Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Vom Heil der Seele

ex: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatszeitschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. 2. Jg. (Nr. 17 vom 5. 12. 1902). S. 533-538 (Frankfurt a. M.)

Es gehört zu den großen geistigen Leistungen der Religion, daß sie die weiten Kreise unserer Vorstellungen und Interessen zu einheitlichen Begriffen zusammenwachsen läßt, die doch nicht abstrakt sind wie die philosophischen, sondern die volle Lebendigkeit und innere Ergreifbarkeit des anschaulichen, des unmittelbaren Daseins besitzen. 

Gott - die höchste Wirklichkeit, Quelle und Mündung für alle Ströme der Einzelexistenz, über und zugleich in allen Dingen lebend, das Allgemeinste und doch der eigenste Besitz jeder Seele. Heiligung - die zusammenfassende Vollendung jedes sittlichen Bestrebens, jenseits aller Erreichbarkeit durch einzelne Handlungen gelegen, und doch nicht wie so viele bloß sittliche Ideale eine blasse Abstraktion, sondern die ganze Leidenschaft der Seele weckend wie ein Ruf, der dem Gefangenen zumutet, seine Ketten zu zerbrechen; ewiges Leben - die Vereinigung und Vollendung aller Werte und Kräfte unseres fragmentarischen Daseins, aber nicht ein begriffliches Schema gleich der Ideenwelt Platons, sondern in unmittelbarer Verbindung mit unserer persönlichsten Existenz empfunden und - mögen es nun die Jagdgründe des indianischen Jenseits oder die Mauern des ewigen Zion sein - in der Anschaulichkeit der gewissesten Wirklichkeit strahlend. 

In diese Reihe gehört das Heil der Seele ,das von ihrer Heiligung sowohl wie von ihrer Unsterblichkeit wohl zu unterscheiden ist. 
Denn mit ihm bezeichnen wir die Befriedigung alles letzten Verlangens der Seele, keineswegs nur des sittlichen, sondern auch des nach ihrer Seligkeit, ihrer Vollkommenheit, ihrer Höhe und Stärke. 

Nicht eigentlich irgend ein angebbares Gut meinen wir, von dem diese Erfüllungen ausstrahlten; vielmehr das ist der ganze Inhalt dieses Begriffes, daß er den Einheits- und Treffpunkt all jener Bestrebungen und Regungen bedeutet: er besteht nicht für sich als etwas, worauf unsere Sehnsucht sich richte, sondern er ist der Name für den Ort unserer Sehnsüchte. 

Und er meint etwas schlechthin Innerliches; so daß die Frage, ob die Seele, die ihr Heil gefunden hat, sich in einem irdischen Körper oder in einem Jenseits befindet, eine ganz äußerlich-gleichgültige ist, so gleichgültig wie die nach der Wohnung, in der unsere Schicksale uns treffen. 

Mit dem Heil der Seele meinen wir die höchste Einheit, zu der all ihre innerlichsten Vollendungen zusammenrinnen, die sie nur mit sich und ihrem Gott abzumachen hat; aber nicht die Einheit eines Begriffes, sondern die eines Zustandes, den wir fühlen, obgleich wir ihn nicht haben, oder vielleicht: den wir in der Form der Sehnsucht nicht weniger fühlen, als wir es in der Form der Erfüllung könnten.

Unter den unzähligen Inhalten, die in den Rahmen dieses Ideales eingehen können, erscheint mir einer vor allen bedeutsam, auf den ich in der christlichen Lehre hier und da eine Hindeutung finde. 

Wenn der Mensch sein Höchstes erreicht, wenn er wirklich einmal alles wird, was er gemäß seinen Idealen oder, religiös gesprochen, gemäß den göttlichen Forderungen und Zusagen werden kann - so fühlen wir oft, daß er damit nur etwas entfaltet oder äußerlich realisiert hat, was er eigentlich innerlich schon war; daß eine Wirklichkeit seiner, die sozusagen nur noch nicht empirisch war, damit nur diese neue Form angenommen hat. 

Nach dieser Auffassung - die freilich nur hier und da anklingt, neben direkt entgegengesetzten - kommt mit der Vollendung der Seele nichts Neues in sie hinein, nicht einmal in dem Sinne, in dem die gereifte Frucht etwas Neues gegenüber dem bloßen Keim ist.

Vielmehr, in jedem Menschen ruht potenziell, aber doch wirklich, das Ideal seiner selbst; die reine Form seiner, das, was er sein soll, durchdringt als eine ideelle Wirklichkeit die reale und unvollkommene; so daß nur »der alte Adam ausgezogen« zu werden braucht, damit das vollendete Sein darunter zum Vorschein käme, so daß nur »das Fleisch gekreuzigt« zu werden braucht, damit unser besseres Teil, das schon da ist, frei werde. 

Wenn die Engel, die Fausts Unsterbliches der Vollendung entgegentragen, ihn zuerst wie die Puppe des Schmetterlings empfangen, so singen sie: »Löset die Flocken los, die ihn umgeben Schon ist er schön und groß von heiligem Leben« - nur befreit von Verhüllungen und Schranken braucht das Innerlichste zu werden; und das eben ist das Heil der Seele, daß ihr nicht von außen etwas hinzugetan oder angebildet wird, sondern daß sie eigentlich nur eine Hülle abzuwerfen, nur zu werden braucht, was sie schon ist. 

Was würde die Gotteskindschaft für einen Sinn haben, wenn sie nicht das Erbe der Vollendung bedeutet, die wir also nicht mehr zu erwerben, sondern die wir sozusagen nur herauszuholen, auf die wir uns nur zu besinnen haben? 

In dem Einzelnen des Lebens, insbesondere der sittlichen Praxis, haben wir freilich genug zu schaffen, neue Formen und Inhalte zu bilden; fragen wir aber nach der Bedeutung alles dieses Handelns und Produzierens für das Innerlichste der Seele, so scheinen wir damit, soweit es gut und heilig ist, doch nur den eigentlichen Kern unseres Wesens zu enthüllen, der schon von je da war, uns damit selbst in Licht und Klarheit zu sehen, während Sünde und Wirrnis vorher uns nur unkenntlich gemacht und unsere Umrisse durch trübe Schatten gefälscht haben. 

Alles Aeußerliche mit seiner Macht über die Seele muß erst von ihr abfallen, aber indem es abfällt, hat die Seele auch schon ihr Heil gefunden; denn damit fand sie sich selbst: »wer seine Seele verliert, der wird sie gewinnen!« 

Eben damit ist auch aller Egoismus abgestreift; denn Egoismus ist immer nur ein Verhältnis der Seele zu ihrer Umgebung, sie erwartet von dieser irgend eine Gewährung, irgend ein Glück, zu dem sie sie ausnutzt. 

Jeder Egoismus ist eine Mischung der Seele mit Aeußerem, ein Umweg, auf dem sie sich selbst verliert, ein Sich-ergänzen-wollen einer Lücke in ihr, das ihr selbst nicht gelingt. 

Die Seele aber, die ganz und gar sie selbst geworden ist, bedarf dessen nicht. 

Nirgends in ihrem Umkreis hat sie ein Aeußerliches, das ihr Sehnsucht oder Selbstsucht wecken könnte, sondern weil sie überall sich selbst hat und nichts als ihr reinstes Inneres ist, so ist sie überall Verlangen und Erfüllung zugleich.

Daraus versteht man das Gefühl von Freiheit bei allen Handlungen, die wir dem Heil unserer Seele dienen wissen. 

Der Mensch ist in dem Maße frei, in dem das Zentrum seines Wesens die Peripherie desselben bestimmt, d. h. wenn unsere einzelnen Gedanken und Entschlüsse, unser Handeln wie unser Leiden, unser eigentliches Ich ausdrücken, unabgelenkt von Kräften, die außerhalb unser liegen. 

Nicht daß die Handlung bestimmungslos in der Luft schwebt, macht sie zu einer freien, sondern daß der tiefste Punkt in uns, den wir als unsere Persönlichkeit fühlen, ihr seine Kraft und Färbung hemmungslos aufprägt. 

Dem Ideal vom Heil der Seele, wie es im Christentum, freilich fragmentarisch genug, angedeutet ist, ist es eigentümlich, daß diese Herausarbeitung unserer Persönlichkeit, diese Befreiung ihrer von allem, das nicht sie selbst ist, dieses Sich-ausleben nach der Idee und dem Gesetz des Ich daß dies zugleich den Gehorsam gegen den göttlichen Willen, zugleich das Leben nach seiner Norm, zugleich die Uebereinstimmung mit den letzten Werten des Daseins überhaupt bedeutet. 

Das Heil, das die Seele sucht, wäre nicht ihr Heil, sondern ein farbloses, ihr innerlich fremdes, wenn es nicht in ihr wie mit ideellen Linien vorgezeichnet wäre, wenn sie es nicht auf dem Wege zu sich selbst fände. 

Deshalb gibt es allerdings vielerlei Heilsbegriffe, die der Seele ihr Heil sozusagen gewaltsam aufdrängen, wie einen äußeren Befehl und eine Umgestaltung wie durch äußere Mächte; dieses Heil, abhängig von äußerem Tun oder dogmatischem Glauben, ist der Seele selbst etwas Zufälliges und damit ein Zwang, der ihre Freiheit bricht. 

Erst wenn der Inhalt der religiösen Forderung an einen jeden Menschen in ihm selbst wirklich ist, und nur von dem befreit zu werden verlangt, was an uns nicht wir selbst sind erst dann ist das Gebiet des religiösen Heiles zugleich das Reich der Freiheit.

Der Gegensatz zum alten vorprophetischen Judentum macht dies besonders anschaulich. 

Hier ist der Gegensatz zwischen dem Ich und der göttlichen Norm ganz weit gespannt und zwar nicht nur, wenn Jehova als der orientalische Despot erscheint, dessen Wille von selbst Gesetz ist und dem das jüdische Volk als Knecht gegenübersteht; sondern auch wenn das Verhältnis beider als rechtliches auftritt, als ein Bund, der beiden Parteien Rechte gibt, auf deren Erfüllung sie halten dürfen. 

In beiden Fällen ist das Gesetz etwas dem Subjekte Aeußerliches, und deshalb besteht auch der Lohn für seine Erfüllung in etwas Aeußerlichem: in dem Wohlergehen auf Erden.

Hier sind also die Bedingungen für den Egoismus, den ich oben charakterisierte, gegeben: das Heil liegt nicht in dem Realisieren des eigensten Sinnes der Seele, demgegenüber es überhaupt keine Habsucht geben kann, sondern in den Gütern ihrer Peripherie, von denen man möglichst viele der Macht, die sie zu gewähren hat, durch Gehorsam oder List oder Gewalt abzuringen hat. 
Und eben diese Abhängigkeit des Lebensgefühles von Aeußerlichem läßt es nicht zur Freiheit kommen, das Knechtsbewußtsein bleibt und offenbart so die ganze Tiefe der Wurzel, in der Unfreiheit und Egoismus zusammenhängen. 

Das Gesetz muß für seine Erfüllung einen Lohn setzen, weil es nicht aus und an dem eigenen Ich seinen Inhalt hat, sondern umgekehrt eine Schranke für dieses Ich bildet; nicht als Erweiterung und Erhöhung des empirischen Menschen durch das innere Ideal seiner selbst, sondern als Einengung durch die vorwiegende Form des Verbotes, durch das: du sollst nicht - tritt es auf.

Diese Deutung des Heiles der Seele als der Erlösung, sozusagen der Entzauberung des Wertes, der zwar in der Seele von je vorhanden ist, aber mit Fremdem, Unreinem, Zufälligem gemischt - diese Deutung scheint freilich gerade an einer Fundamentalbestimmung des Christentums eine Schwierigkeit zu finden: an der gleichmäßigen Fähigkeit jeder Natur zum Gewinn des absoluten Heils, an der Bedingtheit dieses durch Leistungen, die von vornherein niemandem unzugänglich sind. 

Für alle ist Platz in Gottes Hause, weil das Höchste, was der Mensch erreichen kann, zugleich das Mindeste ist, was von ihm gefordert werden muß, und deshalb keinem prinzipiell versagt sein kann. 

Wenn nun aber das Heil nichts anderes sein soll, als daß jede Seele ihr eigenstes inneres Sein, das reine Bild ihrer, dessen unsichtbare Linien ihre irdische Unvollkommenheit durchziehen, ganz zum Ausdruck bringt, ganz in ihm aufgeht - wie vereinigt sich denn die unendliche Verschiedenheit der Seelen nach Höhe und Tiefe, Weite und Enge, Helligkeit und Dunkelheit, mit der Gleichheit des religiösen Erfolges, mit der gleichen Würdigkeit vor Gott? 

Da doch unser Begriff des Heiles gerade das Individuellste, Unterscheidendste der Menschen zu seinem Träger macht? 

Tatsächlich hat die Schwierigkeit, die Gleichheit vor Gott mit der unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Individuen zu vereinen, zu jener Uniformität der Leistungen geführt, die aus weiten Provinzen des christlichen Lebens einen bloßen Schematismus gemacht hat. 

Den ganzen Individualismus des christlichen Heilsbegriffes hat man verkannt, und daß jeder mit seinem Pfunde wuchern soll, indem man ein einheitliches Ideal, ein gleichartiges Verhalten von allen verlangte, statt von jedem -ihn selbst zu fordern. 

Alles für Alle Gleichmäßige ist für die Persönlichkeit etwas Aeußerliches; jene Einheit, in der die Gläubigen sich finden, jene Gleichheit der vollendeten Seelen, besteht nur darin, daß jede einzelne die ihr eigene Idee durch alles Außenwerk hat durchwachsen lassen; dabei mag der Inhalt der verschiedenen um Welten verschieden sein. 

Jesus deutet an vielen Stellen an, wie sehr er die Verschiedenheit der menschlichen Anlagen zu schätzen weiß, zugleich aber, wie wenig dies die Gleichheit des Endresultates des Lebens zu alterieren braucht. 

Es kommt eben alles auf das Verhältnis an, das zwischen jenem, im Menschen selbst vorgezeichneten Ideal seiner selbst und dessen Durchdringen in seine Wirklichkeit besteht.

Dabei ist freilich nicht zu verkennen: je mehr das Heil des Menschen nur auf dem ruht, was er ganz allein, vielleicht mit keinem anderen vergleichbar, ist, je weniger irgend ein allgemeiner Inhalt des Strebens ihn von dieser Zuspitzung auf sein Eigenstes und Innerlichstes entlastet - desto gefährlicher ist das Leben, desto exponierter sein innerer Standpunkt, desto umfassender seine Verantwortlichkeit für sich selbst. 

Darum hat Nietzsche das Christentum völlig mißverstanden, wenn er es für eine Art Volksversicherung hält. 

Daß man zum Gewinn des Heils sich selbst gegen sich selbst durchzusetzen hat, bedeutet eine furchtbare innere Gefahr, die sich in der Gnadenwahl nach außen hin projiziert. 

Es ist eben alles auf die eine Hauptsache gestellt, zu deren Gewinn es kein allgemeines Rezept gibt, sondern für jedes Individuum einen individuellen Weg, selbst wenn sie alle an einem religiösen Ziele münden sollten.

Wo das Christentum sich diesem Heilsbegriffe nähert, rührt es an das tiefste Lebensproblem der Gegenwart. 

Denn im Sittlichen wie im Künstlerischen, im Sozialen wie in den Normen der Erkenntnis suchen wir nach dem Allgemeingültigen, das zugleich individuell ist, nach dem Rechte der Person, das zugleich das Recht der Allgemeinheit sei, nach dem Typus, der die Unvergleichbarkeit der Einzelgestaltung in sich aufnehme. 

Was man bisher dem Leben als Norm vorhielt, pflegte nur das eine oder das andere zu betonen, aber die ganzen Entscheidungen des modernen Lebens hängen an der Synthese von beidem, Wenn nun das Heil der Seele, also die umfassendste, schlechthin allgemeine Forderung an alles Menschliche, in dem Herausringen dessen ruht, was ein jeder als sein Eigenstes, in der Idee schon Wirkliches, aber noch unrein Gestaltetes in sich birgt - so würde sich dies als eines der Motive enthüllen, aus denen das gegenwärtige Leben wieder instinktiv nach Religion tastet, als fänden unsre tiefsten Lebensnöte in ihr, wenn keine Lösung, so doch eine Formulierung und den Trost, daß sie die Nöte der Menschheit von je gewesen sind.


 

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