Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Was ist uns Kant?

ex: Vossische Zeitung (Berlin) Sonntagsbeilagen Nr. 31-33 vom 2.8., 9.8. und 16.8. 1896.

I

Wer aus den Gedankenkreisen der Praxis oder der Erfahrungswissenschaften zum ersten Male an die Geschichte der Philosophie herantritt, wird unausbleiblich einem hin- und herschwankenden Gefühle unterliegen: der äußersten Verwunderung über diese abstrusen, widerspruchsvollen, jedem unmittelbaren Eindruck der Wirklichkeit ins Gesicht schlagenden Phantasmen - und dem an dieser kräftigen Repulsion wieder irre machenden Gedanken, so ganz töricht könne Philosophie doch nicht sein, wenn man nicht an dem gesunden Verstande ganzer Generationen zweifeln wolle, die den Philosophen Glauben und Verehrung entgegengebracht haben - ja, die Sinnlosigkeit der Philosophien sei schon deshalb nur mit Vorsicht zu behaupten, weil eine Reihe von Philosophen höchst bedeutsame Forschungen auf nicht-philosophischem Gebiete geleistet haben, ein Aristoteles, ein Hume, ein Leibniz, ein Kant; es ist doch schließlich unwahrscheinlich, daß Geister, die die Differentialrechnung erfunden und das Laplacesche Weltsystem original ersonnen haben, plötzlich, sowie sie zu philosophieren anfingen, in traumhafte Paradoxien verfallen wären.

Wenn philosophische Lehren dennoch diesen Eindruck machen - z. B. die Theorie, daß die Welt, die Materie inbegriffen, aus lauter Seelen bestände, die sich nur durch den Grad ihres Bewußtseins unterscheiden, oder daß es in Wirklichkeit gar keinen Unterschied zwischen den Dingen gäbe, sondern alles eines und dasselbe sei, oder daß der ganze Kosmos nur im menschlichen Gehirn existierte - so liegt dies an der üblichen Art, die allgemeine Geschichte der Philosophie zu erzählen, die nur die letzten Resultate der Denker, die äußersten Spitzen ihrer Lehren vorzutragen pflegt; diese freilich scheinen in einer so ungreifbaren Höhe zu schweben, als hätten sie jede Verbindung mit dem festen Boden der Wirklichkeit abgebrochen.

Schärfer als auf allen anderen Gebieten - mit Ausnahme des künstlerischen - zeigt es sich hier, daß in geistigen Dingen der Extrakt eine Verdünnung ist.

Sobald man auf die tieferen Denkmotive der Philosophen zurückgeht, so lassen sich die Punkte aufweisen, an denen ihr Denken, nachdem es eine Welle den Weg des gewöhnlichen Vorstellens verfolgt hat, allmählich von ihm abzuzweigen beginnt, erst in wenig merkbarem Winkel, bis die konsequente Verfolgung dieser Richtung sie weiter und weiter von der großen Heerstraße abführt; und so erst verstehen wir, wie sie zu jenen entferntesten Punkten vordringen konnten, die freilich in isolierter Mitteilung, aus dem Flusse psychologischer Entwicklung zu Dogmen kristallisiert, unbegreiflich oder unsinnig erscheinen.

Gerade erst, wenn wir die letzten und allgemeinsten Tendenzen der Denker aufdecken, werden sie uns am verständlichsten, weil wir gerade dies Allgemeinste am ehesten nachempfinden können.

Alles Verstehen ist inneres Nachbilden; und je tiefer wir einen Denkprozeß zurückverfolgen, desto näher rückt er an die gemeinsamen Wurzeln heran, in denen das Menschengeschlecht ursprünglich zusammenhängt und durch die hindurch jene Verbindungen stattfinden, die den einen nachfühlen, d. h. nachbilden lassen, was der andere doch nur in äußerlichen, an sich seelenlosen Zeichen offenbaren konnte.

Dem Versuche, die Philosophie Kants - soweit sie die Probleme des Erkennens und der Moral behandelt - so auf ihre Grundgesinnung zurückzuführen, sie als eine der Formen zu begreifen, in denen gewisse ewige Tendenzen des menschlichen Wesens ihren philosophischen Ausdruck gefunden haben - diesem Versuche begegnet die Schwierigkeit, daß in dieser Philosophie ganz verschieden gerichtete Hauptströme des Denkens sich mischen.

Ein kühnes Zerbrechen der Schematik und Formalistik früherer Weltanschauungen steht neben einem unüberwindlichen Hange zu systematischen Formen; was er eben in den lebendigen Fluß der Entwicklung hinabgezogen, läßt er gleich darauf zu festen Gebilden erstarren; bei aller Anerkenntnis des Sinnlichen in seiner Rolle für das Geistesleben rettet er alle Werte dieses in das Reich der reinen, sinnenfreien Vernunft.

So konnte es geschehen, daß Moses Mendelssohn ihn als den »alles Zermalmenden« fürchtete und Nietzsche ihn als »den großen Chinesen von Königsberg« verspottet.

Indem ich hier versuche, seine philosophische Leistung in ihren allgemeinsten Motiven darzustellen, werden die verschiedenen Strömungen in diesen sich auseinanderlegen und so die Bedeutung hervortreten lassen, die er noch heute für uns besitzt; nicht als ob man nun zwischen den Kantischen Gedanken die »ewige Wahrheit« auszuwählen hätte, sondern weil sie den Höhepunkt und klassischen Ausdruck von Tendenzen und intellektuellen Stimmungen bilden, die die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit durchziehen, und die, ganz abgesehen von jeder sachlichen Wahrheit, ihre Bedeutung in ihrer historischen Wirklichkeit besitzen.

Die philosophischen Behauptungen, die, über die empirischen Einzelheiten der Dinge hinweg, das absolute Ganze derselben erfassen wollen, bewegen sich in tödlichen Widersprüchen; ihre Beweise sind entweder leerer Schein oder lassen der gegenteiligen Behauptung die gleiche Beweisbarkeit übrig.

Diese Tatsache, zugleich mit der viel verwunderlicheren: daß all dieses Mißlingen der metaphysischen Versuche doch nicht von ihnen abschreckt - bildet den Ausgangspunkt Kants.

Er sieht den menschlichen Geist über die Unsicherheit des Erfahrungswissens hinausstreben, das heute widerrufen kann, was es gestern gelehrt hat; er sieht ihn auch wirklich in der Mathematik, in dem Gesetz der Kausalität, in den logischen Grundsätzen eine Gewißheit und Ausnahmslosigkeit erreichen, die bloße Erfahrung nie gewähren kann; weshalb sind uns nun doch jene anderen überempirischen Erkenntnisse versagt, über den innersten Kern der Natur und über Gott, über die Unsterblichkeit und über das Wesen der Seele?

So wird denn zur Beantwortung dieser Frage zum ersten Mal in der Geschichte des Denkens hier die Aufgabe gestellt, die gesamten Erkenntnismittel des Menschen zu untersuchen, um danach festzustellen, welche Gegenstände und welcher Sicherheitsgrad des Erkennens uns überhaupt zugängig sind - eine Aufgabe, ohne deren Lösung alles Spekulieren über die Dinge selbst so sinnlos ist wie das Arbeiten an einem Werk, ohne vorherige Prüfung der Werkzeuge, ob sie denn überhaupt die Form und Schärfe haben, die das geplante Werk verlangt.

Zwei hauptsächliche Theorien über das Wesen und die Tragweite des Erkennens findet Kant vor. Die eine, die sensualistische, behauptet: Nur die Erfahrung, d. h. der unmittelbare sinnliche Eindruck der Dinge gibt uns Wahrheit; was die reine, unsinnliche Vernunft lehrt, ist Traum und Phantasie.

Und die andere, die rationalistische: Was die Sinne lehren, ist Trug und Schein, nur in der sinnenfreien Vernunft ruhen die verläßlichen, ewigen Wahrheiten.

Dies sind die beiden großen, fundamentalen Tendenzen, die die Welt der Denker, und nicht nur die der Denker, von Beginn an spalten, die Grunddifferenz, auf die man die Gegensätze unzähliger Weltanschauungen zurückführen kann.

Die Entscheidung zwischen diesen Parteien, die das eigentliche Thema von Kants Hauptwerk ausmacht, legt durch die menschlichen Erkenntnisvermögen eine neue Grenzlinie, die in ihrer Originalität völlig einzig in der Geschichte der Philosophie dasteht.

Die Rationalisten haben ganz recht, sagt er; es gibt Erkenntnisse so allgemeiner und notwendiger Art, daß sie nicht aus der Erfahrung stammen können; allein sie dienen nur dem Zwecke der Erfahrung, sie sind die in uns ruhenden Formen oder Funktionen, durch die wir Erfahrung bilden, die also freilich von jedem Gegenstande der Erfahrung ausnahmslos und ohne daß man ihn erst geprüft hätte, gelten müssen; denn sie sind ja die Bedingungen, unter denen er überhaupt für uns ein Gegenstand der Erfahrung werden kann: so die Sätze der Mathematik, so das Kausalgesetz.

Und die Empiristen haben auch recht: nur die Erfahrung gibt uns wirkliche, zureichende Erkenntnis eines Gegenstandes; allein diese Erfahrung besteht nicht, wie man bis zu Kant ausschließlich glaubte, aus Sinneseindrücken, die die Dinge auf die leere, passiv aufnehmende Tafel unseres Bewußtseins schrieben; sondern sie ist selbst schon ein Produkt der Sinne und des Verstandes.

Die Sinne geben das rohe Material, den isolierten, sinnlosen, vorüberfliegenden Eindruck, der erst durch jene verstandesmäßigen Kräfte zur gültigen, objektiven Erfahrung geformt werden muß.

Wir bringen also schon etwas mit, wenn wir an die Dinge herantreten, um uns von ihnen empirisch belehren zu lassen: die Formen und Funktionen des Geistes selbst, d« gestaltenden Kräfte, die die bloße Sinnesaffektion zu eine zuverlässigen Erkenntnis, einer verständlichen Ordnung der Dinge weiterbilden.

Denn welche Vorstellungen auch etwa die Dinge selbst in uns, wie Bilder in einem Spiegel, hervorrufen möchten, eines können sie nicht bewirken, sondern es muß von uns selbst, durch die Selbsttätigkeit des Subjekts geschehen: die Verbindung der einzelnen Vorstellungselemente. In ewigem Flusse, der keine Stauung kennt, ziehen die Eindrücke der Sinne an uns vorüber; aber sie sind nur Momente, nur Punkte gleichsam, und unser eigenes tätiges Bewußtsein erst stiftet die Verbindungen unter ihnen -es fügt die einzelnen optischen Eindrücke zu einer räumlichen Ordnung, die zufällige Folge der Bilder zu dauernden Regeln, die wechselnden Vorstellungen zu einem bestimmt charakterisierten Ich zusammen.

Die Gesetze, nach denen diese Verbindungen gestiftet werden, sind, wie Kant sich ausdrückt, a priori d. h. sie entstehen nicht aus der Erfahrung, sondern sie bringen diese zustande, als die Formen des Intellekts, in welche dieser den sinnlichen Stoff faßt.

Die ungeheure Originalität dieser Idee, die das Apriori, die überempirischen Gesetze rettet, ohne darum der Erfahrung ein Titelchen ihrer Bedeutung zu nehmen, wird in keiner Weise dadurch angetastet, daß man irgendwo früher schon einen einzelnen Satz bei einem Philosophen finden kann, der dasselbe zu sagen scheint.

Hier gilt das kühn entschiedene Wort Goethes: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr.«

Ein hingeworfener, isoliert gebliebener Gedanke mag, logisch betrachtet, eine Wahrheit enthalten; den Wert der Wahrheit besitzt er nicht, so lange er nicht ihre Funktionen ausübt, nicht wirksam und fruchtbar wird.

Das Wahre muß sich bewähren, und darum haben die jetzt allenthalben aufgestöberten Vorläufer der großen Entdecker nur ein anekdotenhaftes Interesse, während die historische Bedeutung denen bleibt, die den Gedanken in die geistige Bewegung eingeführt und ihm den Körper gegeben haben, mit dem allein er wirken kann.

So fruchtbar hat Kant jenen Hauptgedanken gemacht, daß seine Verzweiungen und Ableger heute noch neue Früchte tragen.

Daß unsere Erkenntnisse nicht durch ein äußerliches Hinsehen auf die Dinge fertig in uns hineingeschüttet werden wie in ein leeres Gefäß; daß sie Prozesse in uns sind, die wir vornehmen; daß sie deshalb all den Gesetzen, Bedingungen, Voraussetzungen unterliegen, mit denen unser Geist an die Dinge herantritt - die Weite dieses Gedankens ist auch heute noch nicht ausgeschöpft.

Kant selbst hat ihn nur auf die Betrachtung der Natur angewendet und auch dies, wie wir nachher sehen werden, in einer künstlichen Beschränkung.

Auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften steht ihm noch eine unermeßliche Wirksamkeit bevor.

Auch die historischen Erkenntnisse werden nicht einfach von der Tatsächlichkeit der Dinge abgelesen, auch sie sind von der Auffassung nicht nur des Berichterstatters, sondern des Historikers selbst a priori abhängig, d. h. von seinen Deutungen, seinen mitgebrachten Ideen, von den Vorstellungsformen, die seine Zeit und seine Lebensgeschichte zu Bedingungen seines Erkennens geprägt haben; allein das ist kaum schon prinzipiell anerkannt, geschweige denn im einzelnen untersucht worden.

Daß wir fortwährend nach den Bedingungen forschen müssen, die, in uns selbst gelegen, jedem Gebiete der Erfahrung seine allgemeinen Normen und Formen aufprägen, weil sie die Gesetze des Geistes selbst sind, der jenes Gebiet für sich erschafft, indem er es vorstellt: das haben wir noch heute von Kant zu lernen, und in dieser Aufgabe lebt er für uns noch heute.

Die gleiche Gedankentat indes, die dem Erkennen so eine ganz neue Provinz erschließt, zieht ihm eine neue Schranke.

Es gibt, so lehrte Kant, überempirische Erkenntnisse, Prinzipien des reinen Denkens.

Aber nur in der Anwendung auf Gegenstände der Sinnlichkeit geben sie Erkenntnisse - an sich sind sie leere Formen, die, ohne Beschränkung auf Erfahrung, die widerspruchsvollsten Behauptungen gleichmäßig zu beweisen scheinen und so das hohle Gebäude der Metaphysik zu stande gebracht haben.

Denken freilich können wir alles Mögliche; ohne einen logischen Widerspruch zu begehen, können wir uns denken, daß die Seele eine unvergängliche Substanz ist; daß der Weltstoff aus unermeßlich kleinen, seelenartigen Atomen besteht; daß jeder Teil der Welt gleichmäßig das göttliche Wesen zum Ausdruck bringe.

Nur erkennen können wir diese Objekte niemals.

Diese Begrenzung des menschlichen Erkennens hat zwei auch heute noch äußerst Wichtige Seiten; einmal: nur diejenigen Dinge sind erkennbar, die Gegenstände möglicher Erfahrung sind.

Nicht alles freilich, was unser Wissen konstatiert, braucht wirklich erfahren zu sein.

Unzähliges wird nur erschlossen, kombiniert, vorausgesetzt.

Aber wenn es unter den Titel der Erkenntnis gehören soll, muß es wenigstens möglich sein, daß es auch einst direkt erfahren werde.

Wird diese Bedingung erfüllt, so ist die kühnste Hypothese zulässig; was sich aber prinzipiell der Möglichkeit der Erfahrung entzieht, kann niemals gewußt werden: so die Existenz vierdimensionaler Wesen, der Urgrund der Welt, das jenseits alles Bewußtseins liegende Wesen der Seele.

Ueber all solches mag man träumen und ahnen, was man will; Objekt der Erkenntnis kann es nicht sein, weil es seinem Wesen nach sich der Möglichkeit, erfahren zu werden, entzieht, während etwa der Lichtäther, den noch niemand wahrgenommen hat, dennoch ein legitimes, diskutables Objekt der Erkenntnis ist, weil ihm prinzipiell durchaus nicht die Möglichkeit fehlt, einmal auch direkt wahrgenommen zu werden.

Und diese Schranke der Erkenntnis kann uns auch heute noch heilsam sein; sie sollte uns z. B. vor allem Materialismus bewahren; denn auch dieser gibt vor, über ein Objekt etwas zu wissen, nämlich über unsere Seele, das doch nur seine einzelnen Erscheinungen, die psychischen Vorgänge, der Erfahrung darbietet - aber niemals das innere, hinter aller psychologischen Erfahrung liegende Wesen der Seele.

Daher zeigt sich an dem Kantischen Prinzip, daß der Materialismus, der alle Seele dem Stoffe gleichsetzt und damit sich als exakt und antimetaphysisch brüstet, selbst genau so metaphysisch ist wie sein spiritualistischer Gegner.

Und nun die andere Seite desselben Gedankens: das bloße Denken verschafft uns keine Erkenntnis; es gibt uns keinen Gegenstand, keine Wirklichkeit.

Alle möglichen Möglichkeiten der Dinge können wir logisch erdenken; ihre Wirklichkeit müssen wir erleben, empfinden.

Es ist damit jener Faden durchschnitten, mit dem die Metaphysiker das Denken und das Sein in geheimnisvoller Harmonie zusammengebunden glaubten.

Im Gegensatz dazu lehrt Kant: Nur in der Empfindung gibt sich uns das Sein, ja alles Sein, von dem wir überhaupt sprechen können, ist unmittelbar in der Empfindung.

Das Denken, das gleichsam über den Kopf der Empfindung hinwegspringen will, stürzt ins Nichts: jenseits ihrer gibt es für uns kein erkennbares Sein mehr.

Nun aber sind die Empfindungen ihrem Inhalte nach nichts anderes als Affektionen unserer Sinnesorgane, sie sind vollständig von der Struktur und Disposition dieser abhängig.

Dieselbe Temperatur erscheint uns einmal warm, ein anderes Mal kalt, je nachdem wir eben aus niedrigerer oder höherer Temperatur kommen; derselbe elektrische Strom erzeugt, wenn er unsere Haut trifft, ein Brennen, wenn er die Zunge berührt, einen säuerlichen Geschmack, wenn er durch das Auge geführt wird, eine Lichtempfindung.

Kurz, wenn uns alles Material der Erkenntnis notwendig nur durch die Sinne gegeben ist, so können wir also nie wissen, wie die Dinge unabhängig von unsrer subjektiven Auffassungsweise beschaffen sind.

Das reine Denken also, das sich über die Vermittlung der Sinne hinwegheben will, das die unsinnliche Seite der Dinge erfassen will, erzählt uns von Objekten, die es überhaupt für unsre Erkenntnis nicht gibt.

Dies ist der Sinn der berühmten Lehre Kants, daß wir nicht die Dinge an sich, sondern nur ihre Erscheinungen erkennen.

Diese Lehre ist meistens falsch verstanden worden. Sie schien besagen zu sollen, daß das Ich, die vorstellende Seele, doch etwas fundamental anderes ist als die Objekte außer ihr, die man zusammenfassend als das Nicht-Ich bezeichnen kann.

Wir bleiben für immer auf unsere Vorstellungen beschränkt und können so wenig aus ihnen weg in die Dinge selbst hinein, wie wir über den eigenen Kopf springen oder überhaupt uns von uns selbst lösen können.

So bestände ein unausfüllbarer Abgrund zwischen der Vorstellung und dem Ding an sich selbst, und jene könne dieses nie erreichen, sondern wäre immer nur sie selbst.

Diese Auffassung der Kantischen Lehre ist unvollständig und irrig.

Nicht weil das Nicht-Ich nicht das Ich ist, nicht weil die Vorstellung nicht zugleich das sein kann, was ihr gegenübersteht, können wir das Ding an sich nicht erkennen; um das zu lehren, brauchte kein Kant zu kommen.

Sondern weil das reine, sinnenfreie Denken kein Erkenntnismittel ist.

Wäre es das, so würden wir nach Kants Meinung auch das Ding an sich erkennen.

Denn das Denken ist an und für sich an keine Schranke gebunden, es kann alles was es will, vorstellen, es könnte also auch zu den Dingen, wie sie an sich selbst sind, vordringen.

Nur weil es, wie wir nun einmal organisiert sind, nicht aus sich selbst irgend eine Wirklichkeit erkennen kann; weil diese ihm vermittelst der Sinne gegeben werden muß und weil die Sinne nur Eindrücke liefern, deren Qualität ausschließlich durch unsere Organisation bestimmt ist - nur deshalb sind wir auf die Erscheinungen der Dinge beschränkt.

Diese bloße Erscheinung der Welt, die wir erkennen, ist kein Schein, kein Irrtum.

Denn das wäre sie nur, wenn hinter ihr eine andere, erkennbare Wirklichkeit der Dinge stände, an der wir unsere Erkenntnisse korrigierien könnten.

Nur an einer Wahrheit kann sich ein Trug messen.

Aber diese Zweiheit der Prinzipien fällt für Kant völlig weg.

Die Wirklichkeit ist eben Erscheinung, d. h. Sinneneindruck, den der Verstand zur Erfahrungswelt formt, und innerhalb ihrer besteht der Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum, also zwischen der dauernden, zuverlässigen, innerlich notwendigen Vorstellung und der trügerischen, korrigierbaren, widerspruchsvollen Meinung über die Dinge.

Und wenn andere Philosophen gezweifelt hatten, ob überhaupt eine Außenwelt existiere, da wir doch auf die bloße Vorstellung von ihr angewiesen wären, und der Schluß von dieser ihrer Wirkung in uns auf sie selbst so unsicher wäre wie jeder Schluß von der Wirkung auf die Ursache: so tut gerade Kant dieser Erschütterung unseres Zutrauens zur Welt Einhalt, indem er zeigt, daß es eines Schlusses von unserer Vorstellung auf die wirkliche Welt gar nicht bedarf; die sinnliche, verstandesmäßig geordnete Vorstellung ist eben die Wirklichkeit, ihr empirisches Vorgestelltwerden steht ihrem Sein nicht gegenüber, sondern ist ihr Sein selbst, weil es nicht jenseits ihrer eine gibt, auf die man von ihr erst mit Hilfe des bloßen Denkens zu schließen hätte, und die nun die rechte, wirkliche wäre.

So führt die scheinbare Verflüchtigung und Entwurzelung der festen Weit durch Reduktion auf eine sinnliche Vorstellung gerade dahin, ihr eine Festigkeit und Unanzweifelbarkeit zu verleihen, die sie niemals hatte, solange man eine außerhalb unserer Sinne bestehende und also nur im Denken zu erreichende Welt der Dinge an sich als die eigentliche und wahre angenommen hatte.

- Man mag sich von dieser Theorie befriedigt fühlen oder nicht: sie bleibt für alle Zeiten als einer der mächtigsten Versuche bestehen, durch die Zweiheit von Denken und Sein, Geist und Welt, die uns nicht zur Ruhe kommen läßt, zur Einheit und Versöhnung beider vorzudringen; sie bleibt für alle Zeiten als ein merkwürdiges Beispiel von Gedankenkonsequenz bestehen, indem sie die Sicherheit der Erkenntnis, die sie zunächst durch ihre Reduktion auf sinnliche Gegebenheiten ganz zu erschüttern schien, gerade durch die völlig konsequente Verfolgung dieses Gedankens auf höherer, festerer Stufe zurückgewinnt. Es scheint fast, als wäre die geistige Welt wie unsere Erde gestaltet, so daß man nur eine einmal eingeschlagene Richtung mit voller Konsequenz zu verfolgen braucht, um an den Punkt zurückzugelangen, von dem man sich gerade am weitesten zu entfernen schien.

Der Wert der Kantischen Erkenntnislehre für die tiefsten Lebensprobleme, für die letzten Fragen nach der Bedeutung alles Menschlichen tritt aber erst durch eine weitere Ueberlegung ganz hervor.

Kant lehrt einerseits eine strenge Beschränkung der Tragweite unseres Erkennens.

Das schien nicht neu zu sein.

Daß unser Wissen Stückwerk ist, daß der Philosoph vor allem wissen müsse, daß er nichts weiß - das sind alte Wahrheiten.

Aber immer handelte es sich nur um quantitative Mängel unseres Wissens; unser Blick ist nicht scharf, unsere Erfahrungen sind nicht umfassend genug, aber prinzipiell ist unseren Seelenkräften nicht versagt, alles Denkbare zu umfassen - wenn sie nur hinreichend gesteigert werden könnten.

Hier dagegen ist zum ersten Mal eine prinzipielle Grenze der Erkenntnis und zwar innerhalb des menschlichen Vorstellens selbst gezogen; hier wird zum ersten Male gezeigt, daß unser Erkennen fortwährend an einem Abgrund entlang geht - den Irrungen des reinen überempirischen Denkens - und daß jeder Schritt vom Wege der Erfahrung es unbarmherzig hineinstürzen läßt; bleibt es dagegen in seiner Richtung, so kann es ins Unbestimmbare vorwärtsschreiten, zu heute noch ungeahnten Erweiterungen; es kennt keine quantitative Schranke, sondern nur eine qualitative.

Damit ist ihm eine fortwährende Prüfung seiner selbst auferlegt, eine feste Zucht und Strenge gegenüber allen Lockungen des Denkens, das sich vom Zügel der Erfahrung zu lösen strebt.

Gerade weil wir so den Feind in uns selbst haben, zeigt das menschliche Erkennen das Bild einer fortwährenden Selbstbegrenzung, der gesicherte Besitz ist der Punkt, von dem aus der Weg einerseits zu unendlichem Erwerb, andrerseits zu rettungslosem Verderben führt.

So fordert jeder Schritt eine Entscheidung, wir sehen das Erkenntnisleben in einem Gleichgewicht, das stets von neuem gesichert werden muß, die innere Lage des erkennenden Menschen gewinnt eine bisher unbekannte Deutlichkeit ihrer Rechte und Pflichten.

II

Dieser scheinbaren Beschränkung, die im Grunde doch nur der Verlust von etwas ist, was man nicht besessen hat, steht auf der anderen Seite eine unendliche Bereicherung gegenüber: die Erkenntnis der Gestaltungskraft unseres Bewußtseins, die Einsicht, daß die gewußte Welt nicht ein uns wesensfremdes, wie eine tote Masse in unseren Geist hineingeschüttetes Objekt ist, sondern durch die Funktionen dieses Geistes entsteht, in ihnen besteht.

Raum und Zeit -keine ungeheuren leeren Gefäße mehr, in denen die Dinge darinstanden wie Möbel in einem Zimmer, und von denen es unverständlich wäre, wie unser Bewußtsein sie in sich aufnehmen, in sich spiegeln könnte; sondern lebendige Formungen, die der Geist an den Sinnesempfindungen vornimmt, um aus ihnen eine Welt zu bilden, Handlungen des Geistes, nicht in starrer Selbstgenügsamkeit außerhalb unser bestehend, sondern fortwährend durch die Handlung des Anschauens in uns zu Stande gebracht.

Raum und Zeit und alle anderen Formen, in denen unsere Erkenntniswelt lebt, schafft das Bewußtsein, indem es sein sinnliches Material nach ihnen, das heißt nach den ihm selbst innerlich eigenen Gesetzen ordnet.

Die allgemeinen Formen der Natur sind die Gesetze, die unser Verstand ihr vorschreibt, indem er sie eben dadurch als Natur, als gesetzmäßigen Kosmos, zustande bringt.

Alles Anschauen ist ein Tun, alles Erkennen ist ein Handeln - das ist der tiefste Kern von Kants Lehre.

Die Linie, die wir anschauen, die ziehen wir doch in unserer Vorstellung, die Gestalt, die uns scheinbar fest, für sich bestehend, gegeben wird, die bilden wir doch, einen ihrer Teile nach dem anderen erzeugt das Bewußtsein in sich, seine eigenen Kräfte festigen das flüchtige Sinnesbild zu dem verläßlichen Objekt, zu dem ihm kein anderes Material gegeben ist als eben jener Sinneseindruck, seine eignen Normen gestalten aus dem chaotischen Material zufälliger Wahrnehmung ein geordnetes, gegliedertes Bild der Welt.

Mit diesem Prinzip ist das innere Leben auf eine ganz neue Basis gestellt.

Die Welt, der der erkennende Geist wehrlos, mechanisch abspiegelnd gegenüberzustehen schien, ist nun seine eigene Tätigkeit, die starren Formen des Weltbildes sind in Fluß gekommen, in die Aktivität des Geistes selbst aufgelöst; statt des unheimlichen Wunders einer Außenwelt, die uns wesensfremd ist und dennoch in uns eingeht, verstehen wir sie nun als Produkt unsres eigenen inneren Lebens.

Damit entsteht eine neue Bedeutsamkeit, ein Bewußtsein von Kraft und zugleich Verantwortlichkeit des geistigen Prinzips überhaupt, wie keine frühere Weltanschauung es geben konnte.

Bis in die letzten und fernsten Elemente des Seins hinein erstreckt sich nun die lebendige Kraft des Geistes, und in dieser Einsicht in die ungeheure Ausdehnung seiner Machtsphäre liegt zugleich der tiefste Grund, weshalb es *jener fortwährenden Zucht und aufmerksamen Strenge gegen sich selbst bedarf.

Gerade je mehr der Geist schaffend, ausgreifend tätig ist, desto verantwortlicher ist er auch, desto mehr bedarf er der Selbstkontrolle und Selbstbeschränkung.

In diese Vergeistigung und Verflüssigung des Weltbildes, diese unaufhörliche Aktivität des Geistes ragt indes bei Kant noch ein anderes Hemmnis hinein, das nicht in demselben Maße aus den tiefsten Forderungen der Sache selbst entsteht, sondern im Gegenteil ein fremdes, gleichsam äußerliches Element bildet, das die Weiterbildung der Kantischen Lehre, nachdem sie es zuerst maßlos übertrieben hat, auch auszusondern strebt.

Kant ist noch ganz von der Vorstellung beherrscht, daß die Welt ihren Hauptprinzipien nach ein System bildet, und daß, indem eben diese Formen und Prinzipien derselben in dem erkennenden Geist liegen, unsere Erkenntniskräfte selbst ein gleichsam architektonisches, nach dem Prinzip der Symmetrie gebildetes System ausmachten.

Unsre Seelenkräfte überhaupt zeigen ihm strenge Dreiteilung: Erkenntnisvermögen, Gefühlsvermögen, Wille.

Das Erkenntnisvermögen seinerseits teilt sich in genau geschiedene Etappen auf: Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft.

Der Verstand wiederum funktioniert in zwölf genau bestimmten Kategorien, in die er das Weltbild faßt und von denen je drei wieder eine Abteilung bilden.

Kurz, der menschliche Geist erscheint ihm als ein durchaus symmetrisches Gebilde, das weder mehr noch weniger Glieder haben kann, als die logische Regelmäßigkeit erfordert.

Dies ist der Punkt, an dem sich die moderne Weltanschauung aufs entschiedenste von der Kantischen trennt.

Uns erscheint der menschliche Geist so gut wie jedes andere organische Gebilde als eine Station einer ins Unendliche gehenden Entwicklung.

Hervorgegangen aus dem Zusammentreffen unzähliger Zufälligkeiten, abhängig von einer Unübersehbarkeit historischer Bedingungen, ausgestattet mit der buntesten Erbschaft aus allen vergangenen Anpassungsperioden - fehlt ihm vollkommen jene innere Abrundung und logische Vollständigkeit, die ihm Kant zuspricht.

Er ist kein systematisches Ganzes, sondern so zu sagen ein Werdendes, seine Grenzen verschieben sich in jedem Augenblick, und statt der strengen Trennung zwischen seinen verschiedenen »Vermögen« und Provinzen, finden wir fortwährendes Ineinanderübergehen seiner Funktionen und Ergebnisse, alle Grenzstriche erscheinen bei näherem Zusehen als oberflächliche Schematisierungen, die dem kontinuierlichen Fluß der Vorstellungen Gewalt antun.

Hier liegt tatsächlich eine tiefe, grundsätzliche Diskrepanz der letzten Prinzipien vor, und Kant ist uns hier nur die vollendetste Repräsentation eines überwundenen Standpunktes, der freilich unleugbar zu den typischen und in gewissem Sinne unverlierbaren gehört.

Es wird nämlich die gesamte Geschichte der menschlichen Erkenntnis von zwei entgegengesetzten Tendenzen beherrscht, die in den verschiedensten Verkleidungen, auf der, engsten wie auf weitesten Gebieten, sich bekämpfen oder zur Versöhnung streben.

Auf der einen Seite steht der architektonische Trieb, der sich nicht befriedigt, ehe das Wissen abgerundet und vollendet ist, ehe seine Teile sich zu einem organischen Ganzen zusammenfügen, in dem ein jeder derselben seine logisch notwendige Stelle hat; diese Tendenz verlangt, daß die einzelne Provinz oder das Ganze des Erkennens aus einem einzigen Prinzip entfaltet werde und alles einzelne sich systematisch um dieses Zentrum herumbaue.

Die andere Hauptrichtung des Denkens dagegen fügt ein erkanntes Element zum anderen in einer nie zu vollendenden Reihe.

Die Welt ist für sie rastlose Entwicklung, nirgend zeigt ihr die Wirklichkeit jene scharfen, logischen Grenzen, die wohl unseren begrifflichen Idealen eigen sind, während in der Natur fortwährende Grenzverrückung, Unmöglichkeit eines Abschlusses, herrscht; unser Erkennen findet deshalb in dem Bilde einer unendlichen Linie sein Symbol, statt in dem des in sich geschlossenen Kreises, das jener ersten Tendenz vorschwebte.

Während sich die moderne Weltanschauung für die letztere entschieden hat, die in der Entwicklungslehre ihren kräftigsten Ausdruck fand, stellt Kants Theorie, im ganzen betrachtet, einen der vielen Kompromisse beider dar.

Daß die Welt mit allen Einzelheiten ein System bilde und die Wirklichkeiten sich so glatt und harmonisch entwickelten und verhielten wie die Begriffe, mit denen unsere Logik operiert - das hat freilich nicht Kant, sondern erst wieder Hegel festgehalten.

Kant war vielmehr überzeugt, daß die einzelnen empirischen Inhalte des Erkennens sich ins Unbestimmbare, Unendliche fortentwickelten.

Er befriedigte deshalb sein Systembedürfnis an dem erkennenden Geist selbst, der, da er die vorgestellte Welt doch nach seinen Formen bestimmt, insofern ihr seine Systematik mitteilt. Die allgemeinen Weltprinzipien bilden deshalb ein in sich abgeschlossenes System, das, ohne künftige Erweiterung oder Verengerung zuzulassen, mit Bestimmtheit aufgestellt werden kann, während freilich die Inhalte, die gleichsam die Verkörperung dieser Grundprinzipien bilden, unbegrenzter Erweiterung fähig sind.

Der Trieb zum System hat sich hier auf den Geist selbst so zu sagen rückwärts konzentriert, die Fähigkeit dieses, Systeme zu bauen, wird als eine systematische Beschaffenheit seiner selbst gedeutet, und so strahlt seine Fähigkeit, der Natur Ihre allgemeinsten Gesetze vorzuschreiben, auf die letzten formalen Grundlagen derselben den Charakter des abgerundeten, begrifflich vollständigen Systems über.

Sicher ist dies einer der originellsten und tiefsten Versuche, den Trieb zur Vollendbarkeit des Weltbildes mit der Anerkennung seiner Unendlichkeit zu kombinieren: indem das Weltbild durch die Formen unseres Erkenntnisvermögens bestimmt wird, genügt die innere systematische Verfassung dieses Vermögens, um die Welt in ihren allgemeinsten Formen als ein in sich geschlossenes System - und doch in den Einzelheiten, die nur die Erfahrung gibt, als einen Gegenstand ins Unendliche fortschreitender Erkenntnis zu begreifen.

So hoch diese Begründung einer systematischen Weltanschauung über allen anderen Versuchen gleicher Tendenz steht, so liegt doch der Weg der modernsten Geistestendenzen auch von ihm ab.

Denn die Erkenntnisformen selber zieht dieser in den Strom der Entwicklung herab, deren historische Zufälligkeit keinem Stadium der Entwicklung absolute Geschlossenheit, Abrundung, Systemform gestattet.

Immerhin bleibt der Kantische Versuch, jene beiden einander entgegenstrebenden Grundtendenzen des erkennenden Menschen in einer einheitlichen Weltanschauung zu gleichen Rechten kommen zu lassen, einer der interessantesten Versöhnungsversuche, ein document humain, dessen Reiz und Tiefsinn jede eigentlich wissenschaftliche Widerlegung überlebt.

Kant liebt es, seine Philosophie als die Richterin und Vermittlerin zwischen den streitenden Richtungen der bisherigen Philosophie zu bezeichnen.

Wenn er auch selbst dafür wesentlich nur jene Parteiung, zwischen Sensualismus und Rationalismus namhaft macht, so ist doch sein Denken tatsächlich ein Richter auch noch für weitere, tiefgelegene Zwistigkeiten in der geistigen Natur.

Seine praktische Philosophie übt dieses Amt nicht weniger als seine theoretische - die berühmte Sittenlehre Kants ist ein merkwürdiger Versuch, zwischen den sozialen und den individualistischen Tendenzen zu entscheiden, ein Versuch, dem wirklichen Pflichtbewußtsein der Menschen, das bald der einen, bald der anderen Seite dieses Konfliktes Gewalt anzutun scheint, eine Deutung und Formel zu geben, die beiden genugtut.

Kant bahnt sich seinen Weg durch die sittliche Welt von einem einzigen Ausgangspunkte her, von dem Begriff des Sollens.

In der Natur gibt es nur Sein, nur Wirklichkeit und Notwendigkeit.

Nirgend sagen wir von einem Vorgang in ihr, daß er anders sein sollte, als er wirklich ist. Ausschließlich an das menschliche Handeln können wir noch die Vorstellung heranbringen, daß es im einzelnen Falle hätte anders sein sollen, als es tatsächlich verlaufen ist.

Hiermit ist offenbar eine Kategorie ganz neuer Beurteilungen eröffnet: auf dieser einzigen Tatsache des Sollens beruht es, daß wir neben dem Reich der Natur noch ein Reich der Sittlichkeit anerkennen.

Das Objekt der Naturwissenschaft ist das, was geschieht, das Objekt der Ethik das, was geschehen soll, wenngleich es vielleicht niemals geschieht.

Und nun schließt Kant weiter: das Sollen ist ein Befehl, den wir in uns vernehmen. Ein Befehl aber wäre sinnlos, wenn er uns nur beföhle, was wir schon ausnahmslos ganz von selbst tun.

Ganz von selbst strebt jeder Mensch nach dem eigenen Glück.

Dies ist unsre Natur, die niemals aufhört, sich geltend zu machen.

Soll es also einen sittlichen Befehl in uns, einen Imperativ, wie Kant es nennt, geben, so muß er einen anderen Inhalt haben als das eigene Glück des Handelnden.

Alle Morallehre also, die, auf welchen Umwegen immer, ihre Gebote auf die Glückseligkeit des Subjekts selbst hinausgehen läßt, enthält keine reine Sittlichkeit, widerspricht dem Begriff des Sollens, der doch allein die Sittlichkeit überhaupt begründet.

Auf diesen Gedankengang Kants hin hat man seiner Ethik den Vorwurf des Rigorismus, der Askese, der praktischen Undurchführbarkeit gemacht und gegen ihn hat Schiller sein klassisches Epigramm gerichtet:

Gerne dien' ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.

»Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.«

Man tut mit dieser ganz allgemein vertretenen Meinung Kant schweres Unrecht.

Sein tiefstes Motiv ist durchaus kein asketisches, sondern liegt in der Ueberzeugung, daß über die sittliche Bedeutung unseres Handelns nicht der Wille zur äußerlichen Handlung selbst, sondern das Motiv entscheidet, das uns zu dem Willen dieser Handlung antreibt: denn genau die gleiche Handlung kann aus durchaus verschiedenen, sittlichsten und unsittlichsten Motiven gewollt werden.

Wenn eine Handlung zugleich dem egoistischen Glückseligkeitsstreben und der sittlichen Pflicht anderen gegenüber genügt, so können wir nie mit Sicherheit wissen, welcher von beiden Erfolgen unsern Willen bestimmt; wir haben keine so unzweideutige Erkenntnis unserer selbst oder gar anderer, sind niemals vor der Möglichkeit der Selbsttäuschung über unsere eigentlichen Motive geschützt.

Erst dann, wenn der egoistische Trieb in uns bekämpft werden mußte, wenn er sich gegen eine Handlung wehrte, wissen wir mit Sicherheit, daß nicht er, sondern wirklich die sittliche Pflicht uns bestimmt hat.

Die Tatsache der Sittlichkeit macht sich also wirklich nur dann mit Sicherheit kenntlich, wenn alle anderen Motive mit Sicherheit ausgeschlossen sind, d. h. wenn die Handlung gegen das egoistische Interesse lief.

Keineswegs aber ist dies die sachliche, innere Bedingung der Sittlichkeit, noch viel weniger folgt daraus, was Schiller der Theorie imputiert, daß wir die eigne Glückseligkeit als sachliche Gegnerin der Sittlichkeit betrachten und die Gelegenheit zu ihrer Bekämpfung selbst aussuchen sollen; ihre Bekämpfung ist vielmehr nur der Erkenntnisgrund, an dem die Herrschaft der sittlichen Pflicht für uns unzweideutig hervortritt.

Und wenn wir auf die Voraussetzung eingehen, daß das Sittliche an der Handlung nicht sie selbst, sondern innerliche Motiv zu ihr sei und daß eine aus egoistischem Glückseligkeitsmotiv vollbrachte Handlung eben als solche nicht sittlich sei (sie braucht darum noch nicht unsittlich zu sein) - so haben wir tatsächlich kein absolut sichres Erkenntnismittel, ob ein Tun wirklich aus dem sittlichen Motiv erfolgt, es sei denn, daß es durch ein egoistisches Motiv widerraten war; ist es dennoch erfolgt, so bleibt allerdings nichts übrig, als daß das sittliche uns bestimmt hat.

In keiner anderen Ethik tritt so energisch wie in dieser haarscharfen Konsequenz die Betonung des innersten, tiefsten Motives der Handlung als ihres alleinigen und ausschließlichen Wertungsgrundes hervor.

Die ganze Spannung zwischen dem Wunsch eigner Glückseligkeit und der Pflichterfüllung dient doch nur dazu, die Tat auf die letzte Instanz in der Seele zu reduzieren.

Alles äußerliche Tun wird gleichgültig gegenüber seinem Quell, von dem es allein die sittliche Bedeutung entlehnt, die seiner Erscheinung nicht anzusehen ist und deren eindeutige Erkenntnis also erst gelingt, wenn Glückseligkeits- und Pflichtmotiv sich entgegenstehen, einander ausschließend und ohne die Möglichkeit »idealer Konkurrenz«.

Man könnte sagen, daß das protestantische Prinzip mit seiner Betonung des Glaubens und der Gesinnung gegenüber der äußeren Tat in dieser Kantischen Theorie seinen höchsten philosophischen Ausdruck gewonnen habe, wie es kurz vorher seinen höchsten künstlerischen in Bach erreicht hatte.

Ein ungeheurer Stolz kommt hier zum Durchbruch, der alle Außenwerke der Persönlichkeit, alles bloße Tun als einen zweideutigen und deshalb unechten Schein von sich abweist und das Innerste allein, die letzte Motivierung, die nichts mehr auf ein Außer-sich abschieben kann, zum alleinigen Objekt macht, das überhaupt eine sittliche Beurteilung verdient.

Die Verantwortung des Menschen war damit auf das Höchste gesteigert, denn den Punkt in ihm, auf den sie sich richtete, konnte er nicht mehr von sich ablehnen, ohne sich überhaupt aufzugeben.

Andrerseits aber verbirgt sich neben dem Stolz eine ebenso ungeheure Resignation in diesem Sichzurückziehen von dem Erfolge der Tat auf die Tat selbst als letzte innerste Willensentscheidung.

Dieser einzig übriggelassene Wertpunkt ist die eine Karte, auf die Alles gesetzt wird.

Eine unvergleichliche Bedeutung des inneren Menschen wird allerdings so gewonnen, aber doch nur um den Preis, daß alle außer-ethischen Lebensinhalte auf die höchste Bedeutsamkeit verzichten und daß der Wert des Daseins unter das Motto: Alles oder nichts - gestellt werde.

Die Verinnerlichung, die damit das Leben ergriff, entbehrt freilich der ästhetischen Reize, wie sie sich bei größerer Anerkennung der Außenseiten des Lebens einstellen; indem diese Schätzungsweise, nach Kants Ausdruck, nichts innerhalb, ja auch außerhalb der Welt zu denken findet, was schlechthin gut sei, als allein einen guten Willen, und so alle Werte auf den äußersten Einheitspunkt der Gesinnung konzentriert, bekommt sie etwas Formloses, es fehlt ihr der Reichtum sinnenfälliger Entfaltung, wie er den hellenischen Wertbegriffen und denen der Renaissance eigen gewesen war.

Die Vertiefung und Reduktion aller Werte auf die Hauptsache wurde so mit einem Mangel an Fülle und Gliederung wertvoller Lebensgestaltungen bezahlt, ohne darum freilich an ihrer Kraft und Großartigkeit zu verlieren.

Es ist hiervon noch eine andere Seite der ethischen Weltanschauung Kants zu unterscheiden, die direkt auf einen der großen Impulse des Christentums zurückgeht.

Alle naturalistische oder historisch-politische Weltanschauung versetzt den Einzelmenschen in einen umfassenden Zusammenhang, einen natürlichen oder sozialen Kosmos, innerhalb dessen er ein Element bildet und von dem er seinen Wert entlehnt.

Nur das Ganze dieses Zusammenhanges ist eine in sich geschlossene Einheit, der Einzelne ist von allen Seiten bestimmt und begrenzt, und nur in seinen Verhältnissen zu anderen Elementen gewinnt er die ihm eigene verhältnismäßige Bedeutung.

Dieser Anschauung, die im ganzen die des Altertums war und die in gewissen Provinzen der modernen Kultur wiederkehrt, tritt das Christentum mit der Lehre vom absoluten Wert jeder einzelnen Seele entgegen.

Für diese ist der Mensch weder ein bloßes Produkt natürlicher Ursachen, so daß er nur dasjenige begrenzte Quantum von Kräften und Qualitäten enthielte, das diese in ihm deponiert haben; noch ist er ein bloßes Mittel für die Zwecke der sozialen Gruppe, ein Glied in der Kette der Gattungsentwicklung; sondern jede Seele ist ein absoluter Wert, jede wiegt für sich allein die ganze Welt auf, ihre Bedeutung steht jenseits jedes Mehr oder Minder.

Die Persönlichkeit als solche, gleichviel wer und was sie sonst war, wie sie nach ihren natürlichen oder sozialen Seiten hin gestellt war, wurde der Wert schlechthin, dem gegenüber nun umgekehrt die ganze Natur und die ganze Gesellschaft zu bloßen Vorbedingungen, Gleichgültigkeiten oder gar Hemmnissen herabgedrückt wurden.

Damit verschwanden für das Christentum auch die Ungleichheiten, die aus den Verhältnissen der Menschen zu einander hervorgingen; da jede Seele absolut wertvoll ist - für jede einzelne habe sich Christus geopfert und jede einzelne habe gleichmäßigen Zugang zur ewigen Seligkeit - so sind sie auch insofern alle gleich; im Absoluten gibt es keine Unterschiede.

Seit das Christentum die Einzelseele aus den Verkettungen und Relationen des Endlichen herausgehoben, ist der Gedanke ihres unendlichen, ganz außerhalb der Reihe relativer Abwägungen stehenden Wertes ein unverlierbares Besitztum der Innerlichkeit des Lebens geworden.

In Kant, der hier freilich von Rousseau beeinflußt war, hat es sich von seiner religiösen Formung emanzipiert - die insofern noch nicht ganz rein war, als die Seele ihre unendliche Bedeutung nicht an und für sich, sondern erst durch ihr Verhältnis zum göttlichen Prinzip erhielt - und ist in die Moralphilosophie eingetreten.

Er hatte ihr in seiner Erkenntnislehre ein Fundament gegeben, von dem er selbst zwar keinen ausdrücklichen Gebrauch macht, weil ihm seine absolute Wertsetzung ein auf sich selbst ruhendes, in keine theoretische Diskussion hineinzuziehendes Faktum bildet.

Dieser Grundgedanke, auf dessen Gesinnung auch Kants Ethik ruht, ist die Produktion der Erfahrungswelt durch den erfahrenden Geist.

Auf seine Bedeutung in dieser Welt selbst angesehen, ist das Ich ein Staubkorn, ein Nichts, und niemand hat dies eindringlicher gelehrt als Kant selbst; erst indem seine Erkenntnislehre diese ganze Erscheinungswelt, das Ich als Erscheinung einbegriffen, als ein Erzeugnis des hinter aller Erscheinung stehenden Geistes begriff - erst dann konnte das Handeln der Seele allem Endlichen, Relativen entrückt und ihr ein absoluter Wert verliehen werden, ohne daß dies als ein Größenwahn des Menschen erschienen wäre.

Dieser unbedingte Wert der menschlichen Innerlichkeit liegt zunächst nicht in seiner Erkenntniskraft, noch in seinem Gefühl.

Die eine lebt von den bloßen Erscheinungen einer objektiven Welt, die, so sehr sie vom Geiste selbst geformt wird, dennoch nur die Zeichnung an seiner Oberfläche darstellt.

Den Kern des eignen Seins geht die Erscheinungswelt so wenig an, wie sie das jenseits aller Erkenntnis gelegene metaphysische Wesen der Dinge selbst berührt, sie ist die Summe der intellektuellen Erzeugnisse des ich, nicht eigentlich dieses selbst.

Das Gefühl andrerseits ist zwar ein subjektiver Zustand, aber es fehlt ihm die Festigkeit, die Unabhängigkeit von allem Aeußeren, an die allein jene absolute Bedeutsamkeit der Menschenseele sich anlehnen könnte.

Darum bleibt von allem, was dem Menschen wesentlich ist, nur der Wille übrig als der Träger des eigentlichen Menschenwertes, als seine letzte Instanz.

Im Wollen und Handeln produzieren wir unsere Lebensgeschichte, die sich dann, als Erscheinung, der Welt als Erscheinung überhaupt einordnet.

Indem wir wollen, sind wir das Ding an sich selbst, wir nehmen nicht nur, wie im Erkennen, gegebene Inhalte hin, die auf die Frage, woher sie denn eigentlich kämen, die Antwort verweigern; sondern unmittelbar und restlos lebt sich im Wollen das Ich aus, als der letzte Grund seiner Erscheinungen, über den man nicht weiter hinausfragen kann.

Das wollende Ich ist die tiefst gelegene schöpferische Kraft, zu der wir gelangen können und jenseits deren nicht einmal für eine Frage, Ahnung, Mysterium Raum bleibt, wie allen anderen Dingen gegenüber.

Es ist das einzige Absolute, der einzige Punkt, an dem wir unter die Erscheinung der Dinge hinabtauchen, weil wir selbst es eben sind, die durch das praktische Wollen die Erscheinungen unseres Lebens produzieren.

Ist der Wille das Absolute in uns, so kann nur eine Bestimmung desselben auch den absoluten Wert unser darstellen.

Eine Willensbestimmung muß dies sein, die alles Einzelne, Spezifische von sich ausschließt.

Das Einzelne ist eine Kategorie, die sich nur innerhalb der Erscheinungen und ihrer Begrenzungen verwirklicht; wo wir über diese hinausgehen, betreten wir das Gebiet des absolut Allgemeinen.

Ist es nun die Bedeutung der Willensbestimmungen des Menschen, also seine moralische Bedeutung, die so ins Unendliche hinaussieht, so können diese Bestimmungen sich nicht an irgend ein isoliertes Ziel, irgend ein einzelnes, den Willen motivierendes Objekt knüpfen.

Wir sehen das menschliche Wollen von unzähligen, weltweit von einander abstehenden Motiven bewegt, und zwar das sittliche ebenso wie das unsittliche.

Die Objekte, an die eine Epoche, eine Kulturzone ihre höchsten sittlichen Wertgefühle knüpft, werden von einer anderen perhorresziert; ja, wo überhaupt ein einzelner Gegenstand, mag er

noch so hoch in der Skala der Werte stehen, unseren Willen bestimmt, da verliert dieser seine Selbständigkeit, seine in sich selbst ruhende Bedeutsamkeit, er wird abhängig von einem Außer-sich, das Gewährtsein des Objektes würde sein Wollen von vornherein nicht entstehen lassen und beweist so dessen Zufälligkeit, seinen Mangel an innerer absoluter Notwendigkeit.

Nun aber finden wir in allen sittlichen Willensbestimmungen außer den mannigfaltigen Objekten, die zu verwirklichen sie uns verpflichten, das eine Gemeinsame: daß sie als Gesetz vorgestellt werden.

Niemand kann heute mit Sicherheit sagen, was er morgen wollen, ja, was er morgen als sittlich vorstellen wird.

Aber das Eine weiß er so heute wie morgen: daß, wenn er überhaupt sittlich handeln will, seine Handlung einem Gesetze unterstehen muß, wenn auch einem selbstgegebenen, durch keinen äußerlichen Zwang, Suggestion, Autorität, Furcht oder Hoffnung oktroyierten.

Ein Gesetz aber ist absolut allgemein, es verlangt, seinem Begriffe nach, daß jeder, an dem seine Bedingungen sich erfüllt finden, auch seiner Norm untersteht.

Darum, welche unberechenbaren Verschiebungen auch der Inhalt der Sittlichkeit erfahren möge, eines muß all denen, die sittlich handeln wollen, gemeinsam sein: sie müssen ihre Handlungsweise als allgemeines Gesetz vorstellen können.

Kein moralisches Gesetzbuch, mag es noch so kasuistisch sein, kann für alle Komplikationen der realen Verhältnisse aussorgen, so daß man sich ihm unbedingt überlassen könnte; darum gibt es kein absolut geltendes Sittengesetz, außer dem ganz formalen, daß man sich jede Handlung als Gesetz muß denken können: »Handle so«, sagt Kant, »daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.«

Diese Formel allein erschöpft den Bestand der sittlichen Welt, während jede andre, inhaltlich bestimmte, religiöse, soziale, eudämonistische von besonderen Umständen abhängt, die heute widerrufen können, was sie gestern für sittlich notwendig erklärten.

Jede solche ist also nur bedingungsweise gültig, ein nur hypothetischer Imperativ, während jene Formel allein einen kategorischen Imperativ darstellt, d. h. dem unbedingten Wert, dem unbedingten Sollen des Sittlichen einen völlig allgemeinen, für alle Fälle gültigen begrifflichen Ausdruck verleiht.

III

So einfach die Formel des kategorischen Imperativs scheint, so bilden doch alle tiefsten und umfassendsten Tendenzen des Lebens ihre Unterströmung; sie stellt einen jener Lichtpunkte des menschlichen Denkens dar, an denen die Wege des individuellen und des sozialen Interesses sich schneiden.

Einerseits nämlich findet die Persönlichkeit mit ihren Launen und Veileitäten, ihren Ansprüchen und Reizbarkeiten ein strenges Maß ihrer Freiheit in der Forderung, das eigene Handeln widerspruchslos als ein Gesetz für alle denken zu können. Hier wird jener selbstschmeichlerischen Einbildung vorgebeugt, als sei man zu einem ganz besondern Handeln und Genießen berechtigt, weil man »anders als die anderen« sei.

Die Gleichheit vor dem moralischen Gesetz, die sittliche Rechtsprechung »Ohne Ansehen der Person« hat hier ihren lückenlosen Ausdruck gefunden, die Formel für das Zusammenleben der Menschen, für die Moral als Regulativ der menschlichen Gemeinschaft greift hier unmittelbar und ohne Reserve in das Wollen des Individuums ein.

Nicht als ob eine äußerliche Uniformierung des Handelns damit eingeführt würde; aber wie selbständig, wunderlich, revolutionär eine Handlung auch sei - sittlich Ist sie nur, wenn der Handelnde wollen kann, daß jeder beliebige andere in dieser Situation genau ebenso handle.

Und hier liegt der Punkt, wo die Kantische Formel an die völlige Sozialisierung des Tuns seine völlige Individualisierung knüpft.

Mehr als irgend eine andere Moralformel läßt diese, gerade wegen ihrer Weite und Allgemeinheit, Raum für die Berücksichtigung der besonderen Umstände, unter denen das Handeln erfolgt.

Die Handlung als Ganzes, zu der also auch alle einzelnen Bedingungen, die Situation und der Charakter des Handelnden, seine darauf bezügliche Lebensgeschichte und die Konstellation seiner Umgebung gehört, steht in Frage.

Erst von der so spezifizierten Tat wird die mögliche Verallgemeinerung zum Gesetz verlangt. Dadurch wird es denkbar, daß die, äußerlich angesehen, unsittlichste Tat, deren Gültigkeit als allgemeines Gesetz ganz ausgeschlossen scheint - z. B. das Töten eines Menschen - dennoch, indem alle ihre besonderen Umstände in Betracht gezogen werden, durchaus als allgemeines Gesetz gelten könnte, aber freilich nur als diese spezifizierte, durch diese ganz besonderen Umstände bestimmte Tat.

Solchen eigenartigen Bestimmungen und Individualisierungen der Sachlage gibt jene Formel einen unbeschränkten Raum, die letzten und besondersten Qualifikationen der Handlung können, ja müssen bei ihrer sittlichen Beurteilung einbezogen werden, und erst wenn sie es sind, wenn der Tatbestand bis in seine feinsten Fugen und Verästelungen hinein klar liegt, dann erst tritt jene Forderung auf, die Handlung, alle diese Umstände einbegriffen, als allgemein gültige ansehen zu können.

Welches inhaltlich bestimmte Moralgebot man auch aussprechen möge, die Vervollkommnung der eignen Persönlichkeit oder die Glückssteigerung der Gesamtheit, die Herrschaft der Vernunft oder der göttlichen Offenbarung, die Steigerung des Mitleids oder der individuellen Kraft - irnmer wird es Situationen geben, deren eigentümlicher Kompliziertheit ein solcher Irnperativ nicht gewachsen ist, keiner wird für jede mögliche individuelle Sachlage vorgesorgt haben, und so wird man, wenn man ihm dennoch unbedingten Gehorsam wahren will, sich vergewaltigt fühlen; man wird empfinden, daß das momentane Problem, die eigenartige Ausgestaltung des persönlichen Schicksals damit eine äußerliche und rohe Beugung unter ein Gesetz erfährt, bei dessen Schaffung auf sie keine Rücksicht genommen ist.

Erst die Kantische Formel, die von dem höchsten Imperativ jede einzelne, inhaltliche Bestimmung ausschließt, gibt damit den einzelnen Bestimmtheiten des gegebenen Falles uneingeschränkten Raum.

Die Kantische Moralformel - so wenig Kant selbst sie zu ihrer vollen Fruchtbarkeit entwickelt hat - verkörpert so vielleicht das höchste Prinzip, das durch den Zwist individueller und sozialer Ansprüche hindurchleitet: daß die absolute Berücksichtigung der Individualität und ihrer Lage die alleinige Bedingung bildet, unter der man die Befolgung absolut allgemeiner Gesetze von ihr fordern darf

Den unerschöpflichen Gegensatz personaler und sozialer Formgebung scheint eine andere Seite dieser Formulierung noch weiter zu spannen, um ihn desto kräftiger versöhnen zu können.

Das ganze Verhalten gemäß dem kategorischen Imperativ oder, wie wir sagen können, gemäß der Pflicht, ist unseren vorigen Erörterungen zufolge wertlos, wenn es nur das reale, sichtbare Handeln, nicht das innerliche, nicht-erscheinende Motiv bedeutet; die Erfüllung der Pflicht schlechthin nennt Kant bloße Legalität, ihre Erfüllung um der Pflicht willen dagegen Moralität, und er hat damit einem ewigen Gegensatz des sittlichen Empfindens seinen klassischen Ausdruck verliehen.

Indem er die Pflicht als den Gehorsam gegen ein absolut allgemeines Gesetz deutet und zugleich verlangt, daß dieses nicht nur erfüllt, sondern auch das innerste, tiefste psychologische Motiv seiner äußerlichen Erfüllung bilde, hat er die allgemein gültige soziale Norm zugleich zur letzten subjektiven Instanz gemacht, sie in den letzten Willensgrund der Persönlichkeit eingeführt.

Das Individuum soll sich nicht nur jener typisch-sozialen Forderung unterordnen, sondern sie zum Bildungsgesetze seines innersten eigensten Willens machen.

Die Vergewaltigung, die die Persönlichkeit durch den geforderten Gehorsam gegen ein absolut allgemeines Gesetz erfährt, und die aus dem prinzipiellen Zwiespalt zwischen personalem und sozialem Prinzip zu folgen scheint, löst sich gerade durch diese Vertiefung der Forderung: daß kein ihr äußerliches Motiv ihre Erfüllung tragen, sondern nur sie selbst den Willen in seinem letzterfaßbaren Grunde motivieren dürfe, daß die Pflicht um der Pflicht willen erfüllt werden müsse.

Eine Einheitlichkeit des sittlichen Handelns, vor allem eine Zuverlässigkeit seiner Direktive ist damit gegeben, die allen Schwankungen des Willens ein eindeutiges Ideal vorhält, indem sie die individuelle Motivierung mit der Allgemeinheit sozialer Gesetzmäßigkeit erfüllt, andererseits diese typische Normgebung in die Tiefen des persönlichen Willensgrundes einsenkt.

Für den zernagenden Skeptizismus unserer Zeit, der, in unermüdlicher Jagd nach dem Warum des Warum, keine Hingabe an eine individuelle Norm gestattet, wenn sie nicht sozial legitimiert ist, und umgekehrt an jedes allgemeine Gesetz erst die Frage richtet: wie verträgt sich meine Individualität mit seiner Befolgung? - für diesen, sich im verderblichen Kreise drehenden Skeptizismus gibt die Kantische Morallehre vielleicht kein völlig wirksames Gegengift, aber doch den Typus eines solchen. Soll der Dualismus des sozial-allgemeinen und des personalen Prinzips uns nicht entwurzeln, so wird die Frage nach dem Warum der Pflicht wohl irgendwie damit begrenzt werden müssen, daß die Pflicht eben um der Pflicht Willen, bloss weil sie einfach Pflicht ist, und nicht um irgend eines außerhalb ihrer gelegenen Darum willen erfüllt werden muß, weil jedes solches Darum uns zu einem weiteren Warum, von der individuellen zur sozialen, von der sozialen zu der individuellen Begründung ins Endlose weitertreibt.

Diese Bedeutung, die das personale Prinzip neben dem sozial-allgemeinen für die Bestimmung der Lebensführung besitzt, erfüllt indes nicht alle Ansprüche, die das Individuum an die praktische Ordnung der Dinge richtet.

Wir wollen nicht nur die sittliche Forderung so gestellt haben, daß jede Seite der Situation, jede Nuance der Persönlichkeit in der Allgemeinheit des Gesetzes, das uns beherrscht, berücksichtigt ist; wir wollen über dieses Objektive hinaus, auch für die subjektive, die Empfindungsseite unseres Ich ein Sich-Ausleben, Sich-Geltendmachen gewinnen; mit einem Wort, wir wollen glücklich sein, neben, über, ja, oft entgegen der Forderung des sittlichen Imperativs.

Deshalb ist es das eifrigste Bemühen der Moralisten, von Buddha und Sokrates bis zum heutigen Tage, nachzuweisen, daß zwischen der sittlichen Forderung und der des persönlichen Glückes ein eigentlicher Widerstreit nicht besteht, daß vielmehr, direkt oder indirekt, beides zusammenfiele, die Tugend ein sicherer Weg zur Glückseligkeit, oder beides die Seiten eben derselben Wirklichkeit seien; selbst pessimistische Lehren, die alle positive Glückseligkeit für unerreichbar ausgeben, pflegen doch zu erklären, daß die Befolgung ihrer Moralformeln die Last des Lebens wenigstens am erträglichsten, die Summe des Leides wenigstens so klein wie überhaupt möglich mache. ja, man kann sagen, daß dieser Beweis einer sachlich notwendigen Zusammengehörigkeit von Sittlichkeit und Glück das eine große Ziel aller Moralphilosophie überhaupt gebildet hat.

Hier nimmt Kant eine ganz einzige Stellung ein, indem er mit voller Entschiedenheit behauptet: es gibt keinerlei rationale, notwendige, innerliche Verbindung zwischen Glück und Tugend.

Weder gelangen wir zur Tugend, indem wir zum Glück streben - womit er jene verbreitete Behauptung negierte, daß Tugend nichts anderes sei als das wohlverstandene Eigeninteresse - noch gelangen wir dadurch zum Glück, daß wir tugendhaft sind womit er allen wohlwollenden Theorien widersprach, die jeder guten Tat ihren, wenn nicht äußeren, so doch inneren Lohn, jeder Schuld ihre Strafe gesichert glauben.

Das Glück vielmehr, so meint er, hängt von äußeren Chancen und ihrer geschickten Benutzung und, wie wir in seinem Sinne hinzufügen können, auch von den inneren Chancen des Temperaments und Lebensgefühls ab; es gerade von dem sittlichen Verhalten des Individuums abhängig zu machen, dazu liegt weder ein logisch-begrifflicher noch ein empirischer Grund vor. -

Ich stehe nicht an, diese Behauptung Kants unter die wenigen ganz großen Taten zu rechnen, die bisher innerhalb der Moralwissenschaft geschehen sind.

Man muß sich klar machen, daß Sittlichkeit und Glückseligkeit als das objektive und das subjektive Prinzip, als die Pole alles praktischen Verhaltens, als die eigentlichen und letzten Themata aller Moralphilosophie gelten, daß insbesondere das ethische Denken Kants ausschließlich diese beiden Begriffe als Material kennt.

Man muß ferner das leidenschaftliche, praktische und theoretische Interesse bedenken, das sich an die Einheit und Versöhnung dieser Ideale knüpft, und daß Symmetrie, Zusammenhang, harmonische Abrundung des Weltbildes für ihn gerade von dem Verhältnis dieser höchsten Interessenpunkte abhängen mußten - und man wird den ungeheuren Mut, die Ueberzeugungstiefe, die Wahrheitsliebe auch auf Kosten der liebsten Ideale erst voll begreifen, die ihn den Faden zwischen beiden, an dem die ganze Moralphilosophie gesponnen hatte, rücksichtslos durchschneiden ließ.

Er, der selbst erklärte, Sittlichkeit sei nichts als die Würdigkeit, glücklich zu sein, erkennt an, daß innerhalb der bestehenden Weltordnung diese Würdigkeit eine bloss platonische bleibe, daß sie den Wechsel nicht honoriere, den unsere innersten Bedürfnisse, die Harmonie von Tugend und Glück, die Gerechtigkeit von Lohn und Strafe fordernd, auf sie ziehen.

Die tiefe Glückssehnsucht, die das Mittelalter mystisch-religiös verpuppt hat und die Renaissance in ihren höchsten, nie wieder erreichten Momenten erfüllt träumte, treibt den modernen Menschen als ein begrifflich bewußtes, mit jeder erreichten Stufe schärfer forderndes Verlangen; und niemand wußte dies besser als Kant, niemand hat, sogar mit kaum gerechtfertigter Vernachlässigung aller Unterschiede unserer subjektiven Bestrebungen, diese gleich und unbedingt dem einzigen Begriff der Glückseligkeit untergeordnet.

Sie ist der Punkt der höchsten Spannung aller subjektiven Werte des Lebens.

Und mit gleicher Energie, so sahen wir, reduziert er alle objektiven Werte auf den einzigen Begriff Sittlichkeit. Indem er nun beide als einander wesensfremd erkennt und uns aus dem alten Traum erweckt, als rächte sich jede Schuld auf Erden, als fände jede gute Tat ihren Lohn - hat er durch die Welt der Ideale einen Riß gelegt, der mitten durch das menschliche Herz hindurchzieht.

Damit ist das Leben von Grund auf in eine neue Position gebracht; die zwei Strömungen, die seinen ganzen inneren Lauf ausmachen: was es will und was es soll gehen von verschiedenen Ausgangspunkten zu verschiedenen Zielen, und keine unterirdische Quelle entläßt sie mit der Hoffnung, wiederum gemeinsam zu münden.

So müssen wir uns mit einer unbarmherzigen Zweiheit abfinden, zugleich auf zwei Wegen gehen, von denen wir sonst geheim gehofft hatten, der eine sei doch nur ein Umweg und führe auf den anderen.

Hiermit ist eine neue und vollkommene Selbständigkeit beider Prinzipien erreicht.

Die Reinlichkeit des Denkens, die Begrenzung der Begriffe, hat einen ihrer höchsten Triumphe gefeiert - freilich um den Preis der liebsten Träume in denen sich Philosophie, von den Wünschen des Herzens geleitet, von je erging.

Der Sittlichkeit ist die Stütze entzogen, die sie an der Hoffnung eines früher oder später eintretenden Lohnes besaß; dem Streben nach Glückseligkeit die Rechtfertigung, die es aus seiner Verbindung mit der Moral zog.

Es steht jetzt auf sich allein, es ist der »natürliche« Trieb schlechthin, der, wenn er bestehen will, es von seinen eigenen Gnaden muß.

Das Leben verlangt auf dieser Basis der Selbstherrlichkeit seiner wesentlichen Prinzipien ein ganz anderes Maß von Kraft und Mut, als da eines noch am anderen, wie in einem circulus vitiosus, einen trügerischen Halt fand.

Die Verselbständigung der einzelnen Triebe, in der sich die Entwicklungshöhe der menschlichen Organisation überhaupt kundgibt, hat hiermit die tiefsten Wurzeln unserer Existenz ergriffen, und wenn in der Evolution unserer Gattung jene Differenzierung der Kraftsteigerung unseres Wesens dient, so tut sie dies hier im Sinne der Pädagogik, die die Kräfte stärkt, indem sie zunächst den ungeheuersten Anspruch an ihre Bewährung stellt.

Diese Theorie Kants, in der die Selbständigkeit und der Unabhängigkeitssinn des modernen Denkens einen Höhepunkt erreicht, und zwar sowohl was den Charakter des Denkens selbst wie was seine Inhalte und Resultate betrifft, - diese Theorie hat in der späteren Moralphilosophie fast keine Beachtung gefunden.

Man übersah, daß hier die Voraussetzung für eine wirkliche empirische Wissenschaft der Moral lag, indem nun für die Untersuchung der einzelnen Fälle der Harmonie oder Diskrepanz von Glückseligkeit und Sittlichkeit der Raum frei wurde, den das Dogma ihres notwendigen Zusammenfallens vorher beschränkt hatte.

In diesem Dogma vielrnehr ist fast die gesamte Ethik dieses Jahrhunderts befangen, sie deutet die Erscheinungen so lange, bis sie den »versöhnlichen Schluß«, die Harmonie jener unserer Hauptinteressen zu zeigen scheinen, und glaubt ihr Amt unvollendet, wenn sie uns nicht mit dieser Beruhigung entläßt.

Hier hat sie von Kant noch die ganze Unabhängigkeit des Erkennens von den Bedürfnissen des Gemüts zu lernen, die unserer Ethik noch fehlt, während die anderen Wissenschaften, ja sogar vielfach die Theologie, sie allmählich errungen haben.

Es ist nun freilich bekannt genug, daß Kant selbst erklärte, man könnte bei dieser empirischen Divergenz unserer wesentlichen Lebenstendenzen nicht stehen bleiben; vielmehr verlange ein Bedürfnis unserer Vernunft, daß wir ihre Harmonie, die sich unserem Wissen völlig verbirgt, wenigstens in der Form des Glaubens annehmen.

Das heißt. jene sittliche Vollendung, die die Seele allein des Genusses der Glückseligkeit eigentlich würdig macht, erreicht sie auf Erden nicht; da diese aber als unnachläßliches Ideal unseres Gemüts gefordert wird, so dürfen wir ein jenseitiges Leben annehmen, in dem die Seele die hier versagte Vollendung finden kann.

Und derselbe Glaube, der so auf die subjektive Vollendung der Seele geht, führt uns auf die objektive Vollendung der Weltordnung und auf ein absolut mächtiges Wesen, das der innerlich vollendeten Seele auch das Maß von Seligkeit, dessen sie würdig ist, zu vermitteln im Stande ist.

Da sittliche Vollendung und Glücksempfindung niemals, auch in einem transzendenten Dasein nicht, in notwendiger Verbindung stehen, so bedarf es einer Macht, die sie beide zusammenknüpft.

Nachdem die Kritik des Erkennens gezeigt hat, daß jedes beweisbare Wissen um überempirische Dinge, wie Gott und Unsterblichkeit der Seele, völlig ausgeschlossen ist, gewinnt darüber der Glaube Platz; die Bedürfnisse des Gemütes, unbefriedigt von der empirischen Welt, prinzipiell unfähig, ihre Objekte als wirklich zu demonstrieren, freilich ebenso sicher, daß sie nie als unmöglich erwiesen werden können - sehen ein transzendentes Gebiet vor sich, in dem unsere tiefsten Wünsche, Hoffnungen und Ahnungen Raum finden.

So hat gerade die Beschränkung alles Wissens auf die Gegenstände der Erfahrung, die Möglichkeit einer transzendenten Versöhnung der empirisch unversöhnten Hauptrichtungen des menschlichen Wesens eröffnet.

Schopenhauer, neben dessen großem Verdienste um die Wiederverbreitung der Kantischen Philosophie doch enorme Mißverständnisse derselben stehen, hat dieser »Rettung« von Gott und Unsterblichkeit durch das Bedürfnis, Sittlichkeit und Glückseligkeit zu versöhnen, sehr menschliche, allzu menschliche Motive untergeschoben: eine feige und unaufrichtige Anpassung Kants an den religiösen Aberglauben.

Man kann das einfach deshalb zurückweisen, weil es hinreichend plausible Gründe gibt, aus denen die Kantischen Glaubensartikel psychologisch verständlich werden.

Wenn Goethe die Unsterblichkeit daraufhin von der Ordnung der Natur fordert, weil sie Anlagen und Fähigkeiten in uns lege, die in der irdischen Existenz nicht zur vollständigen Entfaltung kommen, sondern mitten in ihrer Entwicklung abgebrochen werden, so ist dies nur die allgemeine Form des Kantischen Gedankens, der nicht für die menschlichen Fähigkeiten überhaupt, aber wohl für die moralischen Kräfte diejenige hier versagte Entfaltung postuliert, die der idealen sittlichen Forderung entspricht.

Tatsächlich ist die Kantische Unsterblichkeitsidee nur der Ausdruck für den idealen Charakter, d. h. für die empirische Unrealisierbarkeit jener Forderung und zugleich für ihre unnachgiebige Strenge.

Das innere Gebot, dem sittlichen Sollen absolut gemäß zu leben, und die Tatsache, daß dies niemals geschieht, ergeben jene ideelle Verlängerung der Existenz als logische Konsequenz; gerade durch ihre Unbeweisbarkeit, ihre metaphysische Jenseitigkeit, ihre Angewiesenheit auf bloßes Geglaubtwerden bringt sie die Stärke des Ideals und die Schwächen seiner irdischen Verwirklichung zum denkbar energischsten Ausdruck.

Nicht anders verhält es sich mit der Kantischen Gottesidee. Daß man an eine transzendente Macht, deren Existenz niemals erwiesen werden kann, glauben muß, um überhaupt eine Gerechtigkeit in der Weltordnung zu finden, das ist eine Symbolisierung, und zwar die allerdurchgreifendste, für den unidealen Charakter der empirischen Welt, oder richtiger für die Disparität ihrer idealen Elemente, die er unter den Titeln Glückseligkeit und Sittlichkeit zusammenfaßt.

Wie man von parallelen Linien sagt, sie schnitten sich im Unendlichen, so treffen sich Tugend und Glück im Unendlichen, in Gott - da, wo die Parallelen sich schneiden.

Der religiösen Empfindung läuft dieser Gedankengang zuwider. Für sie ist Gott der Ausgangspunkt des Weltgeschehens, und alle Unvollkommenheiten dieses sind nur Durchgang, Prüfung, Vorbereitung für die absolute Harmonisierung der Dinge in ihm: ja, er ist die alleinige eigentliche Realität, die ganze mangelhafte Wirklichkeit ist nur ein böser Traum, ein Schattenspiel, ein vorübergehender Schein und Schleier.

Umgekehrt ist für Kant gerade diese empirische Welt die einzig gültige, diejenige, auf die die Vorstellung der Wirklichkeit allein angewendet werden kann, und Gott ist -eine »Idee!«, der Ort des Unwirklichen, die Formel für die empirische Unerfüllbarkeit unserer idealen Bedürfnisse.

Man kann sagen, daß Gott und die Welt in dem christlichen und dem Kantischen Denken genau, in Bezug auf ihre Realitätsgrade, die Rollen getauscht haben.

Kant hat mit der Gültigkeitsart, die er der Gottesidee zuweist, eine neue und höchst fruchtbare Kategorie geschaffen.

Gott, sagt er, ist der Gegenstand eines »praktischen Glaubens«; d. h. wir haben unser Leben so einzurichten, als ob es einen Gott gäbe, ganz gleichgültig, ob es ihn wirklich gibt oder nicht, worüber wir theoretisch nie etwas ausmachen können.

Der Glaube an Gott erscheint hier als der bloße begriffliche Ausdruck für ein bestimmtes praktisches Verhalten. jene Idee Voltaires, daß man, wenn es keinen Gott gäbe, ihn erfinden müßte, erscheint hier in tiefster Begründung und Verinnerlichung.

Wenn wir für die höchsten Direktiven unseres Handelns, in dem wir ja nicht erkanntes Objekt, sondern unmittelbares Subjekt, nicht nur Erscheinung, sondern zugleich Erzeuger der Erscheinung sind, nach einem Ausdruck suchen, so finden wir ihn in der ideellen Beziehungen zu einer harmonischen Ordnung der Dinge, die sich zu der Einheit aller unserer Ideale, d. h. zu der Gottesidee aufgipfelt.

Darum mußte diese dem Wissen ein für alle Mal entzogen werden, weil sie damit in das diskutierbare Gebiet der bloßen Erscheinung hinabgezogen wäre.

Auch hier kommt der protestantische Geist Kants zum Durchbruch. Wie Luther das Dogma, also das angebliche Wissen um die göttlichen Dinge, zerbrach, um die Innerlichkeit des Glaubens an seine Stelle einzusetzen, so beseitigte Kant die theoretische Erkenntnis des Ueberempirischen, um für den Glauben daran Platz zu gewinnen.

Es ist seiner Weisheit letzter Schluß, daß alle Bedeutung des Lebens im Wollen und Handeln liegt und alles Ueberempirische, Gott und Unsterblichkeit, nur den Reflex bildet, mit dem sich die Werte desselben in unserem denkenden, auf Worte und Begriffe angewiesenen Bewußtsein malen.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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