Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Zum Verständnis Nietzsches

ex: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatszeitschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. 2. Jg. (Nr.13 vom 5.4.1902). S. 6-11 (Frankfurt a. M.)

I

Die Eindeutigkeit der Gedanken pflegt nicht die Eigenschaft der ganz großen Denker zu sein. Von Heraklit und Plato bis zu Kant und Hegel haben gerade sie stets einer Vielheit einander entgegengesetzter Deutungen Raum gegeben, dem Meere vergleichbar, aus dem jeder schöpfen kann, was ihm die Größe und die Form des mitgebrachten Gefäßes gestattet.

Ihre Wirksamkeit wäre niemals eine so weite, wenn sie nur eine Art des Verständnisses ermöglichten, wenn sie nicht, wie die Natur selbst, zu jedem in seiner Sprache redeten und der Sehnsucht jeder individuellen Seele ein wie nur für sie geformtes Erlösungswort entgegenbrächten.

Vielleicht kann erst diese Vielheit des Verstandenwerdens ihre ganze Größe umschreiben, die von einem Einzelnen nicht auszuschöpfen ist.

Was Nietzsche erlebt, Ist wie eine Karikatur dieses Loses der Großen: er verdankt Ruhm und Wirksamkeit nicht einer Mannigfaltigkeit von Auffassungen, die alle gleich berechtigt wären, sondern solchen, die alle gleich unberechtigt sind.

Für einen Prediger des egoistischen Genusses hält man ihn - und er lehrt die Verächtlichkeit alles bloßen Genießens, die Bedingtheit aller Größe durch das Leiden; anarchistische Zuchtlosigkeit will sich durch ihn rechtfertigen - und ihm kann gar keine Strenge und Disziplin hart genug sein; Gleichgültigkeit gegen die Menschheit außerhalb des Ich wirft man ihm vor - und in Wirklichkeit ist die Entwicklung unserer Gattung, die Erhöhung des Typus Mensch sein tiefstes, alles andere umfassendes Interesse.

Alles dies verschuldet er durch die Unvorsichtigkeit, dass er sich einen »Immoralisten« nennt und dadurch eigentlich den Irrtum legitimiert, den er seinen Gegnern vorwirft: dass sie die Moral der gegenwärtigen Epoche für die Moral schlechthin halten.

Er ist keineswegs Immoralist in dem Sinne, dass er die Bindung an feste Pflichten, dass er die Werte des Wollens leugnete, dass er dem Menschen sein Sollen erließe.

Nur die gerade jetzt herrschende Moral verneint er. Denn in deren demokratisch-christlichen Idealen, Selbstlosigkeit, Demut, Entsagung, Sich-hingeben an die Zukurzgekommenen, die Elenden und Schwachen - sieht er die furchtbarste Gefahr für die Entwicklung unserer Gattung.

Aller Fortschritt der Menschheit wird durch ihre in jedem Augenblick höchsten Exemplare getragen: die starken und aufrechten, die vornehmen und siegenden Naturen sind die Pioniere, die die Menschheit von jeder Stufe auf die nächst höhere führen.

Wenn diese nun darauf verzichten, sich durchzusetzen, wenn sie statt der Kraft und Schönheit, der Feinheit und Freiheit, vielmehr nur die Eigenschaften ausbilden, mit denen sie der »Masse«, d. h. den hinter ihnen Zurückgebliebenen, nützen - so müssen jene Anlagen sich zurück statt aufwärts bilden.

Christentum und Demokratie zielen darauf ab, die Schwachen und Unbegabten, die Kranken und Mitleidswürdigen zu konservieren, den Gesundungsprozess der Menschheit, der auf Ausstoßung und Vernichtung dieser drängt, aufzuhalten und rückläufig zu machen.

Dies erscheint ihm als das eigentliche Symptom der Décadence. dass der Instinkt für das, was die Gattung nach oben entwickelt, verloren gegangen ist.

Seit der Sinn des Typus Mensch nicht mehr in seinen höchsten Exemplaren, sondern in der Masse, also der Mittelmäßigkeit liegt, seit nicht mehr die Entwicklung der kräftigsten und siegreichsten Eigenschaften, sondern der Verzicht auf Besonderheit, die Dienstbarkeit gegen Schwache und Niedere sittliches Ideal geworden ist musste der Verfall der Rasse beginnen: die Stärksten und von Natur Herrschenden, statt vorwärts, den noch unerreichten Vollkommenheiten menschlicher Eigenschaften zuzustreben, haben sich rückwärts gewandt, sich zurückgebildet.

Nur diese Moral verneint Nietzsche, nicht die Moral überhaupt, der er vielmehr nur einen neuen Inhalt geben will: die rücksichtslose Entfaltung und Steigerung alles Starken, Eigenen und Schönen, wodurch aus der gegenwärtigen Menschheit eine höher qualifizierte aufsteigen würde.

Mit einem Wort: an die Stelle des sozialen Ideals, dem es auf die Niederungen der Menschheit ankommt, will er ein menschheitliches setzen, dem nur an der Höherentwicklung der Menschheit, also nur an der ihrer höchsten und feinsten Exemplare, als den Bürgen und Führern dieser Entwicklung, liegen kann.

Dies also ist der viel verkannte, ganz einfache Sinn des »Übermenschen«. dass Nietzsche unsere Gattung nicht für unwandelbar fertig, sondern weiterer Entwicklung zugängig und bedürftig hält; der Übermensch ist nur der Name für die je höhere Stufe derselben.

Jede Epoche hat ihren Übermenschen über sich, insofern jede entwicklungsfähig ist. Der Übermensch ist durchaus kein phantastisches Gebilde jenseits des Menschentums; er ist derjenige Mensch, der in der Evolution unserer Gattung auf deren gegenwärtige Staffel folgen soll.

Das Sollen, das Nietzsche lehrt, enthält die Bedingungen, die ihm dieses Aufsteigen zu gewähren scheinen; und insofern die gegenwärtige Moral umgekehrt die Bedingungen der Rückbildung und Erniedrigung zu Idealen macht, nennt er seine Lehre Immoralismus.

 

II

Von einem Egoismus im gewöhnlichen Sinne, als ob der Wert jedes Lebens in der Summe dessen bestände, was es genießt - ist bei Nietzsche niemals die Rede.

Wenn Glück das Echo bedeutet, das die innere und äußere Schönheit, die Vertiefung und Eigenart des Wesens, kurz unsere objektiven Werte in unserem Gefühlsleben finden, so gehört es natürlich zu unserer Vollkommenheit; und ebenso, wenn aus ihm Mut und Schwungkraft und Helligkeit auf unser Tun und Sein zurückstrahlen.

Aber nach dem Glück anders zu fragen, als nach einem Reflex oder einer Vorbedingung, es zu einem Ziel und Eigenwert des Lebens zu machen - das erscheint ihm als die niedrigste Weichlichkeit der Seele.

Es kommt darauf an, »dass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird; dass die männlichen, die krieg- und siegesfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andere Instinkte, z. B. über die des Glückes«, und anderswo: »alle Denkweisen, welche nach Lust und Leid, d. h. nach Begleitzuständen und Nebensachen, den Wert der Dinge messen, sind Naivitäten, auf welche jeder, der sich gestaltender Kräfte bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird.«

Damit hat die sittliche Aufgabe eine ganz neue Formulierung erfahren. Kein Moralgesetz, das eine abstrakte Vernunft uns auferlegt, das den ganzen lebendigen Menschen einem einseitigen Ideal opferte, der Vernunft oder dem Gemüt, der Religion oder dem Staat; sondern auf die Kräfte und Eigenschaften, die die Gattung Mensch höher entwickeln, kommt alles an, - aber nicht darauf, ob das Ich oder das Du sich dabei wohlfühlt oder nicht.

Der Altruismus, der nur nach dem Glücke des Nächsten fragt, darf so wenig ein Endziel sein, wie der Egoismus, der dem eigenen Glücke nachläuft. Über die enge Alternative des gewöhnlichen sittlichen Bewusstseins: ob man für das eigene Wohl oder das des Anderen sorgen solle geht Nietzsche weit hinweg.

Die Vollendung des Menschen, die objektive Höhe seiner Qualitäten ist zum Ziel gemacht. Es ist ein völlig sachliches, über alle Subjektivität und ihre bloßen Gefühle erhobenes Ideal, dessen Inhalt freilich menschliche Qualitäten und ihre Steigerungen bilden.

Dass die Menschen von adliger Gesinnung, von sieghafter Stärke des Leibes und der Seele, von vertieftem Denken und Wollen seien, das ist das objektiv Wertvolle, damit schließt sich die ethische Zielsetzung - nicht aber damit, dass diese Vollkommenheiten nun erst rückwirkend jemanden »erfreuten«.

Der Anspruch »sich auszuleben«, der unter der Berufung auf Nietzsche eine bloße Genusssucht zu verstecken pflegt, offenbart so seine ganze Rechtlosigkeit: das Recht, nach dem Glücke des Du nicht zu fragen, fordert, dass man auch nach dem Glücke des Ich nicht frage, sondern nur nach den Beschaffenheiten der Seele, nach ihren Energien, ihren Tiefen, ihren Schönheiten, die unsere Gattung auf die Stufe höherer Vollendung führen und alles persönlichen Genießens oder Leidens stehen. - Ich will nicht verkennen, dass bei der ungeheuer bewegten geistigen Entwicklung Nietzsches, die ihre Vielgestaltigkeit vielleicht in jeden seiner Tage hineintrug, auch eine ganz andere Deutung seiner Absichten sich auf Aussprüche von ihm stützen könnte.

Es ist ganz irrig, ihm auf diese Selbstwidersprüche hin seinen Rang abzustreiten.

Ein Denker gehört auf die höchste Stufe, wenn aus den vielfachen und sich vielleicht verwirrenden Reihen seines Denkens auch nur eine einzige Größe, Tiefe, Wahrheit besitzt - ganz gleichviel, ob daneben falsche, flache, widersprechende laufen; gerade wie ein Künstler durch seine besten und höchsten Werke eine Unsterblichkeit genießt, die durch seine minderwertigen nicht herabgesetzt wird - was würde sonst, wenn nicht allein seine höchsten Schöpfungen den Rang eines Genies bestimmten, selbst der eines Goethe und Beethoven sein?

 

III

Die Voraussetzung der ganzen Idealbildung Nietzsches ist das, was er die »Distanz« unter den Persönlichkeiten nennt.

Im Gegensatz zu allen demokratischen und sozialistischen Überzeugungen glaubt Nietzsche fest an die naturgegebenen Unterschiede zwischen Hohen und Niederen, Vorschreitenden und Verkümmerten, Herren und Sklaven -Unterschiede, die nicht nur unzerstörbar sind, sondern es auch sein sollen, weil alle Kultur und alle Entwicklung auf ihnen beruht.

Er hält eine solche überhaupt für unmöglich, außer auf der Basis eines Sklaventums - habe dies die Form der antiken Sklaverei oder der Hörigkeit oder der modernen Lohnarbeit. In welchem Maße die niederen Güter, Behagen und Bildung in der Masse verbreitet sind, das zeigt die Entwicklung unserer Gattung nicht an, die sich vielmehr nur an dem jeweils erreichten wenn auch vielleicht nur von einem Einzigen erreichten höchsten Teilstrich misst.

»Wenn ihr die starken Gegensätze und Rangverschiedenheiten wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe Gesinnung, das Gefühl des Fürsich-seins auch ab!«

Was diesen Aristokratismus von auch sonst aufgetauchten trennt, ist dies, dass er nicht als Mittel für die Wohlfahrt der Gesellschaft gedacht ist, dass er keine »Sozialaristokratie« bedeutet. Er ist vielmehr Selbstzweck: die Ausbildung des aristokratischen Menschen ist die Rechtfertigung, dass überhaupt eine Gesellschaft besteht, und nicht umgekehrt.

An dieser völligen Ablehnung eines sozialen Effektes der Aristokratie zeigt sich die Verschiedenheit des sozialen Interesses vom Interesse an der Gattung, die das moderne Empfinden ohne weiteres für solidarisch zu halten pflegt.

Gar zu unbefangen vielleicht glauben wir die absoluten Werte der Menschheit damit gefördert, dass die sozialen, die der Masse, des Durchschnitts, der unteren Stände - gehoben werden. Möglich, dass dieser Glaube richtig ist; aber selbstverständlich ist er nicht.

Er bedarf des Beweises gegenüber diesem anderen, dass das Leben unserer Gattung seinen eigentlichen Wert nur in der Höhe der Eigenschaften hat, die ihre höchsten Exemplare ausbilden.

Vielleicht aber ist keiner von beiden Standpunkten beweisbar, sondern wir stehen hier vor einer jener letzten Entscheidungen, die nicht mehr auf Beweise hin getroffen werden, sondern in denen das letzte, unbelehrbare, jenseits von wahr und falsch stehende Sein der einzelnen Menschen seinen Ausdruck findet.

Mit dieser Betonung der Distanz hat Nietzsche eine Wertkategorie eingeführt, die, so wirksam sie in der Wirklichkeit des Lebens ist, in der Ethik bisher so gut wie unbekannt war: die Vornehmheit.

Dies ist ein innerer Wert, der auf keinen anderen ganz zu reduzieren ist, eine ursprüngliche Werteinheit, die die verstandesmäßige Beschreibung freilich nur aus einer Mehrheit von Zügen zusammensetzen kann.

»Die vornehme Art Mensch fühlt sich als wertbestimmend, sie hat nicht nötig, sich gutheißen zu lassen. Im Vordergrund steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Bewusstsein eines Reichtums, der schenken und abgeben möchte. Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen, auch den, welcher Macht über sich selbst und Ehrerbietung vor allem Strengen und Harten hat. -

Die vornehme Seele gesteht sich zu, dass es mit ihr gleichberechtigte gibt; sobald sie über diese Frage des Ranges im Reinen ist, bewegt sie sich unter diesen Gleichen mit der gleichen Sicherheit in Scham und zarter Ehrfurcht, welche sie im Verkehr mit sich selbst hat.«

Der Vornehmheitswert wird so von einer besonderen Art des Unterschiedes getragen: der Unterschied betont hier einerseits den Ausschluss des Verwechseltwerdens, des sich Gemeinmachens; andererseits darf er doch nicht so hervortreten, um das Vornehme aus seinem Sich-selbst-genügen und seiner Reserve herauszulocken und sein Wesen in eine Relation zu anderen zu verlegen.

Die Vornehmheit repräsentiert eine ganz einzigartige Kombination von Unterschiedsgefühlen, die auf Vergleichung beruhen, und stolzem Ablehnen jeder Vergleichung überhaupt.

Noch mehr als Schönheit ist sie sozusagen eine formale Eigenschaft, die den in aller sonstigen Hinsicht verschiedenartigsten Erscheinungen gemeinsam sein kann.

Das Ideal der Vornehmheit in seiner eigentümlichen Weite und gleichzeitigen Strenge erscheint mir als der eigentliche Mittelpunkt, auf den das Grundgefühl Nietzsches alle Richtungen seines Denkens hinführt: aus dem Umfang und der Tiefe dieses Begriffes erklären sich, was man ihm immer vorwirft, der fast planlos erscheinende Versuchscharakter und die vielfachen Widersprüche der Wege, die er zu seiner Verwirklichung einschlägt.

Es ist oft hervorgehoben worden, dass die Lehre Nietzsches den Gegensatz seiner Persönlichkeit bildete: dieser rauhe, kriegerische und dann wieder bacchantisch weittönende Ruf quoll aus einer höchst sensitiven, still in sich gekehrten, liebenswürdig milden Natur.

Gewiss ist dies kein Gegenbeweis gegen ihre Ernsthaftigkeit; denn der Philosoph gibt in seiner Lehre unzählige Male sein Gegenspiel, seine Ergänzung zum vollen Menschen, sein Anders-als-er und seine unerreichte Sehnsucht.

Die Vornehmheit aber ist der Punkt, in dem das Ideal, das Nietzsche lehrte, und die Wirklichkeit seiner Natur sich getroffen haben, gleichsam der Gipfel seines persönlichen Seins, von dem aus er den Flug nahm in das Reich der Wünsche für die Menschheit.


 

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