Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Die ästhetische Bedeutung des Gesichts

ex: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur. 1. Jg. 2. Band (Heft 35 vom 1. Juni 1901), S. 280-284 (Hamburg).

Die unvergleichliche Rolle, die dem menschlichen Gesicht in dem Interessenkreis der bildenden Kunst zukommt, wird doch nur sehr allgemein und wie aus der Ferne dadurch bezeichnet, dass in seiner Form die Seele sich am deutlichsten ausdrückt.

Wir verlangen zu wissen, durch welche sinnlich wahrnehmbaren Bestimmtheiten ihm dieser Erfolg gelingt, und ob nicht, jenseits dieses Grundes, unmittelbare ästhetische Qualitäten des Gesichts seine Bedeutung für das Kunstwerk tragen.

Als die eigentliche Leistung des Geistes kann man bezeichnen, dass er die Vielheit der Weltelemente in sich zu Einheiten formt: das Nebeneinander der Dinge in Raum und Zeit führt er in die Einheit eines Bildes, eines Begriffes, eines Satzes zusammen. je enger die Teile eines Zusammenhanges auf einander hinweisen, je mehr lebendige Wechselwirkung ihr Ausser einander in gegenseitige Abhängigkeit überführt, desto geisterfüllter erscheint das Ganze.

Deshalb ist der Organismus mit der innigen Beziehung seiner Teile zu einander und ihrem Verschlungensein in der Einheit des Lebensprozesses die nächste Vorstufe des Geistes.

Innerhalb des menschlichen Körpers besitzt das Gesicht das äußerste Maß dieser inneren Einheit.

Das erste Symptom und der Beweis dafür ist, dass eine Veränderung, die, wirklich oder scheinbar, nur ein Element des Gesichts angeht, sofort seinen ganzen Charakter und Ausdruck modifiziert: ein Zucken der Lippe, ein Rümpfen der Nase, die Art des Blickens, ein Runzeln der Stirn.

Auch gibt es keinen irgendwie ästhetisch in sich geschlossenen Teil des Körpers, der durch eine Verunstaltung einer einzelnen Stelle so leicht als Ganzes ästhetisch ruiniert werden könnte.

Das eben bedeutet doch die Einheit aus und über dem Vielen, dass keinen Teil dieses ein Schicksal treffen kann, das nicht, wie durch die zusammenhaltende Wurzel des Ganzen hindurch, auch jeden anderen Teil träfe.

Die Hand, die von allen anderen Körperteilen noch am meisten Einheitlichkeit besitzt, kommt doch dem Gesicht nicht gleich: nicht nur weil der wunderbare Zusammenhang und die Zusammenwirksamkeit der Finger dennoch den einzelnen eine viel größere gegenseitige Unabhängigkeit in, ästhetischen Eindruck lässt, sondern auch weil die Hand immer auf die andere hinweist, gleichsam erst mit der anderen zusammen die Idee der Hand erfüllt.

Die Einheit des Gesichts in sich wird durch das Aufsitzen des Kopfes auf dem Halse verstärkt, das ihm dem Körper gegenüber eine halbinselartige Stellung gibt und ihn gleichsam auf sich allein anweist; im gleichen Sinne wirkt ersichtlich die Verhüllung des Körpers bis zum Halse hinauf.

Nun hat eine Einheit immer erst in dem Maße Sinn und Bedeutung, in dem sie eine Vielheit sich gegenüber hat, in deren Zusammenfassung sie eben besteht. Es gibt aber innerhalb der anschaulichen Welt kein Gebilde, das eine so große Mannigfaltigkeit an Formen und Flächen in eine so unbedingte Einheit des Sinnes zusammenfließen ließe, wie das menschliche Gesicht.

Das Ideal menschlichen Zusammenwirkens: dass die äußerste Individualisierung der Elemente in eine äußerste Einheit eingehe, die, aus den Elementen freilich bestehend, dennoch jenseits jedes einzelnen von ihnen und nur in ihrem Zusammenwirken liegt - diese fundamentalste Formel des Lebens hat im Menschenantlitz ihre vollendetste Wirklichkeit innerhalb des Anschaulichen gewonnen.

Und wie man als den Geist einer Gesellschaft eben den Inhalt solcher Wechselwirkung bezeichnet, die über den Einzelnen, aber doch nicht über die Einzelnen hinausreicht, mehr als die Summe dieser, aber doch ihr Produkt - so ist die Seele, die hinter den Gesichtszügen und doch in ihnen anschaubar wohnt, eben die Wechselwirkung, das Aufeinanderhinweisen der einzelnen Züge.

Rein formal angesehen, wäre das Gesicht mit jener Vielheit und Buntheit seiner Bestandteile, Formen und Farben eigentlich etwas ganz Abstruses und ästhetisch Unerträgliches, wenn diese Mannigfaltigkeit nicht zugleich jene vollkommene Einheit wäre.

Um diese nun ästhetisch wirksam und genießbar zu machen, ist wesentlich, dass der räumliche Zusammenhang der Elemente des Gesichts nur in sehr engen Grenzen verschiebbar ist. jede Einzelgestaltung bedarf zum ästhetischen Effekt des Zusammennehmens, Zusammenhaltens ihrer Teile; alles Abspreizen und Auseinandersperren der Gliedmaßen ist hässlich, weil es die Verbindung mit dem Zentrum der Erscheinung, also die anschauliche Herrschaft des Geistes über den Umkreis unseres Wesens unterbricht oder abschwächt.

Die weit ausladenden Gebärden der Barockfiguren, bei denen die Glieder in Gefahr des Abbrechens scheinen, sind deshalb so widrig, weil sie das eigentlich Menschliche: das unbedingte Befasstsein jeder Einzelheit unter die Macht des zentralen Ich, desavouieren.

Das Gefüge des Gesichts macht solche Zentrifugalität, d. h. Entgeistigung, von vornherein fast unmöglich.

Wo sie einigermaßen stattfindet, beim Aufsperren des Mundes und dem Aufreißen der Augen, ist sie nicht nur ganz besonders unästhetisch, sondern gerade diese beiden Bewegungen sind, wie nun begreiflich ist, der Ausdruck des »Entgeistertseins«, der seelischen Lähmung, des momentanen Verlustes der geistigen Herrschaft über uns selbst.

Ebenso verstärkt es den Eindruck der Geistigkeit, dass das Gesicht weniger als die übrigen Gliedmaßen den Einfluss der Schwere zeigt.

Die menschliche Erscheinung ist der Schauplatz, auf dem seelisch-physiologische Impulse mit der physikalischen Schwere ringen, und die Arten, diesen Kampf zu führen und in jedem Augenblick neu zu entscheiden, ist für den Stil bestimmend, in dem der Einzelne und die Typen sich darstellen.

Indem dieses bloß körperliche Lasten innerhalb des Gesichts überhaupt nicht bemerklich überwunden zu werden braucht, verstärkt sich die Geistigkeit seines Eindrucks.

Auch hier sind die Andeutungen des Gegenteils: die geschlossenen Augen, der auf die Brust sinkende Kopf, die hängenden Lippen, die schlaffe, nur noch der Schwere folgende Muskulatur - zugleich die Symptome herabgesetzten geistigen Lebens.

Nun ist aber der Mensch nicht nur Träger des Geistes, wie ein Buch, in dem sich geistige Inhalte wie in einem an sich indifferenten Gefäß zusammenfinden: sondern seine Geistigkeit hat die Form der Individualität.

Dass wir das Gesicht als das Symbol nicht nur des Geistes, sondern seiner als einer unverwechselbaren Persönlichkeit empfinden, das ist durch die Verhüllung des Leibes, und also besonders seit dem Christentum, außerordentlich begünstigt worden.

Das Gesicht war der Erbe des Leibes, der in dem Maß, in dem Unbekleidetheit herrscht, sicher an dem Ausdruck der Individualität teil hat.

Allein seine Fähigkeit in dieser Hinsicht weicht von der des Gesichts doch wohl in folgendem ab.

Zunächst unterscheiden sich die Körper für das dafür geschärfte Auge zwar ebenso wie die Gesichter; allein sie deuten diese Verschiedenheit nicht, wie es das Antlitz tut.

Freilich ist die bestimmte geistige Persönlichkeit mit dem bestimmten unverwechselbaren Leibe verbunden, an ihm jederzeit zu identifizieren; allein was es für eine Persönlichkeit ist, das kann unter keinen Umständen er, sondern nur ihr Antlitz erzählen.

Und ferner: der Körper kann seelische Vorgänge allerdings durch seine Bewegungen ausdrücken, vielleicht ebenso gut wie das Gesicht.

Allein nur in diesem gerinnen sie zu festen, die Seele ein für allemal offenbarenden Gestaltungen.

Die fließende Schönheit, die wir Anmut nennen, muss sich in der Bewegung der Hand, in der Neigung des Oberkörpers, in der Leichtigkeit des Schrittes jedes Mal von neuem erzeugen, sie hinterlässt keine dauernde, die individuelle Bewegung in sich kristallisierende Form.

Im Gesicht aber prägen die Erregungen, die für das Individuum typisch sind. Hass oder Ängstlichkeit, sanftmütiges Lächeln oder unruhiges Erspähen des Vorteils und unzählige andere -bleibende Züge aus, der Ausdruck in der Bewegung lagert sich nur hier als Ausdruck des bleibenden Charakters ab.

Durch diese eigentümliche Bildsamkeit wird allein das Gesicht gleichsam zum geometrischen Ort der inneren Persönlichkeit, soweit sie anschaubar ist, und auch insofern ist das Christentum, dessen Verhüllungstendenzen die Erscheinung des Menschen durch sein Gesicht allein vertreten ließen, zur Schule des Individualitätsbewusstseins geworden.

Neben diesen formalen Mitteln, die Individualität ästhetisch darzustellen, besitzt das Gesicht andere, die ihm im Sinne des entgegengesetzten Prinzips dienen.

Indem das Gesicht aus zwei untereinander gleichen Hälften besteht, kommt ein Moment innerer Ruhe und Ausgeglichenheit hinein, das die Erregtheit und Zuspitzung rein individueller Gestaltung mildert.

Jede Hälfte ist für die andere - gerade weil sie durch die verschiedene Profilierung und Beleuchtung sich nicht ganz gleich darzustellen pflegen - Vorbereitung oder Abklingen, die Unvergleichbarkeit der individuellen Züge findet ihr Gegenstück, ihre Balancierung in der unbedingten Vergleichbarkeit jener Zweiheit.

Wie alle Symmetrie, ist auch die der Gesichtszüge an sich eine anti-individualistische Form.

Indem in dem symmetrischen Gebilde jeder Teil wechselseitig aus dem anderen erschließbar ist, weisen sie auf ein höheres, beide gemeinsam beherrschendes Prinzip hin: zu symmetrischer Gestaltung strebt der Rationalismus auf allen Gebieten, während die Individualität immer etwas Irrationales, jedem vorbestimmenden Prinzip sich Entziehendes hat.

Deshalb ist die Plastik, die die Gesichtshälften symmetrisch bildet, auf einen mehr generellen, typischen, der letzten individuellen Differenzierung sich entziehenden Stil angewiesen, während die Malerei durch die Verschiedenheit in der unmittelbaren Erscheinung der Gesichtshälften - wie die Profilstellungen und die Licht- und Schattenverhältnisse sie gestatten - von vornherein ihr individualistischeres Wesen zeigt.

Das Gesicht ist die merkwürdigste ästhetische Synthese der formalen Prinzipien der Symmetrie und der Individualisierung: als Ganzes die letztere verwirklichend, tut es dies in der Form der ersteren, die die Beziehungen seiner Teile beherrscht.

Endlich gibt noch das folgende formale, schon oben berührte Verhältnis dem Gesichte seinen ästhetischen Rang.

Bei allen Objekten, die entweder in sich wandelbar sind oder in vielen einander ähnlichen Exemplaren vorkommen, entscheidet es viel von ihrem ästhetischen Charakter, wie umfassend eine Änderung ihrer Teile sein muss, damit eine Änderung ihres Gesamteindrucks resultiere.

Es gibt auch hier eine Art Ideal der Kraftersparnis: ein Gegenstand wird prinzipiell um so mehr ästhetisch wirksam oder verwendbar sein, je lebhafter er als Ganzer auf die Modifikation eines kleinsten Elementes reagiert.

Denn dies zeigt die Feinheit und Stärke im Zusammenhang seiner Teile, seine innere Logik, die gleichsam aus jeder Verschiebung in einer Prämisse unausweichlich eine solche des Schlusssatzes folgen lässt.

Wenn die ästhetische Betrachtung und Gestaltung die Gleichgültigkeit der Dinge aufhebt, die ihrem bloß theoretischen Existenzbild eigen ist, so werden solche Objekte ihr am weitesten entgegenkommen, in denen die gegenseitige Gleichgültigkeit ihrer Elemente ganz aufgehoben ist und jedes Schicksal jedes Einzelnen die Gesamtheit der Anderen bestimmt.

Tatsächlich löst das Gesicht am vollständigsten die Aufgabe, mit einem Minimum von Veränderung im Einzelnen ein Maximum von Veränderung des Gesamtausdruckes zu erzeugen.

Für das Problem aller Kunst: die Formelemente der Dinge durch einander verständlich zu machen, das Anschauliche durch seinen Zusammenhang mit dem Anschaulichen zu interpretieren - erscheint nichts prädestinierter als das Gesicht, in dem die Bestimmtheit jedes Zuges mit der Bestimmtheit jedes anderen, d. h. des Ganzen, solidarisch ist.

Ursache und Folge hiervon ist die ungeheure Beweglichkeit des Gesichts, die ja, absolut genommen, nur über sehr geringfügige Lageverschiebungen verfügt, aber durch den Einfluss jeder einzelnen auf den Gesamthabitus des Gesichts gleichsam den Eindruck potenzierter Veränderungen erregt.

Es ist, als wäre ein Maximum von Bewegungen auch in seinem Ruhezustand investiert, oder als wäre dieses der unausgedehnte Moment, auf den unzählige Bewegungen hinzielten, von dem unzählige ausgehen werden.

Den Gipfel dieses äußersten Bewegungsaffektes bei geringster eigener Bewegung erreicht das Auge.

Für das malerische Kunstwerk im besonderen wirkt das Auge nicht nur in der durch seine latente Beweglichkeit vermittelten Beziehung zu der Gesamtheit der Züge, sondern auch in der Bedeutung, die der Blick der dargestellten Personen für die Interpretation und Gliederung des Raumes innerhalb des Bildes hat.

Es gibt nichts, was, so unbedingt an seinem Platz verweilend, sich so über ihn hinauszuerstrecken scheint, wie das Auge: es bohrt sich ein, es flieht zurück, es umkreist einen Raum, es irrt umher, es greift wie hinter den begehrten Gegenstand und zieht ihn an sich.

Es bedürfte besonderer Untersuchung, wie die Künstler die Richtung, die Intensität, die ganze Formbestimmtheit des Blickes verwenden, um den Raum des Bildes einzuteilen und verständlich zu machen.

Während sich im Auge die Leistung des Gesichts, die Seele zu spiegeln, aufgipfelt, vollbringt es so zugleich die feinste, rein formale Leistung in dem Deuten der bloßen Erscheinung, das von keinem Zurückgehen auf die unanschauliche Geistigkeit hinter der Erscheinung wissen darf.

Aber eben damit gibt es, wie das Gesicht überhaupt, die Ahnung, ja das Pfand dafür, dass die vollendet gelösten künstlerischen Probleme der reinen Anschaulichkeit, des reinen sinnlichen Bildes der Dinge zugleich die Lösung der anderen bedeuten, die sich zwischen der Seele und der Erscheinung, als der Verhüllung und der Enthüllung jener, spannen.


 

Editorial:

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