Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Aesthetik der Schwere

ex: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 10. Juni 1901 (Berlin)

Die Dinge und Verhältnisse, aus denen wir unser Leben formen, treten uns mit so vergewaltigender Wirklichkeit, mit so rücksichtsloser Eigenheit entgegen, dass wir diesen ganzen Stoff des Lebens oft als eine blosse Last empfinden, nach deren gänzlicher Beseitigung erst die Seele ihre ganze Freiheit entfalten würde.

Der Druck, den wir von der Natur wie von der Gesellschaft erfahren, lässt uns, im Ganzen wie im Einzelnen, vergessen, dass wir ohne ihre Härte und ihren Widerstand gar kein Material haben würden, an dem unser inneres Leben sich zu vollziehen, sich auszuprägen vermöchte: wenn der Meissel keinen Widerstand am Marmor fände, würde er ihm auch keine Form verleihen können.

Die Freiheit der Seele ist etwas Wirksames nur an der Eigengesetzlichkeit der übrigen Welt, von der sie freilich eingeengt wird, mit der zusammen sie aber erst ein wirkliches Leben ergibt.

Sogar unsere sittlichen Impulse bedürfen eines Rohstoffes sinnlich-selbstischer Triebe, um im endlosen Bekämpfen, Unterjochen, Umformen dieser erst ihre Kraft zu erweisen.

So ist der Stand des inneren Lebens in jedem Augenblick der eines Antagonismus zwischen dem eigentlichen, zu vollem Ausleben drängenden Ich und beengenden Mächten, auf deren Vernichtung zwar seine ganze Freiheit gerichtet ist, deren gänzliches Verschwinden ihm aber allen Stoff des Lebens und alle Möglichkeit nähme, sich zu festen Formen auszugestalten.

Dieses typische Schicksal der Seele setzt sich auf ihre Umgebungen fort.

Die Bewegungen unserer Glieder zeigen fortwährend den Stand eines Kampfes zwischen der physikalischen Schwere, die uns nach unten zieht, und den seelisch-physiologischen Impulsen, die die Schwerkraft des Körpers immerzu aufheben und abbiegen- ja, unsere Bewegungen sind dieser Kampf.

Die willensmässigen Energien beherrschen unsere Glieder nach ganz anderen Normen, in ganz anderen Richtungen als die physikalischen, und unser Leib ist in jedem Moment der Kampfplatz, auf dem beide sich treffen, sich gegenseitig ablenken, sich zu Kompromissen nötigen.

Und während es scheint, als verhinderten die materiellen Widerstände, dass sich die innere Bewegung restlos darstelle, bedingt in Wirklichkeit dieser Widerstand gerade jegliche Offenbarung der Seele: nur an ihm, in seiner Überwindung kann die Bewegung zu Stande kommen und ihren Sinn anschaulich machen.

Die typischen Weisen nun, wie der Mensch sich darstellt, und wie er in den verschiedenen Stilen der Kunst erscheint, sind durch die besondere Art bestimmt, in der jene beiden Kräfte sich begegnen, eine die andere umbiegt, hemmt, gelegentlich fördert, ihr ausweicht, in mannigfaltigen Mischungen mit ihr die Einheit der Erscheinung erzeugt.

Vergleicht man zum Beispiel eine griechische Statue mit einer Barockplastik, so fällt sofort auf, dass der Grieche es mit der Überwindung der Schwere lange nicht so leicht nimmt wie der Barockkünstler.

Weder an der menschlichen Erscheinung selbst noch an dem Marmor empfindet dieser die natürliche Schwere, er spielt mit den physikalischen Bedingungen des Stoffes, als wäre dieser dem inneren Anstoss absolut nachgiebig, wie die Luft, die man da und dort hin blasen kann, ohne ihren Widerstand zu merken.

Dennoch wirkt die Barockkunst lange nicht so geistig und von innen heraus beseelt wie die klassische, damit beweisend, dass jener Widerstand der Materie keineswegs bloss ein »böses Prinzip« ist, das besser nicht bestünde, sondern dass er gerade der notwendige Stoff und Gegenhalt ist, dem allein sich die Seele anschaulich einschreiben kann.

Das Gewand um den Körper ist in seinen Falten und seinem Fall, seinen Schwingungen und seinen Schwellungen ein enthüllendes Symbol jenes Streites der Kräfte.

An den Figuren eines japanischen Holzschnittes etwa verrät die wunderliche Gebrochenheit, das uns so schwer begreifliche Ausladen und Eingezogensein der Formen, dass die irdische Schwere und der nervöse Impuls sich in diesen Körpern ganz anders, als wir es gewohnt sind, mischen, dass die Überwindung des einen durch das andere in ganz fremdartigen Rhythmen, Anstössen und Nachgiebigkeiten erfolgt.

Das Wesentliche des Menschen: das Mass und die Art, wie er seelische Energien in die elementaren Begebenheiten der Natur verweht, jedes über jedes siegen, ich gegenseitig fördern oder hemmen lässt, - dies ist für den Japaner ersichtlich etwas ganz anderes als für uns.

Die einheitliche Erscheinung, in der der Künstler dieses Wesentliche anschaulich macht, divergiert so weit von unserer Art, weil die Elemente dieser Einheit, das physikalische und das psycho-physiologische, dort in so ganz abweichenden Proportionen und Wechseln zusammengehen.

Nicht weniger wird der persönliche Stil, in dem der einzelne Künstler den Menschen bildet, durch seine besondere Formel für diesen Antagonismus bestimmt.

Bei Michelangelo fühlen wir alle Körper gegen einen Druck ringen, eine ungeheure Schwere zieht sie nieder, und eben deshalb müssen sie eine ungeheure, leidenschaftliche Kraft aufwenden, um sich dagegen auf zuarbeiten; der Kampf der Seele, die sich befreien will, gegen das elementare Lasten des natürlichen Seins, das zugleich die dumpfe Tragik innerer Belastungen symbolisiert, dieser Kampf ist hier auf dem Punkt zum Stehen gekommen, wo beide Richtungen ihr Äusserstes entfalten.

Sobald das von ihm mit unbegreiflicher Kunst festgehaltene Gleichgewicht beider in der späteren Entwicklung ins Wanken geriet, sobald man die seelische Freiheit und Impulsivität durch einfache Vernachlässigung der Schwere zu vollerem Ausdruck zu bringen meinte, glitt der Stil Michelangelos in das Barock über.

Ein völlig originelles Verhältnis zwischen der physikalischen Schwere und der seelischen Anspannung, die sie zu überwinden strebt, charakterisiert den Stil Konstantin Meuniers.

Seine Plastik hat ein gänzlich neues Problem in die Kunst eingeführt: den arbeitenden Menschen; das heisst, er hat den formal-ästhetischen Wert der Arbeitsbewegung als solcher entdeckt, im Unterschied etwa von Millet und anderen Malern des arbeitenden Volkes, die mehr die Reflexe der Arbeit in dem Gefühl und Charakter der Menschen zur Anschauung bringen, aber nicht ihre rein anschauliche Bedeutung, die ganz jenseits ihrer ethischen oder sentimentalen steht.

Er hat die Arbeit nach der ästhetischen Seite zuerst so zu Ehren gebracht, wie die Stadtbürger des Mittelalters sie nach der sozialen hin zu Ehren brachten.

Wie das diesen gelang, indem sie zuerst den Knechtschaftsbegriff von ihr lösten, der vom Altertum her mit ihr verbunden war, so hat Meunier alles Aesthetisch-Indifferente oder Widrige, das in den Ergebnissen oder den Begleiterscheinungen der Arbeit liegt, von ihr gelöst und die Arbeitsbewegung als ästhetische Formgebung des Menschenkörpers zuerst ebenso behandelt, wie man diesen sonst als ruhend oder als spielend oder als durch Affekte erregt bildet.

In dem Heben, Ziehen, Wälzen, Rudern, das Meunier an seinen Menschen darstellt, ist die Schwere des Körpers nach aussen hin verlegt, sie setzt sich in die tote Materie fort, um von dort aus ungeheure und ganz eigenartige Ansprüche an ihre Überwindung durch die Kraft, das heisst: durch die Seele des Menschen zu stellen.

Die soziale Bewegung der Gegenwart knüpft sich daran, dass man aus den unendlich verschiedenartigen Arbeiten des Eisengiessers und des Schneiders, des Barbiers und des Bergmannes das Gleichartige, ihre Interessen Verbindende erkannt hat: sie sind eben alle Lohnarbeiter - ein Begriff, dessen Einheit und Immergleichheit frühere Zeiten vor jenen Verschiedenheiten des Arbeitsinhaltes nicht zu erkennen vermochten.

Diese begriffliche Identität der Arbeit hat Meunier zu einer ästhetischen gestaltet.

Die Arbeit mag ein sehr verschiedenes Kraftmass, mag sehr verschiedene Muskelgruppen beanspruchen: sie ist doch überall eines und dasselbe Verhältnis des beseelten Körpers zu den Aufgaben, die ihm durch den Widerstand der Materie gegen seine Zwecke gestellt werden.

Arbeit ist die Hineinbildung der Seele in die Materie, und so wiederholt sie ausserhalb des Körpers jenen Streit zwischen der physikalischen Schwere und den seelischen Gegenimpulsen, der jede unserer Bewegungen färbt.

Oder richtiger: die Arbeit bleibt doch in den Grenzen des menschlichen Leibes; sie ist nur eine besondere Akzentuierung der physikalischen Widerstände, die unsere seelischen und physiologischen Tendenzen an der Härte, der Schwere, der Unbiegsamkeit unserer Materie finden. Erst die Meunierschen Bronzen erzählen in der Sprache der Kunst, was Arbeit ist, indem sie die allgemeingültige Formel für das Verhältnis offenbaren, in das gerade der arbeitende Mensch die Kräfte der blossen Materie zu den sich dagegen aufringenden Willensmächten setzt.

Die Plastik besitzt, um das Schweremoment und seine Gegenkraft empfinden zu lassen, den Vorteil des Materials, das selbst schwer ist, und dessen Lasten wir fühlen, wie wir das Gewicht des Gebälkes und die Strebekraft der Säule gleichsam innerlich nachbilden und so die Angemessenheit beider Kräfte durch ein unmittelbares Gefühl - als ob sie in uns ihren Antagonismus austrugen - entscheiden.

Der Marmor hat in dieser Richtung ganz unvergleichliche Eigenschaften, indem seine Weisse und sein Schimmern die Schwere des Steines erleichtern und vergeistigen.

Er hat etwas Objektives, wie der Raum, er ist sozusagen der blosse Raum als Körper, so dass die Plastik als Gestaltung des Raumes an ihm das biegsamste, jedem Verhältnis der Formen und Kräfte nachgiebigste Material findet; während bei dem Holz, dem Porzellan, der Bronze schon besondere, dem Stoffe eigene Schwereverhältnisse stark präjudizierend wirken.

So sind lebensgrosse Bronzefiguren nur unter besonderen Umständen ästhetisch möglich, weil die ungeheure Schwere, mit der wir sie empfinden, kaum durch irgend eine innere Kraft und Lebendigkeit zu überwinden ist; wogegen zum Beispiel Porzellanfiguren sehr leicht den Eindruck des Barocken machen, weil ihre Bewegtheiten gegenüber der Leichtigkeit des Materials, an dem sie so wenig zu überwinden haben, fast immer zu übertreiben und Kraft ins Leere zu verschwenden scheinen.

Der Gegensatz von Anmut und Würde innerhalb des Anschaulichen geht, wenn ich mich nicht täusche, gleichfalls auf die Verschiedenheit der Verhältnisse zurück, in die sich die seelischen und nervösen Energien zu dem Druck der Materie setzen.

In beiden Daseinsformen wird die materielle Lastung an den Erscheinungen durch beseelte Bewegungen überwunden. Der Anmut gelingt dies, indem sie jenen Widerstand des Stoffes von vornherein herabzusetzen scheint; sie steigert nicht die Kraft, sondern verringert die Ansprüche an sie so, dass die Bewegung sich wie widerstandslos vollzieht, als gäbe es überhaupt nur Freiheit der Seele, für die alle Hemmungen von aussen her gerade nur da sind, um ihr ein Spiel zu sein. Umgekehrt erreicht die anschauliche Würde dasselbe Gleichgewicht zwischen der seelisch-physiologischen Leistung und ihren Widerständen, indem sie diesen zwar ihr volles Gewicht lässt, aber jene zu vollkommenem Hinausragen erhöht.

Der Feind ist nicht, wie die Anmut ihn erscheinen lässt, nur eine leise, wie schon durch sich selbst vernichtigte Andeutung eines Widerstandes; die Würde lässt die beschwerenden, nach unten strebenden Kräfte der Erscheinung ungeschmälert wirken, ja sie betont sie sogar, um nun erst darüber hinwegzugreifen und den Triumph der seelischen Kraft an der Stärke des überwundenen Gegners fühlen zu lassen.

Es gibt eine genau entsprechende Zweiheit im sittlichen Leben.

Wir bezeichnen dessen höchste Stufe als sittliches »Verdienst« - als eine Handlung, die alle Versuchungen der Sinnlichkeit, alle Widerstände des Egoismus in harten Kämpfen überwunden hat und die äusserste Stärke des Pflichtgefühles an der äussersten Stärke des Willens zur Sünde bewährt.

Die »schöne Seele« dagegen ist sittlich, weil ihre Sittlichkeit aus der Selbstverständlichkeit des Naturtriebes quillt; sie hat keine Versuchungen zu überwinden, weil sie die Tugend geniesst, wie der Andere, der erst überwinden muss, die Sünde geniessen würde. Sie ist von selbst sittlich, weil ihr die Gegenkräfte fehlen, die sie in das Böse hinabzögen.

Ihr ist die sittliche Anmut eigen, da ja auch die Anmut der Anschauung nichts anderes ist als jene Selbstverständlichkeit des Sieges, den die Freiheit der Seele über die dunkle Schwere der blossen Materie an uns gewinnt - oder richtiger gar nicht erst zu gewinnen braucht. jener tieferen und schwereren Seele aber, die erst über die bitterste Selbstüberwindung, über alle Dunkelheiten der Versuchung und der Allzuirdischkeit hinweg ihr Ich und ihre Freiheit rettet, - ihr ist die Würde eigen, die nicht über die Schwäche, sondern über die Stärke der niederziehenden Kräfte gesiegt hat.

So enthüllt sich der Widerstreit der beiden Energien, den ich zu skizzieren versuchte, als die ästhetische Form des grossen Kampfes zwischen der menschlichen Seele und den Mächten der blossen Natur, dessen Masse und Stadien, Siege und Kompromisse, Ablenkungen und Zuspitzungen der Geschichte des Menschen ihre Farben und ihre Werte geben.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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