Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Zu einer Theorie des Pessimismus

ex: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. 22. Bd. 1900, Nr. 277 vom 20. 1., S. 38-40.

I. Der Pessimismus als Übergangserscheinung

Die natürliche Zweckmässigkeit sorgt dafür, dass das Menschengeschlecht im grossen und ganzen optimistisch gestimmt ist, das heisst, so fühlt und handelt, als ob die Schmerzen des Daseins, gegen seine Freuden aufgerechnet, diesen den Überschuss liessen; denn das Gegenteil würde die Energien zur Erhaltung und Förderung des Lebens unterbinden. 

Gewiss hat es jederzeit auch Menschen dieser entgegengesetzten Überzeugung gegeben; allein entweder haben sie dann den Wert des Lebens auf einer andern Basis als an der Abwägung von Lust und Leid gewonnen, oder ihr Handeln hat nicht die logisch notwendigen Schlüsse aus ihren Theorien gezogen. 

Andernfalls sind sie nur als vereinzelte Erscheinungen in einer anders gearteten Umgebung denkbar; nur eine solche kann ihnen, durch Zwang wie durch Darbietungen, die weitere Existenz ermöglichen, die ihnen ihre Überzeugungen, ihrer eigenen Konsequenz überlassen, schon in äusserlicher Hinsicht abgeschnitten hätten. 

Wo wirklich grössere Kreise einem ernsthaften Pessimismus ergeben sind, wie es in Indien der Fall war, da ist eine Lähmung aller praktischen Kräfte und ein allmählicher Verfall des Lebens unvermeidlich. 

Die Lebenstendenz also, die sich theoretisch als Optimismus darbietet, muss als eine Waffe im Kampf ums Dasein, als ein Vorzug der so Ausgestatteten vor den pessimistisch Gestimmten herangezüchtet werden; vielleicht, dass die Errungenschaften, die den Juden unter so schwierigen Umständen innerhalb der germanischen Völker gelingen, ihrem unverwüstlichen Optimismus zu danken sind, wobei es ganz ununtersucht bleibt, ob diese Anschauungsweise die Wirklichkeit des Daseins richtiger nachzeichnet als die entgegengesetzte oder vielleicht nur zu den zweckmässigen Irrtümern gehört; und ob sie statt der Ursache nicht vielleicht nur die Folge oder das Feldzeichen der kräftigeren und sieghafteren Lebensantriebe ist. 

Je bewusster die steigende Kultur unsere inneren Vorgänge macht, desto mehr muss die blosse Tatsache einer solchen Lebensdirektive sich als eine verstandesmässige Weltanschauung darstellen. 

So finden wir bis in dieses Jahrhundert hinein die grossen Weltanschauungen optimistisch gefärbt. Denn wenn auch die Metaphysiker von tiefer Verachtung für alles empirische Dasein erfüllt sind, wenn auch dem Christentum die Welt ein Jammertal ist, wenn auch Kant den Wert des Lebens, an seiner Glückseligkeit gemessen, unter Null sinken lässt - so ermangeln doch alle diese Weltsysteme nicht des „versöhnlichen Schlusses", irgendwo wird in der dies- oder jenseitigen Ordnung der Dinge die Provinz aufgefunden, in der der Sieg des Lebenswertes über alle negativen Instanzen ein definitiver ist.

Solcher Optimismus mag so objektiv und umfassend ausgestaltet sein wie er will, sein Fundament bleibt doch immer die verstandes- oder gefühlsmässige Überzeugung, dass der Mensch das Zentrum, die eigentliche Bedeutung, der Endzweck der Schöpfung überhaupt sei. 

Die Welt muss irgendwie darauf angelegt sein, dem Menschen die Erfüllung seiner tiefsten Sehnsüchte zu gewähren, in dieser Erfüllung muss ihr eigentlicher Sinn liegen, wenn der Optimismus wirklich sicher und prinzipiell gegründet sein will. 

Das subjektive Streben des Einzelnen, den Mechanismus, die Zufälligkeit, das Material seines Daseins zu einer positiven Wertbilanz zu gestalten, wächst im Optimismus zu einem gleichgestalteten Bilde des Seins überhaupt auf und glaubt erst in diesem Wachstum über seinen eigenen Umfang hinaus seine sachliche Rechtfertigung und Erfüllungsgewähr zu gewinnen. 

Den ersten unverschmerzbaren Schlag erhielt dieser anthropozentrische Bau der Welt durch die Entdeckung des Kopernikus. 

Hier war nun eine zwar bloss äussere, aber doch auch für das Innere bedeutsamste Tatsache erwiesen, die die Abzweckung des Weltbaus auf den Menschen höchst fraglich machte. 

Und nun folgte die dichtgedrängte Reihe der Erkenntnisse, die die Ausnahmestellung des Menschen immer gründlicher beseitigten, die Wiedererkennung physikalischer und chemischer Ereignisse in seinen Körpervorgängen, die Deutung des Seelenlebens als eines Organismus, die Einordnung des Menschen in die von den niedrigsten aufsteigende Reihe der Organismen.

Die Formel, in deren allbeherrschende Gültigkeit diese geistige Entwicklung mündet, ist: Gleichheit vor dem Naturgesetz für alle Erscheinungen, also auch für den Menschen, Verneinung jener besonderen Rücksicht der Welteinrichtung auf sein Wohl, ohne die es keine optimistische Theorie gibt, Einsicht in den völligen Mangel eines prinzipiellen Zusammenhanges zwischen den menschlichen Wünschen und den Mächten, die sie gewähren oder verweigern. 

Unsere Glücksbegehrungen, unsere Wertgefühle bilden eine Reihe, die zu der Reihe des wirklichen Geschehens ein durchaus unstetiges Verhältnis hat; so konsequent und notwendig sich jede von beiden in sich entwickle, so ist doch das Verhältnis zwischen beiden ein rein zufälliges. 

Mit derselben gleichgültigen Gesetzmässigkeit, mit der die Wirklichkeit uns die höchste Seligkeit gewährt, bereitet sie uns das tiefste Leid. 

So wenig die Würfel immer das uns erwünschte Resultat zeigen, sich demselben aber auch nicht prinzipiell entziehen, und diese scheinbare Launenhaftigkeit gerade der bloss naturgesetzlichen Bestimmtheit jedes Wurfes entstammt: so wenig ist die Natur auf eine durchgängige Harmonie oder durchgängige Disharmonie mit unseren Bedürfnissen nach Lebenswerten angelegt.

Diese notwendige Konsequenz der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, die dem Optimismus seine wurzelnährenden Quellen abgräbt, ist indes dem Innenleben der Gegenwart keineswegs schon vollständig assimiliert. 

Die Widerstandslosigkeit, mit der logische Prämissen, der reinen Sachlichkeit ihres Inhalts gehorsam, ihre Schlussfolgerungen aus sich entlassen, setzt sich keineswegs in dem Prozess fort, in dem unsere Seele sich von diesem logisch Notwendigen wirklich durchdringen lässt.

Unser Gefühl vielmehr, nach gewissen Überzeugungen bestimmt und ihnen angepasst, pflegt in dieser Richtung und Tönung noch lange zu verharren, nachdem ihr theoretisches Fundament erschüttert oder ausgewechselt ist. 

Die wesentliche Stimmung unseres Fühlens und Wollens ist sehr viel konservativer, als der rücksichtslos vorschreitende Verstand. 

An allen möglichen Punkten macht es sich geltend, dass wir eine theoretische Weltsicht haben sich geltend, dass wir eine theoretische Weltansicht haben, an die wir mit der Gesamtheit unseres Wesens noch nicht angepasst sind; die grosse Umbildung unserer Gemütsinteressen, infolge deren sie an dem neuen Weltbild volle Befriedigung fänden, steht noch aus, und wir können uns heute vielleicht noch nicht einmal völlig ausdenken, wie eine Natur, aus der alle übermechanischen Zwecke, alle besondere Beziehung zum Menschen, alle innere Wärme und Beseeltheit, alle »Götter Griechenlands" verschwunden sind - wie sie den Bedürfnissen eines Gemütslebens überhaupt genügen soll.

Den Kräften des Bildens und Gebildetwerdens, die unsere Seele besitzt, dürfen wir das Gelingen dieser Anpassung und Einheit dennoch zutrauen; begreiflich aber ist, dass der Übergang aus jener subektivistisch-optimistischen Weltanschauung in die objektive, die zentrale Stellung des Menschen verneinende, sich auf dem Umweg über das jener entgegengesetzte Extrem, über den Pessimismus, vollzieht. Gegenüber dem optimistischen Glauben der anthropozentrischen Weltanschauung, deren Gefühlsseiten noch keineswegs zurückgebildet sind, muss man von der mechanistischen, rein natürlichen Ordnung der Dinge zunächst nur das Nein hören: der entthronte König, der jetzt allen anderen Bürgern koordiniert ist, wird vor allen Dingen nur seinen Verlust empfinden, und die Rechtsgleichheit mit jenen wird ihm als das grösste, ihm geschehene Unrecht erscheinen. 

Ja, der teuflische, auf das Leiden angelegte Charakter der Welt, wie der Pessimismus ihn lehrt, ist dem Optimismus noch verwandter, als dem naturwissenschaftlichen Prinzip. 

Denn immerhin liegt auch in ihm ein auf Werte und Gefühlsansprüche eingestellter Sinn des Daseins - wenn auch nur, um diese zu verneinen; es ist die gleiche Form der Weltauffassung, nur mit entgegengesetztem Inhalt. 

Optimismus und Pessimismus stehen als subjektivistische Deutungen der naturalistischen gleichmässig, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, gegenüber. Der eine ist der Rückschlag, den die Zerstörung des anderen hervorrief, ein Pendeln in das entgegengesetzte Extrem, ehe der Indifferenzpunkt zwischen beiden erreicht ist, den die objektive, jenseits des positiven wie des negativen Sinnes des Daseins stehende Erkenntnis verlangte 

Der Pessimismus ist der begreifliche Durchgangspunkt von der Epoche, wo der Mensch die Welt seinem Bedürfnis nach Glück und Wert gemäss gestaltete, zu der Weltanschauung auf dem Grunde blosser Naturgesetzlichkeit, die zu unseren Wünschen und Idealen ein rein zufälliges Verhältnis hat; von Ihr freilich wissen wir noch nicht, welche Umbildung und Anpassung unserer Gemütsbedürfnisse sie bewirken wird, um dem Leben den Sinn und Wert zu erhalten, dem der Optimismus einen illusionären kosmischen Untergrund gegeben hatte, und den der Pessimismus durch die Zerstörung dieses letzteren in sein Gegenteil verkehrt glaubte.

 

II. Das Grausamkeitsmoment im Pessimismus

Wenn sich in der pessimistischen Beurteilung des allgemeinen Daseins die Gefühlsstimmung des Pessimisten adäquat ausspricht, wenn die Spannung seines Verhältnisses zur Welt sich damit löst, so erweist dies eine sublime Grausamkeitslust; und zwar sowohl in der zergliedernden Einsicht in das Leiden der Welt, dessen immer schärferes Bewusstsein die pessimistische Tendenz immer vollständiger befriedigt, wie in dem eigenen Zerstören des Wertes der Wirklichkeit, indem man dessen flüchtigen und betrügerischen Charakter durchschaut: denn offenbar ist diese Herabsetzung und Entwürdigung der Dinge nur eine vergeistigte Form der Zerstörung ihrer Realität. Schliesslich würde doch auch die tätliche Ruinierung und Vernichtung keine Befriedigung der Zerstörungslust enthalten, sondern etwas völlig Gleichgültiges sein, wenn das jetzt Zerstörte nicht bis dahin als wertvoll und irgendwie bedeutsam empfunden wäre; was sie zu zerstören sucht, sind eigentlich nicht die Dinge, die in ihrem blossen Ausser - uns ganz jenseits unseres Interesses stehen, sondern die Wertgefühle, die menschliche Seelen mit ihrem Dasein verbinden. 

Diese will die destruktive Grausamkeitslust treffen und trifft sie nicht weniger tief, wenn sie die Nichtigkeit, die Kontraidealität, die fundamentale Enttäuschung aufzeigt, die allem, was wir erstreben und lieben, anhaftet.

Die Zerstörungslust, in welcher von beiden Formen sie sich äussere, ist ein sehr merkwürdiges psychologisches Problem. Man versteht sie vielleicht am besten in der Einordnung in jene freilich auch nur bildlich zu bezeichnende Kategorie: als Erweiterung des Ich. 

Der Zerstörende fühlt sich als Herrscher über den Schaffenden, der Verneinende über den Bejahenden, der Entwertende über den Besitzenden. 

Das Ich, das die positiven Werte zerstört, schlürft gleichsam deren Extrakt in sich ein, es bemächtigt sich ihrer Bedeutung, dehnt seine Willenssphäre über sie aus. Nachdem in Lenaus »Faust« Mephisto sein Programm der allmählichen Zerstörung Fausts entworfen hat, schliesst er:

„So wird mein Schmerz am Göttlichen sich rächen,
So will Verstossener ich mein Leiden kühlen,
verderbend mich als Gegenschöpfer fühlen."

Eine Anzahl der römischen Kaiser, Sublimierungen einer äusserst pessimistischen Epoche, zeigen die unmittelbare Einheit eines pathologisch ausgearteten Triebes zur Zerstörung mit einem ebensolchen zum Schaffen, Bauen, Wirken; sie zeigen, wie eng die äusserste Grausamkeitslust mit einem ebenso gesteigerten Ichgefühl verknüpft ist. 

Dieser Zusammenhang der Grausamkeit mit der Erweiterung des Ich zeigt übrigens, dass die Leidenschaft, zu herrschen und zu tyrannisieren, keineswegs ein so unbedingtes Kennzeichen vornehmer Naturen ist, wie man es häufig - insbesondere durch die Vieldeutigkeit der „Herrennatur", verführt - voraussetzt. 

Denn sie beweist, dass man sich selbst nicht genügt, dass einem das eigene Ich nicht gross genug ist; sie kann gemein sein, wie alle Habsucht. 

Der Trieb, die Sphäre zu vergrössern, die wir mit unserm Ich und seiner Kraft erfüllen, kann ebenso in einem gross angelegten, wie in einem erbärmlich kleinen Ich wohnen. 

Ist man sich erst darüber klar, dass das pessimistische Verneinen aller Werte nichts anderes zu sein braucht, als die theoretische Form des praktischen Zerstörens und Raubens derselben, so wird man in der Grausamkeitswollust, die sich ihrerseits auf jenes Extensitätsstreben des Ich gründet, eine der psychologischen Wurzeln des Pessimismus erkennen. 

Die Bibel des Sadismus, die „Justine", des Marquis de Sade, baut ihre Schilderungen der ins Wahnsinnige ausgearteten Grausamkeit auf einer Grundlage des äussersten Pessimismus auf; sie lehrt, dass ausschliesslich dem Laster und dem Verbrechen die Welt mit all ihrem Glück gehört, und dass der Tugendhafte niemals anderes als Malträtierung, Misserfolge und Elend zu erwarten habe.

Es gehört nun zu den tiefsten Rätseln des Seelenlebens, dass die Lust am Leiden anderer sich auf das eigene Ich zurückwendet - als ob dieses sich selbst gegenüberträte wie einem Du, und am eigenen Leide, mag die Welt es ihm bereiten oder mag es einem physischen oder psychischen Flagellantismus entfliessen, eine Befriedigung empfindet, die sich bis zu unbändiger Wollust steigern kann. 

Zwischen dieser und jener Tatsache, die einander zunächst auszuschliessen scheinen, vermittelt das oft Übersehene: dass das Leid des Anderen überhaupt keinerlei Gefühlsreaktion in einer Seele auslösen könnte, wenn diese es nicht in irgend einem Mass und einer Art selbst fühlte! 

Was wir unmittelbar wahrnehmen, sind doch niemals die Schmerzen jemandes, sondern immer nur Laute und Bewegungen, aus denen seine Gefühle erst erschlossen werden müssen; wie aber sollte das anders möglich sein, als dass aus dem Reservoir unserer eigenen Gefühle etwas anklänge, was wir nun in jenen hineinverlegen? 

Wie das des Näheren geschieht, wissen wir nicht; dass es geschieht, ist die Bedingung, unter der allein ein schmerzfühlender Mensch uns etwas anderes ist, als ein sich verzerrender und schreiender Automat. 

Nur ein eigenes Fühlen, wie umgebildet und umgestimmt auch immer, kann uns das an sich unwahrnehmbare Fühlen des Anderen interpretieren. 

So ist zwischen den Lustreflexen, die das Leid des Du und die das Leid des Ich in uns hervorrufen, vielleicht nur ein Unterschied des Grades, der Form, der Distanz; wodurch nicht nur die Existenz beider überhaupt, sondern auch die scheinbar widerspruchsvolle Tatsache verständlich wird, dass beide Empfindungsweisen sich oft in einer und derselben Persönlichkeit gleichzeitig stark ausbilden. 

Die überreizten und erschlafften Nerven, die nach der Misshandlung Anderer dürsten, finden oft im eigenen Misshandeltwerden ihre letzte Aufregungsmöglichkeit und bedürfen der Gewalttätigkeit solchen Eingriffes, um überhaupt ihr Leben zu fühlen. 

In einem Roman de Sades wird der Novize einer Verbrechergesellschaft ein förmlicher Katechismus abgefragt, und darunter: comment pensez-vous sur le fouet? worauf sie antwortet: j‘aime à le donner et à le recevoir. 

Wie solche Naturen die Spannung zwischen dem Ich und dem Du dadurch auf den Gipfel treiben, dass der Schmerz des Einen zur Freude des Andern wird, und nun das Ich gleichsam um diese Ausdehnung erweitern, indem das Du so erst ganz dessen Macht und Willkür unterworfen ist, so wiederholt sich dieser Prozess innerhalb der eigenen Seele: denn wie sie ihre äusserste Erhebung nach der Seite des Sittlichen dadurch erhält, dass ihre dahin gerichtete Kraft über alle inneren Hemmnisse und Schmerzen triumphiert, so scheint sie vielfach sich ihres sensationalen Vermögens am gewaltigsten an der Spannung zwischen einem Leide und einem an eben dieses Leid geknüpften Wollustgefühl bewusst zu werden.

Diese Lust am eigenen Leide, auf den Expansionstrieb des Ich zurückgehend, malt sich nun leicht ersichtlicher Weise eine pessimistische Weltanschauung als Hintergrund. 

Den ganzen Komplex der so zustande gekommenen Stimmungen kann man als »Weltschmerz« bezeichnen; wobei die ironische Färbung, die diesem Ausdruck jetzt anhaftet, die Unverhältnismässigkeit des rein subjektiven Motivs zu den weltumfassenden Behauptungen, zu denen es auswächst, treffend charakterisiert. 

Das Schwelgen in den eignen Schmerzen, das wollüstige Sichverbohren in jeden Kummer, die Sucht, von seinen Missgeschicken vor sich selbst und anderen möglichst viel »herzumachen«, äussert sich durchgehende zugleich in den Formen und im Zusammenhange einer pessimistischen Allgemeinanschauung. 

Der Mangel an Aktivität, der jedem prinzipiellen Pessimismus eigen ist - denn alle energische Betätigung ruht, um nicht sinnlos zu sein, auf einer mehr oder weniger optimistischen Basis - entspricht ganz dieser pessimistischen Freude am subjektiven Leide. 

Beides, sowohl die pessimistischen Sentenzen wie die Miene des Dulders pflegen ein Interesse an der Persönlichkeit, einen scheuen Respekt vor ihrer Bedeutsamkeit und Tiefe zu erzeugen, die den entgegengesetzten Erscheinungen erst bei unvergleichlich grösserer Erheblichkeit zuteil werden. 

Es ist sehr merkwürdig, zu wie viel unkeuscher Arroganz gerade das Leiden - nicht nur das eingebildete, sondern auch das wirkliche - verführt. 

Nicht viele sind so selbstbewusst, zu glauben: so etwas leistet doch kein anderer! Aber viele sind so anmassend, zu glauben und auszusprechen: so etwas leidet doch kein anderer! 

Da dies Gefühl nun in einen allgemeinen Pessimismus auszustrahlen pflegt und auch erst an ihm seine Intensität und Absolutheit rechtfertigen kann, so zeigt sich derselbe auch durch diese Vermittlung hindurch von dem Bedürfnis getragen, der Sphäre des Ich nach aussen wie nach innen, mit legalen wie mit illegalen Mitteln, einen grösseren Umfang zu gewinnen; er stellt sich als einer der vielen wunderlichen Umwege dar, die die Stimmung der Zeit für die Befriedigung dieses Bedürfnisses darbietet, mit deren Subjektivität und Verwerflichkeit aber die sachliche Wahrheit seines Inhaltes völlig zusammenbestehen könnte.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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