Georg Simmel: Rembrandt
Ein kunstphilosophischer Versuch
Leipzig:
Kurt Wolff 1916. VIII, 205 S.
Vorwort
Den wissenschaftlichen Versuchen, das
Kunstwerk zu deuten und auszuwerten, sollte die Entscheidung
zwischen zwei Wegerichtungen zugrunde liegen.
Ihren Trennungspunkt bildet das
Erlebnis der Kunst, die primäre, ungeteilte Tatsache, dass das
Werk da ist und in dem Aufnehmenden seine unmittelbare Wirkung
übt.
Von hier nun geht die analytische
Richtung gleichsam abwärts.
Sie sucht einerseits nach den
geschichtlichen Bedingungen, die das Werk sich in die
Entwicklung der Kunst verständlich einordnen lassen; sie gewinnt
andrerseits aus dem Kunstwerk seine einzelnen Wirkungsfaktoren
heraus: die Straffheit oder Lockerung der Form, das Schema der
Komposition, die Ausnutzung der Raumdimensionen, die
Farbengebung, die Stoffwahl und vieles andere.
Aber dem wissenschaftlichen Gewissen ziemt Klarheit darüber,
dass auf keinem von beiden Wegen das Verständnis des Kunstwerkes
als solchen oder seiner tatsächlichen seelischen Bedeutung
erreicht wird.
Denn zunächst: jede historische
Entwicklung setzt den Wert der Sachgehalte schon voraus, um
derentwillen man sich überhaupt um ihre Geschichte kümmert.
Weshalb wir für die Kunst Rembrandts,
aber nicht für die eines beliebigen Stümpers, die geschichtliche
Entwicklung erkunden, ist ersichtlich aus dieser Entwicklung
selbst nicht zu entnehmen, sondern gründet in Wertempfindungen,
die wir an diese Kunst selbst, gänzlich unabhängig von den
Bedingungen ihres Gewordenseins, knüpfen.
An sie, als gewordene oder daseiende,
wendet sich nun allerdings die angedeutete ästhetische Analyse.
Hätte sie aber auch jene Komponenten
des Bildes zulänglichst herausgestellt, so wäre damit weder
Schöpfung noch Eindruck des Kunstwerks voll erfasst.
Denn die fertige Kunsterscheinung
freilich kann man unter vielerlei formale und inhaltliche
Gesichtspunkte stellen und sie damit in lauter einzelne
Eindrucksfaktoren zerlegen.
Allein sie ist aus deren
Zusammensetzung so wenig herstellbar und deshalb so wenig daraus
verständlich, wie ein Körper als lebendiger aus den
zerschnittenen Gliedern auf dem Seziertisch.
Das ästhetische Nebeneinander ist ihr
so wenig äquivalent wie das historische Nacheinander; denn
entscheidend für sie ist etwas ganz anderes: die schöpferische
Einheit, die sich jener Faktoren vielleicht als Mittel bedient,
vielleicht an diesen ihre greifbare, analytisch beschreibliche
Oberfläche besitzt.
Es ist aber die grösste
Selbsttäuschung, das Wesen der Kunst und den Rang ihrer Werke
als die Addierung jener Kategorien begreifen zu wollen.
Ebenso wenig ist der Eindruck des
Kunstwerks gleich den summierten Eindrücken all der Seiten und
Qualitäten seiner, die die sondernde Ästhetik heraushebt.
Vielmehr, auch hier ist das
Entscheidende etwas ganz Einheitliches, das sich aus oder über
jenen Einzeleindrücken erhebt; und alle psychologische Analyse:
wie diese und jene Farbe oder Farbengegensätzlichkeit wirke, wie
leicht oder schwer wir gewisse Formen auffassen, welche
Assoziationen sich an bestimmte Gegebenheiten anschliessen, und
alles Verwandte, lässt die schlechthin zentrale, seelische
Wirkung draussen, die das künstlerische Erlebnis als solches
ausmacht.
Dieses Erlebnis geht nun freilich, wie
ich glaube, in die Formen wissenschaftlichen Erkennens überhaupt
nicht ein.
Das unmittelbare Gefühltwerden ist die
einzige Art, auf die es da ist, und in ihr müssen wir es
sozusagen unangerührt stehen lassen.
Es bildet die Wasserscheide, an der
eben zwei Richtungen der Kunsterkenntnis sich trennen.
Während nämlich jene analytische
Behandlung der einzelnen Bestimmungen des Kunstwerks und seines
Aufgenommenwerdens gewissermassen vor der schöpferischen und
rezeptiven Erlebniseinheit stehen bleibt, beginnt nun hinter
dieser eine andere Direktive der Betrachtung, die man die
philosophische nennen mag.
Sie setzt das Ganze des Kunstwerks, als
Dasein und Erlebnis, voraus und sucht dieses nun in die ganze
Weite der seelischen Bewegtheit, in die Höhe der
Begrifflichkeit, in die Tiefe der weltgeschichtlichen Gegensätze
einzustellen.
Als Gegenstand solchen Versuches
erscheint die Rembrandtsche Kunst deshalb besonders geeignet,
weil sich ihr gegenüber, durch ihren objektiven Charakter tief
begründet, jenes irrationale Erlebnis in grösster, der Musik am
nächsten kommenden Reinheit vollzieht; d. h. in der
Unberührsamkeit seines eigenen Wesens durch die analysierende
Ästhetik einerseits, durch das begrifflich und metaphysisch
weiterführende Denken andrerseits.
Gerade dadurch aber wird das Erlebnis
als ein umso ungeteilteres, umso gleichmässiger wirksames, zur
Voraussetzung der Einzelprobleme, in denen auch dieses Denken
sich zu bewegen hat.
Hierin liegt die Schranke von
Erörterungen, die das Kunstwerk nicht historisch, technisch oder
ästhetisch aufklären, sondern, als philosophische, dasjenige
suchen, was man seinen Sinn nennen kann: die Verhältnisse
zwischen seinem innersten Zentrum und dem äussersten Umkreis, in
dem Welt und Leben von unsern Begriffen umschrieben werden.
Denn jenes primäre Erlebnis des
Kunstwerks, von dem dessen philosophische Weiterführungen
genährt werden, ist nicht mit objektiver Eindeutigkeit
festzulegen; es bleibt, soviel Theoretisches auch von ihm
ausgehen mag, in der Form der Tatsache und ist der Theorie
unzugängig - zwar nicht von zufälliger Willkür bestimmt, aber
von einer immerhin individuellen Gerichtetheit, die die
philosophischen Linien von ihm aus in mannigfaltigster Richtung
verlaufen lässt.
Von jeder Gruppe solcher Linien kann
man beanspruchen, dass sie zu letzten Entscheidungen führe, aber
keine darf beanspruchen, zu den letzten zu führen. - Was mir von
je als eine wesentliche Aufgabe der Philosophie erschien: von
dem unmittelbar Einzelnen, dem einfach Gegebnen das Senkblei in
die Schicht der letzten geistigen Bedeutsamkeiten zu schicken -
das soll nun an der Erscheinung Rembrandts versucht werden.
Die philosophischen Begriffe sollten
nicht immer nur in ihrer eigenen Gesellschaft bleiben, sondern
auch der Oberfläche des Daseins geben, was sie zu geben haben,
und daran nicht, wie Hegel es tat, die Bedingung knüpfen, dass
dies Dasein schon als unmittelbares in den philosophischen
Adelsstand erhoben werde.
Es bleibe vielmehr ruhig in seiner
schlichten Tatsächlichkeit und unter deren unmittelbaren
Gesetzen, und werde erst so von dem Netzwerk der Linien
umfangen, die seine Verbindung mit dem Reich der Ideen
vermitteln.
Dies einfache Tatsächliche ist hier
jenes Erlebnis des Kunstwerks, das ich als ein unauflöslich
Primäres hinnehmen will. - Dass die daran angesetzten
philosophischen Richtlinien sich durchaus in einem äussersten
Punkte zu schneiden, sich also in ein philosophisches System
einzuordnen hätten, ist ein monistisches Vorurteil, das dem -
viel mehr funktionellen als substanziellen - Wesen der
Philosophie wiederspricht.
Aus dieser methodischen Einstellung
einerseits, aus jener individuellen Bestimmtheit des als
Wirklichkeit vorausgesetzten Erlebnisses andrerseits ergibt sich
die angedeutete Schranke für den Anspruch dieser Untersuchungen:
sie können nur verlangen, neben andern Ausgangspunkten und
andern Wegerichtungen zu stehen und sich mit diesen andern
selbst dann zu ergänzen, wenn sie ihnen widersprechen.
Welche Erwartungen diese Blätter
befriedigen oder unbefriedigt lassen, kann sich nur aus ihnen
selbst, aber nicht aus ihrem Programm entscheiden; dieses soll
nur, als Grenzsetzung, die Erwartungen davor schützen, der
Unbefriedigtheit von vornherein zu verfallen.
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1.
Kapitel: Der Ausdruck des Seelischen |