Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Alpenreisen

ex: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. 4. Band 1895, Nr. 54 vom 13. 7. S. 22-24).

Im Reiseverkehr der Schweiz vollzieht sich ein Prozess, der freilich schon seit Jahrzehnten angelegt, doch erst im letzten zu unzweideutiger Herrschaft gelangt ist.

Man könnte ihn, in mehr als äusserlicher Analogie zu unserer ökonomischen Entwicklung, den Grossbetrieb des Naturgenusses nennen.

Zu Zielen, die sonst nur einsamer Wanderung zugängig waren, führen jetzt Eisenbahnen, die sich in rascher Folge akkumulieren; wo die Steigungen zu steil sind, um Fahrstrassen zu bauen, wie nach Mürren oder Wangernalp, baut man eine Eisenbahn; schon scheint die Bahn auf den Eiger gesichert, und so viele Bergsteiger bisher überhaupt die schwierige Höhe erstiegen haben - ebensoviele wird die Bahn vielleicht an einem einzigen Tage hinaufbringen.

Der Faust'sche Wunsch: "Stünd' ich, Natur, vor dir, ein Mann allein!" wird immer seltener erfüllt, und deshalb immer seltener gesagt.

Es war ein pädagogischer Wert der Alpenreisen, ihre Genüsse nur um den Preis zu gewähren, dass man äusserlich und innerlich auf sich selbst stand; nun aber lockt die Bequemlichkeit der Heer- und Herdenstrasse, und das blosse räumliche Zusammensein mit der bunten und gerade darum in ihrem Gesamteffekt so farblosen Masse suggeriert uns eine Durchschnittsstimmung, die, wie alle sozialen Durchschnitte, die feiner und höher disponierten herabzieht, ohne den niedrig Veranlagten um ebensoviel zu erhöhen.

Ich will, Alles in Allem, die überwiegenden Vorteile dieses sozialisierenden Grossbetriebes gegenüber dem Individualbetrieb des Alpinismus nicht verkennen; immerhin sind Unzähligen dadurch Naturfreuden ermöglicht, die früher ihren Kräften und Mitteln unerreichbar waren.

Am wenigsten schlechte stimme ich jener törichten Romantik bei, die an schlechte Wege, prähistorisches Essen und harte Betten den unwiderbringlich entschwundenen Reiz der guten alten Reisezeit geknüpft glaubt und um so verdächtiger ist, als es dieser Freuden, samt aller Einsamkeit und Stille, für den, der sie sucht, trotz alledem noch genug in den Alpen gibt.

Wohl aber regt gerade die ungeheure Ausdehnung des alpinen Verkehres zu der Frage an, welchen Gewinn denn eigentlich unsere Kultur aus ihr zieht, denn die Alpenreisen müssen schon als ein bedeutsames Element in dem Seelenleben unserer höheren Stände, als Objekt der Völkerpsychologie angesehen werden.

Es gehört zur Bildung, sagt man, dass man die Alpen sehe, und nicht nur in dem Sinn der Bildung, der sie zur Zwillingsschwester der »Wohlhabenheit« macht.

Die Macht des Kapitalismus erstreckt sich auch über Begriffe; er ist reich genug, um sich einen ehemals so vornehmen Begriff wie »Bildung« zu seinem Privateigentum anzuschaffen.

Nicht also nur so wird es verstanden; sondern tiefe und geistige Menschen glauben ihr Tiefstes und Geistigstes zu kultivieren, wenn sie in die Alpen gehen.

Neben der körperlichen Erholung und dem momentanen Genuss wirkt so ein gewissermassen moralisches Moment mit, eine geistige Genugtuung, die diese Freuden ganz ausserhalb der Reihe egoistischer Genüsse zu stellen scheint.

In diesem besonderen Tone von Geistigkeit und Bildungswert, der die Alpenreisen von anderen bloss sinnlichen Befriedigungen trennt, scheint mir eine jener freien Selbsttäuschungen zu liegen, mit denen eine über ihren Egoismus erschrockene Kultur noch das Subjektivste von »höheren Gesichtspunkten« herleiten und jedes tel est notre plaisir schamhaft in objective Rechtfertigungen einkleiden möchte.

Ich glaube, dass der Bildungswert der Alpenreisen ein sehr geringer ist.

Sie geben dem Empfinden eine ungeheure Spannung und Schwellung, die grosse Natur in ihrer unvergleichlichen Verschmelzung von düsterer Kraft und strahlender Anmut erfüllt uns im Augenblicke der Betrachtung mit sonst unerreichten Gefühlsintensitäten, regt unentdeckte Innerlichkeiten auf, als wäre die Seele ein Spiegel, in dem sich die Dinge umso tiefer eingraben , je höher sie sind.

Aber merkwürdig schnell fällt diese Erregung und Erhebung in sich zusammen, verfliegt wie ein Rausch, der die Nerven zu viel lebhafteren Schwingungen stachelte, als ihre normale Kraft fortsetzen kann.

Dem Aufschwung, den die Bilder der Hochalpen geben, folgt sehr schnell die Rückkehr zu der Stimmung der Ebene, und zwar, wie mir scheinen will, ohne dass man als dauernden Gewinn eine Bereicherung, Vertiefung, Weihe mitbrächte, die nur irgend in Proportion zu jenen Einwürfen stünde; insbesondere im Vergleich mit italienischen Reisen tritt dies recht hervor.

In dem Missverhältnis zwischen der Stärke und Tiefe des momentanen Hingenommenseins und dem zurückbleibenden Werte für die Gesamtbildung und Stimmung der Seele ist die Wirkung der Alpennatur der der Musik verwandt.

Ich glaube, dass auch dieser ein weit übertriebener Bildungswert beigelegt wird.

Auch sie führt uns in märchenhafte Regionen des Empfindungslebens, deren Schätze indes sozusagen an diese Stelle gebunden sind; wir nehmen wenig oder nichts aus ihnen mit, um unsere anderen inneren Wohnräume damit zu schmücken.

All der Schwung und die Vertiefung, die wir in der Hand der Musik eben noch mit Staunen in uns selbst entdeckten und als Eigentum begrüssten, verklingt mit den Tönen und lässt die Seele im Herzen genau auf dein Punkte, auf dem sie vorher war.

Wie die musikalische Begabung, so steht auch die Wirkung der Musik jenseits der sonstigen Bildungssphäre.-

Der Herrlichkeit der Musik soll damit sowenig ein Titelchen genommen werden, wie der der Alpen; nur über den Bildungswert beider, im tiefsten Sinne der Bildung, über ihre bleibende Wirkung auf die Gesamthaltung der Seele, bedarf, glaube ich, die allgemeine Meinung einer Korrektur.

Ihren schärfsten Ausdruck findet die Verwechslung subjektiv-egoistischen Genusses mit Bildungs- und sinnlichem Werte im Hochalpensport.

In den Kreisen des Alpenclubs gilt die Vorstellung, das Überwinden der lebensgefährlichen Schwierigkeiten sei sozusagen sittlich verdienstvoll, als ein Triumph des Geistes über den Widerstand der Materie, als ein Ergebnis ethischer Kräfte: des Mutes, der Willensstärke, des Aufgebotes alles Könnens für ein ideales Ziel.

Und über diesen wirklich eingesetzten Energien vergisst man, dass sie hier nur als Mittel für ein völlig sittlichkeitsfremdes, ja, oft unsittliches Ziel aufgehoben werden, für den momentanen Genuss, der aus solcher Anspannung aller Lebenskräfte, aus dein Spiele mit der Gefahr, aus der Ergriffenheit durch das erhabene Bild fliesst.

Ich stelle diesen Genuss tatsächlich unter die höchsten, die das Leben geben kann.

Je ruheloser, ungewisser, gegensatzreicher das moderne Dasein wird, desto leidenschaftlicher verlangt uns nach Höhen, die jenseits unseres Guten und Bösen stehen, zu denen wir aufsehen, die wir sonst das Emporblicken verlernt haben.

Ich wüsste nichts in der sichtbaren Natur, was so den Charakter irdischer Ueberirdischheit trüge, als die Firnschneelandschaft, nichts, was schon in Farbe und Form so sehr die »Höhe« zum Ausdruck brächte.

Wer dies einmal genossen, der sehnt sich darnach, wie nach der Erlösung, nach dem, was schlechthin anders ist, als das Ich mit seinen trüben Unruhen und norddeutschen Tiefebenen, und woran die Qual des Willens Halt macht.

Darum ist so vielen das Gebirge mehr als das Meer, das mit seinem Aufschäumen, um abzufliessen, Abfliessen, um wieder anzufluten, mit dem ganzen ziellosen circulus vitiosus seiner Bewegungen - ein peinlich getreues Bild des eigenen Innern ist.

Viele freilich lockt gerade dies.

Denn nicht nur die Ergänzung durch den Gegenpol des Ich erlöst uns, sondern auch die stilisierte, in reinem, von allen Zufälligkeiten freiem Bilde und Symbol dargebotene Spiegelung unserer Schicksale und Leiden birgt - wie durch eine geheime Homöopathie - eine Versöhnung, eine heilende Erhebung über sie.

Dennoch, hier ist nur Sänftigung, Vergessen und Verträumen, ein bloss hinnehmendes Geniessen.

Aus den Einsamkeiten der Gletscherwildnisse aber quillt die Empfindung gesunder Tatenfreude - freilich aber nur in der rasch verflogenen Täuschung ästhetischer Anregung - ein so überlebenshohes und frohes Gefühl, wie vielleicht aus keiner anderen, rein äusserlich dargebotenen Situation.

Aber darum bleibt dieser Genuss doch ein völlig egoistischer, darum besteht die Unsittlichkeit des Lebensrisikos um eines blossen Genusses willen, in das man noch die Führer hineinzieht, die für 50 oder 100 Franken mit ihrem Leben für das Ungeschick oder Missgeschick des Bergsteigers einzutreten haben.

Ein Alpinist wäre wahrscheinlich entrüstet, wenn man ihn mit einem Spieler in gleiche Parallele setzen wollte; und doch: beide setzen um rein subjektiver Erregungen und Befriedigungen willen ihre Existenz aufs Spiel - denn auch der Spieler fragt unzählige Male nicht nach dem materiellen Gewinn, sondern nur nach der Anspannung des Lebensgefühles durch das Risiko, nach der packenden Mischung von Kaltblütigkeit und Leidenschaft, von eigener Gewandtheit und Gunst unberechenbarer Mächte.

Der Alpinist spielt um einen Einsatz, der sittlicherweise nur um der höchsten objektiven Werte, nicht aber um selbstischer, unmitteilbarer Freuden willen gewagt werden sollte.

Darüber kann nur der romantische Reiz täuschen, den jedes freiwillige Lebensrisiko von den Zeiten her zu Lehen trägt, in denen soziale oder religiöse Verpflichtung unzählige Male nur um den Preis des Lebens erfüllt werden konnte und die diesem deshalb, zu welch' anderen Zwecken er auch geschehe, einen noch unverflogenen Schimmer sittlicher Würde erweckt haben.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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