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Georg Simmel: Die Gegensätze des Lebens und die Religion

ex: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, 4. Jg., Nr. 8, 1904. Frankfurter Verlag, (Franfurt a. M.)

Coincidentia Oppositorum - Das Zusammenfallen der Gegensätze, die Einheit des Entzweiten heisst Gott bei Nicolaus Cusanus, dem tiefsten Philosophen des 15. Jahrhunderts, der ein Vorläufer des Kopernikus war und des modernen Individualitätssinnes, indem er die Unersetzlichkeit jedes Dinges lehrte und dass jedes in all seiner Unvergleichlichkeit doch an seiner Stelle das Universum darstelle. 

Aber was die Welt so zu unendlicher Mannigfachheit entfaltet hat, liegt als Einheit in Gott beschlossen - eine Unbeweisbarkeit freilich für den Verstand, aber des Beweises auch nicht bedürftig, weil es nur die Spiegelung eines gefühlmässigen Verhältnisses der Seele zum Dasein ist. 

Das ist der Sinn aller Mystik, dass hinter der gegebenen Vielheit der Erscheinungen die Einheit ihres Seins empfunden werde - diese Einheit, die uns niemals gegeben ist und die wir deshalb nur unmittelbar in uns selbst, weil ja auch wir selbst sie sind, ergreifen können. 

Alle Mystik ist ein Verschmelzen des Ich mit der Gottheit, weil es keine andere Brücke als unsere eigene Seele gibt, die unerträgliche Vielheit und Fremdheit der Dinge in eine Einheit überzufühlen.

Aber diese Vereinheitlichung des Weltbildes, dessen Fragmenten und Gegensätzen wir so einen Allumfasser und gemeinsamen Quellpunkt leihen, ist doch vielleicht erst die sekundäre Leistung der Religion, so sehr sie historisch die früheste sein mag; wesentlicher, insbesondere für den modernen Menschen, ist ihre Leistung für die Gegensätze des inneren Lebens. 

Wie in jener theistischen oder pantheistischen Mystik das Auseinander der Weltelemente sein Ineinander und seine Versöhnung in Gott findet, so gelangen die Gegenstrebungen und Unverträglichkeiten innerhalb der Seele zu ihrem Frieden, zur Aufhebung ihrer Widersprüche, im religiösen Verhalten - in dem, was die Religion subjektiv für die Seele ist, spiegelt sie wieder, was ihr Gegenstand für das objektive Weltbild leistet.

Wie es ein kindlicher Aberglaube ist, Gott in irgendwelchen Einzelheiten der Welt erkennen zu wollen, wie vielmehr, weit über all diese hinweg nur in dem Zusammenhang des Ganzen eine überweltliche Macht geahnt werden mag, so ist alle Religiosität einseitig und von den Zufälligkeiten des individuellen Schicksals abhängig, die sich auf einem einzelnen Gefühl aufbaut, auf Demut oder Erhebung, Hoffnung oder Zerknirschung, Verzweiflung oder Liebe, Leidenschaft oder Beruhigtheit. Vielmehr, so sehr eines von diesen schliesslich die Führung übernehmen mag, so ist doch der Sinn der Religiosität, für all diese Gegensatzpaare gleichmässigen Raum zu geben. 

Nicht so, als würden sie von einer sonst schon bestehenden Religiosität entzündet oder aufgenommen, sondern das eben ist Religiosität, dass solche Gefühle, sonst einzeln von den Gegensätzlichkeiten der Welt und unseres Schicksals hervorgerufen, jetzt wie die Wellen e i n e s Stromes zusammenfliessen, dass ihre Gegensätze die geheime Einheit eines tieferen Sinnes verraten, als wären sie nur die Funktionen verschiedener Glieder, die das einheitliche Leben eines Organismus tragen. 

Der Gegenstand der Religion wird, gleichsam seinem inneren Orte nach, dadurch festgelegt, dass diese aus allen Schichten der Seele herkommenden Strahlen sich in ihm schneiden. 

So gewinnt jedes körperliche Objekt für uns seine Wirklichkeit, indem es die Empfindungen verschiedener Sinne auf sich vereint - ein Gespenst, das nur sichtbar, aber nicht tastbar wäre, würden wir kein Objekt nennen: mindestens potentiell muss ein solches für verschiedene Sinne konstatierbar sein, und für je mehre es das ist, um so objektiver, sicherer, fixierter ist es.

So müssen viele und verschiedene Interessen des Lebens zusammenkom-men, so muss gerade die Vielheit ihrer Richtungen wirksam werden, um gleichsam die Lage des religiösen Gegenstandes zu fixieren, sie kreuzen sich nicht in ihm, der vorher da wäre, sondern dadurch, dass sie sich in ihm kreuzen, entsteht er -und muss freilich in das Jenseits fallen, da kein Punkt des empirischen Lebens diese Fülle und Divergenz der inneren Richtungslinien auf sich zu vereinigen wüsste.

Weil für die ganze Vielheit des Innenlebens die religiöse Stimmung die Einheit ist, wie Gott für das Dasein überhaupt, so ist sie für den wirklich religiösen Menschen auch nicht die Weihe irgend bestimmter Augenblicke, wie man den Tag des Festes mit Rosen kränzt, die der Abend verwelkt. 

Sie ist vielmehr, wenigstens der Möglichkeit nach, allen Augenblicken seines Lebens gegenwärtig. Denn er empfindet sie als dessen Fundament, aus dem all seine Säfte strömen - was doch wohl nur eine Spiegelung und Rückverlegung der Tatsache ist, dass die mannigfaltigsten inneren Strömungen, aus den entgegengesetzten Quellen fliessend, sich auf dem religiösen Gebiet treffen. 

Es ist, als ob Liebe und Entfremdung, Demut und Genuss, Entzückung und Reue, Verzweiflung und Vertrauen innerhalb der empirischen Verhältnisse in lauter Fragmenten, wirr und beziehungslos nebeneinander lägen: aber indem man sie sozusagen über die Ebene des Irdischen hinausverlängert, schneiden sie sich alle in einem Punkte: die eigentümliche Erregung, die wir die religiöse nennen, nimmt sie alle in sich auf oder vielmehr, entsteht in ihrer Zusammenwirksamkeit. 

Und wie wir von einer Leidenschaft, die sich an den unverbrauchten Kräften unseres Inneren nährt, leicht glauben, dass sie erst ihrerseits diese Kräfte erzeugt hätte, so stellt sich für den religiösen Menschen jenes Verhältnis so dar, als wäre die religiöse Stimmung die Quelle all jener Affekte; während sie in Wirklichkeit umgekehrt die ihm eigentümliche Form ist, in der alle Gegensätze der Seele ihre Konvergenz auf einen Punkt gewinnen.

Dass es so überhaupt der Spannung und Gegenbewegung der Gefühle bedarf, um die Einheit des religiösen Gegenstandes und des Verhaltens zu ihm eindringlich zu machen - indem auch hier gleichsam der Widerstand erfordert ist, damit die Kraft sich äussere und fühlbar werde - offenbart sich wohl am stärksten innerhalb der Gefühlsprovinz der Liebe. 

Einen mittleren Zustand zwischen Haben und Nichthaben nennt Plato die Liebe. 

Aber sie steht doch nicht nur jenseits des äusserlichen Gegensatzes von Haben und Nichthaben, als ein dritter Zustand, der seine unvergleichbar eigne Färbung auch in jenen entschiedneren, in denen die Liebe nach aussen auftritt, als ihre tiefste Seele geltend macht: sondern auch eine wirkliche Mischung von beiden ist sie, ein gleichzeitiges Haben und Nichthaben, ein unendlich sicherer Besitz, der dennoch täglich und mit unermüdlicher Anstrengung erworben werden muss - nicht nur erhalten! 

Denn in ihm, als Besitz, liegt die innere Notwendigkeit der Vermehrung, die sich zu der Empfindung verfestigt, dass selbst das schrankenloseste Sichgehören der Liebe noch ein Allerletztes, Geheimstes zu gewinnen übrig lässt, als hätte sie ein unerreichbares Ziel - mag man es die Aufhebung der Ichheit oder wie sonst nennen, - dem sie sich nur ins Unendliche nähern kann. 
Das eigentümliche Gegenüber, in dem Gott zu dem religiösen Menschen steht, treibt diese Doppelheit zu ihren entschiedensten Formen. 

Gott ist ihm der gewisseste aller Besitze, sicher wie das eigene Ich. 

Denn ebenso, wie wir dieses oft als das einzige Reale fühlen, demgegenüber die ganze Welt "nur Vorstellung" ist, ein traumhaft unwirkliches Schattengebilde - so sind dem Frommen alle irdischen Wirklichkeiten ein Nichts, zerplatzende Blasen, schwankende Schatten gegenüber dem Einen, das fest und gewiss ist, so dass aller Besitz - "Leib, - Gut, Ehre, Kind und Weib" - dafür geopfert wird, da es ja doch kein Besitz ist, sondern ein Traum und Schemen. 

Aber dieser unerschütterlich sichere Besitz des Gläubigen liegt doch wiederum in einem unendlichen Jenseits-Seiner. 
Wie der an Gott schon glauben muss, der betet: Herr, lehre mich glauben - so muss der den Gott schon haben, der ihn täglich neu, tiefer und voller gewinnen will. 

Diesem äussersten religiösen Stadium, das den logischen Widerspruch der äussersten Sehnsucht nach dem Besitz und des äussersten Genusses am Besitz in eine seelische Wirklichkeit verschlingt - nähert sich jede Liebe schon darum, weil schon in ihrem Sehnsuchtsstadium eine Vorwegnahme des ersehnten Genusses lebt; denn dies ist das Gegenbild jenes anderen: dass auch im Genuss eine Sehnsucht lebt, die er nie ganz erfüllen kann. 
Darum ist es schon zutreffend, wenn man Gott als "die Liebe" schlechthin bezeichnet hat. 

Denn damit wird es ganz zum Gebilde der seelischen Kräfte, in denen er für uns lebt. 

In dem Gefühl für ihn hat die Spannung zwischen Haben und Nichthaben ihr Höchstes erreicht; denn beides, in der Liebe zu endlichen Wesen selbst endlich oder nur in dumpfen Ahnungen und Unbewusstheiten auf ein mehr als Endliches hinweisend, ist nach ihm hin wirklich ins Unendliche ausgespannt. 

Mit gleich starken Fäden knüpft das Gefühl des Habens wie das des Nichthabens die fromme Seele an ihren Gott, oder vielmehr, ihr Gott entsteht ihr dort, wo diese einander entgegenlaufenden Fäden, ins Unendliche verlängert, sich begegnen.

Mit einer noch weiteren Gebärde gleichsam greifen die religiösen Mächte in uns über noch tiefere Gegensätze des innersten Lebens hinweg, indem sie versöhnen, was nicht nur mit einander kämpft - dies erscheint fast als die leichtere Aufgabe - , sondern was fremd und ohne rechten gegenseitigen Angriffspunkt nebeneinander liegt. 

Was in unserer Seele sozusagen der Schwerkraft folgt, die trüben und dumpfen Wirklichkeiten ihrer Natur das steht zu dem Anspruch der Ideale und Normen, die dieses von selbst nach unten strebende Leben nach oben leiten möchten, keineswegs in dem unmittelbaren und durchgehenden Kampf, mit dem sich der oberflächliche Moralismus beschäftigt. 

Das vielmehr ist das furchtbarste an dem Gegensatz zwischen dem "Gesetz" und dem, was Paulus "das Fleisch" nennt, dass seine Seiten eigentlich in ganz verschiedenen Ebenen liegen. 

Das Dunkle, Sündige, das Selbstische, das Sinnliche in uns und das andere, was wie die Flamme nach oben strebt, das über dem Natürlichen geboren ist - das scheint sich oft überhaupt nicht zu berühren, als ob eine neutrale Zone dazwischen läge, wie das wüste Gebiet, das man früher zwischen zwei Staatengrenzen legte. 

Viele Situationen des Innenlebens sind nur so auszudrücken, dass irgend eine leere, indifferente Unüberschreitbarkeit zwischen dem Reich des Hellen, des Idealen und dem Reich des Schweren und Dumpfen in uns liegt und den direkten Kampf beider hindert. 
Es ist eine der tiefsten und freilich nur mit unvollkommenen Gleichnissen auszudrückenden Erfahrungen, dass unser Bestes sehr häufig gar keinen rechten Ansatzpunkt zur Weiterwirksamkeit in uns findet, gar nicht die Handhabe, um das Böse, das als blosse Tatsache daliegt und nicht einmal positiv kämpft, mit der Wurzel auszureissen. 

Vielleicht ist dies der letzte Sinn davon, dass der Geist willig ist, aber das Fleisch schwach. Das heisst, dies Fleisch bietet von sich aus keinen Angriffspunkt für das Höhere, um gehoben, durchgeistigt ' in das Ideale hinaufgeläutert zu werden. 
Es scheint, als habe Paulus sehr tief empfunden, dass dieser Gegensatz nicht einfacher Kampf ist, sondern ein Auseinanderliegen, das den Sieg des einen über das andere so oft völlig ausschliesst.

So bedarf es eines dritten, das über beide hinausgreift und den Gegensatz zwischen ihnen austrägt, den sie von sich aus nicht durchkämpfen können. 

Indem der ganze Mensch sich mit Gott versöhnt, sind auch seine Wesensteile, das Gesetz und das Fleisch, miteinander versöhnt. 
Alle die Ausdrücke, die eine gewisse materialistische Roheit in die Religion zu bringen scheinen, wie die Auferstehung des Fleisches und ähnliches sind doch wohl nur ungeschickte Verkleidungen des Gefühles, dass Gott ebenso ein Gott der Realität ist, wie der Idealität. 

Darum durchfliesst die Religiosität auch jenes Dunkle, Lastende, Sinnenmässige des Menschen und zwar in der Askese nicht weniger als in der Verzückung; wodurch übrigens wiederum klar wird, wie irrig die Reduktion der Religion auf blosse Moral ist, die auf einfache Überwindung oder Verneinung der niederen Wesensteile zu Gunsten der höheren ausgeht. 

So einseitig ist die Religion keineswegs. 

Wenn sie in den primitiven Opferkulten nicht weniger als im Christentum auf "Versöhnung" geht, so geht diese als seelische Tatsache, ganz abgesehen von ihrer metaphysischen Bedeutung, auf die Versöhnung der Wesensteile des Menschen miteinander: sie hat durch die umfassende Erregung, die sie der Seele mitteilt, vielfach ihre dumpfen, passiven Schichten erst schmelzbar gemacht, erst bildsam für ihre höheren, geistigen und sittlichen Kräfte, die die blosse Moral zu jenen in ein starres Gegenüber stellt.

Und wieder einen anderen Typus von Gegensätzen, die in der Religion oder: zur Religion zusammenwirken, kann man als die Armut und den Reichtum des Lebens bezeichnen. 

Dass die Not, äussere wie innere, die Götter geschaffen hat, dass Not beten lehrt, ist doch wohl in einem tieferen Sinne wahr, als die gewöhnlich ironische Betonung dieser Wahrheit vermuten lässt. 

Gewiss sind viele nur "zu Kreuze gekrochen", wenn alle anderen Ressourcen des Lebens versagt haben. 

Aber keineswegs immer handelt es sich hier um ein unmittelbares Ergänzen unserer Entbehrungen, um ein Haben-wollen. 

Sondern oft bringt die Not nur die Seele gleichsam in eine bestimmte Form, in der sie für religiöse Empfindungen besonders zugänglich ist: dass wir ein Blatt im Winde sind, preisgegeben unwiderstehlichen Mächten des Daseins, wird uns, so sehr das Glück uns des gleichen belehren könnte, tatsächlich doch nur im Leiden völlig eindrucksvoll. 

Was Schicksal ist, wissen wir eigentlich erst in der Not des Lebens - wie man gesagt hat, dass nur der unglücklich Liebende wüsste, was Liebe sei. 

Und dies macht Raum in uns für das spezifisch religiöse Gefühl, einem Unendlichen gegenüberzustehen. 

Bei dem religiös angelegten Menschen führt gerade die Fülle des persönlichen Leidens über das Persönliche hinaus - als durchbräche das Leiden das enge Gefäss des Ich und eröffnete ihm den Zugang zum Unendlichen. 

Gewiss ist es kindisch, Gott gegen einzelne und äussere Nöte zu Hilfe zu rufen; aber wenn diese Not als im Innersten des Menschen angelegt, als das notwendige Verhältnis seines Wesens zu seinen Idealen und zur Wirklichkeit gefühlt wird, dann bedeutet der Schrei nach Gott nicht die Not des individuellen Subjekts, sondern die der Kreatur, des Daseins überhaupt, die Forderung eines Rechts auf Überweltlichkeit, er lässt seinen Ausgangspunkt, die zufällige eigene Not, hinter sich und wird nur von dem Zielpunkt bestimmt, nach dem unser Wesen sich streckt.

Aber eben diesem wächst doch auch der Reichtum unseres Lebens entgegen. Religion quillt doch auch aus dem Überschwang der Seele, die für ihr Glück nicht in sich selbst Platz hat, sondern es gleichsam aus sich herauswerfen muss ins Unendliche, um es von da zurückzuerhalten - als müsste irgendeine absolute Macht ausserhalb der Seele sein, von der allein dieses ihr selbst unbegreifliche Gefühl kommen könnte. 

Hier ist Religion nicht Ergänzung eines Mangels, sondern Überseligkeit des Lebensgefühls, das Zuviel des Menschen, sein Überschreiten seiner selbst, nicht dass er für sich zu klein, sondern dass er zu gross ist. 

Gerade dieses Überquellen des Lebens, dieses Verabsolutieren der eigenen Kraft und Lebensfülle, ist ganz ebenso ein Ursprung der Religion, ist ganz ebenso einer der Inhalte, die sich in die Form der Religion ergiessen, wie umgekehrt die Not und Verarmung des Lebens, die vielleicht von derselben Seele erfahren ist.

Und nun ein Letztes. Die Religion steht im Leben, als eines seiner Elemente, in die sie sich einordnen und zu denen allen sie ein Gegenseitigkeitsverhältnis gewinnen muss, damit die Einheit und Ganzheit des Lebens sich ergebe. 

Andererseits aber steht sie dem, was wir sonst als unser ganzes empirisches Leben empfinden, als äquivalente Macht gegenüber, die von sich aus das ganze ausdrückt und aufwiegt. 

So ist sie ein Glied und zugleich ein ganzer Organismus, ein Teil des Daseins und zugleich das Dasein selbst auf einer höheren, verinnerlichten Stufe. 

Innerhalb des Lebens steht sie zu all seinen Inhalten in den mannigfaltigsten und gegensätzlichsten Beziehun-gen, zugleich aber erhebt sie sich über das Leben und damit, in ihren höch-sten Momenten, über sich selbst und in die Versöhnung all der Konflikte, in die sie sich als Element des Lebens selbst begeben hatte. 

Vielleicht liegt es näher, diese eigentümliche Versöhnungsform umgekehrt auszudrücken. 

Der Mensch braucht Religion, um die Entzweiung zwischen seinen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung, zwischen seinem Sollen und seinem Tun, zwischen seinem Idealbild der Welt und der Wirklichkeit zu versöhnen. 

Allein in dieser versöhnenden Höhe bleibt die Religion nicht stehen, sondern sie steigt selbst auf den Kampfplatz herunter, sie wird Partei, während sie doch zugleich Richter ist. 

Aber über den so entstehenden Konflikt erhebt sie sich von neuem, als ihre eigene höhere Instanz, sie versöhnt in sich den Dualismus, den sie selbst heraufbeschworen und ist so in jedem Augenblicke Ein-heit und erst werdende Einheit, sie versöhnt die Gegensätze, die sie ausserhalb ihrer findet und zugleich den weiteren, der sich fortwährend zwischen ihr selbst und der Ganzheit des sonstigen Lebens auftut.

Dies ist ersichtlich ein unendlicher Prozess. Auf der Höhe der vollkommenen Einheit des Lebens mit sich selbst und des Lebens mit der Religion kann der Mensch nicht verharren. 

Sondern immer von neuem steigt wie aus den Schluchten der Seele der Nebel auf und verdichtet sich zu den Gestalten, die von neuem, wenn auch wie vor einem höheren Gerichte, den Kampf unter sich und gegen das religiöse Leben unternehmen. 

Und wiederum bedarf es eines höheren Aufschwunges, eines vertiefteren Verhältnisses zum Absoluten, um über den Zwist Herr zu werden, der sich zwischen der eben gewonnenen Einheit und ihren von neuem über sie hinausgewachsenen Elementen oder versöhnenden Kräften erhebt. 

Aber gerade wenn Religion als diese unendliche Aufgabe, dieser grenzenlos über jedes Stadium hinauswachsende Entwickelungsprozess begriffen wird, kann der moderne Mensch sich ihr von neuem nähern. 

Denn dessen Wesen ist doch wohl nicht nur, statt die Gegensätze des Alls in Gott sich versöhnen zu lassen, vielmehr für die Gegensätze des eigenen Lebens von der Religion, dem subjektiven Verhält-nis zu Gott, Versöhnung zu fordern; sondern die versöhnende Instanz selbst darf nicht in unberührter Ruhe jenseits alles Gegensatzes verharren und erstarren. 

Indem die rastlose Entwickelung durch den immer neu sich gebärenden Gegensatz hindurch schliesslich dasjenige Gebilde ergreift, dessen ganzer Sinn die Versöhnung aller Gegensätze ist, ist der Rhythmus des modernen Lebens über das letzte Widerstreben Herr geworden; und hat mit restloser Deutlichkeit der Zukunft die Aufgabe gestellt, innerhalb dieser endlosen Gegensätzlichkeit und Bewegtheit die Erlösung und Versöhnung zu finden, die bisher nur die Flucht aus ihr zu gewähren schien.


 

Editorial:

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