Georg Simmel: Florenz
ex: Der Tag, No. 111 vom 2. März 1906, Erster Teil: Illustrierte
Zeitung (Berlin)
Seit das einheitliche
Lebensgefühl des Altertums in die Pole Natur und Geist
auseinandergebrochen ist; seit das unmittelbare, anschauliche Dasein seine
Fremdheit und Gegensatz an einer Welt des Geistes und der Innerlichkeit
gefunden hat - war das Problem gegeben, dessen Bewusstsein und Lösungsversuche
die ganze Neuzeit erfüllen: das Problem, den beiden Parteien des Lebens
die verlorene Einheit wiederzugewinnen.
Doch scheint dies nur dem
Kunstwerk ganz erreichbar; nur hier enthüllt die Form, die die Natur
gegeben hat, sich als der anschaulich gewordene Geist, er steht hier nicht
mehr hinter dem Sichtbar-Natürlichen, sondern die Elemente sind so
unscheidbar eins geworden, wie sie es vor ihrer Trennung durch den Prozess
des geschichtlichen Lebens waren.
Wenn man aber von der Höhe
von S. Miniato auf Florenz hinuntersieht, wie es von seinen Bergen gerahmt
und von seinem Arno wie von einer Lebensader durchflossen ist; wenn man,
die Seele erfüllt von der Kunst seiner Galerien und Paläste und Kirchen,
am Nachmittag durch seine Hügel streift, mit ihren Reben, Oliven,
Zypressen, wo jeder Fußbreit der Wege, der Villen, der Felder gesättigt
ist mit Kultur und großen Vergangenheiten, wo eine Schicht von Geist wie
ein Astralleib dieser Erde um sie liegt - da erwächst ein Gefühl, als
sei hier der Gegensatz von Natur und Geist nichtig geworden.
Eine geheimnisvolle und
doch wie mit Augen zu sehende, mit Händen zu greifende Einheit webt die
Landschaft, den Duft ihres Bodens und das Leben ihrer Linien mit dem
Geist, der ihre Frucht ist, zusammen mit der Geschichte des europäischen
Menschen, der hier seine Form gewann, mit der Kunst, die hier wie ein
Bodenprodukt wirkt.
Man begreift, dass an
dieser Stelle die Renaissance entstanden ist, das erste Gefühl, dass alle
Schönheit und Bedeutsamkeit, die die Kunst sucht, sich als eine
Herausbildung aus der natürlich gegebenen Erscheinung der Dinge
einstellt, und dass die Renaissancekünstler, auch die der souveränsten
Stilisierung, meinen durften, sie schrieben nur die Natur ab.
Hier ist die Natur Geist
geworden, ohne sich selbst aufzugeben.
Jeder dieser Hügel symbolisiert die Einheit, in der die Gegensätze des
Lebens zu Geschwistern werden: indem jeder sich zu einer Villa, einer
Kirche erhebt, scheint die Natur überall auf die Krönung durch den Geist
hinzuwachsen.
Eine fruchtbare, der Kultur
entgegenkommende Erde auf Schritt und Tritt; und doch kein üppig südlicher
Überreichtum, der den Menschen vergewaltigt.
Es gibt einen tropischen
Reichtum des äußeren wie inneren Daseins, dem keine Kunst gewachsen ist;
diesen hier aber konnte die menschliche Kraft von sich aus formen.
Es geht auf diesen letzten
Zug des Florentiner Lebens zurück, wenn Benozzo Gozzoll und andere die
Landschaft hier als einen Garten darstellen: eingeteilt, mit Beeten,
Hecken, wohlangeordneten Bäumen; die Natur ist ihnen gar nicht anders
ideal vorstellbar als in der Formung durch den Geist.
Indem so die Spannung
zwischen Natur und Geist sich löst, entsteht die ästhetische Stimmung,
das Gefühl, einem Kunstwerk gegenüberzustehen.
Es gibt vielleicht keine zweite Stadt, deren Gesamteindruck, ihr
Anschauliches und ihre Erinnerungen, ihre Natur und ihre Kultur
zusammenwirkend, in dem Beschauer so stark den Eindruck des Kunstwerks
erzeugte, bis in das äußerlichste hin: auch die kahlen Berge hinter
Fiesole, die nicht wie alle näheren Hügel die Zeichen menschlicher Tätigkeit
tragen, wirken gerade nur wie die Einfassung des durch den Geist und die
Kultur charakterisierten Bildes und werden so in dessen Gesamtcharakter
hineingezogen wie der Rahmen in das Gemälde, dessen Sinne er gerade durch
sein Anderssein dient, weil er es damit als einen für sich bestehenden,
sich selbst genügenden Organismus zusammenschließt.
Die Einheit des Bildes von
Florenz gibt jeder seiner Einzelheiten eine tiefere und weitere Bedeutung,
nur der vergleichbar, die die Einzelheit des Kunstwerks durch ihre
Eingliederung in dieses gewinnt.
Mohnblumen und Ginster, Villen, wie Geheimnisse verschlossen, und
spielende Kinder, Bläue und Gewölk des Himmels - wie alles dies überall
in der Welt zu finden ist und überall schön ist, wird es hier dennoch
mit einem ganz anderen seelisch-ästhetischen Schwergewicht und
Peripherie ausgestattet,
weil nichts durch seine einzelne Schönheit allein entzückt, sondern ein
jedes an einer übergreifenden Gesamtschönheit teilhat.
Und nicht nur das
Nebeneinander aller anschaulichen Elemente und das von Natur und Geist,
sondern auch das Nacheinander von Vergangenheit und Gegenwart sammelt der
Eindruck von Florenz und seiner Landschaft wie in einem Punkte.
Die große Vergangenheit
ist zwar mit dem Leben des gegenwärtigen Florenz schmerzlich wenig
verbunden, aber sie lebt für sich zu stark, zu unmittelbar ergreifend,
als dass das romantische Gefühl des Abgrunds zwischen einst und jetzt mächtig
werden könnte.
Die Elemente der Romantik
sind freilich allenthalben vorhanden: das alte Gemäuer, den Berg hinan
gelegen, die Villa auf der Höhe mit den schwarzen Zypressen, die einsamen
Burgtürme in der Umgebung - alles dies ist spezifisch romantisch, aber
ganz ohne die Sehnsucht der deutschen Romantik, in der alles einem
Verlorenen, vielleicht nie Gewesenen nachtrauert.
Denn die Vergangenheit ist
anschaulich geblieben und hat dadurch eine eigentümliche Gegenwart, die
sich neben die andere, vom Tage getragene stellt, ohne sie doch zu berühren.
Die Zeit stiftet hier nicht
zerrüttende Spannung zwischen den Dingen, wie die reale, sondern gleicht
der ideellen Zeit, in der das Kunstwerk lebt, die Vergangenheit ist hier
unser eigen wie die Natur, die auch immer Gegenwart ist.
Alle Romantik lebt von
jener Spannung zwischen der Wirklichkeit und der Vergangenheit, der
Zukunft, der Idealität, der Möglichkeit oder auch der Unmöglichkeit.
Diese Landschaft aber ist
wie ein italienisches Porträt, in dessen Zügen auch alles ausgebreitet
ist, alles da ist, die schließlich alles sagen, was sie zu sagen haben -
im wesentlichen Unterschied gegen die nordische Art der Menschen, die sich
überhaupt mit andern Mittel gibt: durch Hindeutungen, Beleuchtungen,
Symbolisierungen, Zusammengefasstheiten, in denen eben die Wesensinhalte
nicht nebeneinander daliegen, sondern die ein Nachleben des Nacheinanders
des Lebens vom Beschauer verlangen.
Der Landschaft von Florenz
fehlt alles Symbolische, das die Alpen und die Heide, der Wald und das
Meer besitzen. Sie bedeutet nichts, sie ist, was sie sein kann. Um alles
dieses willen wird das Leben dort so merkwürdig ganz, als schlössen sich
hier die Lücken, die ihm sonst aus der Entzweiung seiner Elemente kommen.
Es ist, als suchte diese
Stadt aus allen Winkeln der Seele alles Reife, Heitere, Lebensvolle
zusammen und bildete daraus ein Ganzes, indem sie plötzlich den inneren
Zusammenhang und Einheit davon fühlbar macht.
Was aber Florenz freilich versagen muss, weil es gerade dieses gibt, das
ist - wie um doch so viel, wie es kann, davon gutzumachen - innerhalb
seiner selbst symbolisiert: in der Mediceerkapelle. Sie ist viel mehr römisch
als florentinisch.
Das Schicksal, überhaupt
eine so ungeheure Vergangenheit zu haben, gleichviel noch was ihr Inhalt
gewesen ist - dieses Schicksal lastet auf Rom und gibt seinem
Lebensrhythmus eine schwere Würde, eine tragische Spannung, die sich in
Florenz löst, wo das Leben gleichsam die Arme öffnet, um jede
Vergangenheit mit Liebe aufzunehmen.
Die Figuren Michelangelos
aber tragen jenes Verhängnis einer un-erlösten Vergangenheit, sie sind
alle wie von einer Erstarrung über die Unbegreiflichkeit des Lebens
ergriffen, über das Unvermögen der Seele, alle die Zerrissenheiten der
Schicksale in die Einheit eines Lebensgefühles zu sammeln.
Und die florentinische
Einheit von Natur und Geist hat Michelangelo nicht weniger ins Tragische
gewendet. Gewiss ist das Innen und das Außen, die Seele und ihre
Erscheinung gleichmäßig von seiner Kunstform zusammengehalten.
Allein die Spannung
zwischen beiden ist so gewaltig, ja gewaltsam, dass sie fortwährend
auseinander zubrechen drohen und nur wie durch ein fortwährendes Aufrufen
der äußersten Kraftreserven ihre Einheit bewahren.
Es ist, als hätte er jede
Gestalt in dem Augenblick gefasst, wo in ihr der Kampf zwischen der
dunkeln Last der irdischen Schwere und der Sehnsucht des Geistes nach
Licht und Freiheit zum Stehen gekommen ist.
Dass die Einheit, in die
die Kunst das Leben fasst, zwei unversöhnliche Parteien in sich begreift,
lehrt jede Linie Michelangelos: das Bild von Florenz - seiner Landschaft,
seiner Kultur, seiner Kunst - will uns überreden, dass die Parteien der
Wirklichkeit in ein Daseinsgefühl zusammenwachsen.
So sprechen beide dasselbe
aus, aber je nachdem der Ton auf der Zweiheit in aller Einheit oder auf
der Einheit in aller Zweiheit liegt, trennen sich zwei Welten, zwischen
denen das innerste Leben sich entscheiden muss, auf die eine verzichten,
wenn es die andere besitzen will.
Und nun ein letztes. Weil
über der Natur hier überall die Form der Kultur liegt, weil jeder
Schritt auf diesem Boden an die Geschichte des Geistes rührt, der sich
mit ihm untrennbar vermählt hat - bleiben die Bedürfnisse unerfüllt,
die nur die Natur in ihrem ursprünglichen Sein, jenseits aller Weiterführung
durch den Geist befriedigen kann: die inneren Grenzen von Florenz sind die
Grenzen der Kunst.
Die Erde von Florenz ist
keine, auf die man sich niederwirft, um das Herz des Daseins in seiner
dunklen Wärme, seiner ungeformten Stärke schlagen zu fühlen - wie wir
es im deutschen Wald und am Meer und selbst in irgend einem Blumengärtchen
einer namenlosen Kleinstadt spüren können.
Darum ist Florenz kein
Boden für uns in Epochen, in denen man noch einmal von vorn anfangen,
sich noch einmal den Quellen des Lebens gegenüberstellen will, wo man aus
den Wirrnissen der Seele sich an dem ganz ursprünglichen Dasein
orientieren muss. Florenz ist das Glück der ganz reifen Menschen, die das
Wesentliche des Lebens errungen oder darauf verzichtet haben und für
diesen Besitz oder diesen Verzicht nur noch seine Form suchen wollen. |