegten ist; endlich bringt auch hier seine als Tatsache
vorgetragene Wirkung gerade durch den Gegensatz gegen ihre anschauliche
Rechtfertigung ihre ungeheure Stärke um so schlagenderer Überzeugung.
Dass so vermöge gewisser
Imponderabilien die Christuserscheinung kann, was sie eigentlich nicht
kann - das ist der malerische Ausdruck der tiefen Paradoxie des
Christentums: dass der Seele das eigentlich Unmögliche zugemutet wird,
dem irdischen Wesen der Gewinn der transzendenten Werte, dem
Unvollkommenen die Vollkommenheit.
Die Aufgabe wird so schwer
gemacht, dass sie unlösbar scheint; indem sie nun dennoch gelöst wird,
mindestens der Idee nach oder in der Erscheinung des "Heiligen",
tritt erst die unermessliche Gewalt der Seele hervor.
Es wird sozusagen das
Stadium der "Möglichkeit" übersprungen; der absoluten Aufgabe
des Christentums gegenüber befindet sich die Seele im Stande der Unmöglichkeit
und doch im Stande der Erfüllung und Vollendung, das
"Mittlertum" Christi drückt gewissermaßen den Ausfall der
Instanz des "Könnens" aus, ein ideelles Zwischenglied tritt
ein, um fühlbar zu machen, dass die Seele hier vollbringt, was sie nicht
kann.
Dieser fundamentale Zug des
Christentums, den das credo quia absurdum nach der Seite der
Intellektualität hin darstellt, hat die Kunst aufgenommen, indem sie
Erscheinungen mit anschaulicher Überzeugungskraft Wirkungen ausüben lässt,
zu denen sie gerade anschaulich nicht imstande zu sein scheinen.
In weniger absoluter, aber
künstlerisch nicht weniger interessanter Weise ist es dem Christentum in
der Kunst gelungen, die Gestalten der heiligen Geschichte der
unvermeidlich scheinenden Alternative zwischen historisch-realer Treue und
individuell-künstlerischer Phantasiemäßigkeit zu entrücken.
An bedeutenden Persönlichkeiten
der Vergangenheit, deren Vorstellung ebenso durch die Fülle weit
ausgreifender Assoziationen wie durch die Zeitferne unvermeidlich eine
gewisse Verschwommenheit zeigt - pflegt die malerische Darstellung
erhebliche Schwierigkeiten zu finden. Wird uns von einer männlichen
Figur im Kunstwerk gesagt, dies sei Phidias oder Plato oder Karl der Große,
so wirkt dies oft bis zur Peinlichkeit oder bis zum Humor enttäuschend.
Die Vielheit der
Vorstellungen, die, mit unsicher begrenzter Latitüde um einen festen Kern
schwingend, unser inneres Bild dieser Persönlichkeiten ausmachen, wird
durch die konkrete Darstellung ungebührlich eingeengt, sie k a n n
überhaupt, der festen Begrenztheit alles Anschaulichen wegen, der
Forderung unserer Phantasie nicht genügen und ist dieser gegenüber
gleichzeitig Verarmung und Vergewaltigung.
Wo das historisch-wirkliche
Porträt überliefert ist, fällt diese Schwierigkeit fort, weil die Überzeugung
von der Wirklichkeit über jene unbestimmten Schwebungen des Vorstellens
triumphiert oder sie in dieser nicht bezweifelbaren Anschauung zentrieren
lässt.
Die Kunst der christlichen
Kirche hat nun diesen Dualismus wunderbar vermieden, indem sie für ihre
Figuren durchgehende Typen schuf, die durch ihre Fixierung die Funktion
der historischen Wahrheit haben: wir glauben nicht, dass jener Mann im
Chiton, mit seiner ganz zufälligen Erscheinung, Phidias sei, oder jener
mit den Reichsinsignien in der Hand Karl der Große; aber die Tradition
der christlichen Kunst hat das Entsprechende dennoch erreicht: wir glauben
- mit dem "Glauben", der überhaupt in der ideellen Sphäre der
Kunst in Frage kommt -, dass dieser Mann im blauen Gewand Christus ist,
dieser an den Baum gebundene der hl. Sebastian, diese Frau mit der
herabsinkenden Lyra die hl. Cäcilie.
Aber die sozusagen nachträgliche
Realität, die die kirchliche Tradition diesen Erscheinungen verschafft
hat, ist nun weit und allgemein genug, um alle möglichen individuellen
Ausgestaltungen, alle möglichen künstlerischen Nüancierungen und
Stilisierungsverschiedenheiten zu gestatten.
Es ist damit die ungeheuer
bedeutsame Form des Typus eines Individuums geschaffen.
Wenn sonst die singulär künstlerische
Versinnlichung historischer Persönlichkeiten armselig, eng und überzeugungsschwach
zu wirken pflegt, so wird dies hier durch die besondere Kombination überwunden:
die religiöse Tradition hat den Glauben an jene Typen erzeugt und
damit die realhistorische Wahrheit des Gebildes ersetzt, mit dem die
Darstellung sonst allein jenem Manko entgeht; aber weil es eben doch nicht
Wissen, sondern Glauben ist, so ist hier eine unbegrenzte Freiheit für
die individuelle künstlerische Schöpfung gelassen.
Mit alledem haben die seelischen Inhalte des Christentums die Kunst zur
Bildung neuer Formen veranlasst: die Probleme der Komposition, des
Umrisses, der Art, den Körper fühlbar zu machen, die Wichtigkeitsakzente
zu verteilen - all diese formalen Probleme wurden jetzt in einer Weise
dringlich, die dann auch für alle möglichen Vorwürfe jenseits des
Religiösen ihre Fruchtbarkeit zeigte.
Endlich aber hebe ich noch
ein Beispiel aus den neuen Inhalten hervor, die der
Kunst aus dem Christentum kamen und deren Ausdruck sie durch Mittel nicht
rein formaler Art gewinnen musste.
Ich meine die Darstellung
des Leidens, das erst seit dem Christentum einen in den
letzten Tiefen gegründeten Anspruch auf anschaulich-künstlerische
Darstellung erhebt.
Die antike Kunst hat
freilich Erscheinungen wie Niobe und Laokoon. Aber hier ist das
Leiden ein äußerliches Schicksal, gerade der völlige Gegensatz zu jener
tiefen Notwendigkeit, mit der das Christentum es zeigt: als die Frucht der
Seele selbst oder als den Klang, den sie, die zu einem ewigen Schicksal
berufene, im Zusammenschlag mit der Irdischkeit ergeben muss.
Andererseits hat die Antike
die Amazone und den Antinous. Allein der schmerzliche Affekt in diesen ist
Trauer.
Und Trauer ist Leiden über
das Leiden, nicht mehr die primäre Schmerzlichkeit des Schicksals selbst,
sondern deren Reflex in den gleichsam allgemeineren Schichten der Seele.
Dadurch hat die Trauer
schon als Wirklichkeitsvorgang eine innere Distanzierung, eine Gelöstheit
von dem unmittelbaren Befangensein im Schicksal, durch die sie von sich
aus zur Aufnahme in die Kunstform disponiert erscheint.
Die Leistung der
christlichen Kunst aber ist, dass sie für das ganz unmittelbare Leiden,
das noch nicht zur Trauer umgeformt ist, die ästhetische Möglichkeit und
bildnerische Gestaltung gefunden hat.
Das Christentum hat viele
Werte, die in den sonstigen Ordnungen des Lebens, und auch vielfach in
anderen Religionen, bloß negativen Charakters sind, ins Positive gewandt.
Der Verzicht auf die
irdischen Güter und auf alles Leibliche ist hier nicht nur ein Akt der
Befreiung, es sind damit nicht nur Hindernisse für die Seele in dem
Aufsteigen zu ihrem ewigen Schicksal beseitigt, sondern schon an sich
selbst ist dieser Verzicht etwas Wertvolles und ein Gut der Seele: zum
mindesten ein Teil ihres Weges selbst, nicht nur das Abwerfen einer Bürde
auf diesem Weg.
Mit der sittlichen Hingabe
und Selbstverleugnung ferner wird hier nicht nur ein objektives Moralgebot
verwirklicht, dem die Selbstsucht entgegensteht, sondern sie ist
unmittelbar eine Erhöhung der Seele, die Selbstverleugnung ist für sich
schon eine Selbstgewinnung.
Der Tod ist nicht nur eine
Befreiung von der Last des Lebens, sondern das Opfer Christi zeigt den Tod
als den Gipfel des Lebens selbst, als seine eigentliche Weihe und die
gleichsam positiv ausgedehnte Stufe, die der Seele zwischen dem Diesseits
und dem Jenseits bestimmt ist.
Und so nun ist dem
Christentum das Leiden keineswegs ein negativer Zustand, ein Passivum der
Lebensbilanz - eine Interpretation, auf die hin andere Weltanschauungen es
entweder wegdisputieren oder ihm gerade eine absolute, den ganzen
Lebenswert mit dem Minuszeichen versehende Bedeutung geben. Sondern
es ist ein integrierender Bestandteil des religiösen Lebens.
Denn gerade, indem das
Reich Gottes sich schon hier zu realisieren beginnt, muss es im
Zusammenstoß mit den irdischen Ordnungen und Mächten das Leiden
erzeugen: deshalb muss der Gerechte leiden, deshalb
sind die Mühseligen und Beladenen zur Seligkeit bestimmt.
So ist dem Christentum, im
Gegensatz zu jenen griechischen Erscheinungen, das Leiden gerade ein
solches, über das man nicht trauert, so wenig es seinen furchtbaren Ernst
herabmindern will, ja darf.
Durch diese Wendung ins
Positive hat das Leiden den Charakter der Depression verloren, der
es von der Kunst ausschließt.
Wenn das Leiden nichts als eine Herabgesetztheit des Lebens ist,
widerspricht es der Erhöhung des Lebens, die die Kunst ist - zwar nicht
der Poesie, die durch das Nacheinander der Stimmungen und der Schicksale
dem Leiden eine Versöhntheit und Entwicklung zu jeder Höhe und Fülle
geben kann.
Die bildende Kunst aber,
die nur über einen einzigen Anschauungsmoment verfügt, kann ihren
Widerspruch gegen das Leiden erst aufgeben, wenn das Leiden selbst jene
Erhöhung zu einem positiven Lebensmomente erfahren hat.
In der Passion Christi und
den Qualen der Märtyrer wirkt der Schmerz nicht mehr als der feindliche
Zerstörer des Lebens, sondern als eine Aufgipfelung zu einer durch nichts
anderes ersetzlichen Intensität; jetzt wird das Leiden von einem Sinne
durchgeistigt, der, seine Depression und seine Hässlichkeit aufhebend, es
zu einem neuen Werte und Aufgabe macht.
Das Christentum hat damit
den ästhetischen Wert des Leidens entdeckt und hat seiner religiösen
Bedeutung die Sprache der Anschaulichkeit verliehen.
Soll mit all diesen
Zusammenhängen die Religion die Kunst "angeregt" oder ihr neue
Aufgaben gestellt haben - so ist dies doch nur auf eine tiefere Überlegung
hin annehmbar.
An und für sich haben
Religion und Kunst nichts miteinander zu tun, ja sie können sich in ihrer
Vollendung sozusagen nicht berühren, nicht ineinander übergreifen, weil
eine jede schon für sich, in ihrer besonderen Sprache, das ganze Sein
ausdrückt.
Man kann die Welt religiös
oder künstlerisch, man kann sie praktisch oder wissenschaftlich
auffassen: es sind die gleichen Inhalte, die jedes Mal unter einer andern
Kategorie einen Kosmos von einheitlich-unvergleichbarem Charakter formen.
Unsere Seele aber, mit
ihren kurzlebigen Impulsen, ihrem fragmentarischen Können, vermag keine
dieser Welten zu der Ganzheit, die sie ideell fordert, auszubilden, jede
bleibt von den zufälligen Anregungen abhängig, die bald dieses, bald
jenes Stück von ihr in uns aufwachsen lassen.
Aber gerade, dass diese
Weltbilder der selbstgenugsamen Abrundung ihres Sachgehaltes ermangeln,
erzeugt tiefste Lebendigkeiten und seelische Zusammenhänge - denn es
weist jedes darauf an, aus dem andern Impulse, Inhalte, Aufgaben zu schöpfen,
die es bei lückenloser innerer Ausgebautheit in sich selbst finden würde.
Indem die Religion, wie
diese wenigen Beispiele zeigten, der Kunst solche Dienste leistet,
offenbart die Kunst zwar, was ihrer jeweiligen Wirklichkeit an unbedingt
eigenem Schöpfertum fehlt; aber eben damit gibt sie der Seele die Möglichkeit,
mit der Ergänzung der einen Welt aus der andern sich selbst als den
Einheitspunkt beider zu fühlen, als die Kraft, die einen dieser Ströme
aus dem andern speisen kann, weil jeder für sich aus ihr entspringt.
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